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Alltagsforschung und Interdisziplinarität

Alltagsforschung und Interdisziplinarität
Helmut Hundsbichler
Alltag und lnterdisziplinarität sind Termini, die im historischen Wissenschaftsbetrieb
viele neue Horizonte eröffuet haben und mit Recht hohe Reputation
genießen. Allerdings eignen sie sich auch als hohle Modeworte und schicke
Prestigebegriffe, mit denen sich „demonstrieren“ läßt, wie sehr man/frau im
Trend liegt. Derartig vordergrundige lnstrumentalisierung ist durchaus keine
Randerscheinung. Sie zielt aber offensichtlich nicht so sehr auf Erkenntnis ab,
sondern hat vor allem die Funktion der machtvollen, beeindruckenden, auch
vereinnahmenden Gebärde. Für den Alltagsbegriff sind solche Tendenzen relativ
bald nach seiner Etablierung aufgezeigt und angeprangert worden. Um ihnen
entgegenzuwirken, haben aus mediävistischer Sicht besonders Hans-Wemer
Goetz und Gerhard Jaritz auf die Notwendigkeit der theoretischen Absicherung
des Alltagsbegriffes und seiner Handhabung hingewiesen‘ (und was den Bereich
Alltag betrifft, folge ich hier diesen beiden Autoren, obwohl man weitaus mehr
und sicherlich auch neuere Literatur nennen könnte). Für den Bereich und den
Begriff der Interdisziplinarität, dem ich mich vor allem zuwenden möchte, ist in
historischen Fachkreisen auffallenderweise keine dem Alltagsbegriff vergleichbare
Meinungsbildung zu registrieren. Und dies ungeachtet der Tatsache, daß
auch hinsichtlich Interdisziplinarität einschlägige und kompetente Vorarbeiten
zur Verfügung stünden: Ich nenne nur den von Jürgen Kocka herausgegebenen
Sammelband und insbesondere die vom Wiener Wissenschaftstheoretiker Fritz
Wallner auf der Basis des Konstruktiven Realismus vertretene Fundieruog von
1 Vgl. folgende Arbeiten und die darin zahlreich zitierte weiterfUhrende Literatur: Gerhard
Jaritz, Zwischen Augenblick und Ewigkeit. Einfiihrung in die Alltagsgeschichte des
Mittelalters. Wien, Köln 1989; Hans-Werner Goetz, Geschichte des mittelalterlichen Alltags.
Theorie- Methoden- Bilanz der Forschung, in: Mensch und Objekt im Mittelalter und in der
frühen Neuzeit. Leben- Alltag- Kultur (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde
des Mittelalters und der frühen Neuzeit 13 = Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie
der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 568) Wien 1990,67-101.
7
Interdisziplinarität2• Solche Literaturverweise zeigen bereits unmißverständlich,
daß es eine „klassische“ interdisziplinäre Aufgabe darstellt, sich über
Interdisziplinarität Klarheit zu verschaffen und sich Interdisziplinarität
anzueignen. Das Fehlen eines Theoriebewußtseins ist insofern ein signifikantes,
aber dann natürlich auch ein böses Omen: Gerade die theoretische Fundierung
wäre das oberste Kriterium, nicht einfach nur um sich als interdisziplinär
„auszuweisen“, sondern weil überhaupt nur sie „die“ gemeinsame Basis für
inter- oder pluridisziplinäre Arbeit und Kommunikation sein kann3. Ohne
theoretische Absicherung muß es formlieh-in wohl nicht zufälliger Parallele zu
den „Schwierigkeiten mit dem Alltag“ – auch ,,Mißverständnisse hinsichtlich
Interdisziplinarität“ geben. Aber anstatt „interdisziplinär“ auf vorhandene
Ansätze zurückzugreifen, scheinen die historischen Wissenschaften die
lnterdisziplinarität weithin eher wie ein Zauberwort zu benützen, das man/frau
auf die eigenen Fahnen heftet, ohne lang nach involvierten Vorbedingungen
oder Folgeerscheinungen zu fragen. Gerade eine solche Mitläufer-Manier
manifestiert, wie ich hoffe zeigen zu können, das genaue Gegenteil von
Interdisziplinarität: Sie ist der beste Indikator dafür, daß keine Interdisziplinarität
im Spiel ist. Um nun den Begriff Interdisziplinarität von seiner quasi
„tabuisierten“ und „ideologisierten“ Aura zu befreien, stelle ich meinen Beitrag
als Denkanstoß zur Diskussion 4.
Meinen Ausgangspunkt bildet der Bereich des Alltags, denn dieser
erscheint ja für die Assoziation mit und für die Applikation von Interdisziplinarität
besonders prädestiniert: Einerseits ist es von den unterschiedlichsten
Disziplinen her möglich, alltagsgeschichtliche Perspektiven zu wählen, und
andererseits steht damit die Alltagsgeschichte – als Arbeitsfeld wie als Ertrag
der Forschung gesehen – selbst inter discip linas. Zum hier geplanten Kontext
gehören ferner manch andere Fragen von prinzipiellem Stellenwert, die ich aber
2 Jürgen Kocka (Hrsg.), lnterdisziplinarität. Praxis -Herausforderung- Ideologie (subrkarnp
laschenbuch Wissenschaft 671) Frankfurt/M. 1987; Fritz Wallner, Acht Vorlesungen zum
Konstruktiven Realismus (Cognitive Science I) Wien 1990.
3 Grundlegende Überlegungen hierzu s. bei Jürg Tauber, Archäologische Funde und ihre
Interpretation, in: Marnoun Fansa (Hrsg.), Realienforschung und historische Quellen
(Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland, Beiheft 15) Oldenburg 1996, 171-
187 (hier bes. 171-174).
4 Das vorliegende Thema habe ich zum ersten Mal im Rahmen eines Gastvortrages behandelt,
den ich arn II. Dezember 1995 an der Emst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald vor dem
Arbeitskreis fiir Mittelalterforschung arn Historischen Institut (Leitung: Prof. Dr. Karl-Heinz
Spieß) gehalten habe. Herrn Dr. Ulrich Müller vom Greifswalder Institut fiir Ur- und
Friihgeschichte bin ich zu aufrichtigem Dank fiir die Vermittlung dieser Einladung
verpflichtet: Sie war fiir mich der unmittelbare Auslöser, um das Thema lnterdisziplinarität
aufzugreifen, und die spontane Akklamation, die dem Vortrag zuteil geworden ist, bat mich
zur Herstellung einer Druckfassung ermutigt. Den hiermit vorliegenden Beitrag widme ich
daher den Greifswalder Kolleginnen und Kollegen als Zeichen der persönlichen Verbundenheit.
Die nurunehrige Druckfassung gibt einen schrittweise gereiften, aktuelleren Informationsstand
wieder.
8
nicht alle in gleicher Intensität behandle:
– die qualitativen Möglichkeiten und Grenzen der Quellenauswertung, und
damit verbunden
– die Faßbarkeit von Realität bzw. die notwendige Relativierung des Realitätsbegriffs5;
-die quantitativen Möglichkeiten und Grenzen des Wissenschafters als Einzelperson,
und damit verbunden
-die Problemstellungen Fremdheit vs. Partnerschaft bzw. Egozentrik vs. Kommunikation6.
Bewußt kein Schwerpunkt liegt auf den mitunter ostentativ ausgewalzten
Methodenfragen: So, wie es „eine“ oder gar „die“ alltagsgeschichtliche Methode
nicht gibt, wird sich auch zeigen, daß man von „einer“ oder gar von „der“
lnterdisziplinarität nicht sprechen kann. Und das Postulat, daß wir methodisch
und theoretisch fundiert arbeiten müssen, sollte wie gesagt ohnehin obsolet sein.
Insofern ist die vorliegende Erörterung von Fragen der Interdisziplinarität an
Vertreter/innen aller Disziplinen adressiert, die sich mit der Vergangenheit
befassen (aber es wäre natürlich ein Widerspruch in sieb zu glauben, daß
Interdisziplinarität ein Privileg der historischen Wissenschaften wäre). Hervorzuheben
ist in diesem Zusammenhang andererseits,
-daß die Erkenntnismöglichkeiten für die Erforschung von (historischem) Alltag
fachlich kaum eingrenzbar sind7;
– daß es darüber hinaus um vieles erkenntnisfordernder wäre, wenn die
jeweiligen Forscherpersönlichkeiten auch eine bessere Kenntnis ihrer eigenen
Mentalität und Bewußtseinslage zum Ziel ihrer „fächerübergreifenden Ver-
5 Hierzu s. Jaritz, Zwischen Augenblick und Ewigkeit 15-25; Heiko Steuer, Archäologie und
Realität mittelalterlichen Alltagslebens, in: Die Vielfalt der Dinge. Neue Wege zur Analyse
mittelalterlicher Sachkultur (Forschungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde,
Diskussionen und Materialien 3) Wien 1998, 399-428; im besonderen s. die in Anm. 20 und
30 zitierte Literaturauswahl sowie die Beiträge von Gerhard Jaritz, Keith Moxey, Nils-Arvid
Bringeus und Jean-Claude Sehnlitt in: Pictura quasi fictura. Die Rolle des Bildes in der
Erforschung von Alltag und Sachkultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Forschungen
des Instituts für Realienkunde, Diskussionen und Materialien I ) Wien 1996.
6 Hierzu s. Helmut Hundsbichler, Sachen und Menschen. Faust und die Erkenntnis der
Realität, in: Fansa, Realienforschung 11-28 (hier 17-20); ders., Sachen und Menschen. Das
Konzept Realienkunde, in: Die Vielfalt der Dinge 29-62 (hier 49-56); ders., Der Faktor
Mensch in der interdisziplinären Kulturforschung. „Experimentelle“ Thesen aus mediävistischer
Sicht, in: Konrad Bedal – Sabine Fechter – Hermann Heidrich (Hrsg.), Haus und
Kultur im Spätmittelalter (Quellen und Materialien zur Hausforschung in Bayern 10 =
Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums 30) Bad Windsheim 1998, 9-18
(hier 11-17); ders., Re-Konstruktion, Re-Präsentation, Re-Vision. Zum fachübergreifenden
Denken in der mittelalterlichen Hausforschung, in: Uwe Meiners (Hrsg.), Dinge und
Menschen. Geschichte, Sachkultur, Museologie. Festschrift fiir Helmut Ottenjann. Oldenburg
1999 (im Druck).
1 Jaritz, Zwischen Augenblick und Ewigkeit 25 f.
9
netzungen“ erklären würden8; und
– daß letztlich wohl erst ein dahingehend erweiterter Stand von Bewußtsein und
Selbstreflexion den von Ute Daniel mit Recht angeprangerten ,,Methodenfetischismus“
verhindert9•
————-�objek0
I
————� QualitäO
Abb. I: ,,Alltagsverbindungen“ nach Gerbard Jaritz.
Aus: Jaritz, Zwischen Augenblick und Ewigkeit 13.
Mittels einer bewährten Graphik konkretisiert Gerhard Jaritz jene
potentielle Vielfalt von „Verbindungen“, die Alltag konstituieren, und ordnet
ihnen jene Vielzahl von Untersuchungskriterien zu, die die Erforschung von
Alltag charakterisieren (Abb. I). Diese Graphik ist im Grunde nichts anderes als
eine auf das Wesentliche reduzierte Formel für das „wirkliche“ Leben:
Ihrzufolge besteht im Kontext des real gelebten Alltags nebeneinander und
simultan Freiraum flir das Zustandekommen unendlich vieler, also unterschiedlicher
Realitäten und Alltäglichkeiten: Jedes Individuum hat seinen
eigenen Alltag, denn es entscheidet autonom dariiber, welche der übrigen Determinanten
wann und wie miteinander in Beziehung treten. Damit erweist sich die
„Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ in der Mikrogeschichte quasi als der
Normalfall, und „den“ Alltag gibt es nicht. Beide Phänomene verweisen auf
8 Hundsbichler, Das Konzept Realienkunde 33 f.; ders., Re-Konstruktion (im Druck).
9 Für Ute Daniel liegt Methodenfetischismus dann vor, wenn die methodische Absicherung
einer Arbeit das Hauptanliegen bildet, ohne darüber hinaus zur eigentlichen Interpretation und
zu inhaltlichen Ergebnissen zu gelangen: s. Ute Daniel, Quo vadis, Sozialgeschichte? Kleines
Plädoyer fiir eine hermeneutische Wende, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Sozialgeschichte,
Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion (Kleine Vandenhoeck-Reihe I 569)
Göttingen 1994, 54-64 (hier 56 ff.).
10
einen beträchtlichen Pluralismus. Und der repräsentiert genau jenes Segment der
Alltagsgeschichte, das deren charakteristische Vielzahl fächerübergreifender
Ansätze und Einstiege ermöglicht (= gewissermaßen der deduktive Weg von
Alltagsforschung). Erst die Gesamtschau aller greifbaren/erforschbaren Individual-
Alltage kann (fiktiv) zu einem ,,zeittypischen“ Universal-Alltag integriert
werden – und das wäre eine fächerübergreifende Aufgabe in der umgekehrten
Richtung (= gewissermaßen der induktive Weg).
„“entalitäten
Strukturen
Abb. 2: Der komplexe Kontext von Leben/Alltag/Geschichte (nach Ewald K.islinger).
Aus: Hundsbichler, Perspektiven 93, Abb. 3.
Der Wiener Byzantinist Ewald Kislinger hat 1 987 von einem Schema
konzentrischer Kreise gesprochen, um die Spannweite von ,,Realienkunde“ zu
illustrieren10 {Abb. 2). Demnach ist reine „Sach“-Forschung gewissermaßen das
beschränkteste Blick- und Arbeitsfeld. Erweiterte Perspektiven und
Arbeitsbereiche sind nach diesem Modell etwa: die Beziehung Mensch-Objekt;
Alltag und Lebenswelt; Mentalitäten und Strukturen. Die jeweils kleineren
Kreise sind gegen die jeweils größeren aber nicht abgegrenzt, sondern stufenlos
10 Ewald Kislinger, Notizen zur Realienkunde aus byzantinistischer Sicht, in: Medium Aevum
Quotidianum Newsletter 9 ( 1987) 26-33 {hier 28 f.).
l l
und kontinuierlich in sie integriert. Aus psychologischer und soziologischer
Sicht ist beispielsweise die Sach-Forschung nicht jener ,,zentrale“ Angelpunkt,
als der sie aus geometrischer Sicht erscheinen würde. Denn die materiellen
Dinge gehören untrennbar zur Lebens-Sphäre jeder Person, und zunächst sind
sie eine Sache des menschlichen Bewußtseins und der Mentalitäe 1• Material,
Form, Funktion und Wertschätzung etc. erhalten sie aufgrund geistiger
Vorarbeit. Alle Kreise zusammen umreißen jenen komplexen Kontext, der den
„eigentlichen“ Gegenstand der Historie bildet, nämlich die ,,Realität“ von einst.
Die Konkreta bilden also eine Einheit mit den Abstrakta, und um die Realität
„richtig“ zu sehen, muß man in eine Betrachtung der Konkreta die Abstrakta
genauso einbeziehen wie umgekehrt die Konkreta in eine Betrachtung der
Abstrakta:12 Offensichtlich erschiene das Studium der mittelalterlichen Sakralarchitektur
ohne religionsgeschichtliche Basis als inkompetent, und ebensowenig
könnte mittelalterliche Mentalität ohne Beriicksichtigung materieller
Ausformungen nachvollzogen werden.
Aus beiden Graphiken geht klar hervor, daß jeder alltagsgeschichtlich
orientierte Fächerverbund potentiell über die herkömmlichen historischen
Wissenschaften weit hinausreicht: Die nouvel/e histoire, die diesbezüglich
richtungsweisend ist13, spricht daher lieber von den sciences humaines.
Charakteristische Konstituenten hiervon sind Soziologie, Ethnologie,
Historische Geographie, Historische Anthropologie, Historische Verhaltensforschung
und Psychologie. Als grundlegend erweisen sich weiters etwa die
Philosophie der Geschichte und die Erkenntnistheorie (mit der Psychologie und
Biologie der Wahrnehmung). Die anzustrebende lnterdisziplinarität muß/müßte
also die „Wissenschaften vom Menschen“ und die „Wissenschaften vom Leben“
umfassen. Angesichts solcher Dimensionen ist unmittelbar evident, daß keine
ihrer realisierbaren Formen jemals erschöpfend sein kann und wird, und kein
ernsthaftes Plädoyer für lnterdisziplinarität wird in diese Richtung gehen.
Vielmehr repräsentiert ein interdisziplinär erarbeitetes Bild von vomherein nur
11 Michael Landmarm, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. München, Basel
196 J; Josef Rann er, Tugend und Laster. Tiefenpsychologie als angewandte Ethik (Fischer
Taschenbuch 10410 =Psychologie Fischer 1980) Frankfurt /M. 1 99 1 , 2 1 3 ff.
12 Helmut Hundsbichler, Perspektiven fiir die Archäologie des Mittelalters im Rahmen einer
Alltagsgeschichte des Mittelalters, in: Jürg Tauber (Hrsg.), Methoden und Perspektiven der
Archäologie des Mittelalters (Archäologie und Museum 20) Liestal 1 99 1 , 85-99 (hier 93);
vgl. zuletzt Helmut Hundsbichler, Sampling or Proving ,Reality‘? Coordinates for the
evaluation ofhistorical/archaeology research, in: David Gaimster- Paul Staroper (Hrsg.), The
Age of Transition. The Archaeology of English Culture 1400-1600 (Tbe Society for Medieva1
Archaeology Monograph 15 = Oxbow Monograph 98) Oxford 1 997, 45-61 (hier 47);
Hundsbichler, Das Konzept Realienkunde 39 f.
13 Jacques Le Goff et al. (Hrsg.), Die Rückeroberung des Historischen Denkens. Die
Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft. Frankfurt/M. 1990; Peter Burke (Hrsg.), The
French Historical Revolution. The Annales School, 1929-89. Carnbridge 1 990; Mattbias
Middell – Steffen Sammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der
„Annales“ in ihren Texten 1 929-1992 (Reclarn-Bibliothek 1479) Leipzig 1 994.
12
ein vergleichsweise dürftiges Surrogat fiir den komplexen Kontext der ,,Realität
von einst“ – aber andererseits schafft Interdisziplinarität erst wieder das einzig
mögliche und maximale Korrelat. Selbst der ausgeklügeltste „Fächerverbund“
gleicht letztlich bloß dem Nadelstich einer Probenentnahme aus der
uneinholbaren „Vielfalt der Dinge“14• Graduell würde natürlich nur ein
möglichst reichbestückter ,,Fächerverbund“ die größtmögliche Annäherung an
jene Vielfalt versprechen. Aber prinzipiell wird nie mehr als eben nur eine
Annäherung umsetzbar sein. Nie ist die authentische Vielfalt als Ganzes
nachvollziehbar, nie wird „die“ Realität als Ganzes greifbar, und niemals wird
diese Schere zwischen Wollen und Können aus der Welt zu schaffen sein:
Hinsichtlich des Verständnisses von Abbildungen ist dieses Phänomen
nachvollziehbar gemacht worden durch den Vergleich, daß sich die
Wahrnehmungsfähigkeit eines Zeitgenossen von der eines nachmaligen Interpreten
in gleicher Weise unterscheide wie jene eines „participants“ von der eines
„observers“15• Es ist also nötig, Interdisziplinarität von vornherein nicht mit
unrealistischen Erwartungen zu verknüpfen, und es erscheint Gelassenheit
geboten, um die Grenzen der individuellen Erkenntnismöglichkeiten zu
akzeptieren.
Das Bestreben, „alles“ wissen zu wollen, wird im Gleichnis von Adam
und Eva in aller Schicksalbaftigkeit problematisiert und relativiert, und es wird
neu thematisiert, als sich das wissenschaftliche Weltbild vom religiösen abzulösen
beginnt: am bekanntesten wohl mit der Figur des Doktor Faust, aber sehr
eindringlich auch durch Sebastian Brants Metapher des bücherstrotzenden
Professors als Archetypen aller Narren. Sie alle sind didaktische Modelle, die
wir daher nach der zeitlos gültigen Dimension ihrer Aussage befragen können.
Das biblische Gleichnis lehrt, daß Erkenntnisverzicht fiir den homo faber
eine ur-schwierige Aufgabenstellung ist, und gleichzeitig akzentuiert es das
Teuflische an der Erkenntnis-Falle: Eritis simultudine domini scientes bonum et
malum (Gen. III, 5). Nicht die absolute Allwissenheit etwa macht also die
Gottähnlichkeit aus, sondern das Wissen um die Verantwortung. Je ambitionierter
die Erkenntnisziele, desto klarer münden sie in diese religiös ohnehin
längst definierte Vorgabe, die man nur „aus anderer Sicht“ interpretieren müßte.
In ähnlicher Weise entlarven die beiden anderen Symbolfiguren extensives
Streben nach Wissen als selbstgefälliges und fruchtloses Machertum: Doktor
Faust gelangt trotz seiner außerordentlichen (nämlich sogar ,,interfakultären“)
Interdisziplinarität bekanntlich zur resignierenden Schlußfolgerung, „daß wir
nichts wissen können“. Und der Narr im professoralen Kleid (Abb. 3) versucht
erst gar nicht, so weit vorzudringen: Wer vil studiert würt ein fanfast (1, 22).
Seine Strategie beruht vielmehr darauf, daß man mit öffentlich anerkanntem
Kompetenzgehabe (= Outfit und Ambiente standeskonform, teure Medien in
großer Zahl und bestens gepflegt) den Willen zum Wissen überzeugend zur
14 Hundsbichler, Das Konzept Realienkunde 31.
15 Jaritz, Zwischen Augenblick und Ewigkeit 7 1 -93 (nach Michael Baxandall).
13
Schau stellen kann, ohne ihn überhaupt in Erkenntnis umzusetzen: U.ff myn /ibry
ich mych ver/an. Von buechern hab ich grossen hort I Verstand doch drynn gar
wenig wort I Und halt sie dennacht jn den eren I Das ich jnn will der fliegen
were11 (1, 4-8)16•
Abb. 3: „Von unnützen Büchern“:
Der Weg der Erkenntnis ist keine Vergnügungsreise.
Aus: Lemrner, Sebastian Brant 7.
Geradewegs ein Rückfall in die Einfalt wäre es also zu meinen, man
könne den erwähnten Nadelstich-Charakter unserer individuellen Erkenntnismöglichkeiten
durch enstprechend großzügige ,,Fächervemetzungen“ entschei-
16 Zitiert aus Sebastian Brant, Das Narrenschiff, hrsg. von Manfred Lernmer (Neudrucke
deutscher Literaturwerke, N. F. 5) 3. Aufl. Tübingen 1986, 7 f.
1 4
dend überwinden. Einerseits ist es ja ohnehin nur Definitionssache, wie man ein
wissenschaftliches Fach absteckt17, und andererseits können einzelne ,,Fächer“
dann schon fur sich „allein“ genommen hochdifferenzierte Netzwerke und
weitausgreifende Verbünde darstellen18• Jener sozusagen technokratische, fiir
den „faustischen“ und „närrischen“ homo faber der Neuzeit freilich typische
Denkansatz würde letztlich nur unbelehrbar das alte Sisyphos-Syndrom
wiederholen: Immer wieder von neuem wird ein Stein hinaufzuwälzen sein, und
die Sentenz, daß alles Wissen Stückwerk ist, läßt sich nicht (und nicht und nicht
… ) aushebeln. Insofern ist die Wertigkeit von Interdisziplinarität jener der
Demokratie vergleichbar: Sie hat beträchtliche Mängel, aber es gibt keine
bessere Möglichkeit – in diesem Fall, um einen so hochgradig pluralistisch
determinierten Kontext nachzuzeichnen wie „die“ (oder auch nur „eine“)
Realität19•
Hier zeigt sich, daß wir zur Klärung des Wesens von Interdisziplinarität
an einer entscheidenden Vorbedingung nicht vorbei können: an der Definition
von Realität. Aber nicht nur die Notwendigkeit der theoretischen Absicherung
hat der Realitätsbegriff mit dem Alltagsbegriff gemeinsam, sondern eine solche
Neufundierung läßt auch Umwälzungen von vergleichbarer Reichweite absehen:
Denn wenn zutrifft, was aus den ,,Alltagsverbindungen“ von Gerhard Jaritz
hervorgeht, nämlich daß es „den“ Alltag nicht gibt, lautet die Folgerung, daß es
auch „die“ Realität nicht gibt. Das wäre im Grunde freilich schon deshalb nicht
verwunderlich, weil Alltag im Prinzip ebenso gleichbedeutend mit Realität ist
wie etwa Geschichte mit Leben. Es kündigt sich also quasi ein Nachziehverfahren
an, das analog zum Alltagsbegriff früher oder später auch den
Realitätsbegriff der Historie auf ein innovatives theoretisches Fundament stellen
wird20 (und auf die betreffende Problemlage gehe ich gleich ein). Der ganze
Fragenkomplex ist von umso größerer Tragweite und verdient in der Historie
umso mehr Augenmerk, weil das Selbstverständnis jeder Art historischer For-
17 Vgl. etwa die Verweise auf Definitionen von Neil Postman und Karl Popper bei Helge
Gemdt, Studienskript Volkskunde. Eine Handreichung fiir Studierende (Münchner Beiträge
zur Volkskunde 20) Münster, New York, München, Berlin 1 997, 42 und 73.
1
8 Nach Heinrich Appelt gebraucht etwa die Realienkunde „einfach … die historische
Methode im weitesten Sinne des Wortes“ (Hundsbichler, Das Konzept Realienkunde 41 ); s.
weiters die Definition fiir Archäologie des Mittelalters bei Walter Janssen, Die Stellung der
Archäologie des Mittelalters im Gefüge der historischen Wissenschaften, in: Beiträge zur
Mittelalterarchäologie in Österreich 4/5 ( 1988/89) 9-18; ein besonders prägnantes Beispiel fiir
Weitläufigkeit ist die Definition von Volkskunde (Gemdt, Studienskript 73 -80).
19 Hundsbichler, Das Konzept Realienkunde 31; ders., Re-Konstruktion (im Druck).
20 Vgl. z. B.: Hayden White, Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie,
in: ders., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung.
􀀜rankfurt/M. 1990, 40-77; Geschichte beobachtet. Heinz von Foerster zum 85. Geburtstag=
Osterreichische Zeitschrift fiir Geschichtswissenschaften 8 / 1 ( 1997); John Moreland, Through
the Looking Glass of Possibilities: Understanding the Middle Ages, in: Die Vielfalt der
Dinge 85- 1 1 6 ; Friedrich Jaeger, Geschichtstheorie, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.),
Geschichte. Ein Grundkurs (rowohlts enzyklopädie 55576) Reinbek 1998, (hier bes. 736 ff.).
15
schung traditionellerweise ja vorrangig an „der“ Realitätstindung aufgehängt ist.
Bezüglich „der“ Realität sind nun zwei grundverschiedene Auffassungen zu
unterscheiden:
Einerseits können sich Historiker/innen aus der Tradition des Faches
heraus einer strikten Wahrheitstindung verpflichtet wähnen. ,,Aufzeigen wie es
eigentlich gewesen ist“, lautet die für dieses Dogma fixierte Abbreviatur nach
Leopold von Ranke. Aber gerade der hierin ausgedrückte Anspruch ist als
unerfüllbar erkannt worden: Der Historiker kann gar nicht direkt an die
Geschichte heran, weil sowohl seine Quellen als auch seine fachliche Interpretation
als auch jede noch so „greifbare“ Re-Konstruktion nur Zwischenmedien
darstellen und bloß Re-Präsentationen ermöglichen. Nichts davon ist mit
Geschichte gleichzusetzen. Andernfalls müßte der Historiker befähi􀀡 sein,
Geschichte 1 : 1 nachzuleben oder sie auch nachträglich zu ändern 1• Mir
erscheint es insofern nicht nur am treffendsten und ehrlichsten, sondern auch am
einfachsten und innovativsten, alle historische Erkenntnis als „virtuelle Realität“
zu qualifizieren (und zwar trotz der unvermeidlichen Blendwirkung dieses
hochaktuellen, eben leider auch wieder prestigetriefenden Begriffes). Falls diese
Qualifizierung bei Ihnen Vorbehalte auslösen sollte, will ich dies zumindest zu
erklären versuchen: Wir alle sind dermaßen auf das hehre Prinzip der Wahrheitsfindung
eingeschworen, daß wir eine alternative Bezugsebene zunächst
überhaupt nicht „wahr“ haben wollen. Dieser rigide Wahrheitsbegriff verwischt
unser Bewußtsein dafür, daß wir ,,realiter“ andauernd auf einer virtuellen Bühne
agieren, die nur eine Programmnische bespielt: Unser „Abenteuer im Kopf‘. An
Indizien hierfür mangelt es nicht. Sie erfassen gleichennaßen die olympischen
Höhen unseres akademischen Selbstverständnisses wie auch die routinisierten
Tiefen unserer alltäglichen Knochenarbeit: Musterbeispiel für den einen Fall ist
unsere imagebewußte Eigenwerbung mit attraktiven ,,Zeitreisen“ oder mit
,,Zeitmaschinen“, die wir angeblich anbieten können22; Musterbeispiel für den
anderen Fall ist ein zweigeschossiges Stadthaus aus dem Spätmittelalter, das
aufgrund einer Teilungsurkunde aus 1303 ,,rekonstruiert“ werden konnte (Abb.
4), obwohl es physisch längst nicht mehr existierte23. Die Grundsätzlich.keit und
die Unumstößlichkeil des „virtuellen“ Charakters aller Geschichtserkenntnis
kommt übrigens auch ganz klar zum Ausdruck in der Konzeption und in der
Terminologie jener Graphik, mit der Hans-Werner Goetz veranschaulicht, wie
Historiker/innen zu ihremjeweiligen Geschichts-Bild gelangen (Abb. 5).
21 Erich Heintel, Wie es eigentlich gewesen isl Ein geschichtsphilosophischer Beitrag zum
Problern der Methode der Historie, in: Erkenntnis und Verantwortung. Festschrift für Theodor
Litt. Düsseldorf 1960, 207 -230; vgl. Hundsbichler, Das Konzept Realienkunde 51 ff.
22 Salvatore Settis, Die Zeitrnaschine. Über den Umgang mit Geschichte, in: Ulrich Raulff
(Hrsg.), Vorn Umschreiben der Geschichte (Wagenbachs Taschenbücherei 131) Berlin 1986,
147-154.
23 Oskar Moser, Die Räume eines Villaeher Bürgerhauses um 1300, in: Carinthia I 165 (1975)
269-282.
16
; 8 :
I
I 􀀈􀀉 –::-··· -Pl—:.: . – -􀃦 . q‘. · 􀀠i a:.. ·· ,‘ 9b f
Ob 10:a :
Dachgeschoß
Obergeschoß
Erdgeschoß
1 die fulte
2 die alte stube
3 die rnichele chemnate
4 die wenige chemnate
5 das mueshaus
6 der gmach ob den
fleischpengkhen
7 das wenige stubelein
under dem tuemlein
8 unnder dem dache
9 die rauchlibe
10 das privat
Querschnitt
Abb. 4: Unser „Abenteuer im Kopr‘ erzeugt „virtuelle Realität“.
Aus: Moser, Räume 281
17
Geschichtsbild der Gegenwart
Abb. 5: Die Erarbeitung des (persönlichen) Geschichtsbildes.
Aus: Hans-Wem er Goetz, Proseminar Geschichte: Mittelalter (Uni-Taschenbücher 1 7 1 9)
Stuttgart 1993, 22, Abb. 3.
Die ,,andere“ Sichtweise basiert auf der einsichtigen und paradoxeiWeise
.,realistischen“ Frage: .,Wie wirklieb ist die Wirklicbkeit?“24 Zur Einfiibrung in
die betreffende Problemlage kann Karl Poppers „Scheinwerfer-Theorie“ -helfen:
Sie vergleicht die Situation des Historikers metaphorisch mit einem Scheinwerfer,
der in einer bestimmten Position auf Distanz steht, sodaß es jeweils nur
möglich ist, einen Ausschnitt jenes Ganzen auszuleuchten, dessen Erhe11ung
„eigentlich“ beabsichtigt wäre25• Diese Metapher paßt maßgenau zu einem meist
unbeachteten, aber fiir unser Problemfeld elementaren Phänomen, und das ist die
angeborene Egozentrik des Menschen: Unsere genetisch vorgegebene Eigenweltlichkeit
bedeutet, daß jede Wahrnehmung und Erfahrung oder auch
Fragestellung von einer individuellen Position aus erfolgt und daher auch entsprechend
individuell ausfällt26.
24 Zum grundsätzlichen Stellenwert dieser Frage s. Wallner, Acht Vorlesungen 1 6 f.; Albert
Müller – Kar! H. Müller – Friedricb Stadler (Hrsg.), Konstruktivismus und Kognitionswissenschaft.
Kulturelle Wurzeln und Ergebnisse. Wien, New York 1 997; vgl. weiters die
Literaturangaben oben, Anm. 20, sowie bei Hundsbichler, Das Konzept Realienkunde 45,
Anm. 48.
25 Kar! Popper, Über Geschichtsschreibung und über den Sinn der Geschichte, in: ders.
(Hrsg.), Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. 5. Aufl.
München, Zürich 1995, 1 7 3 -205 (hier 175).
2 6 Helmut Hundsbichler, „Eigenwelten“ und das „Fremde“, in: Bericht über den 19.
Österreichischen Historikertag 1 992 (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer
Historiker und Geschichtsvereine 28) Wien 1993, 361 -364; ders., Sachen und Menschen 1 7 –
20; ders., Das Konzept Realienkunde 49-56.
18
Auf diese Weise ,,konstruieren“ wir die uns umgebende Realität, und
indem wir unsere Forschungsgegenstände definieren, ,,konstruieren“ wir auch
diese. Das gleiche gilt natürlich für das erwähnte Definieren von Fächern wie
auch für dasjenige von ,,Fächerverbünden“.
Dimensionen- Die Welt der Wissenschaft
AEIOU:
Alles Eigene ist
ohnehin unbekannt.
Zur Geschichte und
aktuellen Situation
der Forschung in
Österreich.
Tag der Osterreichischen Akademie
der Wissenschaften 1996
Mittwoch, 8. Mai 1996
19.00 bis 19.30 Uhr
Osterreich 1
Ö1 gehört gehört.
Abb. 6: Dien-te Verfremdung der Devise ,,AEIOU“.
Einladung zu einer der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
gewidmeten Radiosendung, 1 996.
19
Im Kontext solcher Konstrukte ist eine neue Wahrnehmung oder Erfahrung
oder Erkenntnis für den Menschen zunächst eine Konfrontation mit etwas
Fremdem (Abb. 6). Oder umgelegt auf die Graphik von Hans-Werner Goetz (die
man näherungsweise als umgekehrte Lesart der Scheinwerfer-Metapher sehen
kann): Jene Informationen, die uns die Quellen über die eigenweltliche ,,Realität
der participants“ vermitteln, werden von uns ebenfalls eigenweltlich determinierten
„observers“ auf der Basis unserer individuellen, also subjektiv verschiedenen
Kenntnisse und Erfahrungen dekodiert und analysiert. Auf diese Weise
findet im Rahmen der Quellen-Interpretation „tatsächlich“ dasjenige statt, was
dieser Begriff meint, nämlich eine Übersetzung: eine Übersetzung aus der einen,
eigenweltlich determinierten Realität eines „participants“ in eine komplett
andere, auch ihrerseits eigenweltlieb determinierte Realität eines „observers“.
Abb. 7: Verschiedene Realitäten: Die Intentionen der „observers“
unterscheiden sich vonjenen der „participants“. Federzeichnung, 1355/60,
Krumauer Bildercodex. Wien. Österreichische Nationalbibliothek, cod. 370, fol. 100•.
Aus: Gerhard Schmidt-Franz Unterkireher (Hrsg.), Krumauer Bildercodex.
Ö NB Codex 370, Facsimile-Band (Codices selecti 13) Graz 1967.
Die Absichten der „observers“ sind nicht identisch mit jenen Intentionen,
die die „participants“ mit jeweils einunddenselben Informationen verfolgten:
Eine Zimelie der mittelalterlichen Hausforschung27 etwa ist „in Wirklichkeit“
27 Josef Vafecka, Der mittelalterliche ländliche Hausbau in Böhmen, in: Bedal – Fechter –
Hermann, Haus und Kultur 192-200 (hier 192 f.).
20
ein zeitgenössischer Bildbericht über eine Hochwasserkatastrophe (Abb. 7). Unsere
„Übersetzung“ kann also nur „wirklich“ realitätsnah sein, wenn sie auf den
authentischen Kontext abhebt, aus dem heraus eine Quelle entstanden ist.
Virtuelles Kriterium hierfür wäre quasi die gedachte Akzeptanz unserer
„Übersetzung“ durch die „participants“. Dies erfordert einen partnerschaftliehen
Umgang mit der Fremdheit von Geschichte28• All diese Überlegungen Jassen
ermessen, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, daß das von uns in Erfahrung
gebrachte historische ,,Bild“ jemals deckungsgleich sein kann mit der „eigentlichen“,
authentischen ,,Realität von einst“: ,,Die ,Realität des Bildes‘ bleibt die
,Realität des Bildes‘, die ,Realität der Reisebeschreibung‘ bleibt die ,Realität
der Reisebeschreibung‘; sie können nicht zur Realität des Lebens werden.“29
Aber die kurzen diesbezüglichen Darlegungen zeigen auch schon, daß sich
sofort beträchtliche fächerübergreifende Dimensionen auftun, wenn man
versucht, sich über die Greifbarkeit von ,,Realität“ Rechenschaft abzulegen.
Interdisziplinarität und die Suche nach Realität bedingen einander.
Der Konstruktive Realismus geht noch eine Ebene tiefer und versucht
bzw. vermag die eben besprochenen Phänomene von der Erkenntnistheorie her
zu erklären (und hierin liegt auch der Schlüssel zu einer innovativen Definition
von Interdisziplinarität): Fragestellungen, Handlungen, Erkenntnisse jedes
Menschen hängen vom jeweils subjektiven Informationsniveau ab. Diese Vorbedingung
bewirkt, sehr vereinfacht gesprochen, daß „die“ objektive Wirklichkeit
jeweils individuell verschieden wahrgenommen und auf diese Weise unbewußt
„eine“ (= individuelle) Realität ,,konstruiert“ wird30• Peter Ustinov verdanke ich
ein illustratives Beispiel hierfür: Alle Tänzer sehen einunddenselben
Kronleuchter im Ballsaal – aber jeder aus einem ständig wechselnden Blickwinkei31
. In umgekehrter Richtung ist diese Konstellation nutzbar, um historisch
vorgegebene Konstrukte von ,,Realität“ (= Quellen) ,,realitätsnah“ zu interpretieren:
Gerade etwas Fremdes (= das Wesen aller Forschung) werde ich umso
zuverlässiger wahrnehmen, je fremd-artiger die Wege sind, die ich hierfür finde.
Eine Ent-fremdung von Geschichte ist mir als „observer“ ohnehin nicht
möglich, aber ich kann Geschichte verstehen, sobald ich „anders“ als bisher
nach ihr frage ( Ver-fremdung)32.
Man sieht, die Prämisse der Eigenweltlichkeit wird in unserer
Argumentation immer zentraler. Und in der Tat haben wir auf der Suche nach
Realität hier deren absolute Nahtstelle zur Rolle von Interdisziplinarität erreicht,
28 Hundsbichler, Das Konzept Realienkunde 49-56.
29 Jaritz, Zwischen Augenblick und Ewigkeit 19.
30 Wallner, Acht Vorlesungen, hier bes. 39-57 (Von Wirklichkeit und Realität; Wahrheit im
Konstruktiven Realismus); s. dazu Humberto R. Maturana – Francisco J. Varela, Der Baum
der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens ( Goldmann Taschenbuch
1 1 460) Bern, München 1987.
31 Aus einer 1997er Ausgabe seiner Kolumne „Weitblick“ in der Wochenend-Beilage
„Freizeit“ zur Österreichischen Tageszeitung „Kurier“.
32 Zum Prinzip Verfremdung s. Wallner, Acht Vorlesungen 1 5 f., 26, 28 und passim.
2 1
wie sie vom Konstruktiven Realismus her definierbar ist: Interdisziplinarität
hängt an der Fähigkeit, einunddieselbe Wirklichkeit „anders“ zu sehen und auf
dem Wege der verfremdenden „Übersetzung“ unterschiedliche ,,Realitäten“
wahrzunehmen.
Abb. 8: Die Dinge „anders“ sehen.
Aus: lrvin Rock, Wahrnehmung. Vom visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen
(Spektrum-Bibliothek 6) Heidelberg 1998.
Die Dinge „anders“ sehen zu können, ist zunächst freilich überhaupt kein
Kriterium für Wissenschaftlichkeit, sondern es handelt sich, wie ich jetzt zeigen
möchte, um eine durch und durch alltagsrelevante Fähigkeit: Sie ist der
Schlüssel zur Überwindung unserer naturgegebenen Eigenweltlichkeit, auch der
Schlüssel zur Diskussionsfähigkeit, der Schlüssel zum alltäglichen Lernen.
,,Anders sehen“ steht als Sammelbegiff für alles, was das sprichwörtliche Brett
vor dem Kopf unbewußt unserer individuellen Wahrnehmung entzieht (Abb. 8).
Um zu demonstrieren, daß dabei ganz alltägliche, objektiv vorhandene
Wirklichkeit ignoriert werden kann, ,,konstruiere“ ich ein kleines Kapitel aus der
Eisenbahngeschichte, nämlich das Verhalten der Passagiere an den
Zwischentüren im Inneren der Waggons: In den fi.infziger Jahren waren dort
noch ausschließlich Schwingtüren, und solche lassen sich nur nach einer
Richtung öffuen. Dies kann dann fatal sein, wenn der Mainstream von
Fahrgästen die entgegengesetzte Gehrichtung hat, sodaß der/die Erste in der
drängenden Schlange sich dann vergeblich bemüht, die Tür aufzubekommen.
Derselbe Effekt tritt im Falle des/der Einzelreisenden ein, wenn diese/r die Tür
22
öffnen möchte und zu diesem Zweck das Handgepäck zu Boden stellt – aber just
damit die Tür ebenfalls arn Aufgehen hindert. Einsichtige Planer haben diese
Probleme aus dem Weg geräumt, indem sie die neueren Waggons mit
Pendeltüren ausstatteten. Diese lassen sich in jede der beiden Gehrichrungen
öffuen, und als nächstbequemere Stufe kamen Schiebetüren: zuerst manuell zu
betätigende, dann druckluftunterstützte, heute zusätzlich automatische,
sensorgesteuerte, die selbsttätig öffnen/schließen. Die Planer haben sich also in
die ergonomischen Bedürfnisse von Eisenbahnpassagieren hineinversetzt und
von der Alltagspraxis her den Bahnkomfort sukzessive angehoben. Das
entspricht durchaus einer interdisziplinären Leistung. Gleichzeitig ist daran
unschwer abzulesen, daß sie schrittweise verschiedene ,,Realitäten“ geschaffen,
„konstruiert“ haben, die daraufhin simultan nebeneinander existieren und damit
auch einen Studienfall für die Problematik der „Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen“ eröffnen: Es gibt in unserem Beispiel fünf Varianten, um
Türen zu öffnen, und es ist die Frage, wie die Passagiere angesichts ihrer
individuell jeweils unterschiedlichen Eigenweltlichkeiten mit diesem unfreiwilligen
multiple-choice-test fertig werden. Jene Routinierten, die Bahn fahren, um
Nerven zu sparen, werden auf empirischem Weg längst ihren Horizont erweitert
haben und wissen bereits nach einem kurzen Blick, mit welcher konkreten Bauart
von Tür sie konfrontiert sind und wie sie sich darauf einzustellen haben.
Auch diese Erkenntnis entspricht einer interdisziplinären Leistung im Alltag:
Errando discimus (mit der Betonung auf errando, das heißt eben durch das
Einschlagen eines „anderen“, bis dahin nicht begangenen Weges, und sei es
auch der falsche. Das ist ja exakt das Prinzip von wissenschaftlieber
Verifikation, die sich damit auch als eine Spielart des Prinzips Verfremdung
entpuppt). Jene Unroutinierten, die den Werbeslogan ,,Nerven sparen – Bahn
fahren“ von vornherein für Häme halten, sind „eigentlich“ auf die schlimmste
Möglichkeit eingestellt (= obige Variante I: die Tür schwingt sowieso gegen die
Gehrichtung aut). Falls sie sich dennoch zu Weltoffenheit und Weitsicht
aufraffen, stellen sie sich auf eine Schiebetür ein – doch „in Wirklichkeit“ ist es
z. B. ,,nur“ eine Pendeltür. Der vergebliche Versuch, diese wie eine Schiebetür
zu öffnen, endet (in der Alltagspraxis immer wieder zu beobachten) mit dem
absurden Rückfall in jene unkomfortabelste Variante 1: Man/frau ignoriert die
von der Pendeltür angebotene „andere“ Möglichkeit und öffnet sie mit
kontraindizierter Brachialgewalt letztendlich erst wieder auf die dümmste Art,
eben gegen die „eigene“ Gehrichtung. Das entspricht dem Gegenteil einer
interdisziplinären Leistung: Die betreffenden Personen finden in ihrem
eigenweltlichen Zirkel bestätigt, was sie „ohnehin schon immer“ wußten – hier
z. B., daß ausgerechnet sie ständig Opfer der Ungerechtigkeit des Daseins sind.
In „Wirklichkeit“ sind sie nur Opfer ihrer unerkannten/unreflektierten
Eigenweltlichkeie3. Und per analogiam kann die kleine Fallstudie uns Gelehrte
33 VgJ. Horst Geyer, Über die Dummheit. Ursachen und Wirkungen der intellektuellen
Minderleistungen des Menschen. Wiesbaden 1954.
23
lehren, wie unberechenbar sich die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“
schon für „participants“ auswirken kann – und um wieviel schwerer es erst
angesichts unserer Eigenweltlichkeit sein muß, sie aus der Distanz des
„observers“ realitätsnah in den Griff zu bekommen (denken wir nur z. B. an die
potentielle Unterschiedlichkeit zeitgleicher Quellenaussagen)34.
Intellektuell ist in alldem, was man „anders“ sehen kannlk:önnte,
sozusagen die „Gegenwelt“ zu sämtlichen Sach- und Denkinhalten subsumiert,
die man/frau nicht an sich heranläßt Wohl am signifikantesten zum Ausdruck
kommt diese interdisziplinäre Barriere in der häufigen Alltagsfloskel „Das kann
ich mir nicht vorstellen“. Sie ist ein Hauptindikator für eine nicht auf
Interdisziplinarität abzielende Mentalität. In meiner eigenweltlichen Sicht gibt
es fast kein besseres Musterbeispiel für den ursächlichen Zusammenhang
zwischen Eigenweltlichkeit und interdisziplinärer Blindheit als die Schwierigkeit,
selbst so einfache Exempla wie die Gleichnisse der Bibel nachzuvollziehen
(= auf den jeweils eigenweltlichen Anwendungsfall hin umzulegen/zu „übersetzen“)
35. Nicht umsonst zählt die Geistige Trägheit (acedia) zum Register der
Sieben christlichen Todsünden, nicht umsonst heißt der Geist der Erkenntnis
Heiliger Geist, und der Narr in seiner überheblichen Unbelehrbarkeit ist didaktischer
Inbegriff des Christentums für einen teuflischen Defekt, nämlich für
saturierte Eigenweltlichkei􀅊6•
Abb. 9: Was ist Realität?
Aus der Immobilien-Werbung in Österreichischen Printmedien.
34 Vgl. oben bei Abb. I bzw. unten bei Anm. 49.
35 Zum Grundproblern s. zusammenfassend etwa Johanna Lanczkowslci, Art. „Schriftsinn“, in:
Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Sachwörterbuch der Mediävistik (Kröners Taschenausgabe 477)
Stuttgart 1 992, 470; Rolf Pepperrnüller, Art. „Schriftsinne“, in: Lexikon des Mittelalters 7.
München 1 995, Sp. 1568 f.; als Beispiel für den ikonographischen Zugang s. den Sammelband
Pictura quasi fictura.
36 Wemer Mezger, Art . . „Narr“, in: Lexikon des Mittelalters 6. München, Zürich 1993, Sp.
I 023-1 026; Helmut Hundsbichler, Im Zeichen der , verkehrten Welt‘, in: Gertrud Blasehitz et
al. (Hrsg.), Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühne!. Graz
1 992, 555-570 (hier 560 ff.).
24
In anderer Weise eigenweltlich (aber nicht närrisch) gibt sich etwa die
Immobilien-Werbung mit Slogans wie: „Wir versprechen die Realität“ oder
,,Reale Träume“ oder ,,Kommen Sie mit uns in die Realität“ (Abb. 9): Hier wird
bewußt mit Verfremdung operiert und nur eine Definition von Realität
zugelassen – aber immerhin eine, die auf ihre Weise stimmt und zugleich exakt
die intendierte Sichtweise transportiert. Noch erfreulicher ist jene seltene
Erfahrung, über die sich Bauherren gegebenenfalls glücklich schätzen dürfen,
falls Professionisten jeweils in Kenntnis und unter Rücksichtnahme auf die
Bedürfnisse der anderen beteiligten Fachvertreter vorgehen, wenn sie also
vernetzt denken.
Paradoxerweise konnte allerdings just im Wissenschaftsbetrieb der
gegenteilige Effekt beobachtet werden, nämlich daß der in den 60er und 70er
Jahren einsetzende Interdisziplinaritäts-Boom „die Disziplingrenzen nicht (wie
vorgesehen) erodierte, sondern sie verstärkte. Nirgends sonst als in Sitzungen
von interdisziplinären Arbeitsgruppen konnte man so oft Worte hören wie ,ich
als Kunsthistoriker‘, ,ich als Archäologe‘, ,ich als Soziologe‘ usf.“ Auch wurde
durch Interdisziplinarität „die Lernfahigkeit beziehungsweise das Lernpotential
einer Disziplin nicht erhöht, sondern mitunter gesenkt: Die Einsicht, daß die
gegebenen Möglichkeiten einer Disziplin für die Lösung eines Problems nicht
ausreichen, führte und führt nicht zu Anstrengungen, genau diese Möglichkeiten
zu erweitern, sondern – interdisziplinär gedacht – dazu, Kollegen aus anderen
Disziplinen in ein eigenes Projekt ,hereinzuholen‘ und von diesen dann zu
erwarten, daß sie das Problem lösen‘.J7• Man sieht: Nicht etwa an die
Wissenschaften stellt die flicherübergreifende Arbeitsweise ihre Anforderungen,
sondern sehr konkret und sehr elementar an die Wissenschafter. Interdisziplinarität
beginnt nicht beim Kooperationspartner, sondern bei mir selbst.
Damit ist die Überwindung der Eigenweltlichkeit das Kriterium für (und
natürlich auch der Sinn von) Interdisziplinarität. Interdisziplinarität wird umso
effizienter, je weniger Eigenweltlichkeit im Spiel ist, oder in der Terminologie
von Fritz Wallner: je mehr Verfremdung betrieben wird. Wallner unterscheidet
in seiner Wissenschaftstheorie vier Arten von Interdisziplinaritäe8. Und gleich
die ersten drei davon enttarnt er als höchst anfallig für Mißverständnisse:
1 . Die instrumentierende lnterdisziplinarität. Sie repräsentiert jenes
Verfahren, das „in der Praxis wissenschaftlicher Arbeit … seit Jahrzehnten
selbstverständlich ist“ und bestens zu funktionieren scheint: die Informationsübernahme
aus anderen Wissenschaften. Der dabei übliche Haken ist, daß
Erkenntnis aus einer anderen Disziplin in einen eigenweltlichen Forschungsprozeß
eingebunden wird, dessen Fragen und Methoden schon vorher festgelegt
worden sind, und das Übergreifen auf ein anderes Fach dient nicht dazu, um
37 Christian Fleck – AJbert Müller, ,Daten‘ und ,Quellen‘, in: Österreichische Zeitschrift fiir
Geschichtswissenschaften 8 ( 1 997) 101-126 (hier 102); vgl. Tauber, Archäologische Funde
172 ff.
38 Wallner, Acht Vorlesungen 18-28 (Formen der Interdisziplinarität).
25
eigene Fragestellungen zu erweitern, zu verändern oder zu reflektieren. Muster:
Die in der deutschen Mittelalter-Archäologie anzutreffende Meinung, man
könne die Ergebnisse des eigenen Faches zur weiteren Bearbeitung an „die
Historiker“ oder an womöglich immer noch ,zuständigere‘ Fachleute weiterdelegieren.
Will man das bereits als Interdisziplinarität bezeichnen, „so läuft beispielsweise
in den Geisteswissenschaften fast alles interdisziplinär ab‘.J9.
2. Die universalisierende Interdisziplinarität. Sie meint das faustische
Anliegen, immer allgemeinere Erkenntnis zu gewinnen, die Welt als Ganzes zu
erkennen. „Das ist wohl das Hauptmotiv der Faszination interdisziplinärer
Forschung“ und des Überschreitens der Grenzen zwischen Fachdisziplinen.
Aber der Anspruch an diese Art von lnterdisziplinarität ist so „unrealistisch“
hoch, daß sie – wie schon in anderem Zusammenhang erwähnt – in der Praxis
unerfüllbar ist. Sie wird zwar als vermeintliche Erfolgsformel „seit Jahrzehnten
hinausposaunt“ und dürfte auch „in den Sonntagsreden der Wissenschaftler
weiterleben“, aber sie beruht auf reinem Etikettenschwindel, weil die Tatsache
ignoriert wird, daß letztlich eine konkrete ,,Führungswissenschaft“ erst wieder
die Methodenauswahl eindämmen und die weitgespannten Erkenntnisziele
relativieren wird. Musterbeispiel: die Dominanz der Theologie im Mittelalter,
danach jene der Philosophie, dann jene der Naturwissenschaften usf.40
3. Die erklärende Interdisziplinarität. Darunter versteht man, „daß die
Arbeitsweise einer Wissenschaft zum Gegenstand einer anderen Wissenschaft
wird“, sodaß erstere dadurch eine Erklärung erfährt. Auch das ist keine echte
Interdisziplinarität, solange bloß eine ,,Mischung von Methoden“ stattfindet.
Musterbeipiel: Beiträge verschiedener Disziplinen zu einer Fragestellung.
Vielmehr müßten die Anwender die Grenzen ihrer Wissenschaft verlassen, um
zu klären, „warum wir bestimmte Methoden anwenden.“41
4. Die verfremdende lnterdisziplinarität. Ein Wissenschaftler strukturiert
einen Themenbereich, für den ganz bestimmte Methoden üblich sind, einmal
nach einem ganz anderen Methodeninventar und kehrt danach zu seinen
üblichen Methoden zurück um zu prüfen, „ob sich in seiner Beurteilung der
Methodenauswahl und Bewertung der Fragestellungen etwas geändert hat.“
Auch hier kann nicht uferlose Universalsi ierung das Ziel sein, sondern genau
das Gegenteil ist der Fall: Die verfremdende lnterdisziplinarität vermittelt
„Einsicht in die Möglichkeiten und Grenzen der Methodik des eigenen Faches“,
und sie fördert eine Konzentration unserer Kräfte – etwa auf die jeweils
aktuellsten Interessensgebiete42. Als diesbezügliches Musterbeispiel verweise
ich auf den kürzlich gelungenen Nachweis dafür, daß die authentische
Wiedergabe der Hexameter Homers nicht durch rhythmische Betonung gemäß
dem künstlichen Korsett des Versmasses zu erfolgen hat (wie dies in unserem
39 Ebd. 1 9 ff.
40 Ebd. 2 1 ff.
41 Ebd. 27 f.
42 Ebd. 28 f.
26
mittleren und höheren Schulsystem seit Jahrhunderten als philologische
„Wahrheit“ gepaukt wird), sondern durch gesanglichen Vortrag gemäß den
natürlichen Akzenten der Wörter43 . Als weiteres (und trotz aller Kritikmöglichkeiten
großartiges) Schulbeispiel für erfolgreiche Verfremdung erscheint
mir der durch Edith und Alexander Tollmann geführte Nachweis, daß
die „biblische“ Sintflut ein historisches Ereignis vor rund 9.950 Jahren war44•
Aus dem Bereich der historischen Sozialwissenschaften zitiere ich die ebenso
unkonventionelle wie ,,richtige“ Sichtweise von Narrenturn und .Karneval45 , für
die Dietz-Rüdiger Moser jahrelang einer geifernden, beschämenden und
„närrischen“ Schelte von Fachgenossen ausgesetzt war.
Daß Ve r-fremden mit Be-fremden quittiert wird, ist nicht neu: Traditionelle
Bipolaritäts-Konstrukte wie Rechtgläubige vs. Heiden, Märtyrer vs. Ketzer,
Geozentrismus vs. Heliozentrismus, Heilige vs. Hexen, Restauration vs. Revolution
zeigen, daß der Anspruch auf „Wahrheit“ nur eine Frage der Perspektive ist,
und bloß die fa tale Folge, daß Verfechterlinnen einer „anderen“ Sichtweise auf
dem Schei terhaufen enden, ist seltener geworden.
Ich selbst bin von den spezifisch historischen Anforderungen und
Arbeitsweisen her ebenfalls zur Ansicht gelangt, daß es bei näherem Hinsehen
untersch iedliche Spielarten von Interdisziplinarität gibt. Vier Möglichkeiten sind
mir aufgefallen46, und diese können aufgrund der Klassifikation von Fritz
Wallner nunmehr diskutiert und zugeordnet werden:
Am naheliegendsten (aber in der Praxis dennoch zu oft fa lsch verstanden)
erscheint die „quellenübergreifende“ Interdisziplinarität. Sie meint die in der
Alltagsgeschichte wünschenswerte Vorgangsweise, nämlich daß man der
Realität der „participants“ nur nach Konsultation möglichst verschiedenartiger
Quellengattungen nahe kommen kann47. Im Extrem- bzw. Idealfall bedeutet das
eine Zusammenschau aus schriftlichen Quellen, bildliehen Darstellungen und
Sachzeugen unter dem Vorzeichen jeweils vieler und grundverschiedener
methodisch-theoretischer Ansatzmöglichkeiten. Der Tendenz nach wäre all das
universalisierende Interdisziplinarität, und am gerade eben neu resümierten
Beispiel des Verfahrens „Wörter und Sachen“ können die Gefahren,
Möglichkeiten und Grenzen hiervon mustergültig studiert werden48• Allerdings
sind mediävistische Quellen in der Regel bei weitem nicht in der erforderlichen
43 Stefan Hagel, Zu den Konstituenten des griechischen Hexameters, in: Wiener Studien
I 07/08 (1994/95) 77-1 08; Georg Danek – Stefan Hagel, Homer-Singen, in: Wiener Humanistische
Blätter 35 (1995) 5-20; dieselben, Computergestützte Hexameter – hexametersingender
Computer, in: Studia Iranlca, Mesopotamica & Anatolica 2 (1996) 1 1 1-122.
44 Edith und Alexander Tollmann, Und die Sintflut gab es doch. München 1993.
45 Dietz-Rüdiger Moser, Fastnacht-Fasching-Karneval. Das Fest der „Verkehrten Welt“.
Graz, Wien, Köln 1986.
46 Hundsbichler, Perspektiven 94 f.
47 Vgl. Jaritz, Zwischen Augenblick und Ewigkeit 25 f
48 Der neuesie von Ruth Schmidt-Wiegand herausgegebene Sammelband „Wörter und
Sachen“ wird im Rahmen der Zeitschrift „Germanistische Linguistik“ 1999 erscheinen.
27
Streuung vorhanden, sodaß mitunter bereits das Auffinden einer
Parallelüberlieferung als interdisziplinärer Triumph reklamiert wird. Noch
deutlicher fallen anstatt der Disziplin- die Schmerzgrenzen, wenn es für
interdisziplinär gehalten wird, Belege verschiedenen Ursprungs beliebig
nebeneinander zu stellen (Schema: ,,Hier habe ich Nägel aus meiner neuesten
Grabung, wie man sie auch in Abbildungen antreffen kann, und auch in
schriftlichen Belegen sind sie zahlreich überliefert“): In einem solchen Fall geht
es nämlich nicht um (verfremdende) Erkenntnis von Neuem, sondern um die
(eigenweltliche) Bestätigung von Bestehendem (= das Prinzip Daten-„Steinbruch“,
oder euphemistischer auch „Quellenkombination“). Es wird die Erfahrung
ignoriert, daß jeder Beleg im Kontext einer jeweils anderen, eigenen,
unwiederholbaren Individual-Realität steht (vgl. Abb. 1), sodaß gerade die
Kongruenz von Befunden eher der unwahrscheinlichere Fall ist. Näher an die
Realität der „participants“ führt bis auf weiteres die umgekehrte Strategie,
nämlich kontextuell zusammengehörige Befunde aus verschiedenen Quellengattungen
zusammenzustellen und nachzusehen, inwieweit sie sich – trotz ihrer
Unterschiedlichkeit49 – unter einen Hut bringen lassen, um allenfalls auf diese
Weise ein neues Bild zu gewinnen (Quelleninterferenz, Quellenkonfrontation).
Dies ist etwa die Vorgangsweise der Bild-und-Text-Forschung50. Wie das
Beispiel von Abb. 9 zeigt, wird die Dekodierung einer Bildbedeutung dank dem
zeitgenössisch-chronikalischen Begleittext eindeutig (Hic equitant ad undam).
In Anbetracht der verschiedenartigsten methodischen Möglichkeiten erschien
es mir ferner legitim, auch eine ,,methodenspezifische“ lnterdisziplinarität
anzusprechen. Gemeint ist damit ein individueller Fächerverbund, der aufgrund
einer konkreten, aber inhaltlich komplexen Aufgabenstellung zustandekommt5 1 •
Dasselbe auf die Person umgesetzt, die „ihren“ Fächerverbund repräsentiert,
habe ich unter „personaler“ Interdisziplinarität gemeint. Eine diesbezügliche
Grundlage erwerben beispielsweise alle Studierenden mit zwei oder mehr verschiedenen
Studienfachern bzw. jene mit Haupt- und Nebenfach. Von der ,,methodenspezifischen“
unterscheidet sich die „personale“ Interdisziplinarität
dadurch, daß sie nicht eine aufgabenbedingte, synchrone ad-hoc-Applikation
darstellt bzw. meint, sondern den diachron wachsenden wissenschaftlichen
49 Meine diesbezüglichen „Standardbeispiele“ s. etwa bei Hundsbichler, Perspektiven 97,
Arun. 85 und 86; vgl. des weiteren Elisabeth Zadora-Rio, Le village des historiens et Je
village des archeologues, in: Elisabeth Momet (Hrsg.), Campagnes medievales: L’homme et
son espace. Etudes offerts ä Robert Fossier (Histoire ancienne et medievale 3 1 ) Paris 1995;
Christine Bachmeier – Thomas Fischer (Hrsg.), Glanz und Elend der zwei Kulturen. Über die
Vergänglichkeit der Natur- und Geisteswissenschaften. Konstanz 1991.
50 Vgl. nur als ein mögliches Beispiel: Christel Meier – Uwe Ruherg (Hrsg.), Text und Bild.
Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und fiüher Neuzeit. Wiesbaden
1980.
5 1 Z. B. Helmut Hundsbichler, Reise, Gastlichkeit und Nahrung im Spiegel der
Reisetagebücher des Paolo Santonino (1485-1487). Geisteswiss. Diss. Wien 1 979
(ungedruckt).
2 8
Horizont einer Person, der sich gerade bei interdisziplinärer Arbeit durch jeden
Input neuer Erkenntnis verändert. Damit ist auch gesagt, daß Interdisziplinarität
nie ein Ende findet: Es findet ein Prozess von Infonnations-Recycling statt, der
aufimmer höhere Ebenen von Erkenntnis fuhrt (Abb. 10).
Histor.
Geographie
Archäo logie
Geschichte
Abb. I 0: Der Prozess facheTÜbergreifender Erkenntnis gleicht einer Endlos-Spirale.
Die eingetragenen Fächer sind beliebig und könnten willkürlich durch andere ersetzt werden.
Aus: Tauber, Archäologische Funde 173 (Abb. 1).
Überhaupt hat lnterdisziplinarität nur Sinn, wenn sie zu Erkenntnis führt.
Nicht auf die Verbreiterung von Wissen ist sie ausgelegt, sondern auf die
Vertiefung von Verstehen. Ihre Intention ist innovativ und nicht kumulativ.
Insofern muß sie Vorbedingungen verarbeiten, und insofern habe ich auch eine
„integrative“ Interdisziplinarität angesprochen. Am Wort ,,Fach“-Kompetenz
haftet diesbezüglich ein innerer Widerspruch: ,,Fach“-Kompetenz ist ja
29
offensichtlich monodisziplinär zu verstehen, und das ist qualitativ geringer als
interdisziplinär. Umgekehrt bringt jede echte Interdisziplinarität per se fach“
übergreifende“ Kom?,etenz zustande. Ebenso fragwürdig erscheint in diesem
Licht der Terminus Uberzeugung: Er hat den Geruch des Endgültigen und
Dogmatischen an sich – und genau das sind Charakteristika, die auf Erkenntnis
und interdisziplinäres Arbeiten nicht zutreffen können.
Angesichts der landläufigen Vorstellungen von bzw. Erwartungen an Interdisziplinarität
münden alle auf sie bezogenen Überlegungen zuallererst in eine
befremdende Erkenntnis: Interdisziplinarität ist nicht das, wofiir wir sie bisher
gehalten und/oder verwendet haben. Sie ist ein limitiertes, ein ,Jeises“, ein nur
mühsam realisierbares Konzept, also gerade nicht die akademische Wunderdroge
und die intellektuelle Keule, um die Limits der ,,historischen Machbarkeit“
außer Kraft zu setzen. Auch vom personellen Aufwand her ist sie nicht
gigantomanisch, und die allf Vernetzungen oder Fächerverbünden steht auf einem anderen Blatt (Pluridisziplinarität).
Die hiermit neu gewonnenen Facetten möchte ich abschließend zu
weiterfuhrenden Thesen ausformulieren:52
Interdisziplinarität beruht auf den (keineswegs etwa ausschließlich wissenschaftlichen)
Fähigkeiten, Erfahrungen und Ideen einer Einze/person. Sie hat
quasi die Qualität einer Simultanübersetzung, die nicht mittels eines Dolmetschers,
sondern kraft eigener Sprachenkundigkeit zustandekommt. Hauptkriterium
ihrer Effizienz ist, wie bei jeder „Übersetzung“, die Involvierung des
Prinzips Verfremdung, das wir alle kennen und anwenden, wann immer es
darum geht, etwas zu verstehen: sei das ein Lehrsatz oder eine Publikation oder
ein Kunstwerk oder ein Musikstück oder ein Sprichwort oder eine Metapher
oder ein Witz oder ein Traum oder die Bibel. Jedes ,,.Aha-Erlebnis“ beruht auf
erfolgreicher Verfremdung: Es manifestiert die gelungene Übernahme fremder
Eigenweltlichkeit in die eigene. Wenn wir jene Graphik „verfremden“, mit der
Hans-Werner Goetz das Zustandekommen eines Geschichts-Bildes illustriert,
wird dies sofort nachvollziehbar: Für alle Vorbedingungen, die in
fächerübergreifende Wahrnehmung aufgehen, liegt die Schnittstelle – wie sonst
sollte Wahrnehmung stattfinden – im Kopf der betreffenden Einzelperson (Abb.
1 1 ) . Interdisziplinäre Kompetenz beruht dann gleichsam auf allen jenen
„Scheinwerfer-Positionen“, die ein Individuum im Laufe der Zeit einzunehmen
vermochte. Sie ist so unwiederholbar und einzigartig wie die Existenz und der
Entwicklungsgang der betreffenden Person an sich. Interdisziplinäre Kompetenz
schöpft aus jenem Maximum an verfremdender Zusammenschau, das sich ein
Mensch im Rahmen seiner individuellen „Speicherkapazität“ je aneignen kann.
Jede neue Erfahrung/Wahrnehmung/Erkenntnis verändert sukzessive den bisher
gespeicherten Inhalt, und daraus ergibt sich ein weiteres entscheidendes
52 Zum Folgenden vgl. Hundsbichler, Sachen und Menschen 20 ff.; ders., Der Faktor Mensch
1 6 f.; ders., Re-Konstruktion (im Druck).
30
Horizont einer Person, der sich gerade bei interdisziplinärer Arbeit durch jeden
Input neuer Erkenntnis verändert. Damit ist auch gesagt, daß Interdisziplinarität
nie ein Ende findet: Es findet ein Prozess von Infonnations-Recycling statt, der
auf immer höhere Ebenen von Erkenntnis führt (Abb. I 0).
Geschichte
Archäo logie
Abb. 1 0 : Der Prozess fächerübergreifender Erkenntnis gleicht einer Endlos-Spirale.
Die eingetragenen Fächer sind beliebig und könnten willkürlich durch andere ersetzt werden.
Aus: Tauber, Archäologische Funde 1 7 3 (Abb. I).
Überhaupt hat Interdisziplinarität nur Sinn, wenn sie zu Erkenntnis führt.
Nicht auf die Verbreiterung von Wissen ist sie ausgelegt, sondern auf die
Vertiefung von Verstehen. Ihre Intention ist innovativ und nicht kumulativ.
Insofern muß sie Vorbedingungen verarbeiten, und insofern habe ich auch eine
„integrative“ Interdisziplinarität angesprochen. Am Wort ,,Fach“-Kompetenz
haftet diesbezüglich ein innerer Widerspruch: ,,Fach“-Kompetenz ist ja
29
offensichtlieb monodisziplinär zu verstehen, und das ist qualitativ geringer als
interdisziplinär. Umgekehrt bringt jede echte Interdisziplinarität per se fach“
übergreifende“ KomP.etenz zustande. Ebenso fragwürdig erscheint in diesem
Licht der Terminus Uberzeugung: Er hat den Geruch des Endgültigen und
Dogmatischen an sich – und genau das sind Charakteristika, die auf Erkenntnis
und interdisziplinäres Arbeiten nicht zutreffen können.
Angesichts der landläufigen Vorstellungen von bzw. Erwartungen an Interdisziplinarität
münden alle auf sie bezogenen Überlegungen zuallererst in eine
befremdende Erkenntnis: Interdisziplinarität ist nicht das, wofiir wir sie bisher
gehalten und/oder verwendet haben. Sie ist ein limitiertes, ein ,Jeises“, ein nur
mühsam realisierbares Konzept, also gerade nicht die akademische Wunderdroge
und die intellektuelle Keule, um die Limits der ,,historischen Machbarkeit“
außer Kraft zu setzen. Auch vom personellen Aufwand her ist sie nicht
gigantomanisch, und die allfällige Etablierung von großangelegten Teams,
Vernetzungen oder Fächerverbünden steht auf einem anderen Blatt (Pluridisziplinarität).
Die hiermit neu gewonnenen Facetten möchte ich abschließend zu
weiterfUhrenden Thesen ausformulieren:52
Interdisziplinarität beruht auf den (keineswegs etwa ausschließlich wissenschaftlichen)
Fähigkeiten, Erfahrungen und Ideen einer Einzelperson. Sie hat
quasi die Qualität einer Simultanübersetzung, die nicht mittels eines Dolmetschers,
sondern kraft eigener Sprachenkundigkeit zustandekommt Hauptkriterium
ihrer Effizienz ist, wie bei jeder „Übersetzung“, die Involvierung des
Prinzips Verfremdung, das wir alle kennen und anwenden, wann immer es
darum geht, etwas zu verstehen: sei das ein Lehrsatz oder eine Publikation oder
ein Kunstwerk oder ein Musikstück oder ein Sprichwort oder eine Metapher
oder ein Witz oder ein Traum oder die Bibel. Jedes ,,Aha-Erlebnis“ beruht auf
erfolgreicher Verfremdung: Es manifestiert die gelungene Übernahme fremder
Eigenweltlichkeit in die eigene. Wenn wir jene Graphik „verfremden“, mit der
Hans-Wemer Goetz das Zustandekommen eines Geschichts-Bildes illustriert,
wird dies sofort nachvollziehbar: Für alle Vorbedingungen, die in
fächerübergreifende Wahrnehmung aufgehen, liegt die Schnittstelle – wie sonst
sollte Wahrnehmung stattfinden – im Kopf der betreffenden Einzelperson (Abb.
1 1). Interdisziplinäre Kompetenz beruht dann gleichsam auf allen jenen
„Scheinwerfer-Positionen“, die ein Individuum im Laufe der Zeit einzunehmen
vermochte. Sie ist so unwiederholbar und einzigartig wie die Existenz und der
Entwicklungsgang der betreffenden Person an sich. Interdisziplinäre Kompetenz
schöpft aus jenem Maximum an verfremdender Zusammenschau, das sich ein
Mensch im Rahmen seiner individuellen „Speicherkapazität“ je aneignen kann.
Jede neue Erfahrung/Wahrnehmung/Erkenntnis verändert sukzessive den bisher
gespeicherten Inhalt, und daraus ergibt sich ein weiteres entscheidendes
52 Zum Folgenden vgl. Hundsbichler, Sachen und Menschen 20 ff.; ders., Der Faktor Mensch
1 6 f.; ders., Re-Konstruktion (im Druck).
30
Defrnitionsmerkmal von Interdisziplinarität: Sie hat prozessualen Charakter. Sie
repräsentiert zu jeder Zeit einen anderen Stand des individuellen ,,Abenteuers im
Kopf‘, und sie ist das Reservoir für die Kreativität und Innovativität eines
Menschen (auch diese beiden Bereiche sind ja Umsetzungen des Prinzips
Verfremdung).
Einzelwissenschaften
Fähigkeiten, Erfahrungen, Ideen
„Scheinwerfer-Positionen“
(persönliche) Interdisziplinarität:
Die integrative Leistung einer Einzelperson
Abb. I I : lnterdisziplinarität ist Einzeneistung.
Entwurf: Helmut Hundsbichler, 1996
Hiervon grundverschieden ist ein anderes branchenübliches Verfahren, das
unzutreffenderweise dennoch überwiegend unter dem Etikett der Interdisziplinarität
segelt: Eine Anzahl erwünschter oder gerade verfügbarer
„Scheinwerfer-Positionen“ wird gleichzeitig in Betrieb genommen und jeweils
mit Repräsentant/innen verschiedener Disziplinen besetzt. Musterbeispiele
hierfür sind Tagungen oder Publikationen, deren Programm bzw. Inhalt aus Beiträgen
besteht, die unabhängig voneinander zu einem Generalthema Stellung
nehmen. Auch die unseligerweise für das angebliche „Verhältnis“ von Mittelalter-
Archäologie und Geschichtswissenschaft usurpierte Maxime Moltkes
3 1
(„Getrennt marschieren, vereint schlagen“)53 gehört hierher. Ein positives
Beispiel, das wir in der Regel gar nicht als solches einstufen, ist die ,,historische
Methode im weitesten Sinne des Wortes“54, also das Gesamtpotential der zur
Disposition stehenden Verfahrens- und Erkenntnismöglichkeiten der Geschichtswissenschaften,
die allerdings keine Einzelperson jemals universal,
sondern bloß in Auswahl repräsentieren kann. Auch das aus der Industrie
bekannte „arbeitsteilige Prinzip“ wäre ein gutes Beispiel. Im Gegensatz zu der
vorhin als prozessual definierten lnterdisziplinarität ist nun ein solches Konzept
aber additiv. Treffender Ausdruck für diesen wesentlichen Unterschied scheint
mir die Bezeichnung Mu/tidisziplinarität zu sein. Wohl produziert sie beliebig
viele Teilsummen von verfügbarer Information, aber keinen team- und/oder
facherumsparmenden Kontext von Wissen und Erkenntnis: Lernen kann nur eine
Einzelperson. Die Weiche zur Interdisziplinarität ist in jedem wie auch immer
gearteten Verbund installiert, aber wirksam wird sie wieder nur innerhalb des
Könnens und Wollens jeder beteiligten Einzelperson.
Es ist also wichtig, den grundlegenden Unterschied zwischen Inter- und
Multidisziplinarität zu sehen, und gerade weil mit diesen Begriffen so locker
umgegangen wird, wäre es wohl eine günstigere Sprachregelung, sich zunächst
lieber von einem Oberbegriff her anzunähern: Multi- und lnterdisziplinarität
wären wohl unter „facherübergreifende Arbeitskonzepte“ subsumierbar. Auf
einer höheren Begriffsebene müßten auch Spezifikationen wie Pluri- und
Transdisziplinarität verankert werden. ,,Einer Disziplin anzugehören verlangt,
die Tätigkeit eines bestimmten Bereichs zu verstehen; /nterdisziplinarität
bedeutet das Verständnis zumindest eines zweiten solchen Bereichs; in der
Transdisziplinarität jedoch ist der zu verstehende Bereich Verständnis selbst;
wir wollen Verstehen verstehen.“55 Und auch über eine Deutung und ein
sprachliches Äquivalent zur anglophonen „cross-disciplinarity“ wäre nachzudenken.
Jedes derartige Konzept hat seine Berechtigung und seine Vorzüge, aber
infolge der verschiedenen Qualitäten auch unterschiedliche Grenzen, sodaß
keine identischen Erwartungen erfüllbar sind. Zum Beispiel kann Multidisziplinarität
zur Reduktion der Eigenweltlichkeil führen – aber diese Leistung
des betreffenden Individuums beruht bereits auf dem Prinzip Verfremdung, das
der Interdisziplinarität zentral zugeordnet ist. Vor allem bereitet Multidisziplinarität
den Boden für eine Beschleunigung der Forschung (falls man darin
einen Vorteil sehen möchte): Durch die Beteiligung mehrerer Hände/Köpfe
53 Vgl. die kritische Distanzierung bei Reinbard Wenskus, Randbemerkungen zum Verhäl tnis
von Historie und Archäologie, insbesondere mittelalterlicher Geschichte und
Mittelalterarchäologie, in: Herbert Jankuhn – Reinhard Wenskus (Hrsg.), Geschichtswissenschaft
und Archäologie (Vorträge und Forschungen 22) Sigmaringen 1979, 637-657 􀀟er637 f.).
Anm. l 8 .
55 Heinz von Foerster ( 1 995) in einer Vorschau der Österreichischen Zeitschrift fiir
Geschichtswissenschaften 7 ( 1996) 448 (kursive Passagen nicht original).
32
gewährleistet sie eine raschere ,,Editionsarbeit“ von Information und ein
vielseitigeres Angebot an potentiellen Zugriffs- und Andockmöglichkeiten. Sie
ist ein Pool fiir interdisziplinäre Schnittstellen. Derartige Ansatzpunkte können
allerdings auch durch sanftere, weichere, kleinteiligere Formen der Kommunikation
zustandekommen: ein Buch; ein Gespräch; die Reflexion eines Ereignisses,
eines Vortrages, einer Erfahrung. Und umgekehrt wächst fiir jede überzüchtete
Vernetzung von Disziplinen die Gefahr, am Kapazitäts- und Kommunikationsproblem
zu scheitern.
Abb. 12: Der „Baum der Erkenntnis“.
Zeichnung von Marcelo Maturana, in: Maturana- Varela,
Der Baum der Erkenntnis 258 (Abb. 74).
Alles in allem stellt sich die verfremdende lnterdisziplinarität als schwieriges
wissenschaftliches Metier dar – eines, in dem man/frau permanent sich selber
Rechenschaft ablegen muß. Darüber hinaus ist aber nochmals auf die Feststellung
Wert zu legen, daß Verfremdung keineswegs nur ein Reservat fiir die
33
hehre Wissenschaft ist: Abgesehen von allen Bereichen der Kunst, hat/hätte sie
in vielen Alltagsbereichen ihren Platz, und da sie (sowohl dort wie auch als
Instrument der Wissenschaft) ständige Beziehungsarbeit mit uns selbst bedeutet,
führt sie letztlich in den für alle Kulturen fundamentalsten Erkenntnisbereich
„des“ Menschen schlechthin: in die Selbstreflexion und die Selbsterkenntnis56•
Nicht die Quantität alles Machbaren legitimiert also unsere interdisziplinären
Strategien, sondern die Qualität einer bzw. „der“ Sinnfrage. Insofern ist
Verfremdung geeignet, Wissen zu optimieren und Sichtweisen zu vereinfachen.
Sie ist die Brücke von Wissenschaft zu Weisheit. Das hätten wir freilich (wenn
wir nicht auch wieder obsessiv den Weg der Quantität gegangen wären) schon
längst aus den erwähnten didaktischen Exempla ablesen können, von Sisyphos
und Adam und Eva über den Narren und Doktor Faust bis zu unserem
verfremdeten Spiegelbild, dem homo faber – und der Kreis schließt sich auf
einigermaßen unerwartete Weise: Wir müssen uns bei der Nase nehmen. Aber
der Weg der Erkenntnis ist eben keine voyeuristische Vergnügungstour, und es
ist ein weiteres Charakteristikum von lnterdisziplinarität, daß die Reise ganz
woanders hinführt, als man/frau „eigentlich“ gedacht hätte (Abb. 12).
56 AJs Muster für die Möglichkeit, mittels interdisziplinärer Verfremdung aus einem
Mythos/Mär Dethlefsen, Odipus der Rätsellöser. Der Mensch zwischen Schuld und Erlösung. München
1990; Eugen Drewermann, Die kluge Else, Rapunzel. Grimms Märchen tiefenpsychologisch
gedeutet. 4. Aufl. Olten u. a. 1 990.
34
MEDIUM AEVUM
QUOTIDIANUM
40
KREMS 1999
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NlEDERÖSTERREICHJSCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 1 3, A-3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet
ist. – Druck: KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1 050 Wien.
Inhalt
Vorwort …………………………………………………………………………………………………. 5
Helmut Hundsbichler, AIItagsforschung und lnterdisziplinarität ………………….. 7
Andreas Külzer, Die byzantinische Reiseliteratur:
Anmerkungen zu ihrer literarischen Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ……………… 35
lliana Tschekova, Folklor-episehe Paradigmen in der Nestorchronik ………… 52
Lucas Burkart, Kommunale und seigneurale Bildersprache
des Quattrocento in Padua und Ferrara …………………………………………… 66
Rezensionen ……………………………………………………………………………………….. 125
3
Vorwort
Das vorliegende Heft 40 von Medium Aevum Quotidianum veremtgt eine
Anzahl von Beiträgen, die in den letzten Monaten von Mitgliedern und
Freunden unserer Gesellschaft zur Verfügung gestellt wurden. Diese sollen vor
allem die Bedeutung vermitteln, welche interdisziplinären Ansätzen in einer
Geschichte von Alltag und Sachkultur des Mittelalters zukommt.
Die Planungen fiir die nächsten Hefte sind insoweit fortgeschritten, als
sich besonders einige Sonderbände bereits in einer konkreten Vorbereitungsphase
befinden. Dies gilt vor allem fiir zwei Bibliographien: Detlev Kraack
(Berlin) und sein internationaler Mitarbeiterstab befinden sich in den
Abschlußarbeiten für eine Bibliographie zu den Graffiti des Mittelalters und der
frühen Neuzeit, welche Ende 1 999 oder Anfang 2000 erscheinen wird.
Außerdem beschäftigen wir uns schon seit längerem mit einer Überarbeitung
und sehr nötigen Ergänzung der im Jahre 1986 als Medium Aevum
Quotidianum-Newsfetter 718 erschienenen Auswahlbibliographie zu Alltag und
materieller Kultur des Mittelalters. Auch für jene ist ein Erscheinungstermin
1999/2000 vorgesehen.
Als Autor einer der nächsten Sonderbände konnte Markus Späth
(Hamburg) gewonnen werden, der sich mit der räumlichen Differenzierung in
der hochmittelalterlichen Klosterarchitektur am Beispiel nordenglischer
Zisterzen auseinandersetzen wird.
Schließlich möchten wir Sie wieder herzlich einladen, unsere Website
http://www.imareal.oeaw. ac. at/maq/ zu besuchen. Im Augenblick finden Sie
dort die Inhaltsverzeichnisse aller bisher erschienenen Bände unserer Reihe.
Binnem kurzem wird dieses Angebot ergänzt werden durch die
Zugriffsmöglichkeit auf den Volltext ausgewählter, uns besonders wichtig
erscheinender Beiträge aus zum Teil bereits vergriffenen Bände vergangener
Jahre.
Gerhard Jaritz, Herausgeber
5

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