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TANTA MANSUETUDO IN BESTIA.
UNERWARTETE MEDIÄVISTISCHE BEGEGNUNGEN MIT TIEREN
Helmut Hundsbichler (Krems)
Weitaus häufiger als heute treten Tiere in vorindustriellen Zeiten in Erscheinung,
weil sie stärker ins kulturelle Geschehen eingebunden sind, sei es physisch,
sei es begrifflich und metaphorisch, oder sei es in Form von Symbolen
und Imaginationen. Klarerweise konzentriert sich auch das Interesse der Forschung
auf Tiere in diesen vorherrschenden Kontexten1. Im Gegensatz dazu ist
jenes „unerwartete“ (oder zumindest aus unserer Sicht unerwartet erscheinende)
Auftreten definiert, das im vorliegenden Beitrag den Interessensschwerpunkt
bildet2. Das heißt, die geläufigen und herkömmlichen Evidenzen aus dem
Mittelalter – vor allem der „Physiologus“ und die Bestiarien, die in den Naturenzyklopädien
diverser Autoren enthaltenen tractatus de animalibus, die Fachbücher
über Tierhaltung und Tiermedizin, der Tierkreis, das Tierepos und die
Tierfabel, die Jagdtraktate oder die mitunter „tierreiche“ heraldische Überlieferung
– spielen hier sozusagen die Nebenrolle. Eine Gemeinsamkeit bleibt jedoch
auch für unseren ungewöhnlicheren Zugang grundlegend und unverzichtbar,
nämlich die Notwendigkeit, die symbolische Komponente in der historischen
Überlieferung von Tieren mit zu berücksichtigen. Das Mittelalter ist ja ein Kulturbereich,
in dem jede Form zur Hülle eines Gedankens werden kann3. Für die
Tierwelt gilt das in besonderem Maße, nicht nur weil sie unmittelbar der im
Mittelalter allseits bewunderten Schöpfung Gottes zuzurechnen ist, sondern weil
viele Charakteristika von Tieren auch als symbolischer und didaktischer „Ver-
1 Vgl. allgemein Robert Delort, Der Elefant, die Biene und der heilige Wolf. Die wahre Geschichte
der Tiere. Wien 1987; ders., Animaux, in: Jacques Le Goff – Jean-Claude Schmitt
(Hrsg.), Dictionnaire raisonné de l’occident médiéval. [Paris] 1999, 55-66 (mit weiteren
Verweisen).
2 Es handelt sich um die deutsche Fassung eines Beitrages, der im Mai 2005 zwecks Vorstellung
der „Medieval Animal Database“ (MAD) im Rahmen der Sektion „Animal Networks“
auf dem 40. International Congress on Medieval Studies in Kalamazoo (USA) gehalten
wurde.
3 Zum kulturgeschichtlichen Umfeld dieser Aussage von Émile Mâle vgl. Harry Kühnel, Abbild
und Sinnbild in der Malerei des Spätmittelalters, in: Europäische Sachkultur des Mittelalters
(Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 4 =
Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse
374) Wien 1980, 83-100 (hier 87).
27
weis auf das rechte Leben des Menschen und seine Erlösung durch Jesus Christus“
gesehen werden4. Manche der symbolischen Funktionen „mittelalterlicher“
Tiere stammen aus der Antike, viele aus der Bibel5. Für die diesbezügliche Größenordnung
bietet Heinrich von Schüttenhofen mit seinem „Liber de naturis
animalium cum moralitatibus“ (vor 1299) einen anschaulichen Richtwert: Sein
Buch enthält die höchste Anzahl von Tieren, die im Mittelalter als Symbolträger
fungiert haben, nämlich 2666. De facto müssen wir diese beträchtliche Anzahl
sogar verdoppeln. Denn laut Augustinus erlaubt jeder Beleg für Tiere eine Interpretation
sowohl in bonam partem wie auch in malam partem7. Diese Bilanz
macht es geradezu zu einer Verpflichtung, jede Überlieferung von Tieren aus
dem Mittelalter – also auch die „unerwartete“ – im Einklang mit den Mentalitäten
des Mittelalters zu analysieren, und hierfür sollen im vorliegenden Beitrag
einige Beispiele, Überlegungen und Thesen vorgestellt werden.
Zu den bekannteren Repräsentanten für Symbolgehalt in malam partem
zählen etwa die „animalischen“ Symbole der Sieben Hauptsünden8. Signifikante
Beispiele für die positive Konnotierung von Tieren aus ebendiesem Sample wären
der Hund in der Malerei als ikonographisches Beiwerk von Standespersonen
und Heiligengestalten9 oder das Schwein als Haustier. Ein Beispiel aus der
Heraldik, die Tiere vorwiegend in bonam partem ausdeutet, wäre der Bär als
Wappentier, etwa im Falle der Kommunen Berlin oder Bern bzw. in Österreich
Pernegg, Bernstein, Berndorf, Bärnbach.
Die normalsten, geläufigsten und originärsten aller Arten von Begegnungen
mit Tieren sind den jeweiligen Zeitgenossen vorbehalten: Tiere, die im natürlichen
oder kulturellen Umfeld existieren oder zu Werkstoffen und Nahrung
weiterverarbeitet sind. Nur wenn in diesem alltäglichen Sektor ein Ausnahmefall
auftritt, etwa ein Kalb mit acht Beinen oder siamesische Schweine-Zwillinge
(Abb. 1)10, kommt jenes erhöhte Aufsehen zustande, das zu einer Nachricht über
4 Wilfried Schouwink, Der wilde Eber in Gottes Weinberg. Zur Darstellung des Schweins in
Literatur und Kunst des Mittelalters. Sigmaringen 1985, 12.
5 Baudouin van den Abeele, Art. „Tiersymbolik“, I.: Quellen, in: Lexikon des Mittelalters 8.
München 1997, 785 f.
6 Ebd.
7 Van den Abeele, Tiersymbolik II.: Vorgehensweise und Wirkungsbereiche, ebd. 786 f.
8 Bei Eva Kimminich, Des Teufels Werber. Mittelalterliche Lasterdarstellung und Gestaltungsformen
der Fastnacht (Artes populares, Studia Ethnographica et Folkloristica 11)
Frankfurt/Main 1986 zeigt das Frontispiz (ein Holzschnitt des späten 15. Jahrhunderts) folgende
Entsprechungen zwischen Lastern und Tieren: superbia/Pferd; avaritia/Kröte (eher:
Maulwurf?); ira/Bär; invidia/Hund; acedia/Esel; gula/Schwein; luxuria/Ziegenbock; zu
anderen Möglichkeiten der Zuordnung von „Laster“-Tieren vgl. ebd. 193 f. und van den
Abeele (wie Anm. 7).
9 Vgl. Géza Jászai, Art. „Hunde“, II.: Ikonographie, in: Lexikon des Mittelalters 5. München,
Zürich 1991, Sp. 214.
10 Zu diesem Bild s. Alexander Perrig, Albrecht Dürer oder Die Heimlichkeit der deutschen
Ketzerei. Die Apokalypse Dürers und andere Werke von 1495 bis 1513. Weinheim 1987,
36 ff. – Auf ein Kalb mit acht Beinen, zwei Köpfen und zwei Schwänzen (chronikalische
Nachricht, 1171, Admont) verweist Gerhard Jaritz, Alltagsleben und Sachkultur zur Zeit
28
eine „unerwartete“ Begegnung mit einem Tier führen kann. Im Folgenden gehört
das erste der von mir behandelten drei Beispiele in diese Gruppe.
Abb. 1: Siamesische Schweine-„Missgeburt“.
Von der wuderbaren (!) Su zuo Landser jm Suntgaw, Flugblatt von Sebastian Brant.
Holzschnitt, Illustration von Albrecht Dürer, 1496.
Aus: Perrig, Dürer 174, Abb. 22.
Auch wenn wir heute im wesentlichen die gleichen Tierarten kennen wie das
Mittelalter, begegnen sie keinesfalls in vergleichbaren Kontexten. Z. B. bezeichnet
eine Quelle das Rind noch im 6. Jahrhundert schlichtweg mit dem
Oberbegriff animal11, und das Pferd hat in der mittelalterlichen Ritter-Kultur mit
Sicherheit einen höheren Stellenwert als im Freizeit-Bereich der heutigen Konsum-
und Spaßgesellschaft. Weitere Verschiebungen haben sich ergeben durch
tierbezogene Innovationen (z. B. die Anwendung des Kummets)12 oder durch
Züchtung (z. B. die Größenzunahme von Rindern seit dem Spätmittelalter)13
oder durch die Entwicklung der Kommunikation (exotische Tiere erregen heute
der Traungauer, in: Gerhard Pferschy (Hrsg.), Das Werden der Steiermark. Die Zeit der
Traungauer (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchives 10) Graz, Wien,
Köln 1980, 311-326 (hier 312).
11 Dieter Hägermann, Art. „Rind“, II.: Wirtschaftsgeschichte, in: Lexikon des Mittelalters 7.
München 1995, Sp. 855.
12 Dieter Hägermann, Art. „Kum(m)et“, in: Lexikon des Mittelalters 5. München, Zürich
1991, Sp. 1570.
13 Günter P. Fehring, Der Beitrag der Archäologie zum „Leben in der Stadt des späten
Mittelalters“, in: Das Leben in der Stadt des Spätmittelalters (Veröffentlichungen des Instituts
für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 2 = Sitzungsberichte der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 325) 2. Aufl. Wien 1980, 9-35 (hier
16).
29
weniger Aufsehen als einst)14. „Physisch“ können „mittelalterliche“ Tiere der
Nachwelt nur in Form von Überresten begegnen. Dessen ungeachtet sind die
Ergebnisse der Archäologie und insbesondere der Archäozoologie beeindruckend.
Das English Heritage Archaeological Store in Helmsley verfügt sogar
über eine absolute Rarität: eine mumifizierte Ratte aus exakt 1260, die im (datierbaren)
Mörtel eines Hauses überdauert hat. Im Vergleich zur „physischen“
Evidenz repräsentiert die mediale Wiedergabe von Tieren einen ungleich breiteren
Überlieferungs-Fundus. Das Spektrum dieser Gruppe umfasst Worte und
Begriffe der sprachlichen Kommunikation, der Literatur und Dichtung sowie der
Wissenschaft ebenso wie bildliche oder figürliche Wiedergaben von Tieren in
Handwerk, Kunst und enzyklopädischen Handbüchern. Im Folgenden behandelt
das zweite Beispiel die bildliche Wiedergabe von Tieren, die den mittelalterlichen
Zeitgenossen in einem für sie „unerwarteten“ Medium begegnet sind.
Als dritte Gruppe betrachte ich schließlich eine, die aus dem eben genannten
weiten Spektrum medial repräsentierter Tiere resultiert: die Begegnung
mit mittelalterlichen Tieren als „unerwartete“ Metapher für eine grundlegende
Konstellation der Mediävistik, nämlich für unsere Begegnung mit Fremdheit.
De Apro, arte do. Omelie mansueto effecto.
Aluit ipsa D. Homelia aprum quemdam a teneris, iam annum habentem, qui
adeo mansuetus a mansueta domina effectus est, ut nulli noceat et in domo ac
si esset domesticus canis semper versetur, nisi quando ipse Magnificus
dominus eques foras castrum proficiscitur: Tunc enim sequitur ad pedes
equorum quocumque ierit, secumque domum regreditur. Quod ego falsum
esse putassem, nisi proprijs vidissem oculis: Hodie enim aper ipse dominum
suum ex ipsa ecclesia beati Ioannis usque ad Montem gratiarum…, spacio
quinque miliarium per silvas, aquas et nemora secutus est, non sine magna
omnium nostrum admiratione.
Habet ultra hoc idem aper alius mansuetudinis signum mirabile, quod si quis
eum manibus scalpat seu fricet statim ruat in terram volens, ibique immobilis
manet, quam diu sic fricetur. In quibus omnibus miris efferenda laudibus est
prefata domina Omelia: que industria et dexteritate sua atrocem et silvestrem
bestiam mansuetam effecit ac mitem. Quid ergo de hominibus sperandum
esset si eius discipline traducerentur? Profecto ex crudelibus et impiis,
humanissimos ac pios rederet.
Abb. 2: Eine unglaubliche Begegnung mit einem zahmen Keiler.
Aus: Vale, Itinerario 238.
14 Vgl. etwa Götz Pochat, Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance.
Voraussetzungen, Entwicklung und Wandel eines bildnerischen Vokabulars (Acta Universitatis
Stockholmensis, Stockholm Studies in History of Art 21) Stockholm 1970.
30
Beispiel Nummer eins stammt aus der literarischen Gattung des Itinerariums15.
Wiedergegeben ist eine unglaubliche, aber authentische Konfrontation mit einem
Tier, das ziemlich unerwartet im gesellschaftlichen Leben des niederen
Landadels in Erscheinung tritt (Abb. 2): 1487 begegnet einem italienischen Bischof
und seinen Reisegefährten auf einer Burg im heutigen Slovenien16 ein
einjähriger (Wild-) Eber („Keiler“). Nachdem ihn die Dame des Hauses eigenhändig
von Klein an aufgezogen hatte, entwickelte jener Eber das Verhalten eines
abgerichteten Haushundes (si esset domesticus canis): Er lebte auf der Burg,
gebärdete sich nie aggressiv, und wenn ihn jemand mit den Fingern kratzte oder
kraulte (si quis eum manibus scalpat seu fricet) glitt er zu Boden und verharrte
dort regungslos, weil er von dieser Behandlung nicht genug bekommen konnte.
Sooft aber der adelige Hausherr ausritt, folgte der Eber den Reitpferden bei Fuß
(ad pedes), auch wenn es dabei über größere Distanzen und durch alle möglichen
topographischen Gegebenheiten ging (per silvas, aquas et nemora). Und
um ein unscheinbar wirkendes Detail nicht zu vergessen: Auf die gleiche Weise
kehrte der Eber auch wieder nach Hause zurück (secumque domum regreditur).
Sicherlich amüsiert uns die Schilderung dieser Einzelheiten, doch trotzdem
müssen wir uns in erster Linie fragen, in welcher Weise die Begebenheit
auf die Zeitgenossen gewirkt hat. In dieser Hinsicht erscheint es bemerkenswert,
dass der Verfasser des Beleges, ein Jurist, sich wie ein christlicher Bekenner
ausdrückt17: Er räumt ein, dass er ein solches Erlebnis nie für möglich gehalten
hätte, wenn er nicht selbst Augenzeuge gewesen wäre (quod ego falsum esse
putassem, nisi proprijs vidissem oculis). Alle Begleiter reagierten auf die Begegnung
„mit wahrlich großer Bewunderung“ (non sine magna omnium nostrum
admiratione). Und die Vorliebe, mit der sich der Eber streicheln und kraulen
ließ, erschien als „weiteres wundersames Anzeichen“ (aliud mansuetudinis
signum mirabile). Offensichtlich verwendet der Autor ein Vokabular, das auf die
Erfahrung christlicher Wunderdinge zugeschnitten ist (mirum, mirabile, admira-
tio), und in den gleichen, sprich spirituellen Zusammenhang gehören der
Begriff mansuetudo bzw. das Attribut mansuetus (Sanftmut bzw. sanftmütig).
Mit ihnen wird der Eber gleichermaßen wie die Dame charakterisiert: Sie als
mansueta domina habe durch Zuwendung und Geschick ein wildes Tier des
Waldes ebenfalls sanftmütig und zahm gemacht (atrocem et silvestrem bestiam
mansuetam effecit ac mitem). Die zugehörige Randglosse komprimiert all das in
der Formulierung: De Apro arte D. Omelie mansueto effecto. Der Sanftmut gegenüber
steht auf der christlichen Werteskala das Laster der Aggressivität (ira),
15 Giuseppe Vale (Hrsg.), Itinerario di Paolo Santonino in Carintia, Stiria e Carniola negli
anni 1485–1487 (Studie e testi 103) Vatikan 1943.
16 Und zwar bei Hartmann von Hollenegg und seiner Gemahlin Amalia (Omelia) auf der Burg
von Konjice/Gonobitz in der ehemaligen Untersteiermark.
17 Zur Klärung der diesbezüglichen Grundtendenz des Werkes s. Helmut Hundsbichler,
Reiseerfahrung und Reflexivität. Spätmittelalterliche Religiosität als Kontext kultureller
Kontraste, in: Medium Aevum Quotidianum 49 (2004) 7-27.
31
das übrigens bisweilen exakt durch den Wildeber symbolisiert wird18, und
theologisch ist sie der höchsten christlichen Tugend zugeordnet: der Liebe (caritas)
19. In der Tat liegt hier die Schlüsselstelle für das Verständnis der ganzen
Episode. Denn nach dem Psalm 79 symbolisiert der wilde Eber den zerstörerischen
Fürsten der Finsternis, der Gottes Weinberg verwüstet20, und nach dem
„Liber de natura rerum“ des Thomas de Cantimpré (ca. 1225/26-1241) gehört es
zu den Wesensmerkmalen des Ebers, dass er keinerlei Belehrungen annimmt
und hartnäckig an seiner Wildheit festhält21. Offensichtlich ist das gegenteilige
Verhalten unseres zahmen Ebers als metaphorische Anleitung für den richtigen
Weg zur Erlösung zu interpretieren, denn genau in diesem Sinne schließt die
Stelle: Sollte die Dame ihre „Erziehungslehre“ (disciplina) jemals auf Menschen
anwenden, so würde sie grausame und gottlose Individuen gewiss zu kultivierten
und frommen Personen machen. Die verlässliche „Heimkehr“ des Ebers
„nach Hause“ erscheint in diesem Kontext wie eine Anspielung auf das Gleichnis
vom verlorenen Sohn und auf das didaktische Bild der peregrinatio des einsichtigen
Gläubigen in seine wahre Heimat, den Himmel (Phil. 3,20)22.
Die gleiche spirituelle Zielsetzung ist gleichermaßen komprimiert wie
programmatisch in einer chronikalischen Eintragung zum Jahr 1275 ausgedrückt:
Die Gemahlin von König Rudolf I. ließ im Garten des Basler Dominikanerklosters
ein Stachelschwein halten (porcus spinosus), damit an diesem Tier
die bewunderungswürdige Schöpfung Gottes sichtbar werde (ut viderent in eo
Dei mirabilem creaturam)23.
In der Mentalität des christlichen Mittelalters ist die Intention der Königin
grundlegend. Denn Anweisungen wie ihre empfehlen die Suche nach dem religiösen
Hintergrund „wunderbarer“ Wahrnehmungen24, um der angenehmen und
daher häufigen, aber verhängnisvollen Verfehlung der curiositas vorzubeugen.
Dies leitet zu meinem zweiten Beispiel über. Curiositas bedeutet kurzsichtiges
und oberflächliches Lustempfinden, das durch seltsame, erstaunliche, unglaubliche,
fremdartige, sensationelle oder phantastische Wahrnehmungen und Erscheinungen
erregt wird (hierunter fiele z. B. das pure Begaffen eines zahmen
Ebers oder eines exotischen Tieres). Im Mittelalter bekämpften die Obrigkeiten
diese oberflächliche Haltung, weil sie die allerwichtigste christliche Zielsetzung
18 Schouwink, Eber 95.
19 Tugendbaum, 2. Viertel 14. Jh. im cod. 12538, fol. 12v der Österreichischen Nationalbibliothek.
20 Schouwink, Eber 11 ff. (Der Wildeber in den Bestiarien und im 79. Psalm).
21 Schouwink, Eber 15.
22 Arnold Angenendt, Art. „Peregrinatio“, in: Lexikon des Mittelalters 6. München, Zürich
1993, 1882 f.
23 Annales Basilienses, in: Georg Heinrich Pertz u. a. (Hrsg.), Annales Aevi Suevici (Monumenta
Germaniae Historica, Scriptores 17) Hannover 1861, Ndr. Stuttgart 1990, 199.
Herzlichen Dank an Dr. Ernst Englisch (Krems bzw. Aggsbach Markt) für den Hinweis auf
diesen Beleg.
24 Vgl. Arnold Angenendt, Art. „Wunder“, I. und II.: Allgemein; Christlicher Westen, in:
Lexikon des Mittelalters 6. München 1998, Sp. 351 f.
32
blockiert, nämlich gerade anhand derart „wunderbarer“ Wahrnehmungen den
Plan Gottes dahingehend zu durchschauen, dass als „wunderbarste“ Errungenschaft
das Ewige Leben zu Gebote stünde.
Abb. 3: „Authentisch“ wiedergegebene „Tiere“ aus Ägypten. Holzschnitt, Erhard Reuwich,
1483/1486, im Rahmen des Reiseberichts Bernhards von Breydenbach.
Aus: Ursula Ganz-Blättler, Andacht und Abenteuer. Berichte europäischer Jerusalem- und
Santiago-Pilger (1320-1520) (Jakobus-Studien 4) Tübingen 1990, 178.
Da Pilgerreisen und Pilgerreise-Berichte speziell auf diese Zielsetzung ausgerichtet
waren, bestand die kontraproduktive Gefahr der curiositas insbesondere
dann, wenn eine solche Reise in fremde Länder und zu „exotischen“, visuell
33
reizvollen Kulturen führte, was bei Pilgerreisen ins Heilige Land in besonderem
Maße der Fall war. Unter diesen Vorzeichen ist es eine große Überraschung,
dass der allererste unterwegs bebilderte Reisebericht in deutscher Sprache (erschienen
1486) ausgerechnet von einer Pilgerreise nach Jerusalem stammt25, und
dass sich unter den darin publizierten Abbildungen überdies explizit „exotische“
Tiere befinden (Abb. 3)26. Im Kanon der spätmittelalterlichen Medien ist das
eine relativ unerwartete Konstellation. Die Legende unterhalb der betreffenden
Bildtafel erweckt den Anschein, als würde sie zusätzlich auf Unerwartetes verweisen:
Sie erklärt, die betreffenden Tiere seien „authentisch abgebildet, so wie
wir sie im Heiligen Land gesehen haben“ (Hec animalia sunt veraciter depicta
sicut vidimus in terra sancta), doch diese Aussage erscheint in zweierlei Hinsicht
als unzutreffend: Fünf dieser „wahrheitsgetreu“ abgebildeten Tiere wurden
nämlich nicht im Heiligen Land angetroffen, sondern in Ägypten27. Und zwei
explizit symbolische Figuren können überhaupt nirgends „physisch“ in Erscheinung
getreten sein: einerseits das Einhorn (unicornus), ein geläufiges Symbol
der Menschwerdung Christi28, andererseits ein Mischwesen mit menschenähnlicher
Gestalt, Affenfüßen und Schwanz, dessen Kopf am ehesten löwenhaft wirkt
und dessen Benennung selbst dem mitgereisten zeitgenössischen Zeichner entsprechend
ungewiss erschienen ist (non constat de nomine). Dennoch hatten die
mittelalterlichen Zeitgenossen weitreichendes Vorwissen über solche Symbolfiguren,
und deren „Bezeugung“ durch eine Autorität (gerade in Form der Abbildung)
war geeignet, ihren Realitätscharakter zu begründen29. Demnach würde
ich das „unbenennbare“ Mischwesen ebenfalls in den geläufigen Formenkanon
25 Es handelt sich um die „Peregrinationes in Terram Sanctam“ des Mainzer Domdekans
Bernhard von Breydenbach (1483/84), deren Beschreibung 1486 und 1488 im Druck erschienen
ist; vgl. Erich Woldan, Art. „B. von (vom) Breidenbach“, in: Lexikon des Mittelalters
1. München, Zürich 1980, Sp. 1991.
26 Die in der Forschung öfter diskutierten Abbildungen stammen von Erhard Reuwich aus
Utrecht, der die Reise eigens zum Zweck der Bebilderung mitgemacht hat.
27 Aleya Khattab, Das Ägyptenbild in den deutschsprachigen Reisebeschreibungen der Zeit
von 1285-1500 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I 517) Frankfurt/Main, Bern 1982,
234 f. Es handelt sich um die Giraffe (seraffa), das Krokodil (cocodrillus), ägyptische
Breitschwanz-Schafe (umschrieben als capre de India), das Kamel (camelus) und den Salamander
(salemandra).
28 Dirk Kocks, Art. „Einhorn“, II.1.: Ikonographie, Okzident, in: Lexikon des Mittelalters 3.
München, Zürich 1986, 1741 f.
29 Vgl. Gerhard Jaritz, Zwischen Augenblick und Ewigkeit. Einführung in die Alltagsgeschichte
des Mittelalters. Wien, Köln 1989, 23 f.; Werner Wunderlich, Dämonen, Monster,
Fabelwesen. Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe, in:
Ulrich Müller – Werner Wunderlich (Hrsg.), Dämonen Monster Fabelwesen (Mittelalter
Mythen 2) St. Gallen 1999, 11-38 (hier 14 ff.: Die Wirklichkeit mythischer Geschöpfe im
Mittelalter). – Der Dominikaner Felix Faber berichtet von derselben Jerusalempilgerschaft,
die Pilgergruppe habe hoch auf einem spitz ein großes Tier gesehen, von dem der Reiseführer
und die Araben sagten…fürwar es were ein Einhorn (Khattab, Ägyptenbild 168).
34
des späten Mittelalters einreihen und es als „Wilden Mann“ interpretieren30: Im
gegebenen geographischen und mentalen Kontext erscheint die Figur gut denkbar
als Verbildlichung des Oberbegriffs für all die „Heiden“ verschiedener religiöser
und ethnischer Zugehörigkeit, die auf einer mittelalterlichen Orient-Reise
anzutreffen waren31. Dieser Zuordnung würde auch entsprechen, dass die Figur
ein Kamel führt. Die „Wildheit“ solcher „Heiden“ bestünde sozusagen in ihrer
Ferne vom Christentum, durch dessen heilbringende Ideen sie quasi „kultiviert“
würden (didaktisch wäre das eine Parallele zum obigen Beispiel des zahmen
Ebers, und der Pilgerstab des Mischwesens wäre als Symbol für die peregrinatio
der Heiden zum Christentum denkbar), und in der Tat symbolisieren „Wildleute“
im religiösen Kontext „das von der Tugend besiegte Laster“32. In dieser
Deutung würde unser Mischwesen sich dann nicht als „Fälschung“ oder realitätsferne
Fiktion erweisen, sondern als Imagination: Dieses Bild bekräftigt eine
spirituelle (d. h. eine bloß vorstellbare) Realität.
In der alltäglichen Lebenspraxis beruhen viele Sprichwörter und metaphorische
Ausdrücke33 auf Tiernamen und/oder auf Eigenschaften von Tieren, z. B.
der „Hahn im Korb“. Doch zeigt etwa der Hahn, der den Durchfluss einer Flüssigkeit
regelt, dass in solchen Fällen die namengebende Bedeutung unter Umständen
nahe, aber nicht immer offen liegt34. Noch höher ist der Erklärungsbedarf
in der Regel bei tierbezogenen Bezeichnungen in mittelalterlichen Fachsprachen.
Während (im Bauwesen) für ein Gewölbe die mlat. Bezeichnung
testudo zumindest nachvollziehbar ist, nämlich in formaler und qualitativer Anlehnung
an die feste Schale der Schildkröte35, bedarf etwa das Verständnis der
Bezeichnung „Ofensau“36 (im Hüttenwesen) schon eingehenderer Fachkennt-
30 Zu dieser Figur vgl. Ernst Ralf Hintz, Der Wilde Mann – ein Mythos vom Andersartigen,
in: Müller – Wunderlich, Dämonen 617-626.
31 Wie breit das gesamte Spektrum von nicht-christlichen orientalischen Völkerschaften im
Prinzip zu denken ist, veranschaulicht für die biblische Zeit etwa Apg. 2,1-13 (Das Pfingstereignis).
Arnold von Harff nennt 1499 in Kairo: Juden, Osmanen („Türken“) und Sarazenen
(„Heiden“), ferner die Mamluken; vgl. hierzu die Angaben bei Helmut Hundsbichler,
Vil handt erkundt verr froembde lant. Annäherungsversuche an den mentalen Kontext
spätmittelalterlichen Reisens. In: Folker Reichert (Hrsg.), Fernreisen im Mittelalter = Das
Mittelalter 3/2 (1998) 19-32 (hier 26, Anm. 22).
32 Norbert H. Ott, Art. „Wildleute“, in: Lexikon des Mittelalters 9. München 1998, Sp.120 f.
33 Bei Oswald von Zingerle, Mittelalterliche Inventare aus Tirol und Vorarlberg. Innsbruck
1909 (Register) scheinen etwa folgende tierbezogene Bezeichnungen in metaphorischer
Bedeutung auf: bock (metallener Feuerbock; hölzerner Unterbau); gaisfues („Geißfuß“,
eine Art Brecheisen mit klauenförmigem Ende); kräll („Kralle“, Gabel mit gebogenen Zinken);
krebs (Brustharnisch); fuchs (braunes Pferd); snecken (Wendeltreppe); wolfl (ein
Werkzeug zum Spalten von Gestein).
34 Laut Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch 10 (= Bd. IV/2 der Ausg. Leipzig
1877). München 1984, Sp. 164, Nr. 4, kann mit der Bezeichnung für „männliches Geflügel“
auch das „männliche Glied“ gemeint sein.
35 Vgl. etwa die zahlreichen Belege bei Paolo Santonino laut Vale, Itinerario (passim).
36 Hüttenmännischer Ausdruck für die Roheisenmenge, die nach dem letzten Abstich eines
Hochofens in diesem zurückbleibt.
35
nisse. Noch komplexer wird das Problem, wenn sich durch schlüssig erscheinende
Konjekturen Fehldeutungen etablieren, wie z. B. (im Militärwesen) die
Bezeichnung „Katze“ (cattus) für den Sturm-„Bock“ zum Brechen von Toren
und Mauern37, hinter der richtigerweise wohl das italienische Wort cazzo (Phallus)
steht.
Wie der Ausdruck „Fachsprache“ sagt, erfordern Gebrauch und Verständnis
solcher Bezeichnungen die Spezialkenntnis entsprechender Fachleute. Macht
man diese Hürde per analogiam zur Nagelprobe für Mediävisten, so zeigt sich,
dass „unerwartete“ Konfrontationen mit Tieren auch „die“ grundlegende Konstellation
unserer Disziplinen widerspiegeln, nämlich das ethnologische Phänomen
unserer Konfrontation mit Fremdheit38: Jede unerwartete Konfrontation
gibt uns etwas aufzulösen, und nicht jede gefundene Deutung ist gleich die einzig
mögliche oder endgültige (dieser Gesichtspunkt ist speziell im Hinblick auf
Interdisziplinarität fundamental)39. Vorrangiges und paradigmatisches Kriterium
für die Fremdheit des Mittelalters ist das religiöse Gedankengut: Gerade bei
Tier-Belegen ist die religiöse Komponente häufig essenzieller Bestandteil eines
Beleges und kann entweder zu unserem Be-fremden führen (nämlich solange
wir sie zwar spüren, aber nicht verstanden haben)40, oder man ignoriert sie
gleich von vornherein (weil man sie gar nicht bemerkt hat oder nicht für wichtig
hält). Beispielsweise ist ein professionell gearbeitetes Gewölbe (testudo) im
Mittelalter konnotiert mit der Idee der Schönheit des betreffenden Bauwerks41.
Auf diese Weise ist eben bereits die Objektwelt geeignet, den Plan Gottes offenzulegen
– und zu „beglaubigen“. Dasselbe tun auch Hunde und Gänse, wenn sie
gemäß ihrem Naturell einfach bellen bzw. schnattern, denn diese gottgegebenen
37 Vgl. die „Katze mit Dachschild und Rammsporn“ auf fol. 32r bei Konrad Kyeser, Bellifortis.
Umschrift und Übersetzung von Götz Quarg. Düsseldorf 1967, 25 (cattus…simplex cum
defendiculo largo); fol. 38v: „Kampfwagen in Schreckgestalt eines Vogels“, im Original
genannt cattus grandis (ebd. 28). Diese Fehldeutung war bereits früher etabliert, denn Otakar
oûz der Geul gebraucht (vor 1320) den Begriff „Katze“ in seiner „Österreichischen
Reimchronik“: s. Ernst Englisch, Ottokars Steirische Reimchronik. Versuch einer realienkundlichen
Interpretation, in: Die Funktion der schriftlichen Quelle in der Sachkulturforschung
(Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 1 =
Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse
304/4) Wien 1976, 7-54 (hier 45 f.). Andere tierbezogene Bezeichungen für Kriegsgerät im
„Bellifortis“ (s. Quarg, Umschrift 28-31): mus („Wühlmaus“), scroffa („Mutterschwein“),
mollossus (der „Molosserhund“ des klassischen Altertums).
38 Vgl. Helmut Hundsbichler, Fremdes deuten, in: Ulrich Veit et al. (Hrsg.), Spuren und Botschaften.
Interpretationen materieller Kultur (Tübinger Archäologische Taschenbücher 4)
Münster, New York, München, Berlin 2003, 515-529.
39 Vgl. Helmut Hundsbichler, Interdisziplinarität und Mediävistik, in: Das Mittelalter 4 (1999)
17-29.
40 Z. B. anhand der Frage, warum Christus beim Einzug in Jerusalem auf einem Esel reitet.
41 Vgl. etwa: (stabulum) cum pulchra testudine (Vale, Itinerario 164); ecclesia…perpulchre
edificata…alta testudine ubique firmata (ebd. 183); basilica…pulchrior…ceteris…cum tota
testudinea sit (246); pulcherrima…ecclesia…tota in alta testudine levatur (ebd. 256).
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Eigenschaften können als Warneinrichtung genutzt werden, wenn sich Räuber
oder Feinde nähern (Abb. 4).
Abb. 4: Hunde und Gänse als Wächter einer Burg.
Konrad Kyeser, Bellifortis. Buchmalerei, 1405.
Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, cod. ms. philos. 63, fol. 85v.
Aus: Bellifortis, Faksimile-Band, hrsg. von der Georg-Agricola-Gesellsch. Düsseldorf 1967.
Als Beispiel für den Aspekt mediävistischer Fremdheitserfahrung behandle ich
abschließend ein „exotisches“ Tier, das in Mitteleuropa in der Tat äußerst selten
und entsprechend unerwartet auftritt, nämlich den Vogel Strauß42 mit zwei
42 Christian Hünemörder, Art. „Strauß“, in: Lexikon des Mittelalters 8. München 1997, Sp.
230 f.
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Hufeisen im Wappen meiner Heimatstadt Leoben. Schon seine frühesten feststellbaren
Vorformen aus den Jahren 1298 und 1311 im Siegel der Leobener
Bürgerschaft (Abb. 5) bedeuten aus heutiger Sicht Fremdheitserfahrungen, weil
„man“ sich einen Strauß ja nicht „so“ vorstellt. Und auch die bisherigen Ansätze
zur Deutung des Wappens43 bekunden eine stereotype Fremdheits-Barriere:
Zwar werden sowohl die beiden Hufeisen, als auch das Wappentier selbst („der
Vogel Strauß als Eisenfresser“)44 zu Recht mit der wichtigen Position von Leoben
im mittelalterlichen Eisenhandel assoziiert. Aber der Sinn des Bildganzen
bleibt kryptisch, weil danach bisher kaum von der Mentalität des Mittelalters her
gefragt worden ist.
Abb. 5: Der Vogel Strauß mit zwei Hufeisen im sigillum civitatis in Levben.
Zweitältestes überliefertes Siegel der Bürgerschaft von Leoben,
Abguss von Alexander Wieber (Historical Waxcraft, Rochester, NY, USA).
Original im Steiermärkischen Landesarchiv, Graz, Urk. Nr. 1750 vom 25. Mai 1311.
Den Weg für eine zufriedenstellende Deutung weisen textliche Devisen, die den
Strauß mit Hufeisen seit der frühen Neuzeit in emblematischen Darstellungen
43 Franz Kirnbauer, Der Vogel Strauß mit dem Hufeisen im Schnabel, in: biblos 11/3 (1962)
115-122; Grete Lesky, Vogel Strauß, der Eisenfresser. Ein Beitrag zur Ergänzung von Arbeiten
über den Vogel Strauß als Leobener Stadtwappen, in: Der Leobener Strauß 1 (1973)
9-20.
44 Kat.-Nr. 13a/4 im Katalogteil von: Paul W. Roth – Peter Cordes (Hrsg.), Erz und Eisen in
der Grünen Mark, Ausstellungskatalog. Graz 1984, 202.
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begleiten: Eine dieser Inschriften lautet: Virtus durissima coquit („Tugend kriegt
die härtesten Dinge weich“)45, die andere Nil penna sed usus („Nicht das Fliegen,
sondern das Geschick“)46. Das heißt kurz gesagt47, die Zuschreibung der
wundersamen Fähigkeit zur „Verdauung“ von Eisen, auf die offensichtlich das
Hufeisen im Schnabel anspielt, machte den Vogel Strauß ebenfalls zu einem
Symbol christlicher Tugendhaftigkeit, und zwar in der Weise, dass sie Beharrlichkeit
und Geduld paraphrasiert (perseverantia, ein Teilbereich der Tugend
fortitudo)48. Dazu kommt eine weitere Facette seiner achtenswerten Kompetenz
(usus)49, die darin besteht, dass der Strauß zwar nicht fliegen, aber definitiv
schneller laufen kann als ein Pferd50 – und wohl darauf verweist das zweite
Hufeisen, das sich in der rechten Klaue des Vogels befindet, also ähnlich beziehungsvoll
zugeordnet ist wie das eine Hufeisen im Schnabel. Als vordergründige
Eisen-Bezüge der Darstellung passen die beiden Hufeisen natürlich zu einem
Eisen-Handelsplatz, doch wie man sieht, offenbart sich der eigentliche Gehalt
des Bildganzen erst in seiner sinnreichen Hintergründigkeit. Und was man
ebenfalls nicht übersehen sollte: Wohl überhaupt erst der Symbolgehalt ist das
Medium, mittels dessen die Führungsschicht der betreffenden Kommune ihr
(christliches) Selbstverständnis kundtun wollte – oder vielleicht zutreffender
nicht nur die Führungsschicht, sondern schon der Stadtherr. Denn bezüglich des
Stadtherrn kann zumindest hypothetisch weiter argumentiert werden: Leoben
erfuhr 1261 bis 1280 eine Siedlungsverlegung und die Erhebung zur Stadt, und
zwar durch niemand Geringeren als den böhmischen König Otakar II. Přemysl.
Er war 1260 bis 1276 Herzog der Steiermark und hat im Zuge der Neugründung
auch das „exotische“, tiefgründige und äußerst seltene Straußen-Wappen verliehen51,
dessen Exklusivität und Symbolkraft besonders gut auch das Prestige und
die Selbstdarstellung seines eigenen königlichen Ranges zum Ausdruck bringen
würde.
45 Auf einer Rundscheibe in Bleifassung, 1. Hälfte 16. Jh. Glasmalerei, Durchmesser 17,3 cm.
Original im Steiermärkischen Landesmuseum Joanneum Graz, Abt. Kunstgewerbe, Inv.-
Nr. *2.065.
46 Nach Geffrey Whitney, A Choice of Emblemes, Leiden: Franciscus Raphelengius 1586,
Emblem 51 (Hochschulbibliothek Leiden); s. einen weiteren Bildbeleg im 1611 publizierten
„Nucleus emblematum“ von Gabriel Rollenhagen.
47 Eine ausführlichere Arbeit zur mentalitätsgeschichtlichen Deutung des Leobener Straußen-
Wappens bereite ich vor.
48 Tugendbaum, 2. Viertel 14. Jh. im cod. 12538, fol. 12v der Österreichischen Nationalbibliothek.
49 Usus = ein theologischer Begriff im Sinne einer Anwendung, um das höchste christliche
Ziel zu erreichen: vgl. Hans Kraml, Art. „Uti/frui“, in: Lexikon des Mittelalters 8. München
1997, Sp. 1344 f.
50 Der strauz läuft sô snell auf der erd daz er ain pfärt fürläuft, heißt es in Anlehnung an Thomas
de Cantimpré im „Buch der Natur“ Konrads von Megenberg (1348/50), hrsg. von
Franz Pfeiffer. Stuttgart 1861, Ndr. 1971, 222 f., Nr. 64 (von dem strauzen).
51 Herwig Ebner, Art. „Leoben“, in: Handbuch der historischen Stätten, Österreich 2:
Alpenländer mit Südtirol (Kröners Taschenausgabe 279) Stuttgart 1966, 97 ff. (hier 97).
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In mehrfacher Hinsicht hat sich somit gezeigt, dass das „Unerwartete“ an
Begegnungen mit Tieren ein menschliches Konstrukt ist, sei es in der Geschichte
oder sei es in der Gegenwart. Unerwartetes hängt ab vom jeweiligen
Informationsstand, es ist eine Funktion der Kommunikation. Entsprechende (und
einander zum Teil überlappende) Kriterien sind:
– die Art des involvierten Tieres (Welches Tier „begegnet“?). Der Strauß
wird im Mittelalter mehr Aufmerksamkeit erregen als eine Ratte.
– die Art und der Kontext der Quelle (In welcher Art von Quelle „begegnet“
das Tier?). In einem Bestiarium werden Tiere geläufiger sein als im
Quellentyp der Urkunde.
– die Referenzpersonen (Wer hat die „Begegnung“? Wer tradiert sie? Wer
ist als Rezipient gedacht?). Der Großteil der Überlieferung ist intentional,
das heißt, die Nachrichten über „Begegnungen“ sind durch die Sicht ihrer
Vermittler vorgeprägt.
– die involvierte Funktion der „Begegnung“ (Was soll das Tier aussagen?).
Beträchtliche Unterschiede können sich ergeben je nach dem Grad von
Realität oder Symbolik, Vertrautheit oder „Exotik“, Normalität oder
Monstrosität, wie etwa beim siamesischen Schwein mit Doppelrumpf.
– die mentale Kompetenz beim historischen Rückblick (Wie viel
hermeneutische Differenz ist im Spiel?). Die mittelalterlichen Zeitgenossen
stehen der korrekten Sicht näher als wir Mediävisten, speziell wenn
wir den Aspekt der Fremdheit ignorieren.
Wenn man so will, repräsentiert diese knappe Liste zugleich auch ein paar
Grundthesen für weiterführende Untersuchungen. Sie lässt erkennen, dass „unerwartete“
Begegnungen mit Tieren bei weitem keine vorrangige Sache der
Quantität sind, obwohl es interessant wäre, die Anzahl von mehr als 3000 Tiergärten
und Vivarien in den Grafschaften Englands um 135052 mit Statistiken aus
anderen Ländern zu vergleichen. Den hier besprochenen Beispielen zufolge besteht
die Rolle „unerwarteter“ Tiere im Mittelalter offenbar darin, das heilbringende
Nachdenken über den Erlösungsplan Gottes zu propagieren oder auch zu
bekunden. Dabei dürfte auch deutlich geworden sein, dass „unerwartete“ Begegnungen
nur in transdisziplinärer Sicht evaluiert werden können. Mit Blick
auf all das ist die theoretische Verortung tierbezogener Mediävistik vielleicht
ebenfalls als unerwartet zu bezeichnen: Die Erforschung der mittelalterlichen
Tierwelt ist (und sollte angelegt werden als) ein Gegenstand der Historischen
Anthropologie.
52 Corinne Beck – Robert Delort, Art. „Wildgehege und Tiergarten“, in: Lexikon des Mittelalters
9. München 1998, Sp. 115-119 (hier 117).
M E D I U M A E V U M
Q U O T I D I A N U M
51
KREMS 2005
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramèr
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, 3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. –
Druck: Grafisches Zentrum an der Technischen Universität Wien, Wiedner
Hauptstraße 8-10, 1040 Wien.
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort …………………………………………………………………………………………………. 5
Adrian Andrei Rusu, On the Medieval Battle Knives from Transylvania ………. 7
Helmut Hundsbichler, Tanta mansuetudo in bestia.
Unerwartete mediävistische Begegnungen mit Tieren ………………………. 26
Elisa Heinrich, Die Ordnung und ihr Anderes?
Einige Anmerkungen zum Cross Dressing
am Beispiel der Heiligen Kümmernis …………………………………………… 40
Besprechungen …………………………………………………………………………………….. 48
5
VORWORT
Das vorliegende Heft von Medium Aevum Quotidianum soll neuerlich die Verschiedenheit
von Fragestellungen und Ansätzen vermitteln, die in einer Geschichte
von Alltag und materieller Kultur des Mittelalters von Wichtigkeit erscheinen.
Dabei geht es vor allem auch um trans- und interdisziplinäre Aspekte,
welche regelmäßig zu berücksichtigen sind und ohne die eine moderne Forschung
nicht auskommen kann. Dies gilt für Untersuchungen zu spätmittelalterlichen
‚Kampfmessern‘ genauso wie für die Auseinandersetzung mit dem Einsatz,
der Funktion und den symbolischen Werten von Tieren zu den unterschiedlichsten
Anlässen und in verschiedensten Diskursen, besonders auch dann
und dort, wann und wo man dieselben vielleicht nicht erwarten würde. Ebenfalls
trifft dies für jede theoriegeleitete Einzeluntersuchung zur Gender-Problematik
zu, wie am bekannten Beispiel von spätmittelalterlichen Cross-Dressing-Darstellungen
der Heiligen Kümmernis wieder einmal gut vorgestellt werden kann.
Die nächsten Hefte und Sonderbände unserer Reihe werden auch auf derartige
Forschungsdesiderata und -prinzipien Bezug nehmen. Dies gilt vor allem
für einen Sonderband, zu dem der erwähnte Beitrag von Helmut Hundsbichler in
diesem Heft über die Rolle von Tieren in Kontexten, in welchen man sie nicht
erwartet, gleichsam als ‚Vorhut‘ angesehen werden kann. Dieser Sonderband
wird sich mit „Tierwelten – Animal Worlds“ auseinandersetzen, sich den verschiedensten
Möglichkeiten des Zugangs zur mittelalterlichen Beziehung von
Mensch und Tier widmen und sich vor allem auf entsprechende Vernetzungen
beziehen. Die Beiträge des Bandes werden unter anderem erste Ergebnisse des
internationalen Forschungsprojektes MAD („Medieval Animal Database“) beinhalten,
sowie überarbeitete Vorträge und Diskussionsbeiträge, die an den heurigen
Internationalen Mittelalter-Kongressen von Kalamazoo (Sektion „Animal
Networks“) und Leeds (Sektion „Representing and ‘Transforming’ Medieval
Fauna“ und Round Table-Diskussion „A Digital Net of Medieval Animals?“)
angeboten wurden.
Ein weiterer Sonderband wird sich an Hand eines niederösterreichischen
städtischen Beispiels mit der Rolle, Aussagekraft und den Analysemöglichkeiten
von spätmittelalterlicher Rechnungsbuchüberlieferung für die Geschichte von
Alltag und materieller Kultur beschäftigen.
Schließlich wird ein dritter Sonderband die bereits mehrmals angekündigte
neue Auswahl-Bibliographie zu „Alltag und materieller Kultur des Mittelalters“
enthalten und nun entweder Ende 2005 oder Anfang 2006 zum Erscheinen
kommen.
6
Darüber hinaus wird Heft 52 noch heuer vor allem wieder neue, internationale
Beiträge aus der Forschungspraxis der Mitglieder von Medium Aevum
Quotidianum anbieten können.
Gerhard Jaritz