„Man wird dich aufsteigen lassen
auf den Nacken einer alten Sau“.
Ein ägyptisches Pendant zur „Judensau“?
JOHANNES DIETHART
Das „Judenschwein“ vom Regensburger Dom1 ist eine der vielen mittelalterlichen
Judenkarikaturen im mitteleuropäischen Raum2•
Geradezu geschichtsmächtig ist die Darstellung auf einem Relief in der
Schloßkirche von Wittenberg geworden, dem bekanntlich Martin Luther
selbst zu Berühmtheit verhalf. In seiner Schrift „Von den Juden und ihren
Lügen“ heißt es:
Seid j r doch nicht werd, das jr die B iblia von aussen s oll et ans ehen,
schweige, das j r dr innen lesen s ollet. J r s oltet allein die B ibl ia l esen,
die der S au u nt er dem Schwantz st ehet, und die bu chst aben, s o da selbs
heraus fallen, fr ess en und s auffen . . .3 .
A. Scheiber4 hat über zwei weitere mittelalterliche Darstellungen referiert,
und zwar über ein Säulenkapitell aus Uppsala und eine solche auf dem
mittelalterlichen Turm der Franziskaner in Preßburg, wo in der Funktion
1 E. Fuchs, Die Juden in der Karikatur. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. München
1921, 1; weitere Abbildungen etwa 9, 13, 19, 38, 40 oder 6 5.
2 Die Tatsache selbst, daß wir zum einen die Sau haben, an deren Euter die Juden saugen
– vgl. dazu z. B. B. Blumenkranz, Juden und Judentum in der mittelalterlichen Kunst.
Stuttgart 1965, 42 -, zum anderen die Sau, auf der sie reiten, ist für den vorliegenden
Beitrag nicht von Relevanz.
3 S. dazu auch R. Webster, Erben des Hasses. Die Rushdie-Affäre und ihre Folgen.
München 1992, 110.
4 Orientalia Suecaua 16 (196 7} 96-98 mit zahlreichen Literaturangaben. Zum Thema ist
besonders auf I. Shachar, The Judensau -A MedievalA nti-Jewish Motif and its History.
Londou 1974, zu verweisen.
9
eines Wasserspeiers ein mit einem Gürtel versehener, mit einem Kaftan
bekleideter, auf einem Schwein reitender Jude zu sehen ist5.
Wichtig ist in unserem Zusammenhang sein Hinweis, daß das „Judenschwein“
auch schriftliche Spuren in der Jurisprudenz im§ 9 der Rechnitzer
„Juden-Polizei“ hinterlassen hat6. Dieser Paragraph enthält eine Sanktion
für diejenigen, die sich mit ihrem Einfluß rühmen und ihre Gegner
einschüchtern. Jene sollen mit einer Geldstrafe belegt werden und sozusagen
„die Sau reiten müssen“ .
Diese zur Redewendung gewordene Formulierung dokumentiert ihre
Beliebtheit bzw. Häufigkeit im alltäglichen mittelalterlichen Leben, aber
auch in der Literatur, etwa dem Fastnachtsspiel „Ein Spil von dem Herzogen
von Burgund“ 7, wo es auszugsweise heißt:
I ch spr ich, das man vor allem ding
Die allergrast schweinsmuteT p1- ing,
D aru nter sie sich schmiegen all,
S aug ieder ein tu tten mit schall;
Der M essias lig u nter dem schwantz!
Was ir enpfall, das sol er ganz
Zusammen in ein seck lein pinden
Und dann dasselb zu einem mal verschlinden. „8.
Die früheste schriftliche Parallele – zu verweisen ist auf die weiter unten
kurz behandelte „Isis auf der Sau“ -, die mir bekannt geworden ist, begeg-
5 Zum Schwein im alten Ägypten, wo es als das am wenigsten geachtete Haustier galt –
nach Herodot Il 47.164 waren die Schweinehirten die einzigen, die keinen Tempel betreten
durften – vgl. das Lexikon der Ägyptologie 5. Wiesbaden 1984, bes. 763 f.; zum Schwein
in der christlichen Ikonographie und speziell als „Zugtier des Teufels“, bzw. als „Reittier
der Synagoge“, s. das Lexikon der christlichen Ikonographie 4. Freiburg 1972 (1990) 134,
Lemma „Schwein“.
6 Keine Erwähnung bei K. Klein, Geschichte der Juden in Rechnitz, in: H. Gold, Gedenkbuch
der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes. TelAviv 1970, 116-119,
oder bei I. Hacker, Judengesetze im Burgenland von Stefan dem Heiligen bis Maria Theresia
(1001-1780). In: Studia Judaica Austriaca 3 (1976) 7-15.
7 H.A . Keller, Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert, I, Stuttgart 1853, 184;
nochmals abgedruckt in 0. Frankl, Der Jude in den deutschen Dichtungen des 15., 16.
und 17. Jahrhunderts. Mährisch Ostrau-Leipzig 1905, 49, wo auch auf Darstellungen der
genannten Szene in Frankfurt/Main und Wittenberg hingewiesen wird.
8 Es handelt sich um den „falschen Messias“ der Juden.
10
net auf einem demotischen Ostrakon aus der W ien er Papyrussarnrnlung9.
Bei diesem Text handelt es sich um eine völlig neue Literaturgattung im
ägyptisch-demotischen Schrifttum.
Die Überschrift lautet: „Wortlaut der Schmähungen der T3-byk.t“.
T3-byk.t ist der Name der Frau. Aus dem Zusammenhang geht mit einiger
Wahrscheinlichkeit hervor, daß es sich bei dem Text um ein Mittel handelt,
mit dessen Hilfe sich ein verschmähter Liebhaber gegen seine Liebe zur Wehr
setzen wollte, um sich mit der Schmähung der Frau von seiner unerwiderten
Liebe zu befreien. So ist es ein ägyptisches remedium amoris, geschrieben
um die Zeitenwende.
Der Text selbst beginnt mit der rhetorischen Frage: „Bist du ein
Geist … ?“ – In den darauffolgenden Beschimpfungen wird die Frau als ihrem
Namen nach zwar als Lamm, ihrer Gestalt nach allerdings als Hexe
beschrieben. In drastischen Worten wird dann ihre Schmutzigkeit geschildert:
„Überhäuft mit Kot, beladen mit Widerlichkeit. Du sollst dich in Blut
baden, du sollst dich mit Urin reinigen. Man soll eine Radkrone auf deinen
Kopf geben, eine Kampfesrüstung aus Erennesseln auf deinen Leib … „. Und
dann der Kernsatz: „Man wird dich aufsteigen lassen auf den Nacken einer
alten Sau10 … denn die Hexenmusterung ist heute. Geh! Man wird nicht
(genug) Wasser im Meer finden, du Sau, um dein Gesicht zu waschen … “ .
Die Abfolge Befragung, Beschimpfung, Verspottung mit schändlicher
und vielleicht Schmerzen zufügender Bekleidung, öffentlicher Zug zur Hinrichtungsstätte,
Tod der Frau und Verscharren ihrer Gebeine erinnert nach
Zauzich an die Behandlung, die man Schwerverbrechern, besonders aber
den aus politischen oder religiösen Gründen Verfolgten, durch die Zeiten in
ähnlicher Weise zuteil werden ließ.
Dieses Vernichtungs-„Ritual“, dem es um die vollkommene Zerstörung
der geistigen, psychischen und pysischen Existenz eines Menschen bis zur
Vernichtung seiner sterblichen Überreste geht, ist letztlich aus Haß und
Angst geboren und von vorgeschichtlichen Grausamkeiten über den Prozeß
gegen Jesus und die mittelalterlichen Autodafes bis zu neuzeitlichen Barbareien
immer ähnlich vollzogen worden.
Insofern, und nicht allein von daher gewinnt diese ägyptisch-demotische
9 Ostrakon Vindobonense D 70, ed. K.-Th. Zauzich, Schmähworte gegen eine Frau. In:
Enchoria 18 (1991) 135-151, Taf. 23-25.
10 tw=(w) ‚l=t r t3 n):J.b3.t n t3 ise.t bl-‚3.t.
11
Parallele an Bedeutung, denn es scheint eine Vergleichbarkeit zwischen der
schändlichen und ausgrenzenden Bekleidung, die der Frau im vorliegenden
Text zugedacht ist, und der Dornenkrone, den Ketzerhüten und dem Judenstern
durchaus möglich zu sein.
„Positiv“ und „negativ“ hingegen werden dagegen die Darstellungen
von „lsis auf der Sau“ interpretiert, die die ägyptische Göttin, manchmal
wegen der durch Hautfalten betonten Fettleibigkeit deutlich als Matrone
dargestellt, als Terrakotta-Figuren zeigen11•
Manchmal als Apotropaion interpretiert, ließe sich aber auch durchaus
die Funktion des Schamweisens hervorheben 12, die Figuren mögen aber auch
durchaus in einer allgemeinen Schutzfunktion für schwangere und gebärende
Frauen verwendet worden sein, denn Frontalität und Nacktheit sind oft miteinander
verbunden, um Fruchtbarkeit und Lebenskraft besonders hervorzuheben.
Desgleichen kommt auch das Motiv „Isis auf dem Hund“ vor13, nur
scheint in diesem Fall das Reittier nicht negativ besetzt.
Die „negative“ Komponente bei der Darstellung „Isis mit der Sau“
– abgesehen von der allgemeinen bereits angesprochenen Verachtung und
Verfemung des Schweines in Ägypten – kommt wohl erst im Zuge der Christianisierung
Ägyptens und der übrigen mediterranen Welt so richtig zum
Tragen. Nicht zuletzt wurde eine solche Entwicklung natürlich gefördert
durch die jüdischen Speisegebote; das zeigt sich beispielsweise in einer spanischen
Beatushandschrift14: ubi mulier sedet supra bestiam. Hier wird
Apokalypse 17, 3 ff. illustriert, wo es heißt: Kat cl6ov „{VvaiKa KaOrJ{Livrw
brt fJTJpiov KOKKwov, „{i{Lovra ov6J.Jara ß>.ao-cpryJ.Liar;, lfxovra Kccpa>.ar;
brra Kat Kipara öiKa: „Und ich sah ein Weib, auf scharlachrotem15 T iere
sitzend, das ist von lästerlichen Namen voll, hat sieben Häupter und zehn
Hörner.“
11 J. Bergman, Isis auf der Sau. In: Boreas 6 (1974) 81-108 (mit Abb.).
12 S. dazu zuletzt E. Kislinger, Anasyrma. Notizen zur Geste des Schamweisens. In:
Symbole des Alltags. Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag.
Graz 1992, 377-394.
13 Z. B. auf einem Relief aus dem Iseion von Savaria, s. Bergman (o.A nm.ll) 120 ff.
mit Abb. 5.
14 Madrid, Bibl. Nac., B 31, fol. 225v aus dem Jahre 1047, vgl. Bergman (o.A nm.ll,
105 ff. mit Abb.).
15 Das sethianische Rot!
12
Die Darstellung der Hure auf dem Tiere mag so durchaus von diesem
Bereich des Isiskultes, der ja auch in Kleinasien reichlich belegt ist und eben
vorn Christenturn anathematisiert wurde, mit angeregt worden sein.
Im griechischen Bereich ist es der Kult der „merkwürdigen Göttin“
Baubo (Bavßw)16, der die Göttin mit unanständiger Bewegung auf einem
Schwein reitend sich vorstellt; erhalten ist sie als Darstellung auf einer Terrakotta,
parallel zu den bereits genannten Isisdarstellungen 17.
16 S. Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft III, 5. Hb. 1897,
Sp. 150-151 (Kern); s. weiters Kislinger, Anasyrma (s. Anm. 12) 383.
17 Dazu gehört nicht zuletzt die Schilderung von Goethes Walpurgisnacht.
13
MEDIUM AEVUM
QUOTIDIANUM
28
KREMS 1994
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramer
Satz und Korrektur: Birgit Karl und Gundi Tarcsay
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der materiellen
Kultur des Mittelalters. Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich. – Für den
Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche Zustimmung jeglicher
Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: KOPITU Ges. m. b. H.,
Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
JOHANNES DIETHART, „Man wird dich aufsteigen lassen auf
den Nacken einer alten Sau“ . Ein ägyptisches Pendant zur
7
„Judensau“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
GERTRUD BLASCHITZ, Lehrhafte Literatur als Quelle für
mittelalterliche Realienkunde: „Der Jüngling“ des Konrad
von Raslau und der „Magezoge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
ADEL L. JASTREBIZKAJA und ELENA A . KAPUSTINA, Auswahlbibliographie
zu Alltag und materieller Kultur des Mittelalters
und der frühen Neuzeit in der sowjetischen bzw.
russischen historischen Forschung (Erster Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
EDMUND KIZIK, Polnische Forschungen zum Alltagsleben
des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Supplement . . . . . . . . . . . . . . 46
Rezensionen:
Peter Dinzelbacher (Hg.), Sachwörterbuch der Mediävistik
(Helga Schüppert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
Gerald Beyreuther, Barbara Pätzold und Erika Uitz (Hg.),
Fürstinnen und Städterinnen. Frauen im Mittelalter (Käthe
Sonnleitner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch – Die Stadt um 1300
(Helga Schüppert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Gewirkt und Gold (Helga Schüppert)
Meisterwerke massenhaft. Die Bildhauerwerkstatt des Niklaus
Weckmann und die Malerei in Ulm um 1500 (Helga
69
Schüppert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Die Gärten des Islam (Helga Schüppert) 71
Ankündigungen und Mitteilungen 73
5
Vorwort
Das vorliegende Heft von Medium A evu m Qu otidianu m stellt einerseits eine
Überleitung zwischen zwei Sonderbänden der Reihe dar: zwischen Sandor
Pet!nyis „Games and Toys in Medieval and Early Modern Hungary“ (Sonderband
III, 1994) und Elke Schlenkrichs „Der Alltag von Lehrlingen in
Sachsen (15. bis 18. Jahrhundert)“ (Sonderband IV, 1994; in Vorbereitung).
Andererseits leiten wir damit wieder einen Jahrgang ein, welcher durch
die Veranstaltung eines Kongresses ( „Die Vielfalt der Dinge“ ) durch M edium
Aevum Quotidianu m und durch das Institut für Realienkunde des Mittel
al ters und der fr-ühen N euzeit gekennzeichnet sein wird. Das im Herbst
erscheinende Heft 29 wird neuerlich die Kurzfassungen der Kongreßreferate
enthalten.
Der vorliegende Band konzentriert sich zum einen auf die bibliographische
Seite des Faches. Die sowjetische bzw. russische Forschung wird
dadurch abgedeckt und der Beitrag der polnischen Forschung wird ergänzt.
Zum anderen widmen sich wissenschaftliche Beiträge von Mitgliedern unserer
Gesellschaft zwei Problemkreisen, welche von besonderer Bedeutung
für die Erforschung der Geschichte von Alltag und materieller Kultur erscheinen:
der Fragestellung der Kontinuität, die im Beitrag von Johannes
Diethart angeschnitten wird; sowie der Frage nach der Rolle des Quellenwertes
von didaktischer Literatur, der im Aufsatz von Gertrud Blasehitz
nachgegangen wird.
Gerhard Jaritz
7