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Konfliktkonstellationen im Handwerk des 14. bis 16. Jahrhunderts

Konfliktkonstellationen im Handwerk
des 14. bis 16. Jahrhunderts
KATHARINA SIMON-MUSCHEID , BASEL
„Konflikt“1 im Handwerk evoziert in erster Linie die Vorstellung von Konflikten
zwischen Handwerksgesellen und ihren Meistern. Während die eine
ältere Forschungstradition (in harmonisierenden Vorstellungen befangen)
keine grundsätzlichen Interessengegensätze zwischen Meistern und Gesellen
zu sehen vermochte, die aufbrechenden Konflikte entsprechend nur
als „Werkstattfehden“ abqualifizierte und ihnen den Charakter einer kollektiven
Bewegung absprach, suchte die andere Tradition (für sie stehen
die Namen Brentano, Schoenlank, Schanz) in den Gesellenbewegungen
die Vorläufer der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts aufzuspüren2•
Diese Kontinuität wird in neueren Arbeiten zum Protestverhalten der
spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handwerksgesellen mehr oder
minder implizit weitergeführt. Diesem Ansatz kommt das große Verdienst
zu, die gesellschaftlichen Antagonismen im vorindustriellen Handwerk erkannt
zu haben, das Protestverhalten von Menschen früherer Jahrhunderte
„ernst“ zu nehmen, indem er ihnen die Fähigkeit zubilligt, „rational“
zu handeln, d. h. sich zur Durchsetzung ihrer Interessen zu organi-
1 Definition von „Konflikt“ nach Coser, L. A.: Conßict: Social Aspects. In: International
Encyclopedia of the Social Seiences 3 ( 1968) 232 f.: „Social conßict may be defined
as a struggle over values or claims to status, power, and scarce resources, in which the
aims of the conßicting parties are not only to gain the desired values but also to neutralize,
injure, or eliminate their rivals. Such confiicts may take place between individuals,
between collectivities, or between individuals a.nd collectivities. Intergroup as weil as
intragroup confiicts are perennial features of social life“; Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie
der symbolischen Formen. Frankfurt/Main 1970, bes. 42-74; Volkmann, Heinrich
und Bergmann, Jürgen (Hg.): Sozialer Protest. Studien zu traditioneller Resistenz und
kollektiver Gewalt in Deutschland vom Vormärz bis zur Reichgründung (Schriften des
Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin 44)
Opladen 1984, mit weiterführender Literatur zur Konflikttheorie und Protestforschung.
2 Reininghaus, Winfried: Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter (VSWG
Beiheft 71) Wiesbaden 1981, zur Forschungsgeschichte 3-23.
87
sieren, und dies nicht erst als Errungenschaften der industriellen Revolution
darzustellen. Die Rationalität der Forderungen und Verhaltensweisen
der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellen wurde dabei allerdings
am „rationalen“ , „fortschrittsorientierten“ Handeln einer klassebewußten
Arbeiterschaft gemessen und entsprechend negativ bewertet als
„inadäquat“ und „rückschrittlich“ . Damit wurden sie den unterschiedlichen
Mentalitäten3 (Traditionen, Wertvorstellungen, Verhaltens- und Orientierungsmustern)
vorindustrieller Gesellschaften nicht gerecht. Auch die
nicht ohne weiteres verständlichen, nach der „modernen“ Sichtweise irrationalen
Manifestationen spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Protest-
und Widerstandsformen selbst galten lange Zeit mehr als volkskundliche
Kuriosa, deren Sinn zur Erklärung einer Handlung nicht entschlüsselt
zu werden brauchte. Diesen Aspekten einer „Volkskultur“ nähert sich seit
Thompson die neuere Forschung mit sozialanthropologischen, mentalitätsund
alltagsgeschichtlichen Ansätzen4.
Die oben skizzierte Forschungsrichtung, die die spätmittelalterliche
und frühneuzeitliche Gesellenbewegung im Hinblick auf die Kontinuität zur
Arbeiterschaft untersucht, sollte jedoch nicht der Versuchung erliegen, die
Komplexität der Konfliktproblematik im Handwerk zu unterschätzen, indem
sie alle andern potentiellen Konfliktlinien und Konfliktkonstellationen
aus dem Untersuchungsbereich ausblendet, um sich ausschließlich auf den
„klassischen“ Antagonismus Meister-Gesellen zu konzentrieren. Für die
Zeit des 14. bis 16. Jahrhunderts, auf die ich mich im folgenden beschränke,
3 Zu Mentalität umschrieben als Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Graus,
Frantisek: Mentalität – Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung.
In: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme
(Vorträge und Forschungen 25), hg. Frantisek Graus. Sigmaringen 1987, 9-48, hier
16.
4 Thompson, Edward P.: Piebeisehe Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur
englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, hg. Dieter Groh. Frankfurt/
Main-Berlin-Wien 1980; Berce, Yves-Marie: Fete et revolte. Des mentalites populaires
du XVIe au XVIIIe siede. Paris 1976; Davis, Natalie Z.: Les cultures du
peuple. Rituels, savoirs et resistances au 16e siede. Paris 1979; Schindler, Norbert:
Spuren in der Geschichte der „anderen“ Zivilisation. Probleme und Perspektiven einer
historischen Volkskulturforschung. In: van Dülmen, Richard – Schindler, Norbert
(Hg.): Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Altags (16.-20. Jahrhundert).
Frankfurt/Main 1984, 13-77; Muchembled, Robert: Anthropologie de Ia violence
dans Ia France moderne (XVe-XVIIIe siede). In: Revue de synthese IV /1 (1987) 31-55.
88
reduziert eine solche Betrachtungsweise ein vielschichtiges Problem, worin
die verschiedenen Interessen, die eher mit einem Kräfteparallelogramm
zu vergleichen sind, auf ein allzu eindimensionales Modell. Denn unter
diesem Blickwinkel betrachtet stehen sich als einzige Kontrahenten eine
geschlossene, klar umrissene Gruppe von Meistern, die über Arbeitskräfte
und Produktionsmittel verfügen, und eine ebenso homogene Gruppe von
Gesellen gegenüber, die beide in der Kategorie von „Klasse“ verstanden
werden. Obwohl es sich unbestreitbar um eine der wesentlichsten Konfiiktlinien
handelt, die vom Spätmittelalter an zwischen Meistern und Gesellen
verläuft, bildet sie jedoch keineswegs immer und in jeder Situation
eine Trennungslinie, entlang derer die gegensätzlichen Interessen aufeinander
stoßen. Ebensowenig können pauschale Begriffe wie „die Meister“
und „die Gesellen“ das notwendige Instrumentarium für die Untersuchung
sämtlicher Konfliktkategorien bieten. Auf einer ersten Ebene wird deshalb
von „der Zunft“ und „der Obrigkeit“ bzw. „den Gesellen“ die Rede sein
müssen. Dies bedeutet jedoch eine Optik von außen auf ein Konstrukt, das
keineswegs interne Homogenität impliziert: In der Wahrnehmung der Obrigkeit
ist es die gesamte „Zunft“, die sich ihren Anordnungen widersetzt,
während umgekehrt „die Obrigkeit“ für die Zünfte ein diffuses Feindbild
abgibt. Diese Ebene dient dazu, nicht nur konkrete vertikale Konfliktlinien
überhaupt untersuchen zu können, sondern auch Wahrnehmungsmuster,
Projektionen, Feindbilder.
Auf einer zweiten Untersuchungsebene werden diese Einheiten aufgebrochen,
denn es geht darum, die internen Strukturen, Antagonismen
und möglichen Konfliktkonstellationen innerhalb „der Zunft“ , „der Gesellen“
und „der Obrigkeit“ bzw. Interessenkonstellationen bestimmter Gruppen
über die vertikale Achse hinweg zu analysieren. Bei der Analyse von
Handwerkskonflikten in der Handwerksforschung zeigt sich, daß Methoden
und Resultate aus den Forschungsrichtungen „Stadtgeschichte“ und „Geschichte
der Geschlechterbeziehungen“5 kaum rezipiert werden. Dies führt
zur absurden Situation, daß bei der Untersuchung spätmittelalterlicher
und frühneuzeitlicher Handwerkskonflikte das ganze Forschungsfeld der
„städtischen Unruhen“, d. h. der Aufstände und Verfassungskämpfe6 , aus-
5 Scott, Joan W.: Gender. A Useful Category of Historical Analysis. In: American
Historical Review 9 1 , 5 (1986) 1053-1075.
6 Zur „sozialen Unrast“ und den in Frankreich, Italien, Flandern, England, im Deutschen
Reich und in der Schweiz gleichzeitigen ausbrechenden Aufständen des 14. und
89
geblendet wird, obwohl ihre Träger bekanntlich zum großen Teil aus dem
Handwerker- und dem Kaufmannsstand stammen; auf diesen Aspekt der
Handwerkskonflikte werden wir weiter unten zurückkommen müssen. Ähnliches
gilt für das Problem der Frauenarbeit im Handwerk – ein Thema,
das in der Handwerksforschung entweder ganz auf der (normativen) Strecke
bleibt oder mit dem Hinweis auf ihre geringe Bedeutung in Nebensätzen
ein Schattendasein fristet 1. Dabei wären gerade diese beiden Dimensionen
für Handwerksgeschichte von Nutzen, denn sie liefern Erklärungsmodelle
15. Jahrhunderts Graus, Frantisek: Pest-Geißler-Judenmorde (Veröffentlichungen des
Max-Planck-Instituts für Geschichte 86) Göttingen 1987, 391-528 mit weiterführender
Literatur; am Beispiel der Reichsstadt Basel Simon-Muscheid, Katharina: Basler Handwerkszünfte
im Spätmittelalter. Zunftinterne Strukturen und innerstädtische Konflikte
(Europäische Hochschulschriften 348), Bern-Frankfurt/Main-New York-Paris 1988.
1 Zur Problematik der Frauenarbeit im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit
Wensky, Margret: Die Stellung der Frau in der stadtkölnischen Wirtschaft (Quellen
und Forschungen zur Hansischen Geschichte NF 26) Köln-Wien 1980; Mitterauer, Michael:
Familie und Arbeitsorganisation in städtischen Gesellschaften des späten Mittelalters
und der frühen Neuzeit. In: Haus und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt
(Städteforschung A/18), hg. Alfred Haverkamp. Köln-Wien 1982, 1-36; Davis, Natalie
Z.: Women in the Crafts in Sixteenth-Century Lyon. In: Women and Work in
Preindustrial Europe, hg. Barbara A. Hanawalt. Bloomington 1986, 167-197; Howell,
Ma.rtha: Women, Production and Patria.rchy in Late Medieval Cities. Chicago-London
1986; Uitz, Erika: Die Frau im Berufsleben der spätmittelalterlichen Stadt, untersucht
am Beispiel von Städten auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik.
In: Frau und spätmittelalterlicher Alltag (Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche
Realienkunde Österreid!s 9 = Sb. Ak. Wien, phil.-hist. Kl. 473) Wien 1986,
439-473; Wunder, Heide: Frauen in der Gesellschaft Mitteleuropas im späten Mittelalter
und in der frühen Neuzeit ( 15.-18. Jahrhundert). In: Valentinitsch, Reifried (Hg.),
Hexen und Zauberer. Die große Verfolgung – ein europäisches Phänomen in der Steiermark.
Gra.z-Wien 1987, 123-154, bes. 130 ff.; Bennett, Judith: „History that stands
still“: Women’s Work in the European Past. In: Feminist Studies 14/2 (1988) 269-283;
Simon-Muscheid, Katharina: La lutte des maitres tisserands contre les tisserandes a
Bäle. La condition feminine au XVe siede. In: La donna nell’economia secc. XIIIXVIII,
a cura di Cavaciocchi, Simonetta. Istituto internazianale di storia economica
„F. Datini“. Prato 1990, 383-389; Rippmann, Dorothee und Simon-Muscheid, Katharina:
Weibliche Lebensformen und Arbeitszusammenhänge im Spätmittelalter und in
der frühen Neuzeit. Methoden, Ansätze und Postulate. In: Frauen und Öffentlichkeit
(Beiträge der 6. Schweizerismen Historikerinnentagung), hg. Othenin-Gira.rd, Mireille,
Gossenreiter, Anna und Thautweiler, Sabine. Zürich 1991, 63-98, mit weiterführender
Literatur.
90
für Konfliktverläufe und Konfliktkonstellationen. Beziehen wir die obengenannten
„Disziplinen“ ein, so zeichnen sich innerhalb von Zunft/Handwerk/
Obrigkeit horizontale und vertikale sowie geschlechtsspezifische Konfliktlinien
ab, die die Handwerksgeschichte an die Problematik von Verfassung,
Herrschaftspraxis und sozialem Protest „rückkoppelt“ und gleichzeitg
die Auswirkung ökonomischer Trends, „männerbündischer“ Verhaltenmuster,
ein von der Reformation neu definiertes Geschlechterverhältnis
und – damit verbunden – neue Legitimationen gegen weibliche Konkurrenz
mitberücksichtigt.
Zur Erklärung von Konfliktkonstellationen und Konfliktverläufen erscheint
es mir wichtig, „Konflikt“ nicht als starres, unveränderbares oder
eindimensionales Konzept zu begreifen, sondern von einem flexiblen, weitgefaßten
Konfliktbegriff auszugehen. Dies impliziert erstens die Vorstellung
von „vertikal“ und „horizontal“ verlaufenden Konflikten – als „vertikal“
sind dabei Konflikte zwischen Individuen oder Gruppen auf unterschiedlichen
Stufen der Hierarchie, z. B. Meister gegen Gesellen zu verstehen,
als „horizontal“ solche zwischen Individuen oder Gruppen mit gleichem
Sozialstatus, d. h. Meister bzw. Gesellen untereinander, aber auch
einheimische gegen fremde Gesellen und Zünftige gegen unzünftige weibliche
und männliche Konkurrenz – und daß die eine Konfliktkategorie auf
einer bestimmten Eska.lationsstufe in die andere übergeht, die eine die
andere zeitweise überlagert oder sogar verdeckt. Damit verbindet sich
auch die Vorstellung, daß ein latenter Konflikt zwischen zwei Individuen
auf weitere zunächst nicht involvierte Gruppen ausgreift, unerwartet ausbricht
oder als „Stellvertreterkonflikt“ ausgetragen wird zwischen Personen
oder Gruppen, unter Umständen und zu einem Zeitpunkt, die auf den
ersten Blick keine enge Verbindung zum „eigentlichen“ Konflikt aufweisen.
Zweitens ist davon auszugehen, daß sich die Konfliktkonstellationen
innerhalb des Konfliktverlaufs verändern können in Abhängigkeit von den
Interessen der Beteiligten, der Eska.lationsstufe und der besseren Durchsetzungsmöglichkeit
mit Hilfe neuer Bündnispartner. Als dritter Aspekt
wäre eine geschlechtsspezifische Konfliktdimension auch in die Handwerksdiskussion
einzubringen, denn der Bereich „Arbeit“ (Handwerk/Zunft) erweist
sich als Forschungsfeld par excellence für die Geschichte der Geschlechterbeziehungen.
Dieser Konfliktbegriff, der sich nicht auf die klassischen „Fronten“ innerhalb
des vorindustriellen Handwerks beschränkt, würde meines Erachtens
dazu beitragen, der Dynamik von Konfliktverläufen in ihrer unter-
91
schiedlichen Intensität und mit den zweckgebundenen Allianzen oft sogar
über die einzelnen „Stände“ hinweg, den unterschiedlichen Protestformen
(auch von Frauen) und dem geschlechtsspezifischen Problem der Existenz
von Frauen im Handwerk gerecht zu werden.
Folgende Entwicklungen und Tendenzen in den spätmittelalterlichen
Städten müssen in Erinnerung gerufen werden, wenn wir verstehen wollen,
was sich in der Praxis des Spätmittelalters unter den Begriffen „Obrigkeit“,
„Zunft“ und „Gesellen“ und somit auch unter den verschiedenartigen Konfliktkonstellationen
verbirgt. Dies gilt besonders für alle Städte, in denen
sich die Zünfte gewaltsam nach einer „Zunftrevolte“8 oder im Laufe einer
friedlicheren Entwicklung Einsitz und Mitsprache im Rat verschafft
haben. Nach einer kurzen Phase, während der die Zünfte gemeinsam um
die Macht und gegen das Patriziat gekämpft haben, beginnen die inneren
Gegensätze eine immer zentralere Rolle zu spielen. Die starke Polarisierung
zwischen armen und reichen Zünften und innerhalb der Zünfte
zwischen armen und reichen Meistern entlädt sich seit der zweiten Hälfte
des 14. Jahrhunderts in internen Auseinandersetzungen. Die reichen Meister
beginnen nicht nur, die eigene Zunft wirtschaftlich und politisch zu
dominieren, sondern sich auch im Rat gegen „unten“ abzuschließen, indem
sie z. B. das Wahl- und Mitbestimmungsrecht der Gemeinde drastisch
einschränken und als strafende Obrigkeit in Zunft und Rat politische
und wirtschaftliche Forderungen und Proteste ihrer Mitbürger kriminalisieren.
Somit wandelt sich der ursprünglich von den Zünften gewählte
Rat zur oligarchischen „Obrigkeit“9. Für eine sorgfaltige Konfliktanalyse
reicht es deshalb nicht aus, pauschal die „Gemeinde“ der „Obrigkeit“
gegenüberszustellen, ohne sich die Frage zu stellen, wer überhaupt
8 Zur Typologie von Aufständen Graus, wie Anm. 6, 510-528; Isenmann, Eberhard: Die
deutsche Stadt im Spätmittelalter { 1250-1500). Stuttgart 1988, 190-198 und 207-209;
summarischer Überblick über Forschungsliteratur und Kontroversen zu städtischen und
ländlichen Unruhen bei Blickle, Peter: Unruhen in der ständischen Gesellschaft 130G-
1800 (Enzyklopädie der deutschen Geschichte 1) München 1988, 51-107.
9 Ehbrecht Wilfried: Bürgertum und Obrigkeit in den hansischen Städten des Spätmittelalters.
In: Die Stadt am Ausgang des Mittelalters, hg. Rausch, Wilhelm (Beiträge
zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 3) Linz 1974, 275-294; Naujoks, Eberhard:
Obrigkeit und Zunftverfassung in den südwestdeutschen Reichsstädten. In: Zeitschrift
für Württembergische Landesgeschichte 33 {1974) 53-93; Dirlmeier, Ulf: Obrigkeit und
Untertan in den oberdeutschen Städten des Spätmittelalters. In: Beihefte der Francia
9 {1980) 437-449.
92
„die Obrigkeit“ bzw. die „Gemeinde“ verkörpert und welche wirtschaftliche
und politische Rolle die Zünfte, Gilden oder Gaffeln innerhalb eines
städtischen Machtgefüges spielen. In den südwestdeutschen Zunftstädten,
wo sich die oben erwähnte Entwicklung zum „Zunftregiment“ sehr deutlich
verfolgen läßt, bildet bekanntlich eine „zünftige Oberschicht“, die
nicht nur die patrizische Minderheit, sondern auch die schwächeren Zünfte
dominiert, die Obrigkeit10 . In dieser Funktion übt ein kleiner Teil der
Zünftigen Herrschaft aus, setzt Recht, lenkt die politischen und wirtschaftlichen
Geschicke der Stadt, wobei sie gleichzeitig die Interessen ihrer
wirtschaftlich starken Kollegen mit gleichem Sozialstatus und diejenigen
der „kleinen“ Meister, der Konsumentinnen/Konsumenten etc. wahren
muß – dies alles ohne die einzelnen Gruppierungen (inklusive der Stadtarmut)
gegen sich aufzubringen. In den innerstädtischen und zunftinternen
Auseinandersetzungen zwischen den „Patrons“ und ihrem Anhang, einzelnen
Ratsfaktionen, zwischen „Zunftobrigkeit“ und „Zunftgemeinde“ wird
der Antagonismus von Obrigkeit und Gemeinde geschickt von der jeweiligen
Opposition und von der jeweiligen Obrigkeit instrumentalisiert, wenn
es darum geht, politische und wirtschaftliche Forderungen durchzusetzen
oder Rechenschaft (mit Vorliebe über die grundsätzlich geheim gehaltenen
Finanzgeschäfte) zu fordern bzw. den legitimen „zünftigen“ Rat gegen
Aufrührer zu verteidigen. Den Kern der Opposition gegen „die Obrigkeit“
bilden die von der politischen Mitsprache ausgeschlossenen wohlhabenden
Meister, die abhängigen kleinen Meister und die zünftigen „Patrons“ einer
andern Faktion zusammen mit ihrem Anhang, in den auch Gesellen
eingebunden sein können. Als Legitimationsbasis dienen der Opposition
hauptsächlich die Berufung auf das – wie auch immer geartete – „alte
Recht“ bzw. „alte Herkommen“ und ihr Selbstverständnis als „die Gemeinde“
, in deren Namen sie spricht und handelt. Dies gilt auch für bloße
Faktionskämpfe innerhalb der „zünftigen Oberschicht“ , wenn sie sich mit
den „kleinen“ Meistern verbündet, um im Namen „der Gemeinde“ gegen
Entscheide „der Obrigkeit“ zu protestieren, Rechenschaft zu fordern oder
10 Zur unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Dominanz der Zünfte und ihrer
Vertretung im jeweiligen Stadtrat Maschke, Erich: Verfassungen und soziale Kräfte
in der deutschen Stadt des späteren Mittelalters, vornehmlich in Oberdeutschland. In:
VSWG Beiheft 46 (1959) 289-349 und 433-476; zu den in den Zunftverfassungen angelegten
Konfliktmöglichkeiten Luther, Rudolf: Gab es eine Zunftdemokratie? (Kötner
Schriften zur politischen Wissenschaft NF 2) Berlin 1968, 63 ff.
93
zum Sturz „der Obrigkeit“ aufzurufen11 • Diese Konstellation ist für unsere
Fragestellung besonders interessant, weil zünftig dominierte Stadträte
(die sich übrigens in ihrem Verhalten von patrizischen kaum unterscheiden
und auch „von unten“ und von ihren politischen gleichrangigen Konkurrenten
gleich wahrgenommen werden) über ihresgleichen zu Gericht sitzen,
mit Opposition aus ihren eigenen Reihen zu rechnen haben, durch
Verbote und Mandate den wirtschaftlichen Handlungsraum ihrer Zunftgenossen
einschränken etc. Diese Verflechtungen von zünftisch dominiertem
Stadtrat und Zunftvorständen verunmöglichen es der jeweiligen Obrigkeit,
bestimmte einschneidende Maßnahmen oder Strafurteile in ihrer vollen
Härte gegen aufrührerische Mitglieder einflußreicher „Clans“ auch wirklich
durchzusetzen. D . h. dem Stadtrat steht nur ein begrenzter Handlungsraum
zur Verfügung, innerhalb dessen er überhaupt regieren kann,
wenn seine Beschlüsse in politischen, wirtschafts- und finanzpolitischen
Bereichen auch durchsetzbar sein sollen; ein breiter Konsens, nicht nur der
übrigen „Clans“ , sondern auch der Meisterschaft ist dafür vonnöten. Auch
1 1 Aus der umfangreichen Literatur zu den innerstädtischen Konflikten seien die folgenden
besonders erwähnt: Rott, Jean-Jacques: Artisanat et mouvements sociaux
a Strasbourg autour de 1525. In: Artisans et ouvriers d’Alsace. Strasbourg 1965,
137-170; Joos, Edi: Die Unruhen in der Stadt Konstanz 130Q-1450. In: Zeitschrift
für die Geschichte des Oberrheins 116 {1968) 31-58; Barth, Reinhard: Argumentation
und Selbstverständnis der Bürgeropposition in städtischen Auseinandersetzungen
des Spätmittelalters (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter
3) Köln-Wien 1974; Bertold, Brigitte: Innerstädtische Auseinandersetzungen in
Straßburg während des 14. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für die Geschichte des Feudalismus
1 (1977) 157-186; Blendinger, Friedrich: Die Zunfterhebung von 1368 in
der Reichsstadt Augsburg. Ihre Voraussetzungen, Durchführung und Auswirkungen.
In: Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik. Festschrift E. Naujoks zum 65.
Geburtstag. Sigmaringen 1980, 72-90; Looz-Corswarem, Clemens v.: Unruhe und
Stadtverfassung in Köln an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. In: Städtische
Führungsgruppen und Gemeinde in der werdenden Neuzeit (Städteforschung A 9), hg.
Ehbrecht, W. Köln-Wien 1980, 53-94; Bechtold, Klaus: Zunftbürgerschaft und Patriziat.
Studien zur Sozialgeschichte der Stadt Konstanz im 14. und 15. Jahrhundert
(Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 26) Sigmaringen 1981; Panzer, Marita: Sozialer
Protest in süddeutschen Reichsstädten 1485-1525 anhand der Fallbeispiele Regensburg,
Augsburg und Frankfurt a. M. München 1982; Simon-Muscheid, wie Anm. 6.;
zur Rolle der Gesellen in den innerstädtischen Kämpfen in Reformation und Volksbewegung
Bräuer, Helmut: Gesellen im sächsischen Zunfthandwerk des 15. und 16. Jahrhunderts.
Weimar 1989, 153-181.
94
der Umgang mit der jeweiligen Opposition, die zu einem Teil den gleichen
sozialen Kreisen entstammt, und in die zahlreiche „kleine Meister“ eingebunden
sind, muß auf diese äußerst labile Situation Rücksicht nehmen.
Wird der Bogen der Repression überspannt, werden die Gerichtsurteile als
ungerecht, zu hart oder gar parteiisch empfunden, lastet der wirtschaftliche
Druck zu schwer, so hat die (jeweilige) Obrigkeit allen Grund, sich vor
einer Verschwörung aus ihren eigenen Reihen gemeinsam mit der Zunftgemeinde
und je nach Situation auch der Stadtarmut zu fürchten 12. Diese
Verflechtung und die daraus resultierenden Probleme müssen wir uns vor
Augen halten, wenn wir innerstädtische bzw. innerhandwerkliche Konflikte
untersuchen. Ebenso verdient die Tatsache Beachtung, daß sich Opposition
und Protestverhalten in unterschiedlichsten Formen manifestieren,
und daß dem offenen Ausbruch eines Konflikts (den wir z. B. als Arbeitskonflikt
wahrnehmen) eine Reihe von weniger spektakulären, jedoch für
die Eskalation ebenso wichtigen symbolischen und rituellen, verbalen und
nonverbalen „Gesten“ vorausgehen kann13. Dies gilt für alle möglichen
Konfliktebenen und Konstellationen.
Für die einzelnen Meister hat die starke Polarisierung innerhalb des
Handwerks auch zur Folge, daß bereits im Spätmittelalter reiche, teils
zünftige Verleger (ein Widerspruch in sich) , Kaufleute und reiche Meister
einer Masse „kleiner“ Meister innerhalb der gleichen Zunft gegenüberstehen.
Der Gegensatz zwischen „arm“ und „reich“ innerhalb desselben
Handwerks/derselben Zunft kann durch die gegen außen demonstrierte
Einheit mit ihrer symbolischen Repräsentation an Schwörtagen, bei Pro-
12 Endres, Rolf: Zünfte und Unterschichten als Element der Instabilität in den Städten.
In: Revolte und Revolution in Europa, hg. Peter Blickle (HZ Beiheft 4) 1975, 151-
179. Zum „Musterbeispiel“ des Aufstands der Ciompi in Florenz Mollat, Michel und
Wolff, Philippe: Ongles bleus, Jacques et Ciompi. Les revolutions populaires en Europe
aux XIVe et XVe siecles. Paris 1970; Hunecke, Volker: II tumulto dei Ciompi – 600
Jahre danach. Bemerkungen zum Forschungsstand. In: Quellen und Forschungen aus
italienischen Archiven und Bibliotheken 58 (1978) 360-410.
13 Zu Ritualen und Eskalation bei Konfliktverläufen Hanlon, Gregory: Les rituels de
l’agression en Aquitaine au XVIIe siede. In: Annales E. S. C. 40, 2 (1985) 244-268;
Becker, Marvin B.: Changing Patterns of Violence and Justice in Fourteenth- and
Fifteenth-Century Florence. In: Comparative Studies in Society and History 18 (1976)
281-296; Simon-Muscheid, Katharina: Gewalt und Ehre im spätmittelalterlidlen Handwerks
am Beispiel Basels. In: Zeitschrift für Historische Forschung 18 (1991) 1-31 mit
weiterfUhrender Literatur.
95
zessionen, innerhalb und außerhalb der Zunftstube nicht mehr verdeckt
werden14• Im selben Maß polarisieren sich auch die stark divergierenden
Interessen einer kleinen, reichen und expansionsfreudigen „zünftigen Oberschicht“
und die der Masse der „kleinen“ Meister, die ums wirtschaftliche
Überleben und gegen die soziale Deklassierung als Arme kämpfen 15. Wo
Mehrzünftigkeit erlaubt und der Einkauf in mehrere Zünfte nur eine Frage
des Geldes ist, wie z. B. in Basel, gelingt es den reichen Meistern, Produktion
und Handel gleichzeitig in ihren Händen zu konzentrieren und als Angehörige
der „Herrenzünfte“ durch Einkauf in eine Handwerkszunft ihren
politischen Einfluß auf diese auszudehnen. Umgekehrt können sich soziale
Aufsteiger aus den Handwerskzünften in eine vornehme Handelszunft einkaufen,
was ihnen gleichzeitig den Weg zum lukrativen Tuchhandel und
Detailverkauf öffnet. Es erstaunt deshalb nicht, daß unter den wirtschaftspolitischen
Forderungen der proreformatorischen Handwerker die Abschaffung
der Mehrzünftigkeit einen zentralen Platz einnimmt. Dies umso
mehr, als die doppel- und mehrfachzünftigen Handelsherren größtenteils
zum altgläubigen „Establishment“ gehören, gegen das der neue Glaube
14 Zur Verwendbarkeit spätmittelalterlicher Steuerbücher, den Versuchen, mit ihrer
Hilfe Schichtmodelle zu rekonstruieren Dirlmeier, Ulf: Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen
und Lebenshaltungskosten in oberdeutschen Städten des Spätmittelalters,
Mitte 14.- Anfang 16. Jahrhundert (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften)
Heidelberg 1978, 491-531; Maschke, Erich: Soziale Gruppen in der deutschen
Stadt des späten Mittelalters. In: Über Bürger, Stadt und städtische Literatur
im Spätmitelalter, hg. Fleckenstein, Josef und Stackmann, Kar!. Göttingen 1980,
127-145. Obwohl ein solches, i. A. dreistufiges Schichtmodell kompliziert strukturierten
städtischen Gesellschaften niemals gerecht werden, sondern nur andeuten kann, wie
weit voneinander entfernt „arm“ und „reich“ sind, läßt sich dennoch eine enorme Diskrepanz
innerhalb desselben Handwerks/derselben Zunft feststellen, die von Nachlaßund
Beschlagnahmeinventaren vollauf bestätigt wird.
15 Die üblichen Beschwerden an das Ratsregiment enthalten Klagen über die schlechte,
nie offen dargelegte Finanzpolitik, unsoziale Maßnahmen zur städtischen Schuldentilgung
und zur Finanzierung von Kriegszügen und Territorialpolitik durch die Erhebung
direkter bzw. die Einführung indirekter Verbra.uchssteuern, Münzmanipulationen (de
fa.cto Münzverschlechterungen) etc. „Cliquenwirtschaft“, politische Ausschaltung der
(Zunft-)Gemeinde, gewerbliche Schikanen sowie Rechts- und Verfassungsverletzungen
werden angeprangert: Barth, v. Looz-Corswarem, Simon-Muscheid, wie Anm. 6. Ein
Teilnehmer am gescheiterten Basler Aufstandsversuch von 1402 soll sogar gesagt haben:
die richen hand ir ka$ten und kelre ge.fiillet und wellencz nu machen al􀁔 $i wellen; hülffe
im boz grinde, man wölte $i eygen machen, Simon-Muscheid 331.
96
eine neue Legitimationsbasis und wirksame wirtschafts- und religionspolitische
Argumente bietet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß
die proreformatorischen Weber und andere Anwohnerinnen und Anwohner
(Bauhandwerk, Gärtner, Transportarbeiter) der armen Vorstädte mit den
aufständischen Bauern des Sisgaus sympathisieren und daß das Gerücht
umgeht, die Einwohner der Vorstädte unter Anführung der Weber hätten
sich verschworen, den aufrührerischen Bauern das Stadttor zu öffnen. Die
Reaktion der Obrigkeit zeigt deutlich, daß sie die Möglichkeit einer solchen
Allianz durchaus nicht auf die leichte Schulter nimmt16 .
Als Folge von Verschuldung oder bestimmten Verpflichtungen geraten
bereits im Spätmittelalter selbständige Meister zunehmend in die Abhängigkeit
einer neuen „zünftigen Oberschicht“ . Solche Abhängigkeiten
können sich direkt in Form finanzieller Verschuldung niederschlagen, durch
ein Darlehen beim Ankauf von Rohmaterial oder Vieh, oder versteckter,
indem die „Patrons“ z. B. die Bezahlung von Steuern ärmerer Meister, die
selbst kaum über Bargeld verfügen, übernehmen und sie dadurch an sich
binden. Auch andere Gefalligkeiten wie Protektion vor Gericht, Abgabe
von Rohmaterial, vermittelte oder gemeinsam getätigte Geschäfte, Heiratsverbindungen
etc. tragen dazu bei, vertikale Solidaritäten in Form von
Klientelstrukturen innerhalb des Handwerks zu schaffen und festigen, auf
die die „Patrons“ sich in Konflikten mit ihresgleichen und mit der Obrigkeit
stützen können 17. So manifestieren sich bereits im Spätmittelalter
unter dem Begriff „Meister“ sehr unterschiedliche Lebensrealitäten und
-perspektiven, vom „Patron“ an der Spitze einer klientelartig strukturierten
Anhängerschaft, über den Handwerksmeister der „Zunftgemeinde“ mit
begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten bis zum anhängigen verlegten
16 Guggisberg, Hans-Rudolf und Füglister, Hans: Die Basler Weberzunft als Trägerin
reformatorischer Propaganda. In: Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert, hg. Möller,
Bernd (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 190) Gütersloh 1978, 48-56;
Ehbrecht, Wilfried: Verlaufsformen innerstädtischer Konflikte in nord- und westdeutschen
Städten im Reformationszeitalter. In: ebd. 27-47; mit erweitertem Konfliktbegriff
Mörke, Olaf: Der „Konflikt“ als Kategorie städtischer Sozialgeschichte der Reformationszeit.
Ein Diskussionsbeitrag am Beispiel der Stadt Braunschweig. In: Beiträge zum
spä.tmittelalterlidJ.en Städtewesen (Städteforschung A 7) hg. Stoob, Heinz. Köln-Wien
1982, 144-161, bes. 147 f.; Bräuer, wie Anm. 11.
17 Diese zunftinternen Abhängigkeitsverhältnisse treten erst im Konfliktfall mit der
Obrigkeit ans Licht, die sie als Verstoß gegen die elementarsten Zunftprinzipien ahndet
und – meist – vergeblich aufzubrechen sucht.
97
Meister, dessen Stellung sich nur nominell von der eines Gesellen unterscheidet.
Zur Konfrontation ganzer Zünfte (Gewerbe) mit städtischen Obrigkeiten
führen Eingriffe in die wirtschaftlichen Handlungsräume wie Preisund
Qualitätskontrollen, die Einführung neuer Steuern und sonstige Beschränkungen,
die als Dauerkonflikte über Generationen hinweg geführt
werden und die Obrigkeit in Atem halten oder – wenn sich genügend Konfliktpotential
angehäuft hat – Anlaß zu innerstädtischen Unruhen bieten.
Auf Eingriffe in diesem Bereich reagieren Lebensmittelzünfte geschlossen
unter dem Druck ihrer „Pressure-groups“ , d. h. „Patrons“ , „kleine Meister“
und Gesellen bilden gemeinsam eine Front gegen die Obrigkeit, wobei
auch die Zünfte durch Streiks ihre Forderungen durchzusetzen oder die
Obrigkeit zur Rücknahme ihrer Bestimmungen zu zwingen suchen. Besonders
spektakulär sind solche Aktionen der Müller, Bäcker und Metzger/
Viehhändler, die in solchen Fällen eine künstliche Verknappung der Lebensmittel
hervorrufen, wodurch sie sich den Zorn der betroffenen Bevölkerung
und der Obrigkeit gleichzeitig zuziehen. In den Zunftstädten verfügen
sie jedoch im allgemeinen über genügend Einfluß und Anhängerschaft,
um die jeweilige Obrigkeit, mit der sie selbst versippt und verschwägert
sind, wenn nicht zum Nachgeben, so doch zu weitgehendem Verzicht auf
Sanktionen zwingen zu können 18. Als letzte Möglichkeit, ihren Widerstand
zu brechen, bleibt der Obrigkeit die Drohung, Landhandwerkern
(bzw. Landmetzgern, fremden Bäckern etc.) die Stadt zu öffnen oder
fremde, außerhalb der Zunft- und Klientelstrukturen stehende, „freie“
Handwerker anzusiedeln und mit speziellen Privilegien auszustatten.
Loyalitätskonflikte sind dort zu erwarten, wo die zünftigen „Pressure-
18 In Nürnberg sollen die Metzger die Patrizierherrschaft „gerettet“ und in Zürich eine
„Mordnacht“ verhindert haben; Metzger finden sich auf Seiten der Ratspartei und an
der Spitze von Aufständen bzw. Aufstandsversuchen; Metzgerstreiks sind für zahlreiche
Städte nachzuweisen, Brandt, Ahasver v.: Die Lübecker Knochenhauer Aufstände
von 1380/84 und ihre Voraussetzungen. In: Zeitschrift des Vereins für lübeckische Geschichte
und Altertumskunde 39 (1959) 123-202; Favier, Jean: Nouvelle Histoire de
Paris. Paris au XVe siede, 1380-1500. Paris 1974; Wolff, Philippe: Les bouchers de
Toulouse du XIIe au XVe siede. In: Regards sur le Midi medieval. Toulouse 1978, 107-
124; Dauerkonflikt zwischen Obrigkeit und Metzgerzunft als Machtprobe, zunftinterne
Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, Protestformen und – als besonders gefährliche
Allianz für die städtische Obrigkeit – Aufstandsversuch mit Hilfe eines adeligen „Erbfeindes“
Simon-Muscheid, wie Anm. 6, 97-154 und 267-291.
98
groups“ gleichzeitig im Rat als Teil der Obrigkeit über einschneidende
Maßnahmen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik beschließen, mit deren
Auswirkungen sie in ihrer Eigenschaft als „Patrons“ an der Spitze der
Zünfte konfrontiert werden. In solchen Fällen zeigt sich, daß die Obrigkeit
den verbalen und nonverbalen Provokationen der zünftischen Opposition,
ihren ostentativen Verstößen gegen die Zunftordnungen und ihrer offenen
Weigerung, den obrigkeitlichen Bestimmungen nachzukommen, recht hilflos
gegenübersteht, zumal wenn sich die „Patrons“ mit ihrer eigenen Zunft
und nicht mit dem Rat, dessen Mitglieder sie sind, identifizieren, wie sich
dies exemplarisch am Beispiel der Basler Metzgerzunft zeigen läßt.
Spen und irrunge oder nyd und blast brechen auf zwischen Zünften,
deren Arbeitsgebiete sehr eng miteinander verbunden sind, und deren
Kompetenzen peinlich genau von der Obrigkeit geregelt werden müssen.
Konfiiktfelder sind vorprogrammiert, wo zwei oder mehrere solcher eng
verwandter Handwerke zu einer gemeinsamen Zunft verbunden werden,
besonders wenn zwischen ihnen ein starkes soziales, wirtschaftliches oder
auch bloß numerisches Gefälle existiert. Gegenseitige Boykottmaßnahmen
(keine Abnahme von Rohmaterial und keine Weitervermittlung innerhalb
des Handwerks), beschlossen, durchgesetzt und überwacht von den einflußreichen
Meistern, werden auf Kosten der „kleinen Meister“ ausgetragen,
die auf diese Weise in den Konflikt zwischen ihren jeweiligen „zünftigen
Oberschichten“ selbst hineingezogen werden. In solchen Situationen
wird die Obrigkeit als „neutrale Instanz“ von den Konfliktparteien als
Schiedsrichter angerufen, während sie in anders gelagerten Konflikten von
beiden gemeinsam als Gegner bekämpft wird, so z. B . in den zahlreichen
Steuerrevolten.
Zu den Problemen, die ganze städtische Zünfte/Handwerke, d. h. Meister,
Meisterinnen und Gesellen gleichermaßen tangieren, gehört die Abwehr
der Konkurrenz. Es sind dies Mönche und Nonnen, Beginen, Störer,
Landhandwerker, jüdische Metzger, Verleger, nach der Reformation je
nach Region Angehörige der „unterlegenen“ Konfession, die „Walchen“
etc., wobei die gewalttätigen Aktionen gegen diese verschiedenen Konkurrentinnen
und Konkurrenten oft von den Gesellen ausgeführt werden – dies
allerdings ganz im Sinne der Meisterschaft, wenn auch nicht unbedingt im
Sinne der Obrigkeit. Auch bietet die Reformation den Handwerkern endlich
die lange ersehnte Gelegenheit, ihre wirtschaftspolitischen Anliegen
auf eine zeitgemäße, religionspolitische Argumentationsebene zu heben,
um die Konkurrenz aus Klosterhandwerk und Beginenstand loszuwerden.
99
Neben der Schar der Meister, die in irgendeiner Form in Abhängigkeit
der „Großen“ geraten sind, vermehrt sich· auch die Anzahl der Gesellen,
deren Chance auf eine Meisterstelle seit dem 15. und erst recht dem
16. Jahrhundert immer mehr schwindet. Wie die Meister so zerfallen
jedoch auch die Gesellen, die nur gegen außen als Einheit mit standesspezifischen
Interessen auftreten, in unterschiedliche Gruppen mit ebenso
unterschiedlicher Lebensperspektive, was die Chancen auf eine Meisterstelle
anbelangt. Ein immer geringerer Teil kann sich als Meister ins
städtische Wirtschafts- und Sozialgefüge integrieren. Für die übrigen werden
gezwungenermaßen verlängerte Wanderschaft, Ausweichen aufs Land,
„Schwarzarbeit“ als Pfuscher, lebenslänglicher Gesellenstand und (als Ausbruchsmöglichkeiten)
„Reislaufen“ nach obrigkeitlich geregelter Anwerbung
oder spontan gegen den Willen der Obrigkeit zu perspektivelosen
Alternativen19. Gleichzeitig bilden die Gesellen mehrheitlich einen Teil der
ledigen männlichen Jugend mit eigenen Verhaltensmustern, Codes und Ritualen.
Diese bringen sie häufig in Konflikt miteinander und – als Folge davon
– in Konflikt mit obrigkeitlichen N ormen20. Wie für die Meisterschaft
läßt sich auch für die Gesellen feststellen, daß Norm und Lebensrealität
immer weiter auseinanderdriften. Dies wirkt zurück auf Selbstverständnis
und Konkurrenzverhalten der Gesellen. „Aufgebrochen“ wird die Einheit
der Gesellen zusätzlich durch die seit dem Spätmittelalter zunehmende
Anzahl verheirateter Gesellen, was zwischen den unverheirateten
und den verheirateten eine weitere Konfliktlinie im Konkurrenzkampf bildet.
Nicht unterschätzt werden dürfen auch die regionalen bzw. nationalen
Antagonismen, die in normalen Zeiten in relativ harmlosen Formen ausge-
19 Reininghaus, wie Anm. 2; Schulz, Knut: Handwerksgesellen und Lohnarbeiter.
Untersuchungen zur oberrheinischen und oberdeutschen Stadtgeschichte des 14. bis
17. Jahrhunderts. Sigmaringen 1985; Wesoly, Kurt: Lehrlinge und Handwerksgesellen
am Mittelrhein. Ihre soziale Lage und ihre Organisation vom 14. bis ins 17. Jahrhundert.
Frankfurt/Main 1985; Bräuer, wie Anm. 11, mit weiterführender Literatur.
20 Zum „jugendspezifischen“ Verhalten der Gesellen als weiteres Konfliktfeld und zu
Verstößen gegen die Normen von Meistern (Meisterhaushalt) und Obrigkeit Muchembled,
Robert: Die Jugend und die Volkskultur im 15. Jahrhundert. Flandern und
Artois. In: Dinzelbacher, Peter und Mück, Hans-Dieter: Volkskultur des europäischen
Spätmittelalters. Stuttgart 1987, 35-58; Jaritz, Gerhard: Kriminalität – Kriminalisierung.
Zum „Randgruppenverhalten“ von Gesellen im Spätmittelalter. In: Jahrbuch
für Regionalgeschichte und Landeskunde 17/II (1990) 100-113; Simon-Muscheid, wie
Anm. 13.
100
spielt werden, in Kriegszeiten und andern Krisensituationen jedoch auch
in Handwerkerkreisen weiteren Zündstoff liefern und die Gesellen spalten.
Die üblichen Provokationen und Ehrverletzungen werden dadurch auf eine
„politische“ Ebene transponiert, bis dann z. B. die französischsprechenden
“Walchen“ als Konkurrenten nicht mehr geduldet werden21 . Zu erwähnen
bleiben die potentiellen Konfliktfelder zwischen Gesellen und Lehrlingen,
die zu Konkurrenten werden, sobald ein Meister es vorzieht, lieber durch
billigere Lehrlinge Gesellenarbeit verrichten zu lassen. Da solche Übergriffe
weder von den einzelnen betroffenen Gesellen noch von ihrer „Standesorganisation“
geduldet werden, sind in solchen Fällen Konflikte zwischen
Gesellenorganisationen und Meistern vorprogrammiert22 .
Daß sich im Laufe des 1 5 . und 16. Jahrhunderts die Lage der Handwerksgesellen
insgesamt merklich verschlechtert, ist in neueren Untersuchungen
zur Gesellenproblematik deutlich herausgearbeitet worden. Wie
schon erwähnt, wird der „klassischen“ Konfrontation zwischen Gesellen
und einer privilegierten Meisterschaft als Vorläufer der Arbeiterbewegung
von Seiten der Forschung besondere Aufmerksamkeit zuteil. Dabei wird die
„horizontale“ Dimension von Gesellenkonflikten ausgeblendet, die Auslöser
für Konflikte „vertikaler“ Art bilden können.
Latente Rivalitäten bzw. schwelende Konflikte zwischen Gesellen verschiedener
Handwerke/Zünfte oder innerhalb brechen aus, sobald die empfindliche
Balance von Ehre und Sozialprestige gestört wird, „traditionelle“
Feindschaften zwischen einzelnen Handwerken eskalieren regelmäßig
zu bandenmäßigen nächtlichen Gewalttätigkeiten, die sich immer wieder
neu entzünden und sich trotz obrigkeitlicher Eingriffe über Jahre hinweg
ziehen können. Werden Gesellen dabei verhaftet, so kann es geschehen,
daß sich ihre Meister für sie vor dem Rat für ihre Freilassung einsetzen
und für sie Bürgschaft leisten23 . Hier verläuft die Konfliktlinie nicht in
21 Schulz, wie Anm. 19, 286 ff. über die „zunehmende Abwehrhaltung“ der Zünfte am
Oberrhein gegenüber den Welschen um die Mitte des 16. Jahrhunderts und die heftigen
Auseinandersetzungen zwischen den rheinischen und den schwäbischen Weißgerbern
innerhalb des Weißgerberbundes über die Zulassung welscher Lehrlinge und Gesellen.
22 Zu den Konflikten im Meisterhaus Wesoly, wie Anm. 19, 1 19-133; Griessinger, Andreas
und Reith, Reinhold: Lehrlinge im deutschen Handwerk des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
Arbeitsorganisation, Sozialbeziehungen und alltägliche Konflikte. In: Zeitschrift
für Historische Forschung 13/2 {1986) 149-199.
23 Zu „jugendspezifischem“ Verhalten, bandenmäßigen „Abrechnungen“ zwischen Gesellen
und der „Ventilfunktion“ nächtlicher Aktionen vgl. Anm. 20.
101
den „klassischen“ Bahnen, d. h. zwischen Meistern und Gesellen, sondern
zwischen den Meistern und der strafenden· Obrigkeit, die ihnen ihre Arbeitskräfte
vorenthält, indem sie ihre Gesellen ins Gefängnis schickt oder
aus der Stadt verbannt.
Ist schon der individuelle Ehrbegriff24 stark ausgeprägt und Anlaß zu
zahlreichen gewalttätigen Auseinandersetzungen, so gilt dies für die kollektive
Ehre einer Gesellenbruderschaft z. B. umso mehr. Zu verweisen
ist hier auf den spektakulären Konflikt der Colmarer Bäckerknechte um
ihren besonders prestigeträchtigen Platz in der Prozessionsordnung, der
1495 ausbricht. Dieser außergewöhnliche Fall durchläuft in mustergültiger
Weise, wie sonst kaum einer, alle Eskalationsstufen beginnend als „horizontaler“
Konflikt, bis er dann in seiner „vertikalen“ Phase zehn Jahre lang
die Obrigkeiten der Stadt Colmar und der übrigen oberrheinischen Städte
in Atem hält. Den Anlaß dazu bildet die verletzte Ehre der Bäckerbruderschaft,
die sich durch ihre kostbaren Kerzen das Recht erworben hat, bei
der Fronleichnamsprozession den Ehrenplatz direkt vor und hinter dem Sakrament
einzunehmen. Verdrängt werden sie aus ihrer Position durch die
noch reicheren Kerzen der Baderknechte. Weder der Kauf neuer Stangenkerzen
noch die Petition des Stadtrats zu ihren Gunsten an die Stiftsherren
von Sankt Martin bringt den Bäckerknechten ihre verlorene Ehrenposition
in der Rangfolge der Prozession zurück, worauf sie mit gekränkter
Ehre die Stadt – nicht durch das bewachte Stadttor, sondern durch einen
Mühlekanal – verlassen. Der Stadtrat erklärt sie deswegen für eidbrüchig,
die Bäckergesellen ihrerseits das Vorgehen des Rats für rechtswidrig, worauf
der Streit zu einem zehnjährigen Konflikt mit Streiks vertikal eskaliert
und weitere Kreise involviert: Die Bäckermeister greifen zugunsten ihrer
Gesellen ein, der Stadt drohte eine Versorgungskrise, die Gesellen lehnen
alle Komprornißvorschläge der Obrigkeit aufgrund ihrer verletzten Ehre ab
und appellieren schließlich an das königliche Hofgericht in Ensisheim und
später an das Reichskammergericht in Frankfurt. „Horizontal“ werden auf
Gesellenebene die Bäckergesellen der übrigen oberrheinischen Städte ein-
24 Zur Problematik von „Ehre“ Berger, Peter: On the Obsolescence of the Concept
of Honour. In: European Journal of Sociology 9 ( 1970) 339-347; Griessinger, Andreas:
Das symbolische Kapital der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewußtsein
deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert, Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1981;
Dinges, Martin: Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte. Eine Semantik im Übergang
vom Ancien Regime zur Moderne. In: Zeitschrift für Historische Forschung 16/4 (1989)
409-440.
102
bezogen, denen ihre Colmarer Kollegen Verhaltensanweisungen schicken,
und auf der Ebene der Meister führt der Konflikt zu einer hektischen Korrespondenz
mit Anweisungen zum Umgang mit den eigenen Bäckerzünften.
Erst nach zehn Jahren setzt ein Schiedsgericht des Herrn von Rappoltstein
deutlich zugunsten der Gesellen dem Streit ein Ende25.
Konfliktpartner der Gesellen sind je nachdem die Kollegen aus dem
eigenen oder einem fremden Handwerk, die einheimischen bzw. fremden
Gesellen, ein einzelner Meister, die Meistersfrau, die ganze Zunft bzw.
das gesamte Handwerk, die städtische Obrigkeit, eine Allianz verbündeter
Städte (z. B. die verbündeten und miteinander korrespondierenden schweizerischen,
elsässischen und schwäbischen Städte), der Landesherr oder im
Gebiet der schweizerischen Eidgenossenschaft – die Tagsatzung. Dabei
werden die verschiedenen Gerichtsinstanzen geschickt genutzt und gegeneinander
ausgespielt (z. B . Meister gegen Obrigkeit, d. h. das zünftische
Gericht gegen das Ratsgericht) , Schiedsurteile abgelehnt und nächsthöhere
Instanzen außerhalb der städtischen Gerichtsbarkeit angerufen, wie das
Colmarer Beispiel zeigt.
Daß sich diese Entwicklung jedoch direkt auf die Arbeitsmöglichkeiten
der Frauen und die Bewertung der Frauenarbeit allgemein (nicht nur auf
die männlichen Störer) auswirkt, wird dabei von der Handwerksforschung
höchstens am Rande zur Kenntnis genommen. Das ganze Untersuchungsfeld
der Frauenarbeit im Handwerk ist weder mit dem Hinweis auf Witwenrecht
noch mit dem Prozeß der Verdrängung aus der Sphäre der „highstatus-
labor“26 abgeerntet, denn eine Absicherung auf normativer Ebene
entspricht noch lange nicht der Praxis, und der Bereich von „high-statuslabor“
ist ohnehin weit entfernt von der Lebens- und Arbeitsrealität ärmerer
Frauen im Handwerk. Nicht zu übersehen ist, daß bereits während
des 15. Jahrhunderts, spätestens jedoch mit der Reformation verschiedene
Faktoren zusammenwirken, die zum vordergründigen „Verschwinden“ der
Frauen aus Zunft und Handwerk führen. Einmal abgesehen von konjunkturellen,
regionalen und temporären Unterschieden lassen sich die folgenden
Tendenzen beobachten: Ausweitung der handwerklich/zünftig kontrollierten
Produktion auf bis anhin „freie“ Bereiche der Frauenarbeit, Einschränkung
des Witwen- und Töchterrechts, Formalisierung und Professio-
25 Schulz, wie Anm. 19, 110-116; Schanz, Georg: Zur Geschichte der deutschen Gesellen-
Verbände. Leipzig 1877, 78-92.
26 Siehe die in Anm. 7 angeführte Literatur.
103
nalisierung von Arbeitsabläufen nach zünftig-patriarchalisch strukturierten
Normen, Ausbildung und Internalisierung einer „männerbündischen“
Ideologie, die Frauen aus der männlichen Domäne (Zunft/Handwerk) auszugrenzen
suchen. Dies geschieht unter anderem dadurch, daß die (männliche)
Handwerksehre – in praxi die wirtschaftliche männliche Existenz –
nicht mehr nur mit Unehrlichkeit und Unehelichkeit, sondern auch mit
der Präsenz von Frauen in der Werkstatt verknüpft wird, in dem Sinn,
daß gemeinsame Arbeit mit Frauen bzw. mit Kollegen, die mit Mägden
zusammen gearbeitet und Meistern, die Frauen ausgebildet haben, unehrlich
macht27. Der Widerstand der Frauen manifestiert sich weniger in
spektakulären Aktionen als in individuellem und kollektivem zähen Ringen
um ihre alten Arbeitsbereiche und in den weniger stark normierten
„Grauzonen“ von Zunft und Handwerk. Wie die Männer argumentieren
die Frauen geschickt mit ihrem „alten Recht“, das in ihrem Argumentationszusammenhang
allerdings eine andere Bedeutung erhält als in der
Argumentation der Zünfte. Durch offizielle Bittschriften an den Stadtrat
mit dem Hinweis auf ihre drohende Verarmung, falls ihnen ihr angestammtes
Tätigkeitsfeld entzogen würde, und „Schwarzarbeit“ suchen sie ihren
Platz am Rande des Handwerks zu behaupten, wobei Petitionen und Bestrafung
wegen Schwarzarbeit wohl nur die Spitzen des Eisbergs bilden.
Vermehrt sollte deshalb den Tätigkeitsfeldern, die sich Frauen am Rande
und außerhalb von Zunft und männerdominiertem Handwerk erschließen
müssen, Aufmerksamkeit geschenkt werden. Es reicht nicht, zu konstatieren,
daß auch die Frauen, die „high-status-labor“ verrichten, d. h. via
Familienverbindungen in Handelsbeziehungen und Marktproduktion eingebunden
sind, aus ihren Positionen verdrängt werden28. Die Frage, wie
die ärmeren, in unteren und untersten Rängen von Zunft und Handwerk
abhängigen Frauen, die nach zünftigen Normen „ungelehrten“ Ehefrauen,
Witwen, Töchter und Schwestern, zunehmend jedoch auch die „ausgebilde-
27 Allein schon die Tatsache, daß ein Meister Mägde beschäftigt, oder daß er die Privilegien,
die gerade noch den eigenen Töchtern eines Meisters zugestanden werden, auf
seine Stieftöchter zu übertragen wagt, gefährdet die Ehre der Gesellen und führt zu einem
längerfristigen Konflikt zwischen Meister und Gesellen einerseits und dem „fehlbaren“
Meister anderseits, Rippmann/Simon-Muscheid, wie Anm. 7, 66 f. und Anm. 13.;
Reith, Reinhold: Arbeits- und Lebensweise im städtischen Handwerk. Zur Sozialgeschichte
Augsburger Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert ( 1700-1806) (Göttinger
Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 14) Göttingen 1988, 167 f., 175 f., 197 f.
28 Zu „high-status-labor“ Wensky und Howell, wie Anm. 7.
104
ten“ Lehrtöchter und Mägde von den neuen bzw. aus alten Zunftordnungen
wieder zum Leben erweckten Restriktionen existentiell betroffen werden,
ist damit noch nicht beantwortet. Nach N. Davis kennzeichnet die auf
„informell“ erworbenen Berufskenntnissen beruhende, weniger stark ausgebildete
„Berufsidentität“29 kombiniert mit hoher Flexibilität weite Bereiche
der Frauenarbeit im Unterschied zur „regulären“ Ausbildung durch die
Zunft. Dies macht Frauen zwar zu idealen „Konjunkturpuffern“ in wirtschaftlich
guten Zeiten, denn sie verfügen über die nötigen Fähigkeiten,
zugleich aber auch zu Konkurrentinnen, gegen die Meister und Gesellen
gemeinsam vorgehen, sobald sich die Lage verschlechtert. Die Dehnbarkeit
zünftiger Normen und – umgekehrt – ihre Reaktivierbarkeit, wenn es gilt,
sich der (weiblichen) Konkurrenz wieder zu entledigen, gehören somit auch
als Konfliktfelder zur Frauenarbeit in Zunft und Handwerk30 .
Das lie􀉔gewordene Bild des männlichen Haushaltvorstandes, dessen
Lohn zum Uberleben der Familie ausreicht – wenn auch nur knapp -,
trübt hier vielleicht doch den Blick für die existentielle Notwendigkeit der
Frauen(lohn)arbeit und die Konflikte, die sich aus diesen Situationen ergeben
müssen. Die Verdrängung der Frauenarbeit aus dem Handwerk
bedeutet somit keineswegs den „Rückzug in die Familie“ im Sinne der
bürgerlichen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, sondern eine Verlagerung
der weiblichen Tätigkeitsbereiche z. B. an den Rand der handwerklich kontrollierten
Produktion, in „unqualifizierte“, d. h. nicht den handwerklichen
Normen (Ausbildung, Qualität) entsprechende, schlechter entlöhnte Bereiche,
„halblegale“ Arbeit in einer mehr oder minder tolerierten Grauzone
oder eigentliche „Schwarzarbeit“ , für die die fehlbaren Frauen entsprechend
bestraft werden. Konflikte um Frauenarbeit im Handwerk sind zudem
mit einer eigenen Polemik aufgeladen, wobei das simple Problem der
weiblichen Konkurrenz und der latenten Frauenfeindschaft durch hand-
29 Davis, Natalie Z., wie Anm. 7, zur frauenspezifischen Arbeitssituation: „That fiexibility
was prepared for by the girls‘ relatively informal training and was maintained by
some of the other features of female life we have considered: weak connection with organizational
structures in shop and craft, relatively weak work identity, and high identity
as a member of a family and neighborhood“.
30 Simon-Muscheid und Rippmann/Simon-Muscheid, wie Anm. 7, zu ihrer Auswirkung
auf die Frauenarbeit im Handwerk; Sosson, Pierre: Les metiers: Norme et realite.
L’exemple des anciens Pays-Bas meridionaux aux XIVe et XVe siecles. In: Le travail
au moyen ä.ge. Une approche interdisciplinaire, bg. Hamesse, Jacqueline und MurailleSamaran,
Colette. Louvain-la-Neuve 1990, 339-348.
105
werksspezifische, auf dem ohnehin schon empfindlichen Ehrbegriff basierende
Codes sublimiert werden.
FAZIT
Gegenstand der vorausgehenden Uberlegungen sind die unterschiedlichen
Konfliktkonstellationen im Handwerk, die sich mit dem antagonistischen,
vom modernen Klassenbegriff inspirierten „Meister-Geselle-Modell“ nicht
in ihrer ganzen Komplexität fassen lassen. Konfliktlinien durchziehen das
gesamte Handwerk, die gesamte Zunft; sie verlaufen zwischen den einzelnen
„Ständen“ , die in solchen Fällen als geschlossene Gruppe ( „die
Zunft“ , „die Meister“ , „die Gesellen“, „die Obrigkeit“ etc.) auftreten und
auch „Standesinteressen“ vertreten. Konfliktlinien existieren jedoch auch
innerhalb solcher „Einheiten“, entlang deren die gruppeninternen Antagonismen
aufbrechen („arm“ und „reich“, Zunftvorstand-Zunftgemeinde,
fremd-einheimisch etc.).
Was die Konfliktkonstellationen anbelangt, so rücken wir je nach Fragestellung
und Blickwinkel, unter denen wir diese Konflikte analysieren,
andere Allianzen und Konfliktlinien in den Vordergrund und lösen dafür
die Vorstellung von festgefügten, antagonistischen Interessensgruppen auf.
Aus den unterschiedlichen Interessenskonstellationen und – nicht zu vergessen
– dem sozialen, wirtschaftlichen und politischen Machtgefälle sowohl
zwischen den einzelnen „Ständen“ bzw. Zünften als auch innerhalb resultiert
eine Vielfalt möglicher „Bündnispartner“. Diese können mit den klar
definierbaren „Standes“- bzw. „Handwerkssolidaritäten“ identisch sein, sie
können jedoch ebenso auf Interessenskonstellationen über die „klassischen“
Grenzen hinweg auf Alter, Sozialstatus, Handwerk (nicht unbedingt identisch
mit Zunft), Religionszugehörigkeit, Herkunft (gemeinsamer Sprache
bzw. Dialekt) und Geschlecht basieren.
Dynamik und Intensität eines Konfliktverlaufs beeinflussen die Konfliktkonstellationen
und umgekehrt. Dies kann als „horizontale“ und „vertikale“
Eskalationen geschehen, d. h. als Einbezug weiterer bis anhin nicht
involvierter Kreise, die als zusätzliche Verbündete, neue Konfliktpartner
oder höhere Instanz die existierenden Koalitionen erweitern und dadurch
dem Konflikt zu einer neuen „Qualität“ verhelfen. Ob ein Konflikt, der
zwischen zwei Individuen oder Gruppen mit dem gleichen Sozialstatus begonnen
hat, eskaliert – „vertikal“ oder „horizontal“ – hängt von verschiedenen
Faktoren ab, nicht zuletzt von der Machtkonstellation der Beteiligten,
ihren wirtschaftlichen oder machtpolitischen Interessen, ihrer Ehre,
106
dem Geschick eines Schiedsgerichts und dessen Akzeptanz bei den Konfliktparteien:
Stehen sich z. B. zwei Zünfte als Kontrahenten in einem gewerblichen
Kompetenzkonflikt gegenüber, so ist die Chance groß, daß der
Konflikt durch ein obrigkeitliches Schiedsgericht beigelegt werden kann.
Denn in solchen Situationen wird die Obrigkeit als über den Konfliktparteien
stehende, „unabhängige“ Instanz akzeptiert, deren Urteilsspruch das
Recht herstellt, sofern er nicht mit einem „Gesichtsverlust“ für die eine
Partei verbunden ist. Eine völlig andere Qualität kommt dem erwähnten
Colmarer Bäckerkonflikt zu, der entsprechend anders verläuft und in beide
Dimensionen eskaliert. Während in Extremfällen, sozusagen am obersten
Ende der „Eskalationsskala“ , einzelne Handwerker sogar das Westfälische
Femegericht gegen „die Stadt“, die sie (in ihrer Wahrnehmung) beleidigt
hat, mobilisieren, so finden sich an deren unterstem Ende Nachbarschaftsstreitigkeiten
zwischen Individuen und Zünften sowie zwischen Zünften.
Als „Konflikte von geringer Intensität“ werden sie so lange nur in Form
von gegenseitigen Schikanen ausgetragen, bis die eine Partei absichtlich
einen Prozeß provoziert, um dem latenten Konflikt durch eine Gerichtsverhandlung
Publizität und somit auch eine neue Dimension zu verschaffen.
„Der Obrigkeit“ obliegt es auch hier, Recht zu setzen, ohne neue
Konfliktmöglichkeiten zu schaffen. Hat sich jedoch genügend Konfliktpotential
gegen „die Obrigkeit“ bei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen
angesammelt, schließen sich diese zu Zweckbündnissen gegen sie zusammen.
Die Analyse städtischer Aufstände und die von der zünftigen Opposition
vorgebrachten Beschwerden lassen erkennen, daß durchaus auch
ein zünftig besetzter Rat als „feindliche Obrigkeit“ wahrgenommen – und
entsprechend behandelt wird.
Was die Dauer solcher Bündnisse anbelangt, so hängt diese nicht
nur von der Homogenität einer Allianz ab und den gemeinsamen Interessen,
die sie zusammenhalten, sondern auch vom Druck, den sie auf
ihre Mitglieder ausüben kann, und dem, der von außen auf sie ausgeübt
wird. Resistenz gegen Spaltungsversuche, obrigkeitliche Drohungen bzw.
Versöhnungsangebote erreichen z. B. die „Patrone“ der Metzgerzünfte bei
kollektiven Aktionen durch strikte Kontrolle und Druckausübung auf ihre
Mitglieder. Von dem breiten Spektrum kürzer- oder längerfristiger „Zweckbündnisse“,
die auseinander brechen, sobald das Ziel erreicht ist, oder schon
vorher, wenn der Erfolg zu lange auf sich warten läßt, unterscheiden sich
die dauerhaften Allianzen, die durch die Verteidigung gemeinsamer, grundsätzlicher
Interessen zusammengehalten werden, und deren ‚frägerschaft
107
über Generationen, wenn nicht sogar Jahrhunderte hinweg, eine stabile
Konstellation bildet. „Vorprogrammiert“ sind z. B. die bekannten Dauerkonflikte
zwischen den gesamten Lebensmittelzünften und der Obrigkeit,
während bei den innerstädtischen Auseinandersetzungen (Sturz des Rats,
Steueraufstände etc.) mit sozial stark heterogenen, nur kurzlebigen Allianzen
zu rechnen ist, die Teile des Patriziats, der Zünfte und der Stadtarmut
einschließen.
Ein Konfliktkonzept, das sowohl die „klassischen“ und die geschlechtsspezifischen
Antagonismen im Handwerk als auch die Klientelstrukturen
und die rasch ändernden Konfliktkonstellationen innerhalb der städtischen
Gesellschaft, in denen das Handwerk/die Zunft nur die eine Ecke im Kräfteparallelogramm
bildet, berücksichtigen will, muß flexibel sein. Es braucht
dazu einen Konfliktbegriff, der „horizontale“ und „vertikale“ Konfliktdimensionen
unterscheidet, jedoch nicht als statische, einander ausschließende
Kategorien, sondern fließende Übergänge, Überlagerungen, Eskalationen
in beide Richtungen, Dynamik und wechselnde Intensität impliziert.
108
Krems 1992
MEDIUM
AEVUM
QUOTIDIAN UM
27
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramer
Satz und Korrektur: Birgit Kar! und Gundi Tarcsay
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der materiellen
Kultur des Mittelalters. Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich. – Für den
Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche Zustimmung jeglicher
Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: KOPITU Ges. m . b. H.,
Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7
STEPHAN J. TRAMER, Zum neuen ‚Gesicht‘ von „Medium
Aevum Quotidian um“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
WOLFGANG SCHILD, Der griesgrimmige Löwe als Vor-Bild
des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1
VERENA WINIWARTER, Landwirtschaftliche Kalender im
frühen Mittelalter. Überlegungen zum Fortleben antiken
Bildungsgutes und zu seinen Funktionszusammenhängen . . . . . . . . . 33
JÜRG ZULLIGER, Bernhard von Clairvaux als Redner . . . . . . . . . . . . . 56
KATHARINA SIMON-MUSCHEID, Konfliktkonstellationen im
Handwerk des 14. bis 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
KOMMUNIKATION ZWISCHEN ÜRIENT UND ÜKZIDENT.
ALLTAG UND SACHKULTUR
Kurzfassungen der Kongreßreferate
RALPH-JOHANNES LILIE, Die Handelsbeziehungen zwischen
Byzanz, den italienischen Seestädten und der Levante
vom 10. Jahrhundert bis zum Ausgang der Kreuzzüge . . . . . . . . . . . 110
TELEMACHOS LOUNGHIS, Die byzantinischen Gesandten
als Vermittler materieller Kultur vom 4. bis ins 1 1 . Jahrhundert
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
SOPHIA MENACHE, The Transmission of News in the Period
of the Grusades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 6
NoRMAN A . DANIEL (t), Impediments to the Transmission
of the Cultural Influence of Islam to Western Europe in the
Middle Ages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
ULRICH REBSTOCK, Angewandtes Rechnen in der islamischen
Welt und dessen Einflüsse auf das Abendland . . . . . . . . . . . . . 122
5
DAVID A . KING, Astronomical Instruments between East
and West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
ANDREW M. WATSON, The Imperfect Transmission of
Arab Agricultural Innovations into Christian Europe . . . . . . . . . . . . 131
WOLFGANG VON STROMER, Die Vorgeschichte der l‘:fürnberger
Nadelwaldsaat von 1368 – iberisch-islamische Uberlieferung
antiker Forstkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
ULRICH HAARMANN, Waffen und Gesellschaft im spätmittelalterlichen
Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
TAXIARCHIS G. KoLIAS, Wechselseitige Einflüsse zwischen
Orient und Okzident im Bereich des Kriegswesens . . . . . . . . . . . . . . . 139
YEDIDA K . STILLMAN, The Medieval Islamic Vestimentary
System: Evolution and Consolidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
FRIEDRUN R. HAU, Die Chirurgie und ihre Instrumente in
Orient und Okzident vom 10. bis 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 143
PETER DILG, Materia medica und therapeutische Praxis
um 1500. Zum Einfluß der arabischen Heilkunde auf den
europäischen Arzneischatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 7
PETER HEINE, Rezeption der arabischen Kochkunst und
Getränke in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
HERBERT HUNGER, Griechische Buchproduktion in Italien
im 15. Jahrhundert. Voraussetzungen und Anfänge . . . . . . . . . . . . . . 152
KLAUS-PETER 􀂚ATSCHKE, Westliche Bergleute auf dem
Balkan und im Agäisraum im 14. und 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . 155
Rezensionen:
Stavroula Leontsini, Die Prostitution im frühen Byzanz
(Nikolaj Serikoff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Dorothee Rippmann, Bauern und Städter (Albert Müller) 162
6
Vorwort
Das vorliegende Heft von Medium Aevum Quotidianumfolgt einerseits etablierten
Traditionen, andererseits wird versucht, in manchen Bereichen
neue Maßstäbe zu setzen und Veränderungen zu initüeren. Der wohl augenfälligste
Wandel ist das neue ‚Gesicht‘ der Zeitschrift, welches wir schon
seit längerer Zeit zu verwirklichen gewünscht hatten. Einer glücklichen
Verbindung zu dem für die Basler Denkmalpflege tätigen Graphiker Stephan
J. Tram er haben wir es zu verdanken, daß eine unserer Ansicht nach
sehr gelungene Visualisierung der Anliegen der Gesellschaft und damit
auch der Zeitschrift Medium Aevum Quotidianum entstanden ist. Wir
danken Herrn Tramer auch, daß er sich bereit erklärt hat, uns einige Gedanken
zur Entstehung der Titelgraphik zu überlassen (S . 9 f.).
Ein größerer Teil des vorliegenden Heftes ist den Kurzfassungen der
Referate gewidmet, welche anläßtich des von Medium Aevum Quotidianum
gemeinsam mit dem Institut für Realienkunde des Mittelalters und der
frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten
Kongresses „Kommunikation zwischen Orient und Okzident. Alltag
uns Sachkultur“ (Krems, 6. bis 9. Oktober 1992) gehalten werden. Wir
danken den Referenten für Ihre Bereitschaft, uns Abstracts zur Verfügung
zu stellen.
Die vier, den Kurzfassungen der Referate vorausgehenden Beiträge
sollen im besonderen zeigen, in welche unterschiedlichen Richtungen alltagsgeschichtliche
Forschung zu sehen und zu gehen hat, wenn sie versuchen
will, breite, interdisziplinäre Ansätze zu verwirklichen. Wenn auch
keiner der Aufsätze dem folgt, was wir vielleicht eine typische alltagsgeschichtliche
Problematik nennen würden, so zeigen sie dennoch beispielhaft
und in signifikanter Weise, wie vielschichtig Fragestellungen sein können,
welche zumindest indirekt für die Erforschung von Alltag und Sachkultur
des Mittelalters relevant sein können. Sie vermitteln, auf welch differenzierte
Weise an diese Fragen herangegangen werden kann, und damit auch
die Verschiedenartigkeit der Methoden, deren Anwendung in jedem Fall
zu wichtigen neuen Erkenntnissen zu führen imstande ist.
Die Mitglieder unserer Gesellschaft werden vielleicht mit einiger Überraschung
den Erhalt des Heftes 26 von Medium Aevum Quotidianum zur
7
Kenntnis genommen haben, eines Bandes, den wir bis dato auch noch
nicht in unseren Vorausschauen angekündigt hatten. Der schnelle Entschluß,
dieses Heft in unserer Reihe aufzunehmen, ergab sich einerseits
daraus, daß von Manfred Thaller, dem Herausgeber der Halbgrauen Reihe
zur Historischen Fachinformatik, ein diesbezügliches Angebot vorlag. Andererseits
zeigt gerade die jüngere Entwicklung mancher Tendenzen in der
Mediävistik, daß dem Bild als Quelle und seiner adäquaten Analyse in vieler
Richtung immer stärkere Bedeutung zugemessen wird. Gleichzeitig ist
die Weiterentwicklung von Methoden der digitalen Bildverarbeitung und
ihre verstärkte Anwendung in den historischen Wissenschaften – nicht nur
in der Kunstgeschichte – ein international an vielen Orten zu erkennendes
Phänomen, an dem gerade auch eine Alltagsgeschichte des Mittelalters,
welche der Interpretation von bildlieber Überlieferung starkes Augenmerk
zuwendet, nicht vorübergehen kann. Wir hielten es deshalb für legitim,
den Band aufzunehmen, auch wenn er sich nur peripher mit konkreter
Anwendung der neuen Methoden auf alltagsgeschichtliche Analyse auseinandersetzt.
Auf Grund dieses Einschubes hat sich der bereits angekündigte Erscheinungstermin
des Sonderbandes 2 von Medium Aevum Quotidianum
etwas verschoben. „The Politics of Cruelty in the Ancient and Medieval
World“ wird daher voraussichtlich erst im Laufe des Novembers erscheinen
und zum Versand gelangen.
Gerhard Jaritz
8
Zum neuen ‚Gesicht‘ von
„Medium Aevum Quotidianum“
STEPHAN J . TRAMER, BASEL
Ich bin vom Herausgeber gebeten worden, einige Gedanken zu meinem
Entwurf des neuen Titelblattes der Zeitschrift „Medium Aevum Quotidianum“
zu äußern. Ich ging davon aus, bloß eine ungefähre Ahnung darüber
zu haben, was die Realienkunde des Mittelalters genau bedeuten könnte.
Wie soll ich ihr also ein passendes ‚Gesicht‘ zuweisen?
Da ich zeitweilig in der Bauforschung der Basler Denkmalpflege tätig
bin, stellte ich mir vor, daß die Realienkunde dort beginnt, wo unsere
Hausforschung etwa aufhört. Es sind Verknüpfungen von Fakten und deren
Interpretationsversuche. Wo aber hört die strenge Wissenschaft auf
und wo beginnen die subjektiven, zeitbedingten Fahrlässigkeiten der phantasiereichen
Modifikationsprozesse? Wir untersuchen alte Häuser und ihre
Einzelteile, wie Gebälksysteme, die Wachstumsschübe und ihre jeweiligen
Mauercharaktere. Wir analysieren und sortieren. Was wir immer besser
zu kennen glauben, sind aber oft zu vereinbarten Begriffiichkeiten kompostierte
Ablagerungen, Rückstände längst vergangener sozioökonomischer
und kultureller Verhältnisse, deren Geschmack – wortwörtlich – verduftet
ist.
Und sind es nicht gerade die Düfte, welche in uns die wirkungsreichsten
Erinnerungsschocks auszulösen vermögen? Plötzlich werden lang
zurückliegende Realitäten wieder unverschämt gegenwärtig. Der Duft eines
Misthaufens, unverändert durch alle Epochen hindurch sich treu bleibend,
verbindet mich mit allen Düften aller Misthaufen der Geschichte.
Und was dem Misthaufen bekannterweise vorausgeht, ist das Essen. So
stelle ich mir die Realienkunde vor, daß ich mich in die alltäglichen Befindlichkeiten
der Menschen, die vor uns gelebt haben, einarbeite. Die
Notwendigkeit zu essen verbindet mich mit allen Geschlechtern. Nur, war
das früher nicht oft mehr Mühe als Genuß? Mit der gewohnten Addition
von netten Versatzstücken aus dem Folklorealbum des Mittelalters kann
ich das nicht ausdrücken. Ich möchte aber diesen Duft des Mittelalters
optisch und gefühlsmäßig zugleich zur Darstellung bringen.
9
Da finde ich in vielen Unterlagen die Abbildung eines uralten Holztellers,
oder zumindest das Bild von dem, was von ihm übriggeblieben ist.
Den Rest hat die Zeit schon selber aufgegessen. Der Teller drückt für mich
aus, was wir trotz aller minutiöser Bauuntersuchung nie entdecken können:
den Odem des alltäglichen Lebens, das sich zwischen den von uns auf Millimeterpapier
verzeichneten Gemäuern abgespielt hat. Der Teller wird zum
Zeichen dafür, wie die Realienkunde, wie ich sie hier verstehe, versucht,
über die Grenzen der Verfügbarkeiten der rein materiellen Archäologie
hinauszugehen und in die in der Zeit verborgenen Alltäglichkeiten der Geschichte
einzudringen. Was kann ich nun mit diesem Teller anfangen? Ich
wende das Photo um neunzig Grad und merke plötzlich, daß die Bruchkante
dieses Holzobjektes dem Profil eines Menschen auffallend ähnlich
ist.
Da stöbere ich wieder in einem Berg von Unterlagen, um Augen zu finden,
die für diesen ‚Kopf‘ passen würden. Die romanischen Figuren haben
doch manchmal diesen wie auf Unendlich eingestellten Drillbohrerblick.
Da finde ich die Umzeichnungen von auf mittelalterlichen Pilzkacheln reliefartig
abgebildeten Köpfen. Das sind genau die Augen, die den rechten
Blick aus der Tiefe der Geschichte aufzuweisen schienen. Das linke Auge
klebe ich in den Teller, das andere dorthin, wo der verlorene Tellerteil zu
ergänzen wäre. Diese Rekonstruktion bewerkstellige ich mit dem Kreis,
der Metaphorik der wissenschaftlichen Arbeit sozusagen. Jetzt blickt der
Teller seitwärts und direkt auf mich. Dieser Widerspruch könnte auch
passend sein. Das einfache Schwarz-Weiß-Schema deutet auf die Abstraktionsarbeit
hin, die laufend getan werden muß, um nicht in anekdotische
Geschichtsforschung zu verfallen. Nun füge ich längs der senkrechten Mittelachse
des Blattes eine Schrift hinzu, die einfach und klar sein soll. Das
Wort „Quotidian um“ greift zudem formal mit seinen beiden „0“ dem Kreis
voraus. So ist das ‚Alltägliche‘ des Mittelalters auch typographisch verankert.
10

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