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Der Körper im Gleichgewicht:
Ernährung und Gesundheit im Mittelalter
Dorothee Rippmann (Universität Zürich)
Im Zeichen der Körpergeschichte und des aktuellen Diskurses über die „richtige“
Ernährung im Zeitalter von Fast Food und Convenience Food (unsere Teller
sind angeblich zu Sargnägeln geworden1) eröffnet ein Blick in die Welt des
Mittelalters womöglich die Aussicht, Verbindungen zu den als neu gepriesenen
heutigen populären und alternativmedizinischen Ernährungslehren zu entdecken;
enthalten diese doch Elemente, die in tausend Jahre alten Traktaten zu finden
sind.2 In Schriften damaliger Ärzte, die ihren sozial hochrangigen Patienten
Ernährungsberatung anboten, findet sich ähnliches Gedankengut wie in modernen
alternativmedizinischen Richtungen.3 Die salernitanische Schule und die
scholastische Medizin beschäftigten sich mit der Diätetik (als Teilgebiet der
„Practica“) und dem Essgenuss.4 Ihre Lehren waren Ausdruck eines Weltbildes,
das den Menschen als Mikrokosmos in Abhängigkeit vom Makrokosmos begriff
und ihn in ständiger Austauschbeziehung mit den äußeren Umwelteinflüssen
1 Jean-Marie Bourre, Intelligenz und Ernährung. Eine Hymne auf gutes Essen und eine
Kampfansage gegen den Moralismus trister Diäten. Düsseldorf 1992, 37. Zum Fast Food
siehe Maurice Bensoussan, Nefast food. In: SLOW: Magazine culturel du goût (Slow Food
Editore) Nr. 9 (2001), 68-77.
2 Eine leicht veränderte französische Fassung dieses Artikels erscheint in: Françoise Sabban
und Frédérique Audouin-Rouzeau (Hg.), «Un aliment sain dans un corps sain». Perspectives
historiques. Beiträge des internat. Kongresses des Institut Européen d’Histoire de
l’Alimentation (IEHA) in Tours vom Dez. 2002 (im Druck). Ich danke Norbert Höller für
die Diskussionen zur Entwicklung des Schachbrett-Gedankens.
3 Vgl. die Bände Alois Wierlacher, Gerhard Neumann und Hans Jürgen Teuteberg (Hg.), Kulturthema
Essen. Ansichten und Problemfelder. Berlin 1993; Gerhard Neumann, Alois
Wierlacher und Rainer Wild (Hg.), Essen und Lebensqualität. Natur- und Kulturwissenschaftliche
Perspektiven. Frankfurt/Main 2001; und das anregende Buch von Laurence Ossipow,
La cuisine du corps et de l’âme. Approche ethnologique du végétarisme, du crudivorisme
et de la macrobiotique en Suisse. Neuchâtel und Paris 1997.
4 Heinrich Schipperges, Arabische Medizin im lateinischen Mittelalter. Berlin, Heidelberg
und New York 1976; ders., Schola Salernitana – eine Gesundheitslehre des Mittelalters. In:
Die Heilkunst 90, Heft 4 (1977) 139-145; Eva Barlösius, Soziologie des Essens. Eine sozial-
und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim und
München 1999, 48-53. Zu den theoretischen Grundlagen mittelalterlicher Küche siehe die
ausgezeichneten Ausführungen von Terence Scully, The Art of Cookery in the Middle
Ages. Woodbridge 1995, 40-65.
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sah. Insofern als die Ärzte den Fragen des „guten Geschmacks“ und der kulinarischen
Sinneswahrnehmungen Beachtung schenkten, sind ihre Meinungen Teil
des „Kulturthemas Essen“5. Bedenkt man, dass, wie Albertus Magnus formuliert,
„Alle unsere Erkenntnis … mit der Sinneserfahrung“ beginnt6, verbindet
sich die Geschichte des Geschmacks und der beim Essen beteiligten Sinne7 mit
der Philosophie.
Einleitend seien ohne Vollständigkeitsanspruch Quellentypen angegeben,
die über Gesundheitskonzepte und Gesundheitspflege im Zusammenhang mit
Ernährung informieren. Einschlägig sind medizinische und diätetische Traktate,
Kochrezepte und Kochbücher8, während aus anderen Quellen wie etwa Bußbüchern,
Predigten9, Konzils- und Synodalbeschlüssen, klösterlichen Arzneibüchern10
und den consuetudines religiöser Orden11 weitere, ergänzende Aspekte
zu entnehmen sind. All den heterogenen Zeugnissen aus dem Mittelalter ist eines
gemeinsam: Es sind normative Texte theoretisch-belehrender Natur; sie orientieren
allenfalls in begrenztem Maß über die Praxis der täglichen Nahrungsaufnahme.
Indes bezeugen sie prinzipielle Vorstellungen über gesunde Lebensführung
und Ernährung. Die im hoch- und spätmittelalterlichen Europa verbrei-
5 Dietrich von Engelhardt, Hunger und Appetit. In: Wierlacher, Neumann und Teuteberg
(Hg.), Kulturthema Essen 137-149.
6 Peter Theiss, Die Wahrnehmungspsychologie und Sinnesphysiologie des Albertus Magnus.
Frankfurt/Main, Bern u.a. 1997, 25.
7 Barlösius, Soziologie des Essens 70-87: „Essen – Eine Sache des Geschmacks“.
8 Zu Kochbüchern siehe Scully, The Art of Cookery; Odile Redon, Françoise Sabban und
Silvano Serventi, La Gastronomie au Moyen Âge. 150 recettes de France et d’Italie. Paris
19932 (deutsch: Die Kochkunst des Mittelalters. Wiederentdeckt für Genießer von heute.
Frankfurt/Main o. J.); Norbert Höller, Texte zum Essen – Zur Entwicklungsgeschichte der
Kochbücher. In: Dorothee Rippmann und Brigitta Neumeister-Taroni (Hg.), Gesellschaft
und Ernährung um 1000. Eine Archäologie des Essens. Vevey 2000, 132-137; Trude Ehlert,
Kochbuch des Mittelalters. Rezepte aus alter Zeit. Düsseldorf 2000.
9 Robert Herrlinger, Die sechs res non naturales in den Predigten Bertolds von Regensburgs.
In: Sudhoffs Archiv 42 (1958) 27-38; Pierre Bonnassie, Consommation d’aliments immondes
et cannibalisme de survie dans l’Occident du Haut Moyen Âge. In: Annales. ESC 44/5
(1989) 1035-1056.; Herbert Schneider, Die Maus in der Milch. Hygienebestimmungen in
Bußbüchern. In: Lothar Kolmer und Christian Rohr (Hg.), Mahl und Repräsentation. Paderborn
2000, 41-52.
10 Gundolf Klein und Paul Schnitzer (Hg.), Das Lorscher Arzneibuch und die frühmittelalterliche
Medizin. Lorsch 1991.
11 Gerd Zimmermann, Ordensleben und Lebensstandard. Die Cura Corporis in den Ordensvorschriften
des abendländischen Hochmittelalters. Münster (Westfalen) 1973; M. Rouche,
Les repas de fête à l’époque carolingienne. In: Manger et boire au Moyen Âge. Actes du
Colloque de Nice (15-17 octobre 1982) (Publications de la faculté des lettres et sciences
humaines de Nice 27, 28) Paris 1984, 265-296; Massimo Montanari, Alimentazione e
cultura nel Medioevo. Bari 1988, 63-123; Axel Gampp, Den Weissweinwunsch am Auge
formen – Signa loquendi: Klösterliche Zeichensprache im 11. Jh. In: Rippmann und Neumeister-
Taroni (Hg.), Gesellschaft und Ernährung 210-214; Nira Pancer, Crimes et châtiments
monastiques: aspects du système cénobitique occidental (Ve et VIe siècles). In: Le
Moyen Âge. Revue d’Histoire et de Philologie 2003/2, 261-275.
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teten Gesundheitslehren (regimina sanitatis) beschreiben aus wissenschaftlicher
Sicht die Eigenschaften und Wirkungen von Nahrungsmitteln und sie empfehlen
ihren Adressaten Regeln für gesunde und standesgemäße Ernährung12. Dabei
können sie auf der antiken Heilkunde aufbauen, wie namentlich auf dem Werk
De alimentarum facultatibus Galens.13 Seit dem 9. und 10. Jahrhundert hatten
im Orient, in Nordafrika und in Andalusien arabische, jüdische und christliche
Gelehrte die Grundlagen entwickelt, die in der scholastischen Medizin Europas
Früchte tragen sollten.14 Im Abendland floss ihr Wissen im Medium der seit dem
Ende des 11. Jahrhunderts entstandenen lateinischen Übersetzungen in die Anweisungen
der Fachprosa ein. Seit dem 14. Jahrhundert waren Werke der regionalsprachlichen
Fachprosa wie die Regeln der Gesundheit zumindest in universitären
und höfisch-adeligen Kreisen eine beliebte Lektüre. Im Medium des frühen
Buchdrucks erhielten sie sodann bislang ungeahnte Verbreitung.15 Schließlich
konnte ein ursprünglich für ein elitäres, aristokratisches Publikum entwickeltes
Konzept16 gegen 1500 breiteren sozialen Kreisen des Weltklerus und der
12 Peter Strauss, Arnald von Villanova deutsch unter besonderer Berücksichtigung der „Regel
der Gesundheit“, Diss. Heidelberg 1963; Luisa Cogliati Arano, Tacuinum sanitatis. München
1976; Karin Figala, Mainfränkische Zeitgenossen ‚Ortolfs von Baierland’. München
1969; Ursula Gray, Das Bild des Kindes im Spiegel der altdeutschen Dichtung und Literatur:
mit textkritischer Ausgabe von Metlingers „Regiment der jungen Kinder“. Bern und
Frankfurt/Main 1974; Christa Hagenmeyer, Die ‚Ordnung der Gesundheit’ für Rudolf von
Hohenberg. Untersuchungen zur diätetischen Fachprosa des Spätmittelalters mit kritischer
Textausgabe, Diss. Stuttgart 1972; dies., Das Regimen Sanitatis Konrads von Eichstätt:
Quellen – Texte – Wirkungsgeschichte (Sudhoffs Archiv, Beihefte 35) Stuttgart 1995;
Friedrich Hartmann, Die Literatur von Früh- und Hochsalerno und der Inhalt des Breslauer
Codex Salernitanus, Diss. Borna-Leipzig 1919; Franz Unterkircher (Hg.), Das Hausbuch
der Cerruti. Nach der Handschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek. Dortmund
1979; Günter Kallinich und Karin Figala, Das „Regimen sanitatis“ des Arnold von Bamberg.
Wiesbaden 1972; Heinz H. Menge, Das „Regimen“ Heinrich Laufenbergs. Textologische
Untersuchung und Edition (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 184) Göppingen
1976; Carmélia Opsomer-Halleux, L’art de vivre en santé. Images et recettes du Moyen
âge, Le «Tacuinum sanitatis» (ms 1061) de la Bibliothèque de l’Université de Liège. Liège
1991.
13 Werke des Galenos, Bd. 3: Die Kräfte der Nahrungsmittel, Buch 1-2, übersetzt u. erläutert
von Erich Beintker und Wilhelm Kahlenberg. Stuttgart 1948; Mark Grant, Galen on Food
and Diet. London und New York 2000. Vgl. auch Melitta Weiss Adamson, Medieval Dietetics.
Food and Drink in ‚Regimen Sanitatis‘ Literature from 800 to 1400 (German Studies
in Canada, Bd. 5) Frankfurt/Main 1995; Lawrence I. Conrad, The Arab-Islamic Tradition.
In: The Western Medical Tradition 800 BC to AD 1800. Cambridge 1995, 128.
14 Danielle Jacquart, The Influence of Arabic Medicine in the Medieval West. In: Roshdi Rashed
(Hg.), Encyclopedia of the History of Arabic Science, Bd. 3. London 1996, 963-984;
Conrad, The Arab-Islamic Tradition.
15 Vgl. Anm. 12, insbes. Kallinich und Figala, Das „Regimen sanitatis“ und Hagenmeyer, Das
Regimen Sanitatis.
16 Luis García-Ballester (Hg.), Thomas Cantipratensis. De natura rerum (lib IV-XII); Tacuinum
sanitatis: Códice C-67 (fols. 2v-116r) de la Biblioteca Universitaria de Granada
(edición facsímil, estudio preliminar, transcripción y traducciones castellana e inglesa),
Faksimileband. Granada 1972; Daniel Poirion und Claude Thomasset, L’art de vivre au
23
Stadtbürgerschaft nahe gebracht werden. Frauen- und kinderheilkundliche
Traktate erteilten Hebammen und schwangeren und stillenden Frauen Ratschläge,
erwähnt sei hier nur die berühmte salernitanische Tradition der Trotula.17
Die analysierten Traktate
Als Schlüsselwerk der mittelalterlichen Diätetik hat das Tacuinum Sanitatis in
medicinam des in Bagdad geborenen christlichen Arztes und Philosophen
Abu’l’Hasan al-Muhtar ibn al-Hasan ibn cAbdun ibn Sacdun ibn Butlan († 1066)
zu gelten.18 In Europa sind 17 lateinische Handschriften19 und acht illuminierte
Codices nachweisbar.20 Einer der Prachtcodices befand sich um 1500 im Besitz
Kaiser Maximilians, später in der Sammlung Erzherzog Ferdinands von Österreich
im Schloss Ambras.21 Als Druckwerk erschien das Tacuinum Sanitatis
1531–1533 in Straßburg in einer lateinischen Version und in der deutschen
moyen âge. Codex Vindobonensis Series Nova 2644 conservé à la Bibliothèque Nationale
d’Autriche. Paris 1995, 62.
17 Erhart Kahle, Avicenna (Ibn Sina). Über Kinderkrankheiten im Kinderregimen seines Qanun.
Erlangen 1979; ders., Das Ammenregimen des Avicenna (Ibn Sina) in seinem Qanun.
Erlangen 1980; Gray, Das Bild des Kindes; Monica H. Green (Hg.), The Trotula. A Medieval
Compendium of Women’s Medicine. Philadelphia 2001.
18 Seinen vollständigen Namen gibt Felix Klein-Franke (Hg.), Ibn Butlan, Das Ärztebankett,
aus arabischen Handschriften. Stuttgart 1984, 9 an. Siehe auch Françoise Micheau und Danielle
Jacquart, La médecine arabe et l’occident médiéval. Paris 1990, 209 f., 233; Franz
Rosenthal, Science and Medicine in Islam. A Collection of Essays. Aldershot 1991, 491,
523, 529; Conrad, The Arab-Islamic Tradition 22; Lucie Bolens, Conservation des Aliments.
In: S. Cavaciocchi (Hg.), Alimentazione e nutrizione, secoli XIII–XVIII. Prato
1997, 391; beste bibliographische Angaben einschließlich des Werkkatalogs Ibn Butlans
bei Klein-Franke, Ibn Butlan 9-34 und Hosam Elkhadem, Le «Taqwim al-sihha» (Tacuinum
sanitatis) d’Ibn Butlan: Un traité médical du XIe siècle. Histoire du texte, édition critique,
traduction, commentaire (Académie royale de Belgique, Classe des lettres, Fonds
René Draguet, vol. 7) Louvain 1990, 9-13.
19 Ernest Wickersheimer, Les tacuini sanitatis et leur traduction allemande par Michael Herr.
In: Bibliothèque d’Humanisme et de la Renaissance, Bd. 12. Genf 1950, 85-97; Unterkircher,
Das Hausbuch der Cerrutti. Elkhadem, Le «Taqwim al-sihha» 51-68 weist 15 arabische
Handschriften des Tacuinum nach, deren älteste 1132 und 1152 in Bagdad und Kairo
redigiert wurden. Micheau und Jacquart, La médecine arabe 210, 233 führen die Übersetzungen
von Simon von Genua und Sem Tob an.
20 Wickersheimer, Les tacuini sanitatis; Unterkircher (Hg.), Das Hausbuch der Cerrutti; Dorothee
Rippmann, Schachtafeln der Gesundheit: Präventive Medizin, Körpervorstellungen
und Ernährung. In: dies. und Neumeister-Taroni (Hg.), Gesellschaft und Ernährung 114-
129.
21 Seit 1936 befindet sich die Handschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek; Poirion
und Thomasset, L’art de vivre 8. Seine heutige Bekanntheit verdankt der Traktat den
Prachthandschriften; siehe die Bildbände von Luis García-Ballester (Hg.), Thomas Cantipratensis.
De natura rerum; Opsomer-Halleux, L’art de vivre en santé; Poirion und Thomasset,
L’art de vivre, und Unterkircher (Hg.), Das Hausbuch der Cerrutti.
24
Übersetzung von Michael Herr unter dem Titel Schachtafelen der Gesuntheyt.22
Diese Fassungen aus dem 16. Jahrhundert betrachte ich als einschlägig für unser
Verständnis des Konzepts der Diätetik, da sie ein kohärentes Denksystem vorstellen.
Ibn Butlan richtet sich an ein medizinisch nicht ausgebildetes Laienpublikum,
indem er auf gelehrte Fachdiskussion verzichtet. Er sagt: „Dicemus eciam
elecciones convenientes, cuilibet secundum complexionem et etatem ipsius, et
hec omnia ponemus in tabulis, eo quod multiloquia sapient(i)um quandoque
fastidiunt auditores et universitas multorum librorum oppositorum. Homines
enim, nolunt de scientiis nisi iuvamenta, non probaciones sed diffiniciones …“23
Er beruft sich namentlich auf Galen und eine Reihe arabischer Autoritäten wie
Hunain-ibn Ishak (um 809 bis 877), Rhazes (†924) und Haly Abbas al-Mahusi
(†994)24. Das Werk besteht aus einem 40 Regeln erläuternden Text und einem in
Tabellenform gehaltenen Katalog von rund 200 Nahrungsmitteln.25 Als erster
hat Ibn Butlan damit eine bislang nur in der Astronomie übliche Darstellungsform
gewählt.26 Zu manchen Aspekten sind im Werk De diaetis universalibus et
particularibus von Isaac Judaeus (oder Isaac Israéli, † um 955) grundlegende
medizinische Ausführungen zu finden.27 Der zum Islam konvertierte jüdische
Arzt erklärt eingehend die Mechanismen von Nahrungsaufnahme und Verdauung
und äußert sich über die verdauungsrelevanten Eigenschaften der Geschmäcker.
Weiter beziehe ich mich auf die süddeutschen Ärzte Arnold von Bamberg
(† zwischen 1321 und 1339), dessen Werk 1317 in Malaucène in Südfrankreich
entstand, und den etwas jüngeren Konrad von Eichstätt († 1342). Beide Autoren
schöpfen breit aus einer bis heute verschollenen Urfassung einer Gesundheits-
22 Abu ’l ’Hasan al-Muhtar Ibn-al-Hasan Ibn-Butlan, Abu-Ali Yahya Ibn-Isa Ibn-Gazla,
Schachtafelen der Gesuntheyt. Dem gemeynen nutz zuo verstand newlich ußgangen unnd
verteutscht Durch D. Michael Hero Leibartzt zuo Strasszburg. Strassburg: Hans Schott
1533 (reprint der Ausgabe von 1533, Weinheim 1988). Die deutsche Edition wird im Folgenden
mit „Herr, Schachtafelen 1533“, der lateinische Erstdruck mit „Tacuinum“ zitiert.
Eine neuhochdeutsche Bearbeitung der Herr’schen Übersetzung bietet Hans Zotter, Das
Buch vom Gesunden Leben. Die Gesundheitstabellen des Ibn Butlan in der illustrierten
deutschen Übertragung des Michael Herr. Nach der bei Hans Schott erschienenen Ausgabe
Strassburg 1533. Graz 1988.
23 García Ballester (Hg.), Thomas Cantipratensis. De natura rerum, Kommentarband 153, mit
englischer Übersetzung, 318 ff.
24 Elkhadem, Le «Taqwim al-sihha» 25-27, 34-36.
25 Es sind auch Gegenstände wie Behausung und Kleidung aufgeführt.
26 Elkhadem, Le «Taqwim al-sihha» 7-42; siehe den Faksimile-Druck von Herrs deutscher
Erstausgabe bei Zotter, Das Buch vom Gesunden Leben.
27 Süßmann Muntner, Isaac Israéli le premier médiateur de la médecine entre l’Orient et
l’Occident. In: Le Scalpel 106 (1953), 642-646; H. Lauer, Art. Isaac Judaeus. In: Lexikon
des Mittelalters, Bd. 5, 1991, Sp. 665; Micheau und Jacquart, La médecine arabe 98, 110
f., 113–115; Conrad, The Arab-Islamic Tradition 93 ff. – Zu den Übersetzungen und
Druckwerken des Lehrbuchs von Isaac Judaeus siehe Frank Hieronymus, 1488 Petri /
Schwabe 1988. Eine traditionsreiche Basler Offizin im Spiegel ihrer frühen Drucke. Basel
1997, 2. Halbbd., 1429.
25
lehre. Ihre hauptsächlichen Quellen sind Galen, Rhazes, Isaac Judaeus, Avicenna,
Averroes und Moses Maimonides. Konrad von Eichstätts Werk, von dem
vier deutsche Übersetzungen bekannt sind, übte großen Einfluss auf die deutsche
Regimen sanitatis-Literatur aus.28 Schließlich gehörte deren Inhalt auch
zum Bildungsgut zumindest einiger professioneller Köche. Erwähnt seien hier
namentlich das Regimen von Heinrich Laufenberg und das Kochbuch Eberhards
von Württemberg, beide aus dem 15. Jahrhundert stammend.29
Allgemeine Ratschläge für die Ernährung
Nach Meinung Ibn Butlans ist die Berücksichtigung allgemeiner Hygieneregeln
erste Voraussetzung für die Bewahrung der Gesundheit; so empfiehlt er, vor
dem Kochen die Hände zu waschen und die Kochutensilien und das Geschirr
sauber zu halten.30 Etwas zu essen oder zu trinken, was durch Ratten, Mäuse und
anderes Ungeziefer verunreinigt war, sei verboten.31 Dieses Ernährungstabu geht
auf die alttestamentliche Vorstellung der Unreinheit zurück und wird ebenfalls
in den Bußbüchern thematisiert.32 Andere Regeln des Tacuinum Sanitatis betreffen
die persönliche Körperhygiene vor dem Essen, wozu der Stuhlgang und das
Urinieren gehören. Indes sollte die Nahrungsaufnahme immer an ein Hungergefühl
gebunden sein, um eine unnötige Belastung des Körpers zu vermeiden.
Denn bei Tisch sollte nicht die voluptas, nicht die pure Lust und Gier herrschen,
sondern kontrollierter Wille – voluntas.33 Von lebhafter körperlicher Aktivität
vor dem Essen, von Bädern oder Schlaf nach dem Essen war abzusehen. Zu häufige
Nahrungsaufnahme galt als ungesund, wie es auch als gefährlich galt, bei
einer Mahlzeit nicht die richtige Reihenfolge der Speisen einzuhalten; so sollte
man die leichteren vor den schwereren Gerichten genießen. Beispielsweise entfalten
Früchte vor dem Essen oder postprandial durchaus konträre Wirkungen.
Sie sollten im günstigen Reifestadium, in richtiger Zubereitungs- bzw. Konser-
28 Figala, Mainfränkische Zeitgenossen, bes. 101-106, 196; Kallinich und Figala, Das «Regimen
sanitatis»; Hagenmayer, Das Regimen Sanitatis, 27-45. Weiter wäre der Überlieferungszusammenhang
genauer zu beachten: Kochrezepte und medizinische Traktate finden
sich häufig in ein und demselben Codex zusammengebunden; vgl. etwa das älteste deutsche
Kochbuch, das sich im Besitz des Würzburger Protonotars Michael de Leone befand: Melitta
Weiss Adamson (Hg.), Daz buoch von guoter spise (The Book of Good Food) (Medium
Aevum Quotidianum, Sonderband IX) Krems 2000; dazu auch Figala, Mainfränkische
Zeitgenossen, 45.
29 Menge, Das „Regimen“ Heinrich Laufenbergs; Anita Feyl, Das Kochbuch Meister Eberhards.
Ein Beitrag zur altdeutschen Fachliteratur, Diss. Freiburg i. Br. 1963.
30 Michael Herr, Schachtafelen der Gesuntheyt, 21. Regel. Zur Internet-Version der Schachtafelen
siehe unten, Anm. 73.
31 Herr, Schachtafelen der Gesuntheyt, 22. Regel.
32 Bonnassie, Consommation d’aliments; Schneider, Die Maus in der Milch.
33 Epistola Theodori philosophi ad imperatorem Fridericum. In Website „Monumenta Culinaria
et Diaetetica Historica“ von Thomas Gloning, Marburg <http://staff-www.uni-marburg. de/~gloning>.
26
vierungsform gereicht werden, vorzugsweise gedörrt oder gebacken statt frisch.
Beispiele: Birnen und Quitten stopfen; vor dem Essen genossen, schwächen sie
den Appetit, hingegen ist es empfehlenswert, sie als Nachspeise zu essen, um
damit das Aufsteigen von Dämpfen ins Hirn zu verhindern. Umgekehrt eignet
sich – wie schon Avicenna lehrte – der feucht-kalte Pfirsich als den Appetit anregende
Vorspeise.34 Ebenso die Feigen, sie reinigen die Leber, “machen der
speyß den weg” und sind übrigens in gedörrter Form bekömmlicher als frisch.
Alte Nüsse schaden dem Magen und rufen Brechreiz hervor, während frische
Nüsse bekömmlicher sind und im Verein mit Feigen eingenommen, antitoxische
Wirkung besitzen.35 Abgesehen wohl von den im Handel erhältlichen gedörrten
Trauben und Feigen betrachteten die medizinischen Autoritäten im allgemeinen
Obst, insbesondere frisches Obst, eher als „cibi medicinales“ oder „simplicia“
denn als gesunde Nahrungsmittel, was die Vorliebe der mittelalterlichen Küche
erklärt, Früchte zu Kompott und Marmeladen zu verarbeiten. Ibn Butlan
schreibt: „Nous disons que tous les fruits provoquent la pourriture et des fièvres
automnales. Ceux d’entre eux qui sont nuisibles pour les nerfs réduisent la chaleur
du sang et sont bénéfiques pour ceux qui ont un tempérament chaud sauf
s’ils se gâtent en eux comme l’abricot. Parmi [les fruits], l’astringent [consommé]
avant le repas constipe et après le repas est laxatif, comme le coing. Le
juteux est diurétique comme la pastèque.“ (Wir stellen fest, dass alle Früchte
Fäulnis und herbstliche Fieber verursachen. Jene, die für die Nerven schädlich
sind, reduzieren die Wärme des Bluts und sind für Leute mit warmem Temperament
bekömmlich, außer wenn sie wie die Aprikose anfaulen. Adstringierendes
Obst wie die Quitte verstopft, wenn es vor der Mahlzeit eingenommen wird,
während es nach der Mahlzeit eingenommen, die Verdauung anregt. Saftiges
wie die Wassermelone wirkt harntreibend).36
Nach Gelehrtenmeinung provoziert die Nichtbeachtung entsprechender
Regeln Verdauungsstörungen (häufig genannt ist Konstipation), und diese Beschwerden
hielten die Ärzte für pathogen. So meint Arnold von Bamberg: „cum
indigestio sit radix fere omnium infirmitatum, bonum esset in una cena vel
prandio unicum cibum sumi“ (Weil schlechte Verdauung die Wurzel fast aller
Krankheiten ist, ist es ratsam, zu einer Mahlzeit nur eine einzige Speise zu essen).
37 Ich erwähne diesbezüglich nur die negative Folge einer selbst verschuldeten
Pathogenese: Die Lehre besagte, dass Lepra erzeugt würde, wenn man zu
einer Fischmahlzeit Milch trinke.38
Als Fazit halten wir fest: Die Ernährungsgewohnheiten, die consuetudines
(Avicenna), entscheiden über das Wohlbefinden des Menschen, ebenso wie die
34 Figala, Mainfränkische Zeitgenossen 212 f.; Susanne Kiewisch, Obstbau und Kellerei in
lateinischen Fachprosaschriften des 14. und 15. Jahrhunderts (Würzburger medizinhistorische
Forschungen, Bd. 57) Würzburg 1995, 145, 146, 148.
35 Hagenmeyer, Das Regimen Sanitatis 106 ff..
36 Elkhadem, Le «Taqwim al-sihha» 244.
37 Figala, Mainfränkische Zeitgenossen 181.
38 Ebd. 205; Hagenmeyer, Das Regimen Sanitatis 212, 246; Tacuinum, 22. Regel.
27
äußeren Lebensbedingungen von Weltgegend, Klima, Jahreszeit, Grad der körperlichen
Anstrengung, Mahlzeitenrhythmus und ähnlichem.39 Durch seine
individuell abgestimmte Ernährungsweise und seine Essrituale kann der Mensch
seine Gesundheit eigenverantwortlich beeinflussen. Ärztliche Anleitung befähigt
ihn, die seiner Natur angemessene Speise auszuwählen, solche nämlich, die „der
kranckheyt zuo wider ist un(d) der gesuntheyt aenlich“, wie es Ibn Butlans
Übersetzer Herr formuliert.40
Nicht nur die materielle Essenz der Ingredienzien, sondern die Umstände
und Verfahren des Kochens und Essens interessieren. Mit den Bemerkungen zu
den körperlichen Ausscheidungen wie etwa dem Aderlass, dem Erbrechen und
dem Geschlechtsverkehr (er wird unter dem Aspekt des Säftegleichgewichts und
der Körperhygiene gesehen) oder auch mit Ratschlägen für Haarpflege und
Mundhygiene41 behandelt der diätetische Diskurs Themen, die in einem Kochbuch
obsolet wären. Die Betonung liegt auf der präventiven Medizin; denn angesichts
der begrenzten therapeutischen Mittel, welche ihnen zu Gebote standen,
setzten die Ärzte auf das Erfolgsrezept der Prävention.42 Von den in der Diätetik
erörterten Krankheitsbildern, den res praeter naturales, sehen wir heute mit
biomedizinischen Kriterien nur wenige als unmittelbar ernährungsbedingt an: so
den Ergotismus (Mutterkornvergiftung)43, den durch hohen Bohnenkonsum hervorgerufenen
Favismus44 und Verdauungsstörungen (etwa “Bauchgrimmen”).
Sie werden uns daher nicht weiter beschäftigen.
Elementelehre und Kardinalsäfte
Der mittelalterlichen Diätetik lagen die Konzepte der vier Elemente und der
Kardinalsäfte zugrunde. Grundbausteine aller lebenden Organismen aus dem
Pflanzen- und Tierreich wie auch des menschlichen Körpers, sind die vier Elemente.
Die Kardinalsäfte – Phlegma (feucht-kalt), schwarze Galle (trockenkalt),
gelbe Galle (trocken-warm) und Blut (feucht-warm) – steuern in individu-
39 Die vernünftige Speiseordnung fasst der salernitanische Merkspruch in Kurzform: „quale,
quid, quando, quantum, quoties et ubi dando“, vgl. Schipperges, Schola Salernitana 143.
40 Michael Herr, Schachtafelen der Gesuntheyt, Straßburg 1533, 23. Regel.
41 Tacuinum und Herr, Schachtafelen. 1533, Regeln 27, 34 (Ratschläge zum Zähneputzen)
und 37; vgl. Zotter, Das Buch vom Gesunden Leben 255, 265 f.; Elkhadem, Le «Taqwim
al-sihha» 156 f.
42 Schipperges, Arabische Medizin; ders., Schola Salernitana.
43 Die Gefahren dieser Krankheit sind Ibn Butlan wohlbekannt, weshalb er empfiehlt, das
Getreide sorgfältig zu reinigen; Tacuinum, 8. Regel.
44 Konrad von Eichstätt: „Et hic habes, quod fabe habent perdere intellectum…“, Hagenmeyer,
Das Regimen Sanitatis 52, 113, 218; vgl. auch Figala, Mainfränkische Zeitgenossen 195;
Feyl, Das Kochbuch Meister Eberhards, Rezept 31 des Kochbuchs Eberhards von Württemberg.
Es handelt sich um die bei einseitiger Ernährung mit Bohnen auftretende Krankheit
des Favismus; dazu Peter Garnsey, La Fève. Substance et Symbole. In: M. Aurell, O.
Dumoulin und F. Thelamon (Hg.), La Sociabilité à Table. Commensalité et Convivialité à
travers les Âges (Publications de l’Université de Rouen 178) Rouen 1992, 317-323.
28
ell unterschiedlicher Kombination die Physiologie des Körpers. Jedem Individuum
ist ein spezifisches Mischungsverhältnis der Säfte eigen, in variablen
“Qualitäten”. Das sind die vier Primärqualitäten trocken – feucht – warm – kalt,
die vier kombinierten Qualitäten (trocken-warm; trocken-kalt usw.) und die
neunte, temperierte. Nach diesem Klassifikationsschema definierte die praktische
Medizin das “Temperament” oder die “Complexion” einer Person (und von
lebenden Organismen ganz allgemein)45, zum Beispiel mit Hilfe der Uroskopie
und der Hämatoskopie (Blutschau). Bei einer Störung des Gleichgewichts der
Säfte bahnt sich demzufolge eine Krankheit den Weg zum Körper. Ihr kann man
durch die richtige Diät buchstäblich Gegensteuer geben, gilt es doch die Entstehung
überflüssiger, böser Säfte46 zu verhindern und sie, wo sie bereits entstanden
sind, zu beseitigen, um die Harmonie, die ε̉υκρασία, wiederherzustellen, d.
h. um die rechte Mitte zu finden.47 Mit Hilfe von Abführmitteln (z. B. Bockshornklee48),
des Darmeinlaufs, des Aderlasses oder des Coitus49 können überflüssige
Säfte abgeführt werden, um das für den Patienten optimale Gleichgewicht
wiederherzustellen. In der Sicht der Säftelehre wird Gesundheit nicht negativ,
als Abwesenheit von Krankheitsbeschwerden definiert, sondern als das
Streben nach vollkommener Harmonie begriffen. Sie ist, wie Schipperges formuliert,
nicht Zustand, sondern Vor-Gang, „ein Weg, der sich erst bildet, wenn
man ihn geht.“50 Den Körper im humoralen Gleichgewicht zu halten, erfordert
im täglichen Lebensvollzug die stete Suche nach der richtigen Mitte, der mediocritas
oder symmetria. Ganz allgemein kommt es, in den Worten Hildegards
von Bingen formuliert, darauf an, dass man die „recta mensura“ beachtet.51
Mit dem geschilderten, bis in die Frühe Neuzeit hinein herrschenden Konzept
liefen andere parallel, wie beispielsweise die Signaturenlehre, die auf die
Fingerzeige der Natur achtet und Analoges mit Analogem behandelt.52 So helfen
beispielsweise (laut Ibn Butlan) Bananen und Pastinaken bei Erektionsschwierigkeiten;
die der Form nach den Hoden ähnelnden „dicken Bohnen“ (lat: vicia
45 Im Abendland führte Constantinus Africanus den Begriff der complexio in den medizinischen
Diskurs ein; Jacquart, The Influence of Arabic Medicine 967; Gerhard Baader, Zur
Terminologie des Constantinus Africanus. In: Medizinhistorisches Journal 2 (1967) 36-53.
Dazu das anregende Buch von Joan Cadden, Meanings of Sex Difference in the Middle
Ages. Cambridge 1993.
46 So gilt etwa bei Galen Anthrax als eine Folge der Eruption schwarzer Galle; Grant, Galen
on Food and Diet 23 f.
47 Claude Thomasset, La tradition médicale. In: Poirion und Thomasset, L’art de vivre 49-64;
Weiss Adamson, Medieval Dietetics.
48 Bockshornklee (Trigonella foenum graecum) hilft als Abführmittel, daher die Redensart:
jemanden ins Bockshorn jagen; Galenus, Werke des Galenos, Bd. 3, Die Kräfte der Nahrungsmittel,
Buch 1-2, hg. von E. Beintker und W. Kahlenberg. Stuttgart 1948, 69.
49 Tacuinum, 34. Regel; Zotter, Das Buch vom Gesunden Leben 265 f.
50 Heinrich Schipperges, Die Kategorie Gesundheit in Naturwissenschaft und Medizin. In:
Neumann, Wierlacher und Wild (Hg.), Essen und Lebensqualität 68.
51 Ebd.; Schipperges, Arabische Medizin; Weiss Adamson, Medieval Dietetics; zu Hildegard
von Bingen siehe Zimmermann, Ordensleben und Lebensstandard 50.
52 Rudolf Schmitz, Mörser, Kolben und Phiolen. Graz 19782, 67-80.
29
faba) stärken die Potenz, Zwiebeln lassen das Glied schwellen, während Mandeln
die lästigen Sommersprossen zum Verschwinden bringen.53
Für das Verständnis der vorgestellten diätetischen Auffassungen ist
grundlegend, dass der mittelalterliche (bis in die frühe Neuzeit herrschende)
Begriff der Qualität nach der Quantität eine Grundkategorie zur Bestimmung
von materiellen, erfahrbaren Dingen im Rahmen von Elemente- und Säftelehre
darstellt. Qualität bezeichnet das Wesen einer Substanz, in der sie aufgenommen
wird, in unserem Falle eines sich nährenden Körpers oder eines Nahrungsmittels.
Im naturphilosophischen Diskurs ist die Form als Trägerin von Qualität zu
sehen. Qualität ist nicht eine Art Gütesiegel im heutigen Sinne, sondern die vier
Primärqualitäten sind aktive oder ‚alterative’ Prinzipien, die Veränderungen der
sinnlich wahrnehmbaren körperlich-materiellen Wirklichkeit bewirken und zuallererst
durch den Tastsinn erfahren werden – seien sie warm, kalt, trocken,
feucht, oder fein, grob, dicht, dünn, hart und weich.54 Bei Ibn Butlan und Isaac
Judaeus liegt denn auch die Betonung auf dem haptischen Effekt von Nahrung,
sowohl was die Geschmackswahrnehmung auf der Zunge betrifft als auch bezüglich
der Verdauungsvorgänge. Die beiden Autoren beobachten genau, wie
die Reize der Geschmackspupillen der Zunge deren Oberflächenstruktur verändern,
wie sie die Zunge zerteilen, schaben, entzünden (man denke an die Wirkung
einer Chilischote) oder auch zusammenziehen (man denke an die Wirkung
einer Zitrone). Als erster bei der Nahrungsaufnahme beteiligter Sinn ist daher
der Tastsinn nicht nur für die seelisch-affektive Empfindung von Wohlgeschmack
oder Abscheu empfänglich, sondern er ist auch eine Art Befehlsorgan
für die körperliche, physiologische Wirkung (actio) einer Substanz. Er enthält
gleichsam die Informationen über ihren auf das Passieren der Gaumenschleuse
folgenden Eintritt in den Körper bzw. ihre Assimilation durch die Glieder und
Organe (v. a. im Intestinalbereich) und schließlich über die Ausscheidung von
nicht verbrauchten Teilen der Nahrung.
Insofern ist nach diesen Anschauungen nicht nur „Essen eine Sache des
Geschmacks“,55 sondern genauso sind der Stoffwechsel (modern gesprochen)
und die Verdauung Sachen des Geschmacks. Im Zeichen der Neurophysiologie
erklärt die heutige Ernährungsforschung die Geruchs- und Geschmacksempfindungen
quasi cephalozentrisch, als Zusammenspiel von Rezeptoren, Nervensystem
und Hirnfunktionen, während sich die Optik damals ebenso auch auf die
geradezu als mechanisch gedachten Vorgänge im Körperinneren richtete. Wurden
doch dem Aroma und dem Geschmack der Nahrung nicht nur sinnlich-affektive
Reize zwischen Abscheu und Hochgenuss zugeschrieben, sondern man
ging davon aus, dass der Geruch letztlich über die Verdauung entscheidet, weil
53 Viele Beispiele sind zu finden in: Poirion und Thomasset, L’art de vivre; Zotter, Das Buch
vom Gesunden Leben; Unterkircher (Hg.), Das Hausbuch der Cerrutti.
54 Vgl. den Artikel „Qualität“ (Antike und Mittelalter) von S. Blasche und W. Urban. In:
Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter und K. Gründer, Bd. 7. Basel
1989, Sp. 1748-1766; vgl. dazu Theiss, Die Wahrnehmungspsychologie.
55 Barlösius, Soziologie des Essens 70.
30
er von den Gliedern aufgenommen wird. So sagt Ibn Butlan: „Canones, quibus
noscuntur naturae ciborum, sunt quatuor. Primus est semita rationis, eo quod
ratio ostendit eorum numerum, mediantibus saporibus. Et ex receptione odorum
per membra. Et velocitate digestionis. Et ratione ipsorum substantiae.“ (Es gibt
vier Regeln zur Erkennung der Natur von Lebensmitteln. Der erste Weg ist die
vernünftige Erkenntnis ihrer Zahl, vermittelt über die Geschmäcker. Der zweite
Weg geht von den durch die Glieder empfangenen Gerüchen aus, der dritte geht
aus von der Geschwindigkeit der Verdauung, der vierte von ihrer (d. h. der Lebensmittel)
Substanz.)56
Ratschläge für gesunde Ernährung: Das Lust- und Genussprinzip
Es seien zunächst einige allgemeine Grundsätze beachtet, welche die Diätetik
“ad conservandam sanitatem”57 empfiehlt. Der Akt des Essens birgt potentiell
Gefahren, weil man es unternimmt, sich Fremdes einzuverleiben. Es muss zuerst
die Grenzen des Selbst überwinden. Darüber entscheidet zuerst das Riechorgan,
der „Wächter für das Atemholen und die Nahrungsmittel“.58 Dann wird das
Fremde auf der Zunge und im Gaumen eine Prüfstrecke durchlaufen und eine
eigentliche Schleuse überwinden.59 Wie vollzieht sich Nahrungsaufnahme? Ibn
Butlan erwähnt den Kauvorgang, um dann, in Anlehnung an Aristoteles, Zungenlust
und Schlundlust zu unterscheiden. Er beobachtet die Palatabilität, ohne
indes Mund- und Nasenhöhle als olfakto-gustative Organe zu erörtern: „Mit den
Zähnen soll man die Speis zerschneiden, mit den Backzähnen zermahlen. Die
Zung ist zuo reden gemacht, der Schlund abhyn zuo schlucken, der bauch zuo
dewen, und das yngewyd zuom dreck.“60 Ibn Butlan legt indes besonderes Gewicht
auf die Wahrnehmungen der Zunge. Als maßgeblichen Garanten gesunder
Ernährung sieht er den Appetit oder die Begierden, wie sein Übersetzer sagt
(„dem Appetit oder Begierden nach“). Denn „was lustig ist, das ist auch besser
dan(n) was unlustig. Dan(n) was unlustig, das ist kein nutz“.61 In der lateinischen
Fassung des Erstdrucks heißt es: „Et si est ratione appetitus, appetitivum
magis est delectabile non appetitivo. Caeterum si sit non appetitivum, minus iuvativum
est, tanque abominabile“62.
Dezidiert redet der Arzt dem Genuss und der Lust das Wort, indem er den
Appetitus zum Gesundheitsprinzip erhebt. Man solle „nichts essen, da der
56 Tacuinum Sanitatis. Straßburg (Schott) 1531, 7.
57 Epistola Theodori philosophi ad imperatorem Fridericum.
58 Artikel „Geruch / Geruchssinn“. In: J. S. ERSCH und J. G. GRUBER (Hg.), Allgemeine
Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, 1. Sektion A-G, 62. Tl. Leipzig, 1856, 131.
59 Ebd. 120-136; Claude Fischler, L’Homnivore. Paris 1990, 66-70. Über die biochemischen
und neurophysiologischen Zusammenhänge siehe Bourre, Intelligenz und Ernährung.
60 Herr, Schachtafelen. 1533, 20. Regel.
61 Herr, Schachtafelen. 1533, 23. Regel.
62 Tacuinum sanitatis. Straßburg (Schott) 1531, 21.
31
mensch kein lust zuo hatt.“63 Was gut schmeckt, schadet nicht. Diese Auffassung
machte Schule, und so schrieb 200 Jahre später der Hofphilosoph Kaiser
Friedrichs II.: “Bonus igitur appetitus tocius boni est initium”.64 Nun ist zu fragen,
was als nützlich bzw. ‚appetitivus’ gelten kann? Nährendes hat, wie das
Lebensprinzip überhaupt, ein feucht-warmes Temperament. Darum: “Was ohne
Geschmack ist, das macht kalt.“ (Insipidus infrigidat.)65 Ibn Butlan sagt „Ein
gesunder Körper kann auf zwei Arten seine Gesundheit bewahren: indem er
ähnliche [Elemente] benützt oder indem er das Gleichgewicht durch die Verwendung
des Gegenteiligen wiederherstellt (…). Wenn ein Nahrungsmittel
feucht-warm ist, produziert es Blut. Darum ist es den kalten Temperamenten und
in den kalten Regionen zuträglich, den Greisen und im Herbst.“66
Nach seiner Auffassung beruht das Geheimnis der Kochkunst auf dem
kalkulierten Zusammenspiel und der Balance von Speiseningredienzien komplementärer
„Qualitäten“ im Sinne der Temperamentelehre. Sein naturwissenschaftlich
untermauertes Konzept von Kulinarik baut auf genauer Beobachtung
von Eigenschaften und Wirkungen von Substanzen auf. Es setzt hausfrauliches
und ärztliches Erfahrungswissen um und gießt es in ein stimmiges Erklärungsmodell,
das nun näher zu betrachten ist.
Alchemie der Küche
Die Qualitäten
Die diätetischen Grundlagenwerke von Haly Abbas († 994) und Ibn Butlan
nahmen eine systematische Einteilung der Getränke und der pflanzlichen und
tierischen Nahrungsmittel vor. Von jedem gaben sie die Qualität beziehungsweise
Complexion an, beschrieben die positiven und negativen Wirkungen auf
den Körper und empfahlen schließlich Mittel gegen die allfälligen Schäden. Mit
seinen „Qualitäten“ ist ein Lebensmittel im Koordinatennetz der Pole heiß – kalt
/ trocken – feucht (das sind die Primär-Qualitäten) positioniert. Es kann heiß und
trocken sein, es kann wohl temperiert sein, oder kalt und trocken, oder kalt und
feucht, oder heiß und feucht – und das alles in unterschiedlicher Intensität, oder
in der zeitgenössischen Nomenklatur ausgedrückt: in unterschiedlichen Graden.
Die Wirkkraft (actio) eines Nahrungsmittels oder Medikaments nimmt vom
Zentrum gegen außen hin stetig zu; was nah an die Schachbrettmitte rückt, ist
wohl temperiert und hinterlässt kaum spürbare Wirkungen (Abb. 1).
63 Herr, Schachtafelen. 1533, 22. Regel.
64 Epistola Theodori philosophi ad imperatorem Fridericum.
65 Herr, Schachtafelen. 1533, 4. Regel.
66 Die französische Übersetzung aus dem Arabischen von Elkhadem, Le «Taqwim al-sihha»
243 lautet: „Un corps sain assure la conservation de sa santé de deux façons: en usant
[d’éléments] semblables ou en recréant l’équilibre par l’usage du contraire […]. Quant un
aliment est chaud humide, il produit du sang; pour cette raison il est bénéfique pour les
tempéraments et dans les régions froides, pour les vieillards et en automne.“
32
Stofflichkeit und Gradussystem
Im 10. Jahrhundert hat der Perser Haly Abbas sein medizinisches Werk verfasst.
Als Liber Pantegni wurde es im Westen in der lateinischen Übersetzung von
Constantinus Africanus bekannt.67 Haly Abbas arbeitete mit den schon erwähnten
Kategorien qualitates / actiones / substantia. Er traf die Unterscheidung zwischen
lediglich nährenden Lebensmitteln einerseits (nämlich solum cibi) und
solchen mit Heilwirkung andererseits (cibi medicinales – artzneiische speiß wie
z. B. Knoblauch oder Senf).68
Die Substanz birgt die stoffliche Qualität einer Speise in sich, sei sie grob,
fein oder “medioker”. Sie entscheidet darüber, wie gut die Materie von den
Gliedern assimiliert wird, wie leicht sie in die Poren der Zunge und die Öffnungen
der Organe eindringt. Die Kategorie der substantia bildet übrigens die
Schnittstelle zum nichtmedizinischen Konzept der Sozialordnung: Denn in der
Ständegesellschaft ist die Lebens- und Ernährungsweise durch die soziale Position
definiert, d. h. ständisch differenziert und abgestuft. So ist dem Adel grobe,
bäuerliche Speise nicht zumutbar, während Bauern der Luxus adeliger Genüsse
untersagt bleibt. Für sie ist grobe, nahrhafte Speise das Richtige.69
In der Medizin drückt das auf Galen zurückgehende Gradussystem die
Wirkkraft der Komplexion aus; es gibt dem Arzt ein methodisches Werkzeug
für die Beurteilung der Intensität eines Heil- oder Nahrungsmittels an die Hand.
Das Gradussystem erfasst die Wirkung einer Substanz auf den Körper in vier
Stufen:
• 1. Grad: unmerkliche Wirkung
• 2. Grad: merkliche Wirkung
• 3. Grad: heftige Wirkung
• 4. Grad: sehr heftige Wirkung, bis zur Zerstörung.70
Erstmals hatten es Ibn Habib († 853)71 und im 10. Jahrhundert Isaac Judaeus und
Haly Abbas in der Diätetik angewandt, allerdings nur auf pflanzliche Lebensmittel.
72 Constantinus Africanus und Ibn Butlan übernahmen es; dieser
systematisierte die Lehre und weitete die Graduseinteilung auch auf tierische
Produkte aus.
67 Jacquart, The Influence of Arabic Medicine 964.
68 Weiss Adamson, Medieval Dietetics 16 f.; Tacuinum Sanitatis, 15. Regel; Zotter, Das Buch
vom Gesunden Leben; vgl. Fischler, L’Homnivore 67, 68.
69 Massimo Montanari, Der Hunger und der Überfluss. Kulturgeschichte der Ernährung in
Europa. München 1993. Diese Idee kommt im Werk Heinrich Laufenbergs zum Tragen;
siehe Menge, Das „Regimen“ Heinrich Laufenbergs.
70 Thomasset, La tradition médicale 59.
71 Siehe den Beitrag von Expiracion García Sanchez, in: Sabban und Audouin-Rouzeau (Hg.),
«Un aliment sain dans un corps sain».
72 Isaaci Judaei, Salomonis Arabiae regis adoptivi filii: De diaetis universalibus et particularibus,
Libri II. Hoc est de victus salubris ratione, et alimentorum facultatibus. Basel: Officina
Sixti Henricpetri, 1570; Weiss Adamson, Medieval Dietetics 83-91, ohne Erwähnung von
Isaac Judaeus.
33
Abb. 1: Die Geschmäcker nach dem Traktat „De saporibus et numero eorundem“,
nach ihrem Temperament.
(Klassifikation von Wasser und der Konservierungsmittel Salz, Honig, Essig
nach Ibn Butlan; Poirion und Thomasset, L’art de vivre).
Es handelt sich um eine vierstufige Skala – analog zu den Elementen, den Primärqualitäten
und Geschmäckern – analog auch zu den Himmelsrichtungen, den
Winden, den Jahreszeiten und Lebensaltern. Alle diese Größen gehen im Vierersystem
auf. Genau diese Kongruenz ist der Ansatzpunkt für ein schematisiertes,
räumliches Denken über die Natur des Körpers und seine Beziehungen zur Lebens-
und Umwelt. Bildlich passt das Viererschema in ein Quadrat, indem sich
34
die Qualitäten beispielsweise von Lebensmitteln auf den Spielplan des Schachspiels
übertragen lassen (Abb. 1), eine Idee, die Norbert Höller aus dem Titel
„Schachtafelen der Gesuntheyt“ der Herr’schen Übersetzung des Tacuinum sanitatis
in medicinam entwickelt hat.73 Wie die Metapher zeigt, trägt das Konzept
offensichtlich mechanistische Züge.74 Am konsequentesten und sehr ausgefeilt
hat es wohl Ibn Butlan ausgearbeitet. Im Verein mit Isaac Judaeus, Rhazes, Avicenna
und später Averroës vermochte er unter anderem mit seinem Tacuinum
sanitatis in medicinam den ernährungswissenschaftlichen und kulinarischen
Diskurs auf gut fünf Jahrhunderte hinaus festzulegen, wie noch zu zeigen sein
wird.75 Ibn Butlan konzipiert seine Diätetik als geschlossenes System, wobei
innere Widersprüche und Inkohärenzen allerdings nicht ausbleiben. Sie zeigen
sich am deutlichsten in den text-inhaltlichen Abweichungen zwischen der arabischen
Fassung und den lateinischen und deutschen Übersetzungen.
Organischen Stoffwechsel versteht der Arzt wie Isaac Judaeus als die
Summe interner mechanischer Körpervorgänge, welche, metaphorisch gesprochen,
den Tätigkeiten in der Küche gleichen.76 Da wird gereinigt und zerkleinert,
getrennt und vermischt, gekocht, erhitzt, verdampft und abgekühlt. In den
Venen, Röhren und Organen des Körpers hinwiederum zirkulieren Säfte, sie
werden genährt oder reduziert und gar verzehrt; es entsteht Hitze, die das Nährende
umwandelt und verzehrt, es steigen Winde und Dämpfe auf; über all diese
Vorgänge musste der Arzt Bescheid wissen. In der Gelehrtensprache ausgedrückt
(so auch bei Albertus Magnus), wird die Verdauung als Stadien der maturatio
(der Reifung), der elixatio (des Kochens) und der assatio (des Bratens)
konzipiert.77 Vielleicht lag die Kochmetapher auf der Hand, weil das Kochen als
eine Art der Vorverdauung verstanden wurde, während wir heute davon reden,
dass es gewisse Nahrungsbestandteile aufschließt und genussfähig macht. Über
die Analogie von körpereigenen und kulinarischen Vorgängen schreibt Lucie
73 Norbert Höller, Texte der Tafel. Zur Funktion und Funktionalität historischer Kochrezepte
und zu deren Organisation im Kochbuch. Diplomarbeit an der Geisteswissenschaftlichen
Fakultät der Universität Wien, unveröffentlichtes Manuskript. Wien 1999. N. Höller ist
auch eine Transkription der Regeln des Tacuinum in der Website „Monumenta Culinaria et
Diaetetica Historica“ von Thomas Gloning zu verdanken: N. Höller (Hg.), „Schachtafelen
der Gesuntheyt“ von Ibn Butlan. Transkription der Regeln nach der deutschen Übersetzung
des „Taquinum sanitatis in medicinam“ von Ibn Butlan von Michael Herr, Strassburg,
Schott, 1533, in der Website „Monumenta Culinaria et Diaetetica Historica“ von Thomas
Gloning: http://staff-www.uni-marburg.de/~gloning.
74 Siehe Herr, Schachtafelen. 1533; Zotter, Das Buch vom Gesunden Leben; Rippmann,
Schachtafeln der Gesundheit, Abb. S. 115, 118.
75 Zu anderen medizinischen Werken Ibn Butlans siehe Klein-Franke (Hg.), Ibn Butlan ; Elkhadem,
Le «Taqwim al-sihha».
76 Hierin erwies er sich als treuer Schüler Galens, siehe Grant, Galen on Food and Diet 8-10,
16.
77 Theiss, Die Wahrnehmungspsychologie 74.
35
Bolens: „Feu de cuisson et feu intérieur sont, dans les mentalités anciennes, en
exacte correspondance et complémentarité“78.
Die Geschmäcker
Ausschlaggebend für den Erfolg einer höfischen Küche sind selbstverständlich
der aromatische Duft und der gute Geschmack der Speisen, da sie die olfaktogustativen
Sinne anregen und den Appetit steigern, wie oben erwähnt wurde.
Überraschend erscheint nun, dass die Wahrnehmungen der Geschmäcker im geschilderten
kulinarischen Koordinatennetz ebenfalls „eingeplant“ sind: In der
arabischen Medizin des hohen Mittelalters hat sich der aristotelische Kanon von
acht Geschmäckern etabliert. (Es gab allerdings auch andere Skalen wie etwa
bei Job von Edessa, der von sieben Geschmäckern ausging.79) Sie ordnen sich
acht Hauptkategorien zu, in der Skala zwischen den Primärqualitäten Heiß und
Kalt, und passen somit ebenfalls in das Viererschema und auf den Spielplan des
Schachbretts (Abb. 1).
Die Geschmäcker nach dem Tacuinum Ibn Butlans
DAS HEISSE: schabt die Zunge ab und entzündet sie („abradit linguam, incendit“)
4. Grad heiß: bitter: amarus sapor
3. Grad heiß: scharf: acutus sapor
2. Grad heiß: gesalzen: salsus sapor
1. Grad heiß: süß: dulcis sapor
1. Grad kalt: „feißt“ (oder geschmacklos): unctuositas
2. Grad kalt: essigsauer: acetosus sapor
3. Grad kalt: sauer: ponticus sapor
4. Grad kalt: stopfend: stipticus sapor.
DAS KALTE: zieht die Zunge zusammen und rauht sie auf („adunans linguam“).
Indem Ibn Butlan die acht Geschmäcker80 in den Koordinaten zwischen den Polen
Heiß und Kalt einordnete und das Süße nahe der „rechten“ Mitte (mediocritas)
platzierte, erwies er sich als guter Kenner von Aristoteles.81 Seit Galen hin-
78 Lucie Bolens, La cuisine Andalouse, un art de vivre (XIe-XIIIe siècle). Paris 1990, 41. –
Tacuinum sanitatis, Herr, Schachtafelen. 1533, 20. Regel über Fleisch: „Darumb was nahe
bei dem hertzen, ist temperierter, leichter un(d) bassz zuoverdewen, dan was weit daruon
ist, darumb das sye von dem bluot geneert werden, das die leber und das hertz wol erkocht
haben.“
79 Bolens, La cuisine Andalouse 41; Grant, Galen on Food and Diet 16, 76, 102 und passim;
Klein-Franke (Hg.), Ibn Butlan 156, 285.
80 „Sapores vero simplices sunt octo“, Tacuinum sanitatis. Straßburg (Schott) 1531, 7.
81 Wolfgang Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre.
Stuttgart 1987, 167-174.
36
wiederum nahm die Lehre eine Entsprechung zwischen den Geschmäckern und
den Säften an, indem sie das Blut als süß qualifizierte, die gelbe Galle als bitter
oder scharf, die schwarze Galle als sauer, das Phlegma als salzig, scharf oder
süß .82
Im einzelnen beschreibt Ibn Butlan die den Tastsinn stimulierenden Eigenschaften
der Geschmäcker in ihrer Wirkung auf die „Poren“ (Geschmacksrezeptoren)
beziehungsweise die Oberflächenstruktur der Zunge, er berücksichtigt
die sensorischen Informationen in der Gaumenhöhle, die dem Hirn ganz unterschiedliche
Empfindungen melden. So zerschneidet und schabt das Bittere die
Zungenoberfläche und entzündet die Zunge, während es wegen seiner Dürre nur
wenig nährt. Das Scharfe hinwiederum, das weniger heiß ist als das Bittere,
wäscht die Zunge, womit wohl gemeint ist, dass sie sich eher glatt anfühlt. Dies
sind die Effekte der warmen Qualität. Durch das Kalte hingegen entsteht der
entgegengesetzte Effekt des Zusammenziehens, vor allem beim Stopfenden: Indem
es die Zunge zusammenzieht, wird ihre Oberfläche rau. Weniger adstringierend
wirkt das Saure. Was die Folgen für die Verdauung betrifft, so erweicht
beispielsweise der Bittergeschmack den Leib und treibt das Phlegma heraus,
während das Saure die Cholera (die gelbe Galle) vertreibt und wegen seiner
Kälte Winde macht.83 Auch liegt es auf der Hand, dass Essig wegen seiner Kälte
die Cholera verlöscht, viel Schleim bringt und die Unkeuschheit vertreibt.84 Umgekehrt
ist es gemäß dieser Anschauungen auch verständlich, dass der Wein, der
ähnlich wie der Kardinalsaft Blut von warmer Qualität ist, die Unkeuschheit
stärkt; er wirkt als Aphrodisiacum.85 Ähnliche Ausführungen über die acht Geschmäcker
finden sich in einem italienischen Traktat De saporibus et numero
eorundem, der Urso von Salerno zugeschrieben wird und wahrscheinlich von
Ibn Butlan beeinflußt ist.86
Die Alchemie der Küche: Konservieren und Würzen
Gradussystem und die Geschmäcker – oder kurzum die Alchemie der Küche –
seien erläutert anhand der Konservierung und des Würzens. Gängigste Konservierungsmittel
sind Essig, saurer Wein, aus unreifen Trauben gepresster Agrest
(in Frankreich Verjus genannt), Salz, Honig, sie alle von unterschiedlichem
Temperament, einige, wie nicht anders zu erwarten, im 3. oder 4. Grad wirksam,
und damit im pharmakologischen Bereich der Simplicia angesiedelt, also buchstäblich
mit Vorsicht zu genießen. So wird vom Salz – es ist im 2. Grad warm,
im 3. Grad trocken – gesagt, im Übermaß genossen verbrenne es das Blut, ver-
82 Grant, Galen on Food and Diet; Weiss Adamson, Medieval Dietetics 15.
83 Herr, Schachtafelen. 1533. 1. Regel „von dem Geschmack, Geruch und weßen oder substantz
der Speiß“.
84 Herr, Schachtafelen. 1533, 14. Regel.
85 Ihm werden 10 Formen der „Nutzbarkeit“ zugeschrieben, 5 körperliche und 5 psychische;
Herr, Schachtafelen. 1533, 29. Regel.
86 Hartmann, Die Literatur von Früh- und Hochsalerno 55-58.
37
derbe den Samen, störe den Sehsinn und verursache die Krätze („Büchlein der
Gesundheit“).87 Fische sind zwar kalt und feucht und verstopfen. In Salz eingelegt
aber wandeln sie ihre Complexion und nehmen dessen Wärme und Trockenheit
an. Essig hingegen macht die Fische kalt und trocken. Fleisch wird,
wenn es im Schnee gelagert wird, feucht und zart, wenn man es in Honig einlegt,
wird es feucht und warm, in Wein aber heiß und trocken, im Salz heiß und
sehr trocken.88 Solche Vorgänge sind dem Wesen nach, wie L. Bolens formuliert,
die ‚Alchemie der Küche’, sie operiert mit den Geheimnissen der Mischungs-
und Umwandlungskünste. Durch Fermentation, Würzen und Färben –
beispielsweise mit Petersilie, Safran oder Beerensaft – werden die natürlichen
Aromen und Farben der Lebensmittel verwandelt, wodurch auch ihre Qualitäten,
ihr Temperament beeinflusst wird.89 Wer seine Speisen reichlich mit exotischem
Gewürz abschmecken ließ und das Erscheinungsbild der Ausgangsmaterialien
optisch zu verfremden verstand, steigerte den Repräsentationseffekt eines Gastmahls,
indem er Wohlstand zur Schau stellte.90
Allerdings hat die jüngere Forschung die These bestritten, wonach
mittelalterliches Essen maßlos überwürzt gewesen sei.91 Sie kann sich auch auf
diätetische Traktate stützen. So rät Magister Theodorus dem Kaiser Friedrich II.:
„Cibos autem non propter sapores, sed sapores propter cibos sumas.“ (Unter
sapor wird hier eine gewürzte Sauce verstanden.) Magninus Mediolanensis redet
in seinem Traktat Opusculum de saporibus einer mäßigen Verwendung von
Gewürzen und Saucen das Wort. Hätten doch Würzen als Medizin zu gelten, aus
der Gesunde keinen Nutzen ziehen könnten. Die Gewürze sind dem Klima anzupassen
und jahreszeitlich abzustimmen. Im Winter und in kalten Gegenden
sind warme Gewürze wie Pfeffer und Ingwer zu empfehlen: „Tertia consideratio
quod temporibus etate et conclusione frigoris utendum est salsis calidis et econverso.“
Magninus Mediolanensis bietet Rezepte für Saucen, die mit Pfeffer, Paradieskörnern92,
Gewürznelken, Ingwer, Petersilie, Knoblauch und Senf gewürzt
sind, alles Ingredienzien ohne Nährwert: „Dico igitur quod huiusmodi saporibus
non est utendum in sanitatis regimine nisi in pauca quantitate et ut corrigatur
quorundam ciborum malitia seu salutem remittatur.“ (Bezüglich deiner Gesundheitsregeln
rate ich dir, solche Gewürze nur in geringen Mengen zu verwenden,
so dass die Schädlichkeit gewisser Speisen beseitigt und die Gesund-
87 Hagenmeyer , Das Regimen Sanitatis 115, 254; dies., Die ‚Ordnung der Gesundheit’ 297.
88 Herr, Schachtafelen. 1533, 14. Regel.
89 Bolens, , La cuisine Andalouse 37 f., 40; dies., Al-Andalous Romaine et Orientale: Villes
en sucre et douceurs du XIe au XIIe siècle. In: M. Aurell, O. Dumoulin und F. Thelamon
(Hg.), La sociabilité à table. Commensalité et convivialité à travers les Âges (Publications
de l’Université de Rouen, Bd. 178) Rouen 1992, 263-271; dies., Conservation des aliments;
Scully, The Art of Cookery 40-58.
90 Helmut Hundsbichler, Nahrung. In: Harry Kühnel (Hg.), Alltag im Spätmittelalter. Graz,
Wien und Köln 19863, 196-231; Höller, Texte zum Essen.
91 Hundsbichler, Nahrung; Redon, Sabban and Serventi, La gastronomie.
92 Paradieskörner bzw. „grana paradisi“: botanisch Aframomum melegueta, zu deutsch Meleguetapfeffer.
38
heit wiederhergestellt wird.)93 Noch weiter geht Bernhard von Clairvaux, der die
Gefahr sieht, dass Pfeffer, Ingwer, Kümmel, Salbei und andere Gewürze die Libido
steigern; er wirft den Cluniazensern vor, sich an solchen Aphrodisiaca zu
delektieren.94 Auch Konrad von Eichstätt beurteilt den Pfeffer als hochwirksam:
„… tendit ad quartum gradum caliditatis“95.
Solche Lehrmeinungen über die pharmakologischen Eigenschaften besonders
der Gewürze fließen als leitender Gesichtspunkt in die Regimina für die
Säuglings- und Kindererziehung ein. Den Müttern und Ammen wird nämlich in
der Stillphase vom Genuss von Zwiebeln, Knoblauch, Rauke oder Pfeffer abgeraten,
weil sie zu sehr erhitzen, dadurch die natürliche Wärme der Frauen mindern
und das Blut verbrennen lassen. Scharfe, bittere Nahrungsmittel und Gewürze
behindern folglich die Milchbildung.96 Denn Milch wird in der scholastischen
Medizin als das kostbare Umwandlungsprodukt des Bluts gesehen, als
eine „thermisch aufgehellte Variante des Monatsflusses“97. So übersetzt Herr
aus dem Tacuinum: Die Milch ist „ein wolzeitig bluot das die uter oder brüst
nach ihrer substantz verwandelt hond, gleich wie das hirn auch den lebhaften
geist verwandelt.“98
Der Süßgeschmack
Einen anderen Stellenwert als die Würzen hat im kulinarischen Koordinatensystem
der Zucker, der ideale Geschmack schlechthin, ist er doch vollkommen
temperiert, buchstäblich ausgewogen und löst auf der Zunge eine angenehme
Empfindung aus. Denn der Süßgeschmack ist weder heiß noch kalt, und weder
schneidet und entzündet er die Zunge wie das Heiße, noch zieht er sie zusammen
wie das Kalte: „Suessz, der vereynt seüberlich. Dann er ist nit heyssz, das
er die zung zerteyle. So ist er nit kalt, das er sye zu:sammen zyeh, sonder er ist
recht temperiert. Und das hat er zuofaelligklich. Darumb, das er von seiner
selbs natur das mittel in jm hat, desszhalb macht er nur die zung glatt.“99 In ei-
93 Lynn Thorndike (Hg.), Magninus Mediolanensis (Maino de’ Maineri): ‘Opusculum de
saporibus’. In: Speculum 9 (1934) 183-190. Die Transkription des Traktats aus dem 15.
Jahrhundert ist zugänglich in der Website „Monumenta Culinaria et Diaetetica Historica“:
http://staff-www.uni-marburg.de/ ~gloning.
94 Zimmermann, Ordensleben und Lebensstandard, Nr. I/157. James Joyce soll ausgerufen
haben: „Gott hat die Nahrung gemacht, der Teufel die Gewürze“; Bourre, Intelligenz und
Ernährung 36.
95 Hagenmeyer , Das Regimen Sanitatis 115.
96 Green (Hg.), The Trotula.
97 Gundolf Keil, Die Frau als Ärztin und Patientin in der medizinischen Fachprosa des deutschen
Mittelalters. In: Frau und spätmittelalterlicher Alltag (Veröffentlichungen des Instituts
für mittelalterliche Realienkunde Österreichs, Bd. 9) Wien 1986, 196; siehe auch Caroline
Walker Bynum, Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben
des Mittelalters. Frankfurt/Main 1996, 179; Green (Hg.), The Trotula 20.
98 Herr, Schachtafelen. 1533, 16. Regel.
99 Herr, Schachtafelen. 1533, 1. Regel.
39
ner anderen Textstelle kommt das die Erkenntnisse organisierende und veranschaulichende
Konstrukt der räumlichen Situierung von Geschmäckern in einer
Skala zwischen „hoch“ und niedrig“ noch besser zum Ausdruck: „Vnd ursach dz
das so under den geschmacken temperiert erfunden ist, sueß sey, ist, das die anderen
geschmack im hoesten unnd nidersten der qualiteten seind, das sueß aber
im mittel da zwischen. Gleich wie ein centrum, oder mittel punct in eim ring, nit
am usseren umbkreyssz erfunden würt, dann solichs unmüglich.“100
Gemäß einer jüngeren Schrift, dem erwähnten Traktat De saporibus et numero
eorundem, ist das Feiste (insipidus), die unctuositas, ähnlich wie das Süße zu
beurteilen. Es ist im 1. Grad warm-feucht und von subtiler Substanz; seine Wärme
entfernt sich wenig von der Temperantia, und so ist es annähernd so beliebt
wie das Süße: „post dulcedinem anima magis eam suscipit.“101 (Vom kulinarischen
Gesichtspunkt aus würden wir heute dazu sagen, weil das Fett ein Geschmacksträger
ist. Dessen waren sich die Benediktiner wohlbewusst, fügten sie
doch, um ihr tägliches Bohnengericht, das pulmentum, zu verbessern, Schweineschmalz
und Salz, an hohen Festtagen sogar Pfeffer und Salbei, bei.102) Beide
Geschmäcker, das Süße und das Feiste, sind moderat und folglich bestens verträglich,
sie prägen die erste Nahrung des Menschen, die süß schmeckende
Muttermilch, nach der es den Säugling gelüstet. Hinwiederum rufen das Scharfe
und das Bittere eine entgegengesetzte Empfindung hervor, es sind fremdartige
Geschmäcker, die zumindest beim neophoben Kind Abscheu und den Rückweisungsreflex
auslösen; nicht zuletzt hat das seinen Grund in ihrer haptischen, d. h.
den Tastsinn der Zunge und des Gaumens reizenden Wirkung.103
Der Süßgeschmack dringe mit seiner groben Substanz mäßig wärmend in
die porösen Zonen der Zunge ein, heißt es im erwähnten italienischen Traktat.
An seiner Temperantia erfreue sich die Seele, ebenso auch weil nichts der
menschlichen Komplexion so angemessen (affinus) sei wie die Süße.104 Im
Tacuinum hinwiederum heißt es nach dem Prinzip similia similibus curentur:
„ein yedes ding begert seins gleichen“.105 Am verträglichsten ist die unserer
Komplexion optimal angepasste Speise. In diesem Sinne wird Nahrungsphysiologie
nicht mit der Spaltung und Umwandlung chemischer Bausteine erklärt,
sondern als ein Prozess der Anverwandlung begriffen, in dem jeweils ähnlich
temperierte Substanzen nach gradueller Anpassung das Blut, die Organe und
100 Herr, Schachtafelen. 1533, 26. Regel.
101 Hartmann, Die Literatur von Früh- und Hochsalerno 55.
102 Zimmermann, Ordensleben und Lebensstandard, Nr. I/104 und I/226; vgl. Höller, Texte
zum Essen 136.
103 Fischler, L’Homnivore 71 f.; vgl. auch Paul Rozin, Sweetness, Sensuality, Sin, Safety, and
Socialization: Some Speculations. In: J. Dobbing (Hg.), Sweetness. London u. a. 1987, 100-
110.
104 Hartmann, Die Literatur von Früh- und Hochsalerno 55.
105 Herr, Schachtafelen. 1533, 19. Regel.
40
Glieder erhalten. So reden beispielsweise Albertus Magnus und Konrad von
Eichstätt von Assimilation.106
Während bis heute wissenschaftlich ungeklärt ist, wie der intrinsische
Wert des Wohlgeschmacks von Zucker zustande kommt,107 liefert Ibn Butlan
eine in seiner Zeit schlüssige Erklärung, indem er mit der Leber argumentiert.
Nach der Anschauung von Galen ist sie ein wichtiges Verdauungsorgan, indem
sie die Nahrung vom Magen aufnimmt, um daraus Blut zu produzieren. Der
Süßgeschmack sei darum so bekömmlich, sagt Ibn Butlan, weil er seiner Natur
nach der Leber am nächsten komme und sie nähre: „Das sueß ist der lebere(n)
am gleichsten vor anderen glyderen, unnd nimpt suessze von der speiß zuo ir
selbs narung…“108
Diese physiologische Argumentation zum idealen Wohlgeschmack des
Süßen kann andererseits durch eine etymologische ergänzt werden: Das griechische
Wort für Lust, ‘ηδονή, geht auf die indogermanische Wurzel suad zurück.
Suadu / gr. ‘ηδύσ / lat. suavis (süß) sind, wie Wolfgang Welsch ausführt, „der
terminologische Erstling der Lustsphäre und deren bleibendes Signet.“109 Dem
Säugling schmeckt nur das natürlicherweise Bekömmliche, das wozu er von sich
aus Lust hat. Den Süßgeschmack erlebt er an der Mutterbrust sinnlich und affektiv
als positives Signal, er steigert den Lustgewinn beim Saugen. Seine erste
Nahrung gilt als Umwandlungsprodukt aus dem mütterlichen Blut, in der Weise,
dass es im Körper der Mutter in einem „Kochprozess“ zur wohltemperierten
Milch transmutiert.110 In der Entwöhnungsphase lernt das Kleinkind dann
allmählich festere Speisen wie Brei und Brot zu akzeptieren. Getreide – als
Grundnahrungsmittel schlechthin – ist nach medizinischer Ansicht, wie nicht
anders zu erwarten, ausgewogen im Sinne der Primärqualität. Nach Ibn Butlan
nimmt Brot „allen Geschmack an sich, einer jeden Complexion adäquat“.111 Somit
ist die für das Kleinkind riskante Situation der Entwöhnung an eine in sich
ausgewogene neue Nahrung gekoppelt.
„Appetitus“
Am Ende unserer Ausführungen ist weiterhin zu beachten, dass die Wörter appetitus
und libido in den Quellen synonym gebraucht werden, um sowohl den
106 Hagenmeyer, Das Regimen Sanitatis 71.
107 Rozin, Sweetness 106.
108 Herr, Schachtafelen. 1533, 26. Regel. Tatsächlich befinden sich in der Leber Energiereserven
von 250 bis 300 Kilokalorien in Form von Glykogen; Bourre, Intelligenz und Ernährung,
150.
109 Welsch, Aisthesis 395.
110 Ammenregime empfehlen Zucker als Bestandteil von Galaktagoga: Geht die Milch zurück,
so ist der Amme Milch mit Zucker und Fenchelsamen zu reichen; vgl. Green (Hg.), The
Trotula.
111 „convenientes cuilibet complexioni“; Tacuinum sanitatis. Straßburg (Schott) 1531, 11.
Regel.
41
Appetit als auch die sexuelle Lust zu bezeichnen.112 Wie schon erwähnt, schrieb
man einigen Kräutern und Gewürzen die Steigerung der sexuellen Begierden zu,
machte jedoch dafür in erster Linie den Wein und das Fleisch verantwortlich.
Über diese Pfeiler jeder guten Ernährung schreibt Ibn Butlan ausführlich. Die
eingehende Erörterung des Fleischs wird allein schon wegen seines größeren
Nährwerts gerechtfertigt, sollen doch antike Ärzte gesagt haben, dass aus 100
Drachmen Gemüse weniger Nahrung entsteht als aus 10 Drachmen Fleisch und
Blut.113 Wenig kümmert es den Arzt angesichts des physiologischen Nahrungsbedarfs,
dass das Paradies als Ort des Nicht-Tötens ein vegetarisches Reich gewesen
war.114
Ibn Butlans Beschreibung der Tiernahrung berücksichtigt alle essbaren
Teile der Tiere wie Augen, Innereien, Euter, Hoden und Füße.115 Sie zeugt, wie
insbesondere die Ausführungen über die unterschiedlichen Qualitäten der Milch
verschiedener Haustierarten zeigen, von breitem Erfahrungswissen, das wiederum
in den Kriterien der Säfte und der Primärqualitäten gefasst wird. So sind
männliche Tiere allgemein wärmer und trockener als die feuchten weiblichen,
junge wärmer und feuchter als alte; die Haltung im Freien ist der Käfighaltung
vorzuziehen, weil die Tiere gesünder sind. Die Komplexion der Tiere verändert
sich auch jahreszeitlich, so dass es für die Fleischqualität auf den Schlachttermin
ankommt. Die geschilderten Regeln der Fleischnahrung und Gewohnheiten des
Fleischkonsums lassen eine gewisse Vorliebe für den Konsum junger (d. h. noch
nicht geschlechtsreifer) und kastrierter Säugetiere oder Vögel (Kapaunen) erkennen,
zumal das „feiste“ Fleisch verschnittener Tiere besser sei als das magere
Unkastrierter. (Noch heute konsumieren wir vorzugsweise „desexualisiertes“
Fleisch.116) Fettes Fleisch sei vorteilhaft, weil das Feiste schlüpfrigen, feuchten
Stuhlgang bringt.117 In aller Selbstverständlichkeit spricht der Autor von
regelmäßigem Weinkonsum und von Schweinefleisch, das gemäß Galen und
Rhazes die größte Ähnlichkeit mit Menschenfleisch habe.118 Zwar erwähnt Ibn
Butlan das alttestamentliche Tabu des Schweinefleischs,119 aber er verzichtet
darauf, es den Rezipienten des Tacuinum als verbindliches Gesetz vorzuschreiben.
Er stellt fest, dass in seiner orientalisch-ägyptischen Erfahrungswelt
112 So z. B. bei Constantinus Africanus; Cadden, Meanings of Sex Difference 61 ff.
113 Zotter, Das Buch vom Gesunden Leben 250, 16. Regel.
114 Klaus Eder, Die Vergesellschaftung der Natur. Studien zur sozialen Evolution der praktischen
Vernunft. Frankfurt/Main 1988, 169-171.
115 Vgl. den Bildband von Poirion und Thomasset, L’art de vivre.
116 Fischler, L’Homnivore 133 f.
117 Tacuinum und Herr, Schachtafelen. 1533, Regeln 12, 16, 17, 18, 20; zum schlüpfrigen
Stuhlgang siehe die Regel 5.
118 Zu Galen siehe Grant, Galen on Food and Diet 155.
119 Bonnassie, Consommation d’aliments; vgl. dazu Fischler, L’Homnivore 127-134: Das
Schwein ist als Allesfresser dem Menschen ähnlich: „La nourriture de notre nourriture est
notre nourriture et nous communique donc sa nature. Consommer la chair d’herbivores
pose apparemment le moins de problèmes, considérable moins, en tout cas, que la chair de
mangeurs de chair“ (S. 134).
42
Schweinefleisch beliebt ist, ohne jedoch allfällige Überschreitungen von Essverboten
in den islamischen und jüdischen Gemeinden, die er kennt, zu verdammen.
120 Insgesamt vermittelt das Tacuinum Sanitatis das Bild einer vielseitigen,
raffiniert zubereiteten, wohlschmeckenden Ernährung, die der Gesundheit
förderlich ist.
Schlussfolgerungen anhand des Erstdrucks der Schachtafeln
Das geschilderte Konzept „guten Lebens und Essens“ bevorzugt die schematische
Einstufung der Phänomene mit Hilfe der Viererzahl. Qualitätskriterien zur
Beurteilung der „Natur“ von Lebensmitteln und den die gesamte Lebensführung
umfassenden sex res non naturales (die sechs neben-natürlichen Dinge)121 wurden
unter anderm von Ibn Butlan bündig in ein Koordinatensystem gesetzt, um
diätetisches Wissen im zweidimensionalen Raum optisch erfahrbar zu machen.
122 Warum ziehe ich zum Vergleich den Spielplan eines Schachbretts
heran? Michael Herr hat das Tacuinum sanitatis 1533 mit „Schachtafelen der
Gesuntheyt“ (Abb. 2) betitelt und damit listig auf den Doppelsinn des Worts Tafel
angespielt:123 Es bezeichnet einerseits den Ess-Tisch, andererseits eine tabellenförmige
Liste, also genau jene Darstellungsform, die Ibn Butlan für seinen
Lebensmittelkatalog gewählt hatte.124 Dessen graphisches Erscheinungsbild in
den ihm vorliegenden lateinischen Handschriften hat Michael Herr zur Wahl des
Buchtitels angeregt125 (Abb. 3).
Nach Meinung des Medizinhistorikers Heinrich Schipperges setzte sich
im Zuge des Arabismus im Westen die hellenistisch-arabische Medizin binnen
einer Generation durch, um die seiner Ansicht nach unbedarfte Mönchsmedizin
abzulösen.126 Ohne zu werten, sieht Claude Thomasset seinerseits die Diätetik
eines Tacuinum als Trägerin sicherer Botschaften. Es bietet der mittelalterlichen
Gesellschaft „une grille explicative à peu près sans défaut, qui lui donne
l’illusion de maîtriser la santé, le corps.“127 In der übersichtlichen Form der
Tabellen und mit den anschaulichen Erklärungen im Textteil künden die Regeln
120 Zu den Theorien über die gesellschaftlichen Gründe und Funktionen von Esstabus siehe
Eder, Die Vergesellschaftung der Natur.
121 Luft; Bewegung und Ruhe; Essen und Trinken; Schlafen und Wachen; Ausscheidungen
und Zurückbehaltenes; seelische Affekte.
122 Scully, The Art of Cookery 260-264 führt eine Liste von „Late-Medieval Medical and
Scientific Works Referring to Food Properties“ an.
123 Johann Heinrich Zedler, Großes Vollständiges Universallexikon, 2. vollständiger mechanischer
Nachdruck der Ausg. Halle und Leipzig 1732-1749. Graz 1993-1998, Bd. 41, Sp.
1395 f., Artikel „Taffel“.
124 Beispiele dieser graphischen Darstellungsform sind abgebildet bei Elkhadem, Le «Taqwim
al-sihha»; Schipperges, Arabische Medizin 142 und 143 und Rippmann, Schachtafeln der
Gesundheit 125.
125 Dazu Höller, Texte der Tafel.
126 Schipperges, Arabische Medizin.
127 Poirion und Thomasset, L’art de vivre 64.
43
von einer gesamtheitlichen Sicht des Arztes. Er versteht sein Werk nicht bloß als
medizinischen Ratgeber, sondern bietet im Grunde genommen eine Soziologie
des Essens ‚avant la lettre‘. Erst in der modernen Epoche wird die „Tendenz
zum Verlust der weiten Perspektive“ zum Problem, sie ist das Resultat der zunehmenden
„Vernaturwissenschaftlichung der Medizin“128 und des „technisierten
Blicks“ des Spezialisten, der sich dem Unsichtbaren und nicht Greifbaren im
engen Focus optischer Instrumente widmet.129
Abb. 2: Titelblatt des Erstdrucks der deutschen Übersetzung
von Ibn Butlans Tacuinum sanitatis in medicinam, Strassburg (Schott) 1533.
128 D. von Engelhardt, Hunger und Appetit. In: Wierlacher, Neumann und Teuteberg (Hg.),
Kulturthema Essen 145.
129 Vgl. Ulrich Stadler, Der technisierte Blick. Optische Instrumente und der Status von
Literatur. Ein kulturhistorisches Museum. Würzburg 2003.
44
Abb. 3: Lateinische Handschrift des Tacuinum sanitatis in medicinam von Ibn Butlan, 13. Jh. Die
Organisation des Tabellenteils ist schachbrettartig gestaltet. Dargestellt sind die Gemüse
Spargel, Spinat, Mangold, Pastinaken, Pilze, eine Kohlart.
(Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex 2322, fol. 12 verso).
45
Hingegen spiegelt die maßgeblich im 10. und 11. Jahrhundert entwickelte
mittelalterliche Diätetik eine weltlichen Freuden zugeneigte, lebens- und sinnenfrohe
Einstellung. Als alle Bereiche der Alltagsgestaltung umfassende Lebenskunde
fordert sie zwar zu gesunder, ausgewogener Lebensführung auf, predigt
aber nicht Askese und Verzicht auf Fleischliches im doppelten Wortsinn. Sie
setzt auf gute Mischungsverhältnisse, auf Abwechslung und Vielfalt. Ziel der
präventiven Medizin ist es, den Körper und die Seele durch richtiges Verhalten
und gute Ernährung im Gleichgewicht zu halten, im Sinne des Harmonie-Zustands
der ε̉υκρασία. Beim Essen soll die Complexion der Speisen an die individuelle
menschliche Natur angepasst sein. Aufgabe der Kochkunst ist die Harmonisierung
von Gegensätzen beziehungsweise das „Temperieren der Speisen“
130, und es empfiehlt sich, auf eine diätetisch korrekte Speisenfolge zu achten.
Gesundheit ist nur durch die Tugend des Maßhaltens aufrechtzuerhalten,
während Völlerei abzulehnen ist. Das Ideal der Temperantia131 markiert
gleichzeitig eine Schnittstelle zwischen dem medizinisch-wissenschaftlichen
Diskurs einerseits und den religiösen Moralapellen christlicher Prediger andererseits.
132
130 Vgl. Terence Scully, Tempering Medieval Food. In: M. Weiss Adamson (Hg.), Foods in
the Middle Ages: a Book of Essays. New York 1995, 3-23.
131 Vgl. den Artikel Mäßigkeit. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, Sp. 371.
132 Als Gegenmodell zu Ibn Butlans Vorstellungen vergleiche man etwa die in der Textsorte
der Predigt geäußerten Auffassungen Bertolds von Regensburg; Herrlinger, Die sechs res
non naturales 1958.
M E D I U M A E V U M
Q U O T I D I A N U M
52
KREMS 2005
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramèr
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, 3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. –
Druck: Grafisches Zentrum an der Technischen Universität Wien, Wiedner
Hauptstraße 8-10, 1040 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ……………………………..…………………………………………. 5
Annie Saunier, L’enfant victime: une représentation de l’enfance
au travers de quelques sources religieuses, judiciaires et hospitalières .… 6
Dorothee Rippmann, Der Körper im Gleichgewicht:
Ernährung und Gesundheit im Mittelalter ……………………………… 20
Salvatore Novaretti, Mittelalterliche Fischrezepte aus Frankreich und Italien –
Zeugnisse unterschiedlicher kulinarischer Kultur? ………………….… 46
Vilborg Auður Ísleifsdóttir-Bickel, Habenichtse und Landstreicher.
Zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Armenfürsorge
in Island und deren Zusammenbruch ………………………………..… 62
Tom Pettitt, Nuptial Pageantry in Medieval Culture and Folk Custom:
in Quest of the English charivari ……………………………………… 89
Besprechung …………………..……………………………………………….. 116
5
Vorwort
Das vorliegende Heft von Medium Aevum Quotidianum zeigt in besonderem
Maße die Breite und ‚Internationalität’ sowohl von Fragestellungen als auch von
Forschungsinitiativen im Rahmen der Geschichte von Alltag und materieller
Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Wir danken den partizipierenden
Beiträger(inne)n für ihre wertvollen Untersuchungen, von Reykjavik bis zur
Université des Antilles-Guyane.
Annie Saunier beschäftigt sich komparativ mit der Opferrolle des Kindes
in verschiedenen spätmittelalterlichen französischen Quellen. Dorothee Rippmann
und Salvatore Novaretti analysieren Quellen zur Ernährung und können
dabei wichtige Kontexte zur Gesundheit und zu allgemeinen Fragen von Kulturausformung
und Mentalität liefern. Vilborg Auður Ísleifsdóttir-Bickel widmet
sich der Armenfürsorge und deren Entwicklung im spätmittelalterlichen Island.
Tom Pettitt vermittelt neue Ergebnisse zur Kultur der Performanz im spätmittelalterlichen
und frühneuzeitlichen England.
Wir danken allen Mitgliedern und Freunden von Medium Avum Quotidianum
für das kontinuierliche Interesse und die gute Zusammenarbeit. Wir hoffen,
auch in Zukunft dazu beitragen zu können, dass jene Breite des Forschungsfeldes
und die Relevanz komparativer und kontextsensitiver Analysen weiter verfolgt
und einen Schwerpunkt der Untersuchungen darstellen wird.
Gerhard Jaritz, Herausgeber