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Kommunale und seigneurale Bildersprache des Quattrocento in Padua und Ferrara

Kommunale und seigneurale Bildersprache des Quattrocento in Padua und Ferrara
Lucas Burkart (Base
Die Fresken des Salone della Ragione im Kommunalpalast von Padua und der Sala dei Mesi i m herzoglichen Palast von Ferrara stellen zwei der größten heute noch erhaltenen Bilderzyklen des italienischen 15. Jahrhunderts dar. Die Ge­ meinsamkeiten der Zyklen in Padua und Ferrara sind zahlreich; beide nehmen mit ihrem Programm einen ganzen Raum in Anspruch. Sowohl in Padua als auch in Ferrara ist der Standort der Fresken bedeutsam, der Palazzo della Ra­ gione und der Palazzo Schifanoia sind gleichsam Bestandteil der Bildersprache. Auch hinsichtlich ihrer Gattung und ihrer Entstehungszeit sind die Dekorati­ onsprogramme durchaus vergleichbar. Bei beiden Freskenzyklen handelt es sich um Monatsdarstellungen, und ihre Entstehung fällt in die Jahre zwischen 1420
und 1470.
All diesen Gemeinsamkeiten steht jedoch der Augenschein gegenüber.
Ein paralleler Blick auf die zwei Freskenprogramme lässt zunächst vor allem Unterschiede hervortreten (Abb. 6 & 12). Eine Stadt stellt offensichtlich (sich und) ihre Monate in ganz anderer Weise dar als dies ein Fürstenhof tut. Die strukturellen Merkmale zweier unterschiedlicher Sozialsphären, zum einen ein kleiner, jedoch im Mächtespiel der italienischen Frührenaissance nicht unwich­ tiger Fürstenhof, zum anderen eine Kommune, die sich an die Präsenz einer mächtigen Nachbarschaft gewöhnen muß, hinterlassen ihre Spuren auch in einer unterschiedlichen Sprache der Bilder. Das Anbringen von Bilde an privile­ gierter Stelle mag in beiden Systemen einer ähnlichen Zielsetzung dienen, doch kann soziale und symbolische Repräsentation von Stadt und Hof sich nicht schematisch über die strukturellen Unterschiede ihrer Umgebung hinwegsetzen. Unterschiede, die vom Au raggeber der Zyklen über eine geeignete Lokalität bis hin zum Grad der Öffentlichkeit und Sichtbarkeit reichen, sind Manifesta­ tionen dieser unterschiedlichen Sozialstrukturen.
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Eine Lektüre, die die beiden Dekorationssysteme im Kontext von Auf­ traggeber, Publikum und nktionalem Rahmen analysiert, verspricht ein besse­ res Verständnis, als es die bloße Bildbetrachtung für sich alleine vermöchte. Denn eine unterschiedliche Bildersprache von Stadt und Hof hat ihren Ursprung nicht primär bei den Formen der Darstellung und den bildliehen Ausdrucksmit­ teln, sonde bei einer an zwei verschiedenen Sozialsphären gewachsenen Wah ehmung. Somit kann eine Untersuchung kommunaler und seigneuraler Bildersprache nicht alleine die Formenvielfalt zweier Bildprogramme und die Traditionen beschreiben, denen sie verp ichtet sind, sonde muß die Ve en­ dung der Formen in das System sozialer und symbolischer Repräsentation inte­ grieren, indem sie mögliche Wah ehmungsmuster zweier unterschiedlicher Sozialsphären zu rekonstruieren sucht.
I. PADUA, die Stadt
Am 3. Februar 1420 richtet der venezianische Doge, Tommaso Mocenigo, einen Brief an Marco Dandolo, Podesta in Padua, und den Capitano del popolo, Lo­ renzo Bragadin. Es handelt sich dabei um Anweisungen den Wiederaufbau des Palazzo della Ragione betreffend, der in einem Brand am 2. Feb ar den Flam­ men zum Opfer gefallen ist. Woher der Doge von dem Brand weiß, ist nicht ge­ klärt, fehlt in den venezianischen Archiven darauf doch jeglicher Hinweis.• Mocenigo lobt den Podesta und seinen Capitano ihrer Bemühungen und Vorkeh­ rungen wegen, den Palazzo so schnell wie möglich wieder aufzubauen. Er er­ mahnt sie dabei, das Blei, aber auch alles andere, was nützlich sein könnte, su­ chen lassen, damit es wiederverwertet werden kann; all dies soll so vor sich gehen, dass der Schaden so klein wie möglich gehalten wird, womit er wohl nicht nur die ökonomischen Verluste meint?
Einen eigentlichen Augenzeugenbericht des Brandes nden wir in einer anderen Quelle. Der Humanist Sicco Polenton beschreibt in einem Brief an ei­ nen Freund, Giovanni da Verona, Gewalt und verheerende Auswirkung des
1 Vgl. A. MOSCH I: Principale Palacium Comunis Padue. ln: Bollellino de/Museo Civico di Padova(vonjetzt:BMCP)28, I934-1939,S.23.
2 „Thomas Mocenigo dei gratia dux Venetiamm … Nobilibus et sapientib viris Marco Dan­ dulo de suo mandato potestati et Laurentio Bragadino capitaneo Paduejidelibus di/ectis et d eclionem a ectum. Ex litteris vestris nuper receptis intelleximus disciplemer i ortunium et casum occursum de combustione palacii iuris Padue. lntelleximusque modos et diligentias vestras circa reparationem ipsius ignis et circa a/ia in liueris vestris contenta qui nobis sum­ me placuerunt et provide pmdentias et solicitas provisiones vestras merito laudan s . Et /icet simus certissimi vos insistere quantum potestis quod de dicta combustione habeatur quam minus damnum poterit, ta en vobsi recordamus quod solicitetis recuperare plombum et a/ia que potenmt recuperari sie quod recipiatur quam minus damnum fieri poterit.“ : Museo Civivo di Padova, Ducali alla Cancelleria civica, tomo I, 1406-1473, c. 34.
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Brandes.3 Mitten in der Nacht in Flammen stehend, brannte die alte Holzkon­ struktion des Palazzo wie Zunder, so dass die herbeieilenden Bürger, aufge­ schreckt durch das Läuten der Glocken in der Stadt, nicht mehr eingreifen konnten. Er versichert seinem Freund, dass der Schaden bei weitem größer sei, als man sich denken kann („Ionge maius, quam quis animo cogitet, damnum est“). Dies, so Polenton, tri auch ir die gemalte Ausstattung („o amenta picturarum“) im Palazzo della Ragione , wobei wir nicht genau wissen, von welchen Bilde hier die Rede ist. Schenkt man den Quellen Glauben, so scheint der Palazzo della Ragione anfangs Februar 1420 beinahe vollständig zerstört worden zu sein. Doch gerade über das Ausmaß der Zerstörung und all­ fällige Veränderungen in der Folge des Brandes, vo ehmlich des Freskenzy­
klus im Salone, ist man sich in der Forschung keineswegs einig.
Die Überlieferungsgeschichte des Palazzo della Ragione und des Fres­ kenzyklus ist bis heute nicht lückenlos aufgearbeitet. Scheint man seit den Un­ tersuchungen von Moschetti zur Baugeschichte und den Veränderungen in der architektonischen Struktur des Palazzo gemeinhin übereinzustimmen, bleibt zu den Fresken, die sich im oberen Stockwerk be nden, vieles unklar.4 Ganz be­ stimmt läßt sich sagen, dass entgegen dem aus den Quellen gewonnenen Ein­ druck zumindest gewisse Teile des Dekorationssystem aus dem 1 4 . Jahrhundert stammen. Die Darstellungen der sieben Tugenden im unteren Register etwa las­ sen sich Giusto de‘ Menabuoi zuordnen. Welchen Anteil Giusto an der Dekora­ tion der oberen drei Register haben könnte, bleibt hingegen unklar. Grossato kommt auf Grund stilistischer Untersuchungen und der Ergebnisse der letzten, in den 50er Jahren vorgenommenen Säuberung der Fresken zum Schluß, dass der größte Teil der oberen drei Register zwischen 1420 und 1 440 entstanden ist
3 „o diem infe/icem, siJas est dici diem, qua puricatio colatur beatissime Virginis matris dei. festus quidem haudquaquam dies, verum infest semper et Patavinis perpetuo memorandus tante cladis accepte memoria, februi huius nonas tribus horis lignorum tanta magnitudo tantaque moltitudo, in nita et innumerabilis esset, tamquam deo irato etfalis iubentibus, in cinerem versa est tanta celeritate, utpopuli huius, qui studio adiuvandi, tubis campanis, voci­ bus excitatus, frequentissimus venit. cineres multi, ignem pauci viderent, quod ligna i/la, quae laricea, vetusta, sicca essent. palea m in modum primo ardore ipso exusta sint. quid dicam lohannes? dicto citius eminentissimus il/e arcus quefactos plumbo decidit, niclzil penitissime ligni usquam relictum, muros in presentia denudatos videres: catenas i/las maximias. mu­ rorum vincula, pendentes distortas. ruplas videres; vestibula cor ptis igne co/umnis alicubi delapsa vider … „. Und später zum Schaden am Bilderschmuck des Palazzo und den Ge­ richten „… m i crede, Joamzes, Ionge maius, quam quis animo cogitet, damnum est. missa facio o amenta picturarum, pretereo subsellia sribarum, taceo tribunalia iudicum.“ : Catinia, le Orazioni e le Epistole die Sicco Polenton umanista trentino del secolo XV, .
4 Zur Baugeschichte des Kommunalpalastes vgl. die Beiträge von A. MOSCHETII: Principale Palacium … In: BMCP 25, 1932, S. 143-192; 26, 1933, S. 99-105; 27-28, 1934-1939, S. 189- 261.
ill. di A. SEGARlZZf, Padua 1891, S. l l l f.
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(Abb. 1 ).5 Die These, Teile des heute sichtbaren Zyklus Iiessen sich Giotto zu­ schreiben, wird von Grossato hingegen ve orfen.6 An weiteren Vermutungen, die gewisse Partien des Zyklus anderen Meiste zuschreiben, fehlt es nicht; der Namedes Francesco Squarcione (1397-1468), des Lehrers Andrea Mantegnas, ist in diesem Zusammenhang gefallen, doch konnten hier r keine weiteren In­ dizien gefunden werden. Der Großteil der Aus hrungen in den oberen Regi­ ste des Zyklus wird in der heutigen Forschung meist den Werkstätten des Niccolo Miretto und Stefano da Feerara zugeordnet.7
Die Zuschreibung der Fresken des 14. und 15. Jahrhunderts bleiben je­ doch nicht das einzige Problem. Als ebenso komplex erweist sich der Versuch, die in den folgenden Jahrhunderten vorgenommenen Veränderungen am Fres­ kenzyklus zu rekonstruieren. Wissen wir über Zusätze und Veränderungen ein­ zelner Teile auch Bescheid, so bleibt gänzlich unklar, ob die Fresken nur ver­ bessert, das heißt in ihren ursprünglichen Motiven und Kompositionen wieder­ hergestellt wurden, oder ob auch das Bildprogramm selbst verändert wurde.8
Das Dekorationsprogramm des Salone ist alleine seiner Überlieferungs­ geschichte wegen ein komplexes System von Kontinuitäten, Überlagerungen und E euerungen.9 Die unbeantworteten Fragen nach chronologischer Zuord­ nung und Zuschreibung einzelner Fresken gewissen Meiste oder Werk­ stätten müssen auch hier ungeklärt bleiben. Die exakte kunsthistorische Aufar­ beitung des Salone stellt ein wissenscha liches Desiderat dar, doch halte ich sie ir den hier vorgeschlagenen Versuch einer neuen Lesart des Freskenzyklus nicht für unabdingbar, um so mehr als sich die Analyse nicht auf ausgewählte Einzelbilder stützt, deren Einordnung ungewiß bleiben. Aufg nd der vielen unsicheren Ordnungsparameter muß der Freskenzyklus· in seiner Gesamtheit zum Ausgangs- und Mittelpunkt der Analyse werden. Aus der von der bisheri­ gen Forschung geleisteten motivgeschichtlichen Einbindung einzelner Teile des
5 L. GROSSATO: La decorazione pittorica del Salone: „Gli affreschi ehe ricoprono attualmente Je pareti del Salone furono eseguiti nella Joro quasi totalita poco dopo il 1420 …“ In: Il Palaz­ zo della Ragione a Padova, . C. G. Mor et al., Venedig 1 963, S. 5 1 .
6 „Che nulla rimanga della primitiva decorazoione eseguita da Giotto e collaboratori e ehe tutto l ‚intero ciclio supe ore sia stata completamente rifatta dopo l’incendio del 1420 e nos a ferma opinione basata su elementi di ordine stilistico.“ ibidem S. 58.
7 L. GROSSATO: La decorazione…(wie . 5) S. 54; C. L. GGHIA I: Stefano da F . Problemi c tici tra Giotto a Padova, l ‚espansione di Altichiero e il primo Quattrocento a Fer­ rara, Florenz 1972; so ebenfalls die neueste Mono aphie zum Salone. Vgl. A. TENENTI, A. BOZZOLATO, E. BERTI, A. VEDOVATO: 11 Palazzo della Ragione a Padova, 3 vols., Rom 1 992.
8 So etwa ir die E euerung im Jahre 1 756, als ein St m das Dach vom Palazzo della Ra­ gione riss und Teile des Zyklus zerstö e. Über diesen Fall sind wir ausserordentlich gut unter­ richtet, kennen wir doch den r die E euerung verantwortlichen Künstler. Das hier ange­ sprochene Problem bleibtjedoch völlig im Dunklen.
9 Zu einer möglichen W ehmung dieses diachronen Charakters des Dekorationsprogramms um 1420 vgl. unten Anm. 47.
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Zyklus in Bildtraditionen sollen Ideen und intentionale Bedeutungsebenen des Kunstwerks in seinem Umfeld erschlossen werden.10
1. Der lange des Löwen
Wenden wir uns hierzu nochmals dem venezianischen Dogen Tommaso Moce­ nigo zu. Zehn Tage nach seinem ersten Brief richtet sich der Doge in zwei weite­ ren Schreiben e eut an den Podesta und den Capitano in Padua und erteilt ihnen neue Anweisungen. Zunächst erteilt ihnen Mocenigo den Au rag, die für den Wiederaufbau nötigen Gelder aus den Einkünften der Dadia delle lancie1 1 zu nehmen. Mit den Mitteln für zwei Jahre eines der reichsten Steuerämter der Stadt, dessen Einnahmen normale eise direkt an die Serenissima gingen, soll der Wiederaufbau nanziert werden. 1 2 In dem zweiten Brief werden Marco Dan­ dolo und Lorenzo Bragadin zwei venezianische Ingenieure angekündigt. Barto­ lomeo Rizzo und ein gewisser Maestro Pezino werden den Schaden untersuchen und den Wiederaufbau zusammen mit paduanischen Baumeistem leiten; in den Detailfragen sollen Podesta und Capitano nach ihrem Gutdünken entscheiden.13
Die Sorge Venedigs, den Wiederaufbau zu organisieren und indirekt auch zu nanzieren, unterstreicht das Interesse der Seerepublik am Palazzo della Ra­ gione als dem zentralen Repräsentationsbau einer erst seit kurzem unter venezia­ nischer Kontrolle stehenden Stadt auf dem Festland. Der Kommunalpalast reprä-
10 Sich von den Bildtraditionen etwas zu lösen und den Salone in einen weiteren Kontext zu stellen, gilt auch der Versuch von Diana Norman. einem Vergleich zwischen Siena, Florenz und Padua gelingt es der Auto n, gewisse Strukturen in der Bedeutungsebene des Kommu­ nalpalastes herauszuarbeiten; die Fresken selbst wird dieser Ansatzjedoch nicht konse­ quent genug weiterge ihrt, und die Interpretation bewegt sich im bekannten Rahmen. Der Umfang des Projektes, in dem drei Städte über einen Zeitraum von 120 Jahren untersucht werden, verunmöglicht darüber hinaus wohl eine exakte Analyse des Zyklus. Vgl. D. NO AN (ed.): Siena, Florence and Padua. Art. Society and Religion 1280-1 400, 2 vols., New Haven – London 1995.
11 Ven ig und den venezianischen B itzungen ist Dadia eine Bezeichnung die indi­ rekten Steu .
1 2 Mus Civivo di Padova, Ducali alla Cancelleria civica, tomo I, 1 406-1473, c. 37.
13 „Cum receptione /ittera m vestrarum circa expeditionem et evacuationem istius palacii combusti avidissimi ut edificentur menia ipsius presentialiter aestimamus ingeniarios sufef n­ cientior quam habeamus et magistrum Bartho/omeum Rizo quem requisistis et magistrum Pizinum quem noscitis in talibus non parum peritum, cum quibus conferre examinare discute­ re et deliberare poterilis prout sapientie vestre videbitur opportunum, poteritis etiam congre­ gare de magsi tris ingegnariis delibus nostris paduanis ut simul co e possinl ad hoc ut de/iberatio sana et bene deliberata sequatur. Volumus etiam ut pro e ensis quasfacient ipsi magistri quos de Veneciis destinamus provideatsi vos tam pro accessu quam mora et reditu sicut erit expediens. Et ponatis ad computum expensarum endarum pro palatio expensas
predictas.“ ibidem c. 38.
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sentiert nicht einfach Macht an sich, sonde gt sich in ein subtiles Netz be­ deutungsvoller Zeichen innerhalb der städtischen Architektur. Dementsprechend ist der Umgang Venedigs, nachdem Francesco il Novello im Jahre 1405 besiegt ist und damit die Signorie der Carraresi ein Ende ge nden hat, mit den ver­ schiedenen architektonischen Bedeutungsträge sehr unterschiedlich. Bei der Einnahme der Stadt durch die Venezianer wird die Reggia carrarese vollständig zerstört, während 1 5 Jahre später der Palazzo della Ragione unter der Anleitung und mit der finanziellen Hilfe Venedigs wiederaufgebaut wird. Vergegenwärtigt man sich die Konnotationen der beiden Bauten – Reggia carrarese und Palazzo della Ragione -, erscheint diese Handlungsweise sinnvoll. Die Reggia carrarese ist städtischer Sitz der Familie, das heißt befestigter Palazzo und damit das Sinn­ bild der Signoria der Carrara, deren Zerstörung Venedig, nach den langwierigen Konflikten seit dem 14. Jahrhundert, physisch wie symbolisch nötig scheinen muß. Der Palazzo della Ragione hingegen ist das profane Zentrum der Kommu­ ne, derer man sich eben bemächtigt hat und die man als nktionierenden Orga­ nismus kontrollieren wünscht.14
Nicht nur um den Wiederaufbau des Gebäudes ist Venedig besorgt, son­ de auch in der ikonographischen Ausstattung des Salone selbst ist die Präsenz der Republik deutlich spürbar. Neben anderen heraldischen Darstellungen, vor allem derjenigen Paduas – rotes Kreuz auf weißem Grund – ist der Löwe von San Marco insgesamt zwöl al dargestellt. Der Markuslöwe bleibt jedoch nicht das einzige Zeichen, das auf Venedig verweist. Die beiden großen Fresken an den Sti wänden, das heißt an den prominentesten Positionen innerhalb des ge­ samten Freskenzyklus, zeigen eine Manenkrönung und den Heiligen Markus.
Die Präsenz der Lagunenrepublik manifestiert sich nicht in militärischer Macht, Zerstörung oder völliger E euerung der Kommune, sonde in einer kontrollierten Umdeutung des Bestehenden. Der Duktus des Markusfreskos ist dementsprechend nicht gewalttätig, was die Zerstörung der Kommune symboli­ sieren würde, sonde präsentiert die kontrollierte Verteilung von materiellen und symbolischen Güte : Markus sitzt vor einer Kulisse spätgotischer Idealar­ chitektur als Almosen spendende, gütige, jedoch unverkennbar mächtige Reprä­ sentation Venedigs (Abb. 2).
Das Fresko der Manenkrönung ist politisch in einem doppelten Sinn; ei­ nerseits ist der Fingerzeig auf Venedig r die Zeitgenossen sehr deutlich, ande­ rerseits repräsentiert die Madonna ein politisches Ideal, dessen sich Venedig hier bedient (Abb. 3).15 Der Legende nach wurde Venedig am Tag der Verkündigung
14 Zur Politik Venedigs auf der terra ferma v . G. Go r, M. KNA ON: La Repubblica di Venezia nell’eta mod a. Dalla guerra di Chioggia al 1 5 1 7 , Turin 1986; D. HAY, J. LAW: Italy in the Age ofRenaissance, 1380-I530, London 1989.
15 Die ältere ikonographische Forschung ver at in der Folge von Venturi eine Datierung der Incoronazione im 14. Jahrhundert. Eine Datierung nach 1405, die meine Lesweise der Mari­ enkrönung als eine politische Repräsentation Venedigs impliziert, wird von neueren formal-
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gegründet; Maria ist, auch wenn die sterblichen Überreste des Evangelisten Markus Venedigs Hauptrelique bleiben, ebenfalls Stadtpatronin. Der von der Legende gesti ete Bezug der Republik zur Muttergottes alleine vermag jedoch die Aufnahme des ikonographischen Motivs der lncoronazione in das Bildpro­ gramm des Salone nicht ausreichend zu erklären. Ein Blick auf die innervenezia­ nische Bildpolitik liefert uns jedoch einen weiteren Hinweis. Auf der Sti seite der Sala del Maggior Consiglio im Dogenpalast fertigt Guariento in den Jahren
1 365-67 eine Manenkrönung an;16 au ällig ist nicht nur, dass im Salone dassel­ be ikonographische Motiv verwendet wird, sonde auch dass dessen Plazierung derjenigen im Dogenpalast genau entspricht. Die Bildersprache Paduas wird deijenigen Venedigs angeglichen. Über den ersten machtvollen Gestus hinaus, ein Bildprogramm in dieser Weise zu de nieren, verspricht die Einbindung Pa­ duas in eine venezianische Bildersprache auch Kontinuität von Herrscha . Die daue de Zurschaustellung der venezianischen Macht vergegenwä igt dem Pu­ blikum symbolisch, jedoch nicht weniger unmißverständlich als etwa die Person des venezianischen Podesta die kontrollierende Präsenz Venedigs. Die enge Verbindung der Madonna zur Gründungslegende der Stadt Venedig, die r Pa­ dua erst im Bildtransfer vom Dogenpalast in den Salone politisch relevant wird, ist jedoch nur ein Aspekt dieser Mariendarstellung; ein weiterer ergibt sich aus einer zweiten, politischen Natur der Muttergottes als Stadtpatronin selbst.
Um 1 3 1 5 hat Si one Martini in Siena das erste uns bekannte Fresko sa­ kralen Motivs in einem Profanbau gemalt: die Maesta im nf Jahre zuvor fe ig­ gestellten Palazzo Pubblico (Abb. 4). Hier ist die Madonna als erste Stadtpatro­ nin, umgeben von einem himmlischen Hofstaat und den vier A ocati von Siena: Ansano, Savino, Crescenzio und Vittore, im Ratsaal anwesend. Die direkteste Botschaft äußert jedoch nicht Maria, sonde Christus; in seiner linken Hand hält er ein Blatt mit dem Spruch: „Diligite iustitiam qui iudicatis terram “ („Liebt die Gerechtigkeit, die ihr die Erde richtet“), während er mit der rechten Hand die Betrachter segnet. Die Präsenz Marias und Christus im großen Versammlungs­ raum der Kommune hat die Funktion, den im Saal Versammelten jene morali­ sche Kompetenz aufzuzeigen, aus der Legitimation von Herrschaft ausschliess­ lich ießen kann.
stilistischen Untersuchungen seit Coletti und spätestens seit Grossato gestützt. Vgl. A. VE URI: Storia dell’arte italiana, V, 1907, S.924; L. COLEITI: Studi sulla pittura del Trecento a Padova. Guarlento e Semitecolo. : Rivista d’arte 12, 1930; L. GROSSATO: La Decorazione … (wie . 5) S. 63f.
16 Zur Ikonographie des Dogenpalastes in Venedig vgl. S. SINDING-LARSEN: Christ in the Council Hall. Studies in the Religious Jcono aphy of the Venetian Republic. In: Acta ad Archeologiam et Artium Historiam Pertinentia (Jnstitutum Romanum No iae), Rom 1 974; W. WOLTERS: Der Bilderschmuck des Dogenpalastes. Untersuchungen zur Selbstdarstellung der Republik Venedig im 16. Jahrhundert, Wiesbaden 1983.
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Die politische Kompetenz der Stadtpatronirr taucht im Fresko von Si one Martini keineswegs erstmals auf. Wie die Studien von Alexander Perrig und Hans Belting zeigen, beginnt die politische Besetzung der Muttergottes als Stadtpatroni am Vorabend der Schlacht von Montaperti im Dom von Siena, als die Madonna in der Form eines Reliefretabels zur Königin von Siena e annt wird.17 Diese politische Funktion, so Perrig und Belting, läßt sich in der Folge nicht mehr vom kultischen Mittelpunkt im Sieneser Dom trennen; die späteren Madonnendarstellungen von Guido da Siena und besonders diejenige von Duc­ cio da Buoninsegna unterstreichen dies. Diese Interpretation leuchtet nicht nur ein, sonde sie alleine vermag, wie insbesondere Perrig zeigt, die teilweise un­ konventionelle formale Entwicklung zwischen den einzelnen Bilde erklä­ ren . 1 8 Der Transfer des politischen Bildes vom Sieneser Dom in den Ratsaal, vom kultischen in das politische Zentrum der Kommune unterstreicht dabei den politischen Charakter des Bildt us nochmals und verleiht ihm gleichzeitig eine andere Konnotation. lm Ambiente des Palazzo Pubblico ist die Maesta nicht mehr kultisches Zentrum und durch den Kult vermittelte Repräsentation der citta libera efelice, sonde sie steht hier auch r deren politisch-soziale Organisati­ onsfo : das kommunale Regiment. Dabei übe ehmen die vier Awocati eine Vermittlerrolle zwischen der Welt des politischen Alltages und der himmlischen Aura um die Muttergottes und Christus. Diese Mittle olle spiegelt sich auch in der Komposition des Bildes wieder; die vier Avvocati knien vor dem Podium, auf dem der Thron der Muttergottes und der himmlische Hofstaat sich be nden. Dass sich die Stadtpatroni als mächtige Repräsentation sienesischer Herrscha nicht alleine aus dem Dom, sonde ebenfalls aus der Stadt hinaus transferieren läßt, also ‚außenpolitisch‘ wirksam sein kann, zeigen die von Perrig angeführten Beispiele in San Gimignano und Massa Marittima, wo die Maesta als eindeutig sienesische Repräsentation Einzug in die kommunalen Räumlichkeiten hält. Ebenso beschränkt sich die Wirksamkeit der politischen Kompetenz der Stadt­ patronin, oder zumindest der Glaube daran nicht auf die erste Häl e des Tre­ cento, wie eine Episode aus dem 1 6. Jahrhundert belegt. Während des Krieges gegen Cosimo I. de‘ Medici präsentieren die Sieneser Bürger im Jahre 1555 als letzte Hoffnung einem Mariengemälde die Schlüssel den Toren der Stadt. Selbstverständlich handelt es sich nicht um eine beliebige Mariendarstellung, sonde um eben jene Maesta des Duccio di Buoninsegna, das kultische Zentrum
17 A . PERRIG: Fo en der politischen Propaganda der Kommune von Siena in der ersten Tre­ cento-Häl e. : Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter. Anschauliche Beiträge zur Kul­ tur- und Sozialgeschichte, hg. von K. CLAUSBERG, 0. KlMPEL, H.-J. KUNST, R. SUCKALE, Giessen1981,S.213f.H.BELTING:DasWerkimKontext. :Kunstgeschichte.EineEin h ­ rung, hg. von H. BELT G, H. DILLY, W. KEMP, W. SAUERLÄNDER, M. WARNKE, Berlin 1 9 8 5 , S. 1 86f. Zur Muttergottes als Stadtpa onin von Siena im allgemeinen vgl. T. BURCKHARDT: Siena – Stadt der Jungfrau, Olten/Lausanne 1985.
18 A. PERRJG: Formen der politischen … (wie Anm. 17) S. 226. 73
im Dom. das die Kommune zusammen mit dem Fresko von Si one Martini seit knapp 250 Jahren wirksam beschützt bat – dieses Mal jedoch ohne Erfolg; Co­ simo unterwir Siena und integriert die Stadt ins Herzogtum Toskana.
der Folge der genuin sienesischen Bildprogrammatik geht die zweite, politische Natur aufjede Madonnendarstellung über. Der politische Gehalt, den die Bilder der Stadtpatroni gewonnen haben, kann sich nicht nur, wie die Bei­ spiele von San Gimignano und Massa Marittima zeigen, von der städtischen Umgebung Sienas lösen, sonde auch vom konkreten politischen Kontext des toskanischen Stadtstaates und zum Sinnbild der eien Kommune schlechthin werden; die Stadtpatronirr Maria wird zur Repräsentation eines politischen Idealtypus.
Venedig inkorporiert diese zweite Natur im Dienst seiner Expansionspolitik auf der Terra Ferma. Indem Venedig die Manenkrönung als direktes Gegenüber des Evangelisten, das heißt der prägnantesten Repräsentation ihrer selbst, in das De­ korationssystem des Salone aufnimmt, stilisiert sich die Seerepublik als Ver­ mittlerin zwischen der Muttergottes und der Kommune Padua. Hier sind es nicht mehr die städtischen Räte, die durch die Patrone als Fürbitter für die Kommune au reten, sonde Venedig selbst. Mit der Ein hrung des Typus der Incorona­ zione, die im Jahre 1420 im Salone nur als venezianischer Typus verstanden werden kann, übe immt Venedig die Rolle der Vertretung am ‚himmlischen Hof der Madonna.19 Die Madonna im Salone ist demnach nur als eine von Ve­ nedig vermittelte und auf den Schutz und die Macht Venedlgs verweisende In­ stanz wirksam. Gerade die Tatsache, dass es sich bei Padua nach 1405 nicht mehr um eine freie Kommune, sonde um eine in kommunalen Strukturen nktionierende, von Venedig in einem Abhängigkeitsverhältnis gehaltene Stadt handelt, macht die Manendarstellung im Salone einem programmatischen Bild. Die ideale Kommune soll hier vorgestellt werden, obwohl sie als solche in Padua gar nicht mehr existiert, oder besser, gerade deswegen.
Der Palazzo della Ragione ist als Repräsentationszentrum der Kommune der ideale Standort, machtvolle Bilder politischen Inhaltes anzubringen. Es darf nicht ve unde , dass die Serenissima den Wiederaufbau des im Brand zer­ störten Kommunalpalastes zum Anlaß nimmt, sich selbst als Beschützerio der Kommune Padua darzustellen und diese Stellung mit der Präsenz ihrer Zeichen wirksam zu inszenieren. In Analogie den realen Verhältnissen von Kontrolle und Besetzung der beiden mächtigen Ämter des Podesta und des Capitano del popolo mit venezianischen Adligen stellt das Freskenprogramm des Salone nicht die Zerstörung der städtischen Strukturen dar, sonde deren geschickte Um-
19 Die typolo sche Unterscheidung von Marienbild (Incoronazione und Maesta) soll hier nicht verschwiegen werden. meiner Argumentation steht jedoch nicht der Typus – schliess­ lich keine Di erenzierung des hen 15. Jahrhunderts, sond des Faches Kunstgeschichte ­ und sich im Vorder und, sonde die zeitgenössische Bedeutung der Madonna als Stadtpatronirr und ihre politische Kompetenz als solche.
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deutung durch gezielte Zusätze oder Auslassungen in der kommunalen Sprache der Bilder – einer Sprache, die im lokalen städtischen Kontext nktioniert.
2. Sprechende Tiere
Der Arzt Micheie Savonarola, Onkel des beriihmten Ferrareser Predigers Giro­ lamo Savonarola, schildert in seiner um 1445 verfaßten Chronik Paduas das Obergeschoß des Palazzo della Ragione, den Salone, wie wir ihn zumindest von der äusseren Struktur her heute beinahe noch unverändert sehen. Dabei läßt Mi­ chele an der Funktion des Salone innerhalb der städtischen Kommune keine Zweifel bestehen: „Nun will ich von jenem prächtigen und einzigartigen Palast unserer Stadt berichten, der von allen Palästen der Welt der prachtvollste und ausgezeichnetsie ist; dort werden die Gesetze diskutiert, um die Streitigkeiten der Leute zu schlichten, damit sie in Frieden miteinander leben.“20 Zu Beginn des 15. Jahrhunderts ist der Salone ein riesiger Gerichtssaal, in dem gemäß den städtischen Statuten die Rechtsangelegenheiten der Kommune verhandelt wer­ den?1 Auch die Innenausstattung des Salone ist von diesen Aktivitäten geprägt. Schon Micheie berichtet von Tierdarstellungen, von denen die Gerichtsbänke ihren Namen erhalten und die den Zuständigkeitsbereich eines einzelnen Ge­ richts markieren22; jedem dieser Tierembleme gehört auch ein heute unleser­ lich gewordener Sinnspruch; in einer von Hartman Sehedei verfaßten Abschri ist uns die Sammlung dieser Spruche erhalten.23 Das Gericht des Adlers etwa ist
20 Libellus de ma ificis omamentis regiae civitatis Padue Michelis Savonarole, a cura di A. SEGARlZZI. In: RJS 24, parte 1 5 , S. 47 (von jetzt: Libe/lus) „Amplector deinde illud splendi­ dum inter pretoria, superbissimum et cellentissimum in toto orbe, unicum nostre urbis Pretorium, in quo ad hominum dirimendas lites, ut in unum pac ce vivant, Ieges disputan­ tur.“
2 1 Von den drei Codices städtischer Statuten liegt nur der Codice repubb/icano padovano, von 1285 bis 1362 gültig, in gedruckter Form vor. W er der Codice carrarese (1362-1 420) noch der Codice r ormato o veneto ( 1420-1 796) sind gesamtha ediert; jedoch sind beide Codices als Manuskripte in Padua erhalten. Auszüge nden sich bei M. ROBERTI: corporazioni pa­ dovane d’arti e mestieri. : Memorie del Reale Istituto Veneto di scienze, fettere ed arti, 26, n.8, 1929. Großteils sind die hier interessierenden Absätze jedoch bei beiden ‚Revisionen‘ vom ursp nglichen kommunalen Entwurf übe ommen worden. Die Regelung der Ge­ richtstage und -stunden ndet sich unter der Rubrica II, Statutum I aus dem Jahre 1339. In: Statuti del Comune di Padova da/ secolo I all‘ anno 1285. A cura di A. GLORIA, Padua
1 873 (von jetzt Statuti).
22 „Sunt denique unicuique scampno gloriosefigure, ut videlicet Vulpis, Pardi, Equi et hui­ us[cemodi] a quibus scampnum cognomen recipit.“ In: Libellus … (wie Anm. 20) S. 47.
23 C. H. SCHEDEL: Memorabilienbuch, Ms Münchner Staatsbibliothek, CLM 418. Die hier interessierenden Teile sind wiedergegeben bei J. VON SCH SSER: Giusto’s Fresken in Padua
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zuständig für Rechts agen, die den städtischen Fiskus betreffen. Sehedei no­ tierte: „est aquile cura scalia querere iura“ („Es ist Sache des Adlers, in den Gelddingen der Stadt Recht zu sprechen“) (Abb. 4). Oder an anderer Stelle: „ne quisfraudetur porcus racione tuetur“ („Dass niemand hintergangen wird, da r trägt das Schwein mit Verstand Sorge“). Die Tierembleme scheinen, zunächst noch auf die Vermittlung der kurzen Texte angewiesen, mit dem Publikum in eine Beziehung zu treten; mittels der Texte beginnen die Fresken mit den anwe­ senden Personen zu sprechen. Sie ve eisen dabei auf eine tagtägliche juristi­ sche Praxis. Gleichzeitig gehörtjedoch ein Spruch wie derjenige des Schweines auch zu einem Korpus von Ausdrucksschemen, das der Lokalität eines Ge­ richtssaales zuzurechnen ist. Ermahnungen an die Richter, allgemeine Rechts­ grundsätze und Zusicherungen oder Drohungen an die klagenden Parteien n­ den sich in den spätmittelalterlichen Gerichtssälen ganz Europas.
Dem Korpus juristischer Anweisungen und Garantien, das durch eine Kombination von Text und Bild charakterisiert ist, entspricht im Dekorationssy­ stem des Salone ein nun von Texten gänzlich losgelöstes Arsenal rein ikono­ graphischer Ausdrucksmiuel, das ebenso deutlich auf die judikative Funktion des Salone verweist. Die Darstellung der Justitia gehört gleichsam zwingend in das ikonographische Vokabular eines Gerichtspalastes, so dass sie im Salone gleich zweimal zu sehen ist; in unmittelbarer Nachbarscha der einen Justitia nden sich auch die anderen Kardinaltugenden, denn der Salone ist nicht allei­ ne Ort der Gerechtigkeit, sonde als das zentrale Bauwerk der städtischen Kommune Repräsentationsmittelpunkt der Stadt. Wie in anderen italienischen Kommunalpalästen – der Palazzo Pubblico in Siena ist fraglos das berühmteste Beispiel24 – verwendet auch der Salone zur Darstellung des guten Regiments einer städtischen Gesellscha eine Allegorik, die sich auf den bekannten Kata­ log der christlichen Tugenden und der Kardinaltugenden stützt (Abb. 5). Eben­ so wie die Darstellung der Tugenden ist etwa diejenige des Salomonischen Ur­ teils in einem Kommunalpalast von topischem Gehalt. All diese Motive sind im Salone vorhanden, wie sie in anderen Kommunal- und Gerichtsräumen in Itali­ en ebenfalls anzutreffen sind.
Über diese ‚ikonographischen Gemeinplätze‘ hinaus präsentiert der Salo­ nejedoch ein mit einem überaus reichen Angebot an bildliehen Bezügen ausge-
und die Vorläufer der Stanza della Se atura. : Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlun­ en des allerhöchsten Kaiserhauses 1 7, 1896, S. 95.
4 N. RUBINSTEIN: Political ideas in Sienese : the frescoes by A brogio Lorenzetti and Taddeo di Bartolo in the Palazzo Pubblico. : JWC/ 21, 1958, S. 178-207. Zum Palazzo Pubblico und der Sala dei Nove zuletzt und mit allen wichtigen biblio aphischen Angaben versehen vgl. R. STARN, L. PARTR GE: A s of Power. Three Halls of States in Italy, 1 300- 1 600, Berkeley 1992. In der Allegorie des buon gove o in Siena ist die Justitia eines der bei­ den kompositionellen Zentren. Die Ermahnung, die in der benachbarten Sala del Mappamon­ do („diligite iustitiam qui iudicatis terram“) von Christus dem Publikum präsentiert wird, säumt in der Sala dei Nove das Haupt der Personi kation der Gerechtigkeit.
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stattetes Programm, wie wir es in ähnlichen Räumen des spätmittelalterlichen Italiens ansonsten weniger häufig nden (Abb. 6). Erstaunlich und recht unge­ wöhnlich fur die Lokalität eines städtischen Gerichtssaals scheinen die oberen drei Register des gesamten Dekorationssystems zu sein. Aby Warburg hat als einer der ersten eine Deutung des Zyklus versucht. Warburg erkannte im Salone zu Recht das mittelalterliche Gedankengebäude der Astrologie in einer sonst nicht erhaltenen räumlichen Größe und ikonographischen Aus hrlichkeit, was ihn zur Aufnahme des Zyklus in seine „Bildersammlung zur Geschichte von Ste glaube und Ste kunde“ bewog.25 In der aktuellen Forschung wird der Freskenzyklus meist als Kombination der beiden im 15. Jahrhundert bekannten astrologischen Bildprogramme gedeutet: zum einen als Darstellung der Monats­ arbeiten und Tierkreiszeichen, die sich am Jahresablauf orientiert und sich in der Tradition mittelalterlicher Kalendarien mit den zwölf Aposteln verbindet, und zum anderen die Darstellung der Planeten zusammen mit ihren Tierkreis­ zeichen, in denen ihre Wirkung auf die Menschen besonders machtvoll ist (Abb. 7-9).
Diese Interpretation scheint schlüssig – aber sie hat den Nachteil, dass sie einen Grossteil der Bilder des Salone unberücksichtigt lässt. Im gesamten Deko­ rationsprogramm sind die großformatigen Darstellungen der Monatsarbeiten, Tierkreiszeichen, Planeten und Apostel von über 250 weiteren Darstellungen umgeben, deren stimmige Deutung bis heute nicht gelungen ist. Fritz Sax! hat versucht, diese Darstellungen als Planetenkinder zu deuten, doch auch damit waren nicht alle Fresken zu erklären.26 Derjüngste Versuch, das Dekorationssy­ stem in diesem von Warburg begründeten Zusammenhang zu verstehen, zielt dahin, den Zyklus mit einer Theorie des Pietro d’Abano in Verbindung zu set­ zen, die jedem einzelnen der 360 Grade des Tierkreises eine Figur zuweist, die den Charakter der in diesem Moment geborenen Menschen beschreibt: sozusa­ gen ein riesiges Horoskop r jedermann?7 Der Hinweis auf das „Astrolabium
25 A. M. WARBURG: Bildersammlung zur Geschichte von Ste glaube und Ste unde im Hamburger Planetarium. Hg. von U. FLECKER et al., H burg 1993, S. 266.
26 F. SAXL: Verzeichnis astrologischer und mythologischer Handschri en des lateinischen Mittelalters, Bd. II: Die Handschri en der Nationalbibliothek in Wien. In: Sitzungsberichte der Heide/herger Akademie der Wissrnschaften, Phil.-Hist. Klasse , Heidelberg 1 927, S . 5l
27 G. FEDER!Cl-VESCOVINI: teoria delle immagini di Pietro d’Abano e gli a eschi astrolo­ gici del Palazzo della Ragione di Padova. In: Die Kunst und das Studium der Natur vom 14. bis 16. Jahrhundert. Hg. von W. PRINZ, A. BEYER, Weinheim 1987, S. 213f. In derFolge die­ ses Forschungsansatzes steht auch der jüngst erschienene Bildband zum Palazzo della Ragio­ ne. Dabei konzentriert sich das Interesse der Autoren in erster Linie auf das Bildmaterial selbst. Die makellose Präsentation der Fresken und die von Federici-Vescovini vorgeschlage­ ne Verbindung zu Pietro d’Abano, die hier durch die gleichzeitige Reproduktion der astrologi­ schen Diagramme des einzig überlieferten Manuskriptes nachvollzogen ist, sind das Verdienst dieser Arbeit. Vgl. A. TENENTI, A. BOZZOLATO, E. BERTI, A. VEDOVATO: Jl Palazzo … (wie
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planum“ des Pietro d’Abano ist sehr überzeugend, um so mehr er auf die ge­ leh e Tradition verweist, die in der Universitätsstadt Padua eine bedeutende Rolle spielt. Die Grundproblematik bleibt hingegen auch bei diesen jüngsten Interpretationsversuchen dieselbe: Längst nicht alle Fresken des Zyklus lassen sich schlüssig deuten.
Der von Aby Warburg begründete Blick auf Ste glaube und Ste kunde hat die späteren Arbeiten in hohem Masse beein usst. Tatsächlich ist es gerade Warburg, der mit seinem interdisziplinären Verständnis von Kunstgeschichte Anregungen liefe kann, sich dem Bilderzyklus des Salone mit neuen Inter­ pretamenten zu nähe . lm Grenzbereich von Kunstgeschichte und Sozialge­ schichte und in ständiger Überschreitung dieser akademischen Grenzen liegen Möglichkeiten eines neuartigen Verständnisses des Zyklus.
Werfen wir, um das Unbekannte verstehen, zunächst einen Blick auf das Bekannte. Die Bildtraditionen der mittelalterlichen Darstellungen zur Astrologie wurden bereits mehrfach angesprochen.28 Die zwölf Tierkreiszeichen und die sieben Planetengötter, denen – Sonne und Mond ausgenommen – je zwei Zodiakalzeichen zugeordnet werden, weshalb sie zweimal zu sehen sind, stehen neben den Berufen der Menschen, die unter ihrem Ein uß geboren wur­ den. Spätestens die Verknüpfung der astrologischen Fresken im SaJone mit den Diagra en des Textes von Pietro d“Abano hat die Gültigkeit dieser Bildtradi­ tion belegt. In gleichem Masse sind die Bezüge zu den mittelalterlichen Kalen­ darien nicht zu übersehen. Die Monatsdarstellungen in Fonn der Beschä igun­ gen vo ehmlich des Agrarsektors und des bäuerlichen Lebens sind uns sowohl aus anderen Freskenzyklen wie auch aus Buchillustrationen wohlbekannt.29
Aber eine ganze Serie von Fresken zeigt offensichtliche fonnale Bezüge zu einer anderen literarischen Gattung, die sich ganz ausgeprägt des bildliehen Ausdrucks bedient: die Tacuina sanitatis, dietätisch-medizinische Lehrbücher, die die Natur von Körpersä en und Nah ngsmitteln beschreiben und somit zur richtigen E ährung und Hygiene anleiten. Die Entwicklung dieser bis in die Spätantike zurückreichende Bildtradition, die Verlagerung des ikonographi­ schen Ausdrucks weg von der eigentlich charakterisierten Pflanze, vom eigent­ lich beschriebenen Kö ersa hin zur Darstellung der zu ihrer Gewinnung ver-
Anm. 7). Das Manuskript ist Bestandteil einer von Johannes Engel in Augsburg kompilierten Sammlung astrologischer Dia amme und be ndet sich heute in München (München, cod. lat. 22048, fol. 158v-176v).
28 Auch die schri lichen Quellen scheinen di e Interpretation nahezulegen; so etwa der be­ reits zitierte Micheie Savonarola: “Nam ea in parte quedam singulares et egregie picture ­ lud [palacium, L.B.] circuunt, quibus corpora planetarum, et ad que opera peragenda magis homines ab eis inclinantur, mirum in modum etiam perfiguras demonstralllur.“ In: Libel/us . . . (wie Anm. 20) S. 48.
20 Trotz einiger Verschiebungen entsprechen die Monatsbilder etwa dem von Otto Pächt for­ mulie en Standard eines Jahreszyklus. 0. PÄCHT: Early ltalian nature studies and the early calendar landscape. : 13 ( 1 950).
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richteten Arbeit und zur bildliehen Beschreibung des sozialen Kontextes dieser Arbeit ist seit langem bekannt.30 Um mit Illustrationen aus dieser Gattung voll­ ständig verglichen werden zu können, lassen einige der Fresken im Salone al­ leine den die Charaktereigenscha en desjeweiligen Gegenstandes erläute den Text vermissen, der den Tacuina immer beige gt ist – doch der Text fehlt
eben, und dies dür e kein Zufall sein.
Aber auch diese bisher noch nicht beachtete Nähe zu einer weiteren Bildtradition vermag das Dekorationssystem nicht vollständig zu deuten, soll heissen, sie ist nicht imstande, r das Gesamte einen Sinn zu sti en. Hier sto­ ßen wir offensichtlich an die Grenzen eines Modells, das Bilder vorzugsweise mit ihren Bezügen auf andere Bilder zu interpretieren sucht. Wir müssen also neu agen: Nicht mehr alleine die formalen Bezüge und Traditionen haben uns zu interessieren, sonde der Bedeutungswandel, dem die ikonographischen Motive unterliegen, wenn sie im Bildprogramm des Salone aufgenommen sind. Welche neuen Konnotationen gewinnen die Bilder in diesem Kontext? Treten wir dazu einen Schritt zurück, blicken von den Bilde weg und vergegenwärti­ gen uns die Situierung des Palazzo in seiner städtischen Umwelt.
3. Innen und aussen
Der Palazzo della Ragione ist von allen Seiten vom Markt umgeben, heute eben­ so wie bereits im 15. Jahrhundert; ja er ist sogar von ihm ‚unterhöhlt‘, denn in den Säulengängen, den portici, unter dem Kommunalpalast be nden sich die Geschä e und Verkaufsstände des städtischen Gewerbes ebenso wie auf den beiden nördlich und südlich des Palastes gelegenen Plätzen; die heutige Piazza della Frutta hieß bis in die napoleonische Zeit del Peronio, während die Piazza delle Erbe noch im letzten Jahrhundert delle Biade genannt wurde. Dank der Schilderung des Giovanni da Nono sind wir ziemlich genau über den spätmittel­ alterlichen Tagesmarkt unterrichtet.3 1
An der westlichen Sti seite des Palazzo befinden sich, so Giovanni, die Stände r gebrauchte Kleider. Daneben haben die Messerschmiede und die Händler r wertvolle Stoffe ihre Geschä e. Gegenüber, aufder Ostseite, werden Kämme, Kerzenständer und alte Eisenwaren verkau , daneben Wollwaren und Kränze. An der nordöstlichen Ecke des Palazzo, in den Geschä en, die in den
portici gelegen sind und die von der Kommune vermietet werden, betreiben die 30 0. PÄC : Early Ttalian … (wie Anm. 29).
… vendentur omne die …“ In: cronaca di Giovanni da Nono ‚Visio Egidii Regis Pata- vie‘ (von jetzt Visio). A cura di G. FABRIS. In: BMCP 27-28, 1934-1939. D Fu ist als Tempus durch den gesamten Text hindurch gehalten, da es sich um eine Vision des h­ christlichen Königs von Padua handelt, die ihm in einem Moment privater Devotion von ei­ nem Engel zuteil wird.
31 “
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Geldwechsler, die lombardi ihr Geschä . Gleich daneben stehen die staciones der Kommune, bei denen die jährlichen Marktgebühren bezahlt werden müssen.
Auf der Piazza della Frutta befindet sich der Früchtemarkt, der Geflügel­ markt, der Hühner, Enten, Küken, Fasane, Kapaune und Eier umfaßt, weiter der Gewürz- und Gemüsemarkt In den Werkstätten und Läden, die die Piazza nach Norden hin abschließen, und in den botteghe des Palazzo befinden sich Ge­ schä e r Öl und Käse, Selchereien, Waffenschmiede, Tuchhändler und Klei­ dergeschä e, Messing- und Lederwarenhändler – Sattler, Schuhmacher, Gerber -, und der Fischmarkt, unterschieden nach Süß- und Salzwasser schen. Auf der
Piazza delle Erbe be ndet sich der Getreidemarkt, der Weinmarkt, Goldschmie­ de, Küfer und Böttcher. Gegen Westen liegt das Haus der Metzger, gegen Osten nochmals Kleidergeschä e und die botteghe der Seidenwarenhändler.32
Vom Markt umgeben, vollständig darin integrie und von ihm gleichsam durchdrungen scheint der Palazzo della Ragione auf der städtischen Ökonomie als einem Fundament errichtet. Kehren wir über eine der vier Treppen, die be­ reits in der Chronik von Giovanni da Nono der Ware, die in ihrer unmittelbaren Nähe verkauft werden, nach benannt sind, nämlich: sca/a avium, sca/aferrorum, scala a vino, sca/a herbarum, in den Salone zurück. Der Bilderreichtum des Zyklus scheint nun ganz natürlich der eben ‚erlebten‘ Reichhaltigkeit des Mark­ tes zu entsprechen. Vielmehr als freskierte Wände zu betrachten, hat man das Gefühl, durch eine bunte Glasfront auf das Treiben und die Geschä igkeit der Piazza della Frutta und der Piazza delle Erbe zu blicken. Durch die Wände als Fenster scheint sich die äußere Welt der Kommune plötzlich auch im Salone auszubreiten.
Das Dekorationsprogramm präsentiert dem Publikum aber nicht einfach eine Darstellung des Marktes, liefert also kein Bild des städtischen Alltages. Vielmehr repräsentieren die Fresken einen in Kategorien der scholastischen Tradition stehenden Katalog der praktischen Arbeiten: die Artes mechanicae. Bereits bei Augustin in Ansätzen vorhanden33 geht die Kategorisierung, wie wir sie in der Scholastik vor nden, in ihren Grundzügen auf Isidor von Sevilla zu­ rück.34 Hugo von St. Viktor nimmt die Artes mechanicae in sein in der Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßtes „Didascalicon“ auf; er versteht unter „Mechani­ ca die Wissenschaft, die man zur Herstellung aller Dinge benötigt.“35 Er unter­ teilt dabei – analog zu den sieben Artes liberales – die Mechanica ebenfalls in sieben Gruppen: lanificium, Textilherstellung und gesamtha Bekleidungsindu-
32Visio… (wieAnm.31)S.17f.
33 Oe doctrina christiana n, 30.
34Etymologiarum sive o num libri 20. Die mechanischen Künste werden in den Büch 1 5 bis 20 behandelt.
35 Hugonis de Sancto Victore eruditionis didascalicae libri septem. In: Patrologia latina, tom. 176. Hg. von J. P. MIGNE, P s 1 880, l. 751 -764 „mechanica est scientia ad quamfabricae omnium remm concurrere deben.t“
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strie, armatura, zunächst Wa enherstellung, dann jedoch auch technische Handwerke im allgemeinen, navigatio, Schiffahrt und, weiter gefaßt, den ge­ samten Handel, agricultura, Landwirtschaft, venatio, die Jagd, medicina, und teatrica, Tanz und Musizieren (im Gegensatz zur Musik des Quadriviums) (Abb. 1 1 ). Hundert Jahre nach Hugo integriert der grosse Enzyklopädist des Mittelalters, Vincenz von Beauvais, die Artes mechanicae in sein universales Lehrgebäude aller wissenswerten Dinge; im „speculum maius“ oder nach sei­ nem vierteiligen Aufbau auch „quadruplex“ genannt, erscheinen sie im Lehr­ spiegel, dem „speculu doctrinale“.36 Die Artes mechanicae sind in der Schola­ stik integraler Bestandteil eines Denkens, das sowohl die sinnliche wie auch die übersinnliche Welt in einem Gedankengebäude zusammenzufassen sucht. Sie gehören als Kategorien ebenso zum Kanon gelehrten Wissens wie Artes libera­ les, Jurisprudenz oder Theologie.37 Wir be nden uns, das sollte stets bewusst bleiben, in der Universitätsstadt Padua, einem der Zentren dieses Wissens.
Die Artes echanicae sind jedoch nicht alleine in einer textuellen Tradi­ tion überliefert, sonde auch bildlich. Julius von Schlosser hat in einer Unter­ suchung aus dem Jahre 1896 zu Giusto de‘ Menabuoi auf die in Oberitalien verbreiteten Darstellungen der praktischen Arbeiten in Reliefs hingewie­ sen.38Am Campanile von Florenz sind die Artes echanicae in der unteren Rei­ he zu sehen. Schlosser hat als erster das Bildprogramm des Campanile als Re­ präsentation eines das gesamte Wissen zusammenfassenden Gedankengebäudes der Spätscholastik erkannt. Die Reliefs in Florenz folgen denn auch sehr genau der Texttradition, wie sie im „speculum doctrinale“ des Vincenz von Beauvais vorliegt.39 Dieses enzyklopädische Bildprogramm findet sich jedoch nicht nur an Kirchenbauten, sonde auch in profanem Ambiente, so etwa an der von den beiden Pisani Brüde gefertigten Fonte Maggiore in Perugia oder an den Ka­ pitellen des Dogenpalastes in Venedig.
Die Fresken im Salone lassen sich als die Präsentation eines aus den ge­ lehrten Texten der Scholastik stammenden Wissens verstehen; die Präsentation eines Bildprogramms, das in anderen oberitalienischen Städten ebenfalls ver-
36 Bibliotheca Mundi. Vincentii Burgundi, ex ordine Pra icatorum (….), Speculum Quadru­
.)
.
37 Das Gedankenmodell des Vincenz von Beauvais soll hier nur in einer oben Skizze wie­ dergegeben werden. Drei göttliche Krä e wirken den dreifachen Wurzeln der menschlichen Sünde (Unwissenheit, Begehrlichkeit, Schwäche) entgegen: Sapientia (Theorica), Vi (Practica) und Necessitas (Mechanica). Die Sapientia unterteilt sich in drei Philosophien (ra­ tionalis, naturalsi und divinalis), die Virtus in eine dreifache Ethik (monastica, oeconomica und civilsi ), während die Necessitas die sieben Artes mechanicae zusammenfasst.
.
plex, Naturale, Doctrinale, Morale, Historiale (.
1 965).
.
38 J. VON SCHLOSSER: Giusto’s Fresken … (wie
23).
39 J. VON SCHLOSSER: Giusto’s Fresken … (wie
4 Bde. Douai 1 624 (Neudruck Graz 1 964-
23) S. 76. 81
.
breitet ist und somit auch in einer Bildtradition steht. Aber nicht seiner Bele­ senheit und Bildung wegen erscheint dem Publikum im Salone der Blick auf die Fresken ve raut. Vielmehr ist es der in den Tennini der gelehrten Tradition er­ folgte Bildtransfer von außen nach innen, die kontrollierte Abbildung des den Salone umgebenden Marktes, der das Freskenprogramm – zumindest einen Teil des Publikums – verständlich macht. Der Blick auf die eskierten Wände wird zu einem kontrollierten Blick durch diese hindurch.
4. Eine geordnete Wirklichkeit
Die vielfachen Bezüge zu unterschiedlichen Text- und Bildtraditionen machen
deutlich, dass die Fresken des Salone mit mehr als nur einer Bedeutung aufge­
laden sind. Die Kategorisierung, die dem Text des Hugo von St. Viktor folgt, schließt einige Bilder mit ein, die bereits von einer anderen Bildtradition ‚be­ setzt‘ zu sein scheinen; unter die agricu ura etwa ließen sich verständlicher­ weise ein Teil der Monatsdarstellungen subsumieren. Ein lnterpretationsver­ such, der die Zerlegung des Dekorationssystems in seine Einzelteile, deren Be­ züge und Traditionen vorschlägt, läu an diesem Punkt Gefahr, sich in un­ fruchtbaren Behauptungen über richtige und falsche Rekurse einzelner Motive zu verlieren. Das Dekorationssystem des Salone läßt solch eindeutige Lesarten nicht zu, sonde konterkariert sie immer von neuem. Nur wenn man den Bil­ derreichtum und die Bedeutungsvielfalt des Bildprogramms annimmt und zwar nicht alleine in ihrem numerischen Ausmaß, sonde gerade auch r ein einzel­ nes Bild, scheint es möglich, den Zyklus in eine Synthese zu hren, ihn als eine Einheit zu verstehen. Diese Synthese kann jedoch nur gelingen, wenn man die Ambivalenz eines Bildes und des gesamten Dekorationssystems zum Prinzip der Interpretation erhebt. Die Gefahr, vom schmalen Pfad der ambivalenten Be-
40 Die von Schlosser untersuchten Beispiele dieses Bildtypus an Sakralbauten folgen, wie ge­ sagt, sehr genau der Iextuelien Vorlage, währ d bei den Beispielen in Perugia, Venedig und Padua die Abweichungen vom Text b eutend össer sind. Schlosser hält hi zwei Erklä­ rungen bereit. Einerseits, so Schlosser völlig Recht, haben wir es mit einem überliefe­ rungsgeschichtlichen Problem tun; die Fonte Maggiore in Perugia wurde mehrfach demon­ tiert und wieder zusammengesetzt; die Reliefs in Venedig sind mehrere Male restauriert wor­ den, einige sind gar mode , und auf die komplexe Überlie ungsgeschichte des Freskenzy­ klus in Padua wurde bereits verwiesen. Andererseits rechnet Schlosser ausserhalb der Kirche nicht mit derselben Gelehrsamkeit wie innerhalb dieser gebildeten Institution. Dass komplexe ldeenkonstrukte, die vo ehmlich in Textvorlagen tradiert sind, auch in der Profankunst rich­ tig umgesetzt werden, zeigt jedoch das Beispiel der Freken des Ambrogio Lorenzet im Pa­ lazzo Pubbli in Siena, wo die Darstellung des buon gove o die aristotelisch-thomistische Tugendlehre repräsentiert. Was Schlosser hingegen in seiner Analyse ve achlässigt und was wohl eher der Grund r die nicht strenge Einhaltung der Textvorlage sein dür e, ist, dass der Bildtransfer von einem sakralen in einen profanen Raum von einem funktionalen Wandel des
Bildpro amms begleitet, wenn nicht sogar davon motiviert ist.
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deutung bildlieber Quellen in den tiefen Abgrund der Beliebigkeil zu stürzen, ist bei einer solchen Interpretation stets vorhanden. Einzig die Rekonstruktion zeitgenössischer Wahmehmungsbedingungen, die den Blick ir einen Moment von den Bilde weg hrt und sich sozio-ökonomischen und politischen Kontext eines Dekorationssystems orientiert, liefert ein Regulativ zur Beliebig­ keit, ohne die Ambivalenz bildlieber Quellen zu beschneiden.
Begreifen wir also die Abundanz des Salone als ein überaus reiches An­ gebot, dessen Verwendung – womöglich entgegen den Bedürfnissen der For­ schenden des ausgehenden 20. Jahrhunderts – keiner exakten Bestimmung be­ darf, sonde sich dem spätmittelalterlichen Publikum des Salone als ein poli­ valentes Referenzsystem präsentiert. Ein Kompendium des gesamten mittelal­ terlichen Wissens; ein großer Katalog voller Wissen, wie es in der Kunst und Literatur des Mittelalters tradiert ist. Praktisches und theoretisches Wissen, des­ sen Wiederverwendbarkeit und Gültigkeit durch den zyklischen Charakter des Dekorationssystems unterstrichen wird; der Jahresablauf als Darstellung der Arbeiten und der Planetenläufe mit ihren Ein üssen; somit auch eine weltliche und die kosmisch-göttliche Ordnung.
Welche Bedeutung gewinnen nun aber diese visuell durchdringbaren Wände? Wozu braucht das Publikum all dieses Wissen? Weshalb wird ihm der Blick durch die Wände hindurch nicht nur ermöglicht, sonde in geradezu pe­ netranter A und Weise vorgeschrieben? Betrachten wir dazu die Menschen, die im Salone ein- und ausgehen, das Publikum des Freskenzyklus.41
An den Bänken unter den Tierdarstellungen sitzen die Richter. Gemäß dem in spätmittelalterlichen Städten Italiens verbreiteten Amtseid sind sie dazu verpflichtet, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln und sieb dabei an die städtischen Statuten zu halten. Die Statuten beschreiben uns bis zu einem gewissen Grad nicht nur die Arbeit der beamteten Richter, sondern regeln in gewisser Weise auch das städtische Gewerbe. Als normative Gattung formulie­ ren die Statuten jedoch nicht einen Ist-Zustand, sonde einen Soll-Zustand. In der etwas eigenartig anmutenden Form der durch die Gesetze und Normen ge­ züchtigten Unordnung ist in den Statuten der städtische Markt beschrieben. Diese ‚Negativfolie‘ ist ebenso facettenreich wie die Realität, läßt sie den Leser doch auf einen Markt blicken, der gekennzeichnet ist von Betrug, Schwindel und Lügen. Die genauen Regelungen der Statuten, die jeden Handel und Ver­ kauf bis ins kleinste Detail vorschreibt, belegen, dass die betrügerischen Prak­ tiken viel iltig sind und die Betrüger selbst er ndungsreich. Der Vorgang beim Stoffverkauf etwa ist genau vorgeschrieben: „Händler, die Stoff ver ufen,
41 Die räumlichen Ausmaße des Salone, die beim heutigen Besucher bereits einen mächtigen Eindruck hinterlassen, müssen r die Bewohner einer mittelalterlichen Stadt mit ihren meist fensterlosen kleinen, niedrigen Häus und Wohnungen eine einzigartige Erfah ng bedeutet haben. Nur Kirchenbauten konnten auf Grund ihrer räumlichen Ausmaße eine ähnliche Wir­ kung erzielen.
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dü1jen ihn einzig mit der Einheit des venezianischen Schrittes messen und dabei höchstens einen Fingerbreit abweichen; weiter sind sie gehalten, die Sto e aus ihren botteghe rauszurragen, damit sie bei Tageslicht betracht�� werden n­ nen. Wer gegen eine dieser Vorschri en verstößt, hatforjede erschreitung mit einer Busse von 60 solidi zu rechnen.'“‚2 Die betrügerischen Praktiken lassen sich hier sehr genau rekonstruieren. Ein Verkäufer kann im Dunkel seines Ge­ schä s mindere Web- und Farbqualität für hochwertiges Tuch ausgeben; er kann weiter mit falsch geeichten Massen oder einfach ungenau messen. Dass dies eine durchaus beliebte Variante des Betruges darstellt, verdeutliebt einer­ seits ein eigenes Kapitel in den Statuten, das mit „Über falsche Gewichte und Masse“ überschrieben ist, andererseits die Praxis nicht nur italienischer Kom­ munen, an der Außenseite des städtischen Palazzo, in unmittelbarer Nachbar­ schaft des Marktes, verschiedene Eichmasse anbringen zu lassen.43 Solche
Normen bestehen für beinahe alle Bereiche des städtischen Gewerbes.44 Ihre blosse Existenz genügt jedoch nicht; diese Normen müssen auch tatsächlich umgesetzt werden, wozu es eines recht elaborierten Apparates bedarf. Tag für Tag, so der codice riformato von 1420, wird einer der beiden dem Podesta zu­ geteilten Soldaten in Begleitung eines Schreibers und eines Ausrufers auf Kon­ trollgang geschickt. Mit dazu bestimmten Eichmassen versehen bat er alle Ge­ schäfte des paduanischen Gebietes – Stadt und contado – zu überprüfen und den Gerichten überhöhte Preise, minderwertige Qualität und Betrug anzuzeigen. Überführt er einen Verkäufer oder Händler, steht ihm die Hälfte der Busse zu, die als Einnahme zu seinem sonst sehr niedrigen Lohn xum hinzukommt.45
42 „Mercatores qui vendunt pannum vendere debeant ipsum panmm1 ad equalitatem mensure er passi veneciarum nec aliqua presa eri debeat de dicto panno nisi unius unguis er quod mercatores renean/ur portare pannum usque ad exrremam partem sracionum ita quod possir videri pamws ad lucem, et qui contrafecerit solvat pro qualibet vice solidas sexaginta.“ :
(wie Anm. 2 1 ) liber IJl, capitula XIII.
43 „Defalsis ponderibus er mensuribus“ In: Statuti .
44 Es sind natürlich nicht alleine die ‚Marktangelegenheiten‘, die im Salone verhandelt wer­ den, doch machen diese kleinen, alltäglichen Rechtsstreite gewiss einen beträchtlichen Teil aus; dies gilt um so mehr, da die hohe Gerichtsbarkeit nicht bei den beamteten Richte , son­ de beim Podesta liegt. Die Untersuchung der Gerichtsakten, die r das 1 5 . Jahrhundert von den meisten Gerichten unversehrt Archivio di Stato von Padua liegen, würden diesbezüg­ lich gewiss neue Erkenntnisse bringen.
45 „Alter vero mi/es qualibet die de mane et post nonas, horis et modis consueris cum uno no­ tario, quem sibi notarii victualium deputabunt el uno precone ac beroderiis et cum staera, balanciis et metreta comunis et cum scpi ione seu bastone militari; ita et talirer quod videatur et apparet esse miles domini potestatsi , vadat p civitatem er suburbia acque etiamperpa­ duanum districtum, quemcumque necessarium sibi videbitur investigandi et inveniendo taber­ narios, piscatores, becarios. pistores et alias omnes artifices et personas, qui seu uterentur
Statuti
.
.
.
(wie . 2 1 ) liber 111, capitula XII.
falsis ponderibus vel mensuris aut qui venderenr, seu haberent, ve/ tenerent aliqua victualia vel mercimonia venalia, que essentfa/sificata ve/putrida, aut venderent ultmpretium limita­
tum

E r m i / e s , q u i d e n u n c i a v e r i t e t s c r i b i f e c i t i n f r a d i e m t e r m i n u m i n v e n t i o n e s s u a s , d e – 84
..
Dieser letzte Punkt verweist auf die Möglichkeit, dass auch die Soldaten des Pod ta bestechlich sein können; erhalten sie nur einen geringen Grundlohn, bleiben sie ökonomisch darauf angewiesen, betrügerische Praktiken den Ge­ richten zu melden.46
Ganz am Schluß der Kette von durch Betrug untergrabenen No en – Kontrolle der betrügerischen Praktiken, Kontrolle des Kontrollorgans und Sanktionieren allfalliger Übe retungen -, ganz am Schluß dieser in Unordnung geratenen Verhältnisse des städtischen Marktes stehen die Richter. Ihre Aufga­ be besteht darin, die an sie herangetragenen Fälle zu prüfen und mit den ent­ sprechenden Sanktionen zu belegen. Dabei übe ehmen die Fresken die Funkti­ on eines visuellen Referenzsystems, auf welches die Richter bei ihrer Arbeit rekurrieren können; sie stellen eine Ergänzung zu den geschriebenen Gesetzen dar. Die Fresken illustrieren – ebenso normativ wie die Statuten sie beschreiben – die Arbeit für den von den Richte repräsentierten Teil des Publikums. Sie sind nicht wirklicher Blick aufden städtischen Markt, sonde Präsentation des in einem Normenkatalog formulie en sozialen Ideals. Den Richte ist der Freskenzyklus der von der Kommune formulierte Au rag, das Marktleben ge­ mäß den Statuten zu regeln. Ein Au rag, der lautet: Laßt die bildliehen Unter­ schiede zwischen den Fresken und dem Markt, zwischen innen und außen ver­ schwinden. Während der viermonatigen Amtszeit eines jeden Richters soll der Markt so aussehen, wie ihn die Fresken im Salone ideal formulieren. Die Fres­ ken sind den Magistraten Spiegel ihres politischen Auftrages, den sie zum Wohl der Kommune erfüllen haben. Der Zyklus ist ein illustrie er Statutenband oder ein illustriertes P ichtenhe für die Richter.47
Für den restlichen Teil des Publikums, das heißt die streitenden Parteien, ändert sich aufgrund der unterschiedlichen Rollen, die sie im Salone wah eh­ men, die Perspektive. Ist das Dekorationssystem den Richte bildlich formu-
beat habere partem condemnationum.“ In: M. ROBERTl: Le corporazioni padovane d’arti e mestieri. In: Memorie del Reale lstitulo Veneto di scienze, /euere ed arti, 26, n.8, 1 929.
Selbstverständlich gibt es kein absolut sicheres ökonomisches Mittel gegen die Bestech­ lichkeit von Beamten, doch der ökonomische Anreiz zur pflichttreuen Anzeige von Übe e­ tungen ist hier sehr deutlich.
47 Versteht man das Bildpro amm als illustrierten Statutenband, könnte man womöglich auch der bisher assteils noch une orschten Überlieferung der Fresken etwas näherkonunen. Der kompilatorische Charakter von Statuten, der aus immer neuen Überarbeitungen und Revisio­ nen der bestehenden, auf die kommunale Zeit des 12. und 1 3 . Jahrhunderts zurückgehenden Statuten entstanden ist, stellt keine Besonderheit dar; wie für die meisten italienischen Kom­ munen gilt dies auch Padua. Eine Revision der Statuten e olgte hier zuletzt im Jahre 1420 mit dem lokra treten des codice riformato o vene , der bis in die napoleonische Zeit die rechtliche G ndlage der Stadt blieb. Die Veränderungen des Freskenzyklus im Salone könn­ ten sich womöglich aus seiner Nutzung als einem illus ierten Statutenband erklären. Ich mei­ ne damit, dass die Veränderung der Fresken durch die Jahrhunderte möglicherweise als Revi­ sionen von Statuten verstanden werden könnten, die komplexe Überlieferungsgeschichte des
Zyklus sich gleichsam als andaue de Revision städtischer Normen lesen Iiesse.
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lierter Au rag der Kommune, die die Au raggeberschaft vertritt, und immer präsentes und für Rekurse o enstehendes Nachschlagewerk r die eigene Ar­ beit, soll den äge und Angeklagten das Resultat ebendieser Arbeit vorge­ hrt werden. Den Angeklagten sind die Fresken eine bildliehe Erläuterung und Belehrung, wie der gute Markt ausschauen soll; den betrügerischen, konum­ pierten Markt kennt ja niemand so gut wie sie selbst, die diese Praktiken ange­ wandt haben, was der Grund ihrer Anwesenheit im Salone ist. Somit nimmt der Zyklus die Dimension einer ganz konkreten Drohung an, indem er nämlich auf die von den Richte verhängten Sanktionen verweist.
Den Kläge schliesslich ist der Zyklus eine Bestätigung und Garantie, dass die kommunalen Institutionen um die Ordnung bemüht sind und sie stän­ dig vor Augen haben. Sie müssen sich jedoch nicht nur darauf verlassen, dass die Richter die Ordnung stets vor Augen haben, sonde sehen selbst, dass sie ihnen vor Augen gehalten wird. Ihnen ist es eine ständige Versicherung, dass das kommunale System nktioniert und hig ist, sich durchzusetzen.
Betrachtet man die Fresken vor diesem Hintergrund, wird auch deutlich, welcher ‚ Moment der Wirklichkeit‘ des städtischen Marktlebens eigentlich dar­ gestellt ist. Selbstverständlich kann ein Bildprogramm nicht einen Katalog von betrügerischen Praktiken vorführen, denn die Folgen wären r eine städtische Gemeinscha verheerend; ebensowenig sehen wir die Momente der eigentli­ chen Bestrafung der Betrüger und Fälscher. Das Dekorationsprogramm des Sa­ lone präsentiert dem Publikum die Überwindung der Realität durch die wirksa­ me Macht der städtischen Institutionen, denjenigen Moment, in dem das buon gove o sich erfolgreich durchsetzt. Nicht die Unordnung, aber auch nicht eine ursprüngliche Ordnung ist dargestellt, sonde die gemäß den Normen von den kommunalen Institutionen gezüchtigte und überwundene Unordnung, die als politisches Programm der Kommune den Anwesenden vorgeführt wird. Die Bilder repräsentieren eine von der Kommune geordnete Wirklichkeit.
Die in der Forschung bisher vorgeschlagenen Interpretationsversuche ha­ ben den Mangel, Teile des Dekorationssystems nicht erklären zu können; ein­ zelne Fresken passen nur schwer, andere gar nicht in die Erklärungsmodelle. Dies als ein rein überlieferungsgeschichtliches Problem zu deklarieren, halte ich r eine interpretatorische Notlösung. Der eklektische Charakter des Bildpro­ gramms im Salone erklärt sich einerseits aus der Einbindung in ein komplexes Geflecht textueHer und visueller Traditionen, andererseits aus den funktionalen Bedürfnissen, denen der Palazzo della Ragione in einer Kommune genügen muß. Der ikonographische Reichtum und die scheinbare Disparität der Aus­ stattung ist nur als eine lexikographische Sammlung des städtischen Wissens zu begreifen. Die unterschiedlichen Bildtraditionen, in deren formaler Tradition der Freskenzyklus steht, wurden bereits aufgezeigt. Vermutlich ließen sich noch weitere Rekurse herstellen. All diese Bezüge sollen hier keineswegs bestritten
werden, im Gegenteil. Doch können schlüssige Interpretamente den Konnotati-
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onswechsel, dem die einzelnen Traditionen unterworfen werden, indem sie ei­ nerseits in den kommunalen Gerichts- und Versammlungsraum transferiert wer­ den, andererseits neben Darstellungen anderer Traditionen gelangen, nicht ein­ fach mißachten. In seinem ikonographischen Reichtum und seiner Bedeutungs­ vielfalt bietet der Salone jedem Zuschauer etwas an. Ob eine Wah ehmung, deren Ziel eine stimmige, eindeutige und jede einzelne Darstellung einschlie­ ßende Interpretation des gesamten Dekorationssystems ist, von der Kommune als der Au raggeberirr überhaupt je intendiert war, ist bei den Ausmaßen des
Salone mehr als fraglich. In diesem Sinne ist der Zyklus als ganzes gar nicht zu bewältigen, ebensowenig wie ein Lexikon zur Lektüre empfehlen ist.
Der Ausdrucksreichtum und die formale Vielfalt der Bildersprache ist darüber hinaus als ein genuin städtisches Charakteristikum zu begreifen. Um im ‚größten Buch der Stadt‘ dieser sozialen und politischen Organisationsform ge­ recht werden zu können, müssen Distinktion und Diversi kation, wie sie in ei­ ner spätmittelalterlichen Stadt soziale Realitäten sind, berücksichtigt werden. Gegensätze von arm und reich, alt und jung, männlich und weiblich müssen bildlich behandelt werden, um ihre politische und soziale Bedeutung zu unter­ streichen und gleichzeitig bildlich zu ordnen. Dies geschieht nun keineswegs zufällig im Salone, denn dieser Raum ist das Zentrum städtischer Repräsentati­ on und somit r eine vormoderne Gesellscha mit einem hohen Grad von Öf­ fentlichkeit ausgesta et.48
Das Dekorationssystem des Salone führt dem Publikum die gut nktio­ nierende Kommune vor; nicht als Abbild einer Realität, also als etwas Stati­ sches und Abgeschlossenes, sonde als etwas Prozessha es, das es ständig neu kreieren gilt, und dessen politische Notwendigkeit sich gerade im Zyklus selbst bestätigt ndet. Dazu gehört die wirksame Kontrolle und Züchtigung al­ ler möglichen Friktionen und Spannungen in der städtischen Gemeinscha – ökonomisch, politisch und sozial – ebenso wie das vorzeitige Unterbinden oder das nachzeitige Bestrafen von betrügerischen Handelspraktiken, sozialem Wi­ derstand und politischer Verschwörung. In diesem ordnenden Prozeß städti­ scher Selbstverwaltung übe ehmen die Fresken des Salone die Funktion von ordnenden Kommunikatoren zwischen der äusseren Welt der städtischen Rea­ l ität, die einer ständigen Gefährdung ausgesetzt ist und bleibt, und der inneren Welt eines von der Kommune r sich selbst formulierten politischen Pro­ gramms. Sie sind weder Abbild des einen noch des anderen, sonde präsentie­ ren als Diskursmöglichkeit, auf die immer rekurriert werden kann, eine Ver­ bildlichung und damit einen Teil der Verwirklichung eines politischen und so­ zialen Systems, des buon gove o einer städtischen Kommune.
48 Der Salone ist im Spätmittelalter grundsätzlich jedem Mann zugänglich. Um den Palazzo betreten zu können, müssen Frauen dazu aufgefordert werden. Zur Öffent chkeit in vormo­ de en Gesellscha en vgl. J. HABE AS: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frank M. 1963.
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II. FE , der Hof
Die Überlieferungsgeschichte des Freskenzyklus der Sala dei Mesi im Palazzo Schifanoia in Ferrara ist weit weniger komplex. Zu Beginn des 1 8 . Jahrhunderts waren die Fresken immer noch sichtbar, die Monatsbilder Dezember bis Februar jedoch bereits zerstört. In seinen Viten der ferraresischen Künstler beschreibt Girolamo Ba ffaldi den Zyklus aus hrlich.49 der zweiten Jahrhunderthäl e verschwand das Dekorationsprogramm unter einer Tünche, von der es in den Jahren nach 1 8 2 1 wieder befreit wurde. Im Gegensatz den Bilde i m Salone wurde die Sala dei Mesi nie größeren Veränderungen unte orfen, so dass wir den Zyklus heute in seiner originalen Form des ausgehenden 15. Jahrhunderts sehen.
Ein Brief des Malers Francesco del Cossa an seinen Au raggeber, den Herzog Borso d’Este trägt wesentlich dazu bei, Teile des Freskenzyklus im Pa­ lazzo Schifanoia hinsichtlich ihrer Au raggeberscha , des aus hrenden Ma­ lers und eines das Konzept des Zyklus betreuenden Beraters des Herzogs zu klären. Francesco del Cossa bittet in diesem Brief den Herzog um bessere Ent­ löhnung und gibt sich dabei als der Autor der Monatsbilder März bis Mai zu erkennen (Abb. 12).50 An der Ausschmückung der Sala dei Mesi sind neben Francesco del Cossa noch weitere Künstler beteiligt. Von den sieben heute noch erhaltenen Monatsdarstellungen werden Leopoldo Cicognara und Ercole de‘ Roberti die Monate August und September zugeschrieben, während die Fresken der Monate Juni und Juli dem anonymen Maestro degli occhi spalancati zuge­ ordnet werden.51
49 G. BARU ALDI: Vite de‘ pittori e scultori ferraresi, 1697-1722, con annotazione, a cura di G. BOSCHINI,Ferrara1844-1846.
50 „Et ricordare suplicando a quel/a [ Vostra Signoria, L.B.] ehe io sontofrancescho del cossa il quale a sollofatto quili tri canpi verso /’anticamara.“ Der Brief des Francesco del Cossa an Herzog Borso ist datiert vom 25. März 1470. Zuerst abged ckt bei G. CAMPORI: I pittori de­ gli Estensi nel secolo XV. ln: A i e Memorie Modenesi e Parmensi, terza se e, 3, 1 886, S. 592-593; später auch bei E. RÜ R: Francesco del Cossa, München 1959. Gleichzeitig un­ terrichtet dieser Brief neben der vieldiskutierten Dreierbeziehung zwischen r stlichem Auf­ aggeber, Künstler und ‚humanistischem Berater‘, der das Konzept verantwortlich zeich­ net, auch von ökonomischer Situation und Ansprüchen eines Malers im ausgehenden 15. Jahrhundert. Hierzu undlegend P . HIRSCHFELD: Mäzene. Die Rolle des Au aggebers i n der Kunst, o. 0. 1968; M. B NDALL: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frank M. 1977 (engl. 1972); L. MARTINES: Power and Imagi­ nation. City-States in Renaissance ltaly, New York 1979, besonders Kapitel XII mit dem Titel ‚ alliance with power‘; M. W : Der Ho ünstler. Zur Vorgeschichte des mode en Künstlers, Köln 1985.
5 1 R . LONGHI: O cina Ferrarese ( 1 934), seguita dagli ampliamenti ( 1 940), e dai nuovi am­ pliamenti (1940-1 945), Florenz 1956. Das Problem der Zuschreibung wurde zuletzt wieder aufgenommen von K. LIPPINCOTT: Gli a eschi del Salone dei Mesi e il problema
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Neben der Problematik der Zuschreibung und überlieferungsgeschichtli­ chen Fragen widersetzte sich jedoch vor allem das Bildprogr selbst bis in unser Jahrhundert einer schlüssigen Interpretation. Während die untere Zone einfach und verständlich schien, weshalb dieser Teil über stilistische Analysen hinaus kaum mehr diskutiert wurde, stellten die beiden oberen Zonen ein unlös­ bares ikonographisches Problem dar. Erst mit der bekannten Studie Aby War­ burgs, d i e er am Zehnten Inte ationalen Kunsthistorikerkongress im Jahre
1 9 1 2 in Rom präsentierte, gelang die Lösung. 52 Indem er die verschiedenen Stationen des Transfers nachzeichnete, gelang Warburg der Nachweis, dass ein astrologisches Lehrgedicht eines antiken Autoren die Quelle des Freskenzyklus bildet. In einer Passage aus dem „Astronomicon“ des 1 4 1 7 wiederentdeckten Manilius werden die Schutzverhältnisse der olympischen Götter den Zodia­ kalzeichen exakt so vorgegeben, wie sie in der Sala dei Mesi dargestellt sind. Ebenfalls zeigte Warburg auf, dass es sich bei den drei Figuren, die in der mitt­ leren Zone jeweils ein Ste zeichen umgeben, um die sogenannten Dekane han­ delt.53 Durch einen Apparat literarischer Quellen und die Analyse ihrer Bezie­ hungen sowohl bildliehen Darstellungen als auch untereinander gelang es Warburg schließlich, das bis dahin unverständliche Dekorationsprogramm zu entschlüsseln. Der kulturgeschichtliche Ansatz Aby Warburgs wurde in der Folge nicht mehr konsequent den Freskenzyklus der Sala dei Mesi herange­ tragen; ebensowenig geschah dies anband anderer Bildquellen. Die Integration des Dekorationssystems in die soziale Praxis einer Herrscha , der Wemer Gun­ dersheimer in seiner Untersuchung zu Ferrara einen eigenen Stil zuspricht, wur­
de bisher nicht vollzogen.54
1 . Der Herzog und sein Palast
1469 erwähnt der anonyme Chronist des Diario Ferrarese den Palazzo Schifa­ noiaerstmals: „…eswurdeerlassen,denPalazzoSch anoiaimKirchsprengel Sankt Andreas zu e euern, und begann der Herzog Borso ihn zu bewoh­ nen.“55 Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen festen Wohnsitz des Für­ sten im heutigen Sinne. Vielmehr hält sich die rstliche Familie, wenn sie sich
dell’at ibuzione. : Atlante di Sch anoia. A cura di R. VARESE, Ferrara 1989, S. 1 1 1 – 1 4 1 . In diesem Aufsatz finden sich alle nützlichen Angaben r kunsthistorischen Literatur.
52 A. WARBURG: Italienische Kunst und inte ationale Astrologie im Palazzo Schifanoia Ferrara (1912). In: L’ltalia e I’Arte Straniera. Atti del X Congresso lnte azionale di Storia deli’Arte ( 1 9 1 2), Rom 1922. Wieder abgedruckt in: A. WARBURG: Gesammelte Schri , 2 Bde., Leipzig 1932, S. 478 f.
53 A. WARBURG: Italienische Kunst … (wie Anm. 52) S. 464-469.
54 W. L. GUNDERSHE!MER: Ferrara. The Style ofa Renaissance Despotism, Princeton 1973.
55 Diario Ferrarese dall‘ anno 1409 sino 1502 di autori incerti, a cura di G. PARD!. In: S 24, parte 7, S. 58 „… fo ito di rehedi care il palazzo di Schivanoio appresso a Sancto An­ drea, et inco inciato ad essere habitato per il prefacto duca Borso.“
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nicht auf Reisen be ndet, in einem über die ganze Stadt und den distretto ge­ legten Netz von Palazzi, Delizie und Castel/i auf. Im Jahre 1450 etwa, als Bor­ ses Bruder und Vorgänger als Signore von Ferrara, Leonello, im Sterben liegt, benachrichtigt man den zukünftigen Fürsten in der Delizia von Belriguardo. Alleine innerhalb der Stadt bewohnt die Familie des Signore drei Delizie – Schifanoia, Belflore und Belvedere -, die zusammen mit weiteren im distretto gelegenen ein System rstlicher Präsenzmöglichkeiten bilden.56 Weder Borso noch seine vor respektive nach ihm als Signori von Ferrara herrschenden Brü­ der, Leonello und Ercole I., halten sich in erster Linie im eigentlichen Fürsten­ palast (Palazzo Ducale oder Palazzo di Piazza) auf, der sich in unmittelbarer Nachbarscha der Kathedrale befindet. Das mächtige Castelle Estense, eben­ falls im Zentrum Ferraras gelegen und seinem Charakter nach reine Festung, bewohnen sie gar nur in Momenten politischer oder militärischer Krisen. Eine Herrscha scheint sich nicht wirksam entfalten zu können, wenn sich deren Re­ präsentant mit der Präsenz im Zent m begnügt, denn die Palazzi und Delizie der Fürstenfamilie sind nicht reiner herrscherlieber Gestus der Verschwendung, sonde auch Teil einer sozialen Praxis. Die Renovation und die Erweiterung des im Jahre 1 385 von Alberte d’Este begonnenen Baus des Palazzo Schifanoia und insbesondere die außerordentlich reiche Ausschmückung des Piano nobile, des ersten Stockwerkes, gehören in das vielfaltige Arsenal von Inszenierungs­ möglichkeiten der fürstlichen Macht.57
Aus dem Diario Ferrarese erfahren wir auch einiges über das Leben, das sich im und um den Palazzo Schifanoia herum abspielt. Der anonyme Chronist berichtet: „1470, am 13 Februar, einem Dienstag, verlobte der hochwohlgebo­ rene Herzo� Borso im Palazzo Sch anoia die Schwester des verehrten Messer Alberto …“ 8 Und drei Jahre später, Borso ist 1471 gestorben, und sein Bruder Ercole 1. ist ihm in der Herrschaft gefolgt, findet sich folgende Notiz: „Der Graf Lorenzo de‘ Strozzi von Ferrara und der hochwohlgeborene Alberio d’Este,
Bruder des Herzogs und Sohn der Donna Filippa da Ia Tavola von Ferrara, machten ein weiteres Fest im Palazzo Schifanoia; dies war am Karneva/ssonn­ tag, am letzten Tag im Februar . . .“59 Fürstliche Feste sind nicht nur Zeitvertreib einer sich Luxus und Genuß hingebenden hö schen Gesellschaft, sonde
56 Vgl. G. P r : Le ‚Delizie Estensi‘ e l’Ariosto. Fasti e piaceri di Perrara nella Rinsascenza, Peseara 1923.
57 Borsos kunstpolitische Aktivität beschränkt sich keineswegs aufdie E euerung des Palaz­ zo Schifanoia. Eine diese Tätigkeiten zusa enfassende Liste stellt der Diario Ferrarese anlässlich des Todes des He ogs bereit. Vgl. Diario Ferrarese… (wie Anm. 55) S. 72.
58 „1470, a di Xl de Febraro, de marti, lo ill. duca Borso in Schivanoio promisse Ia sorella de lo illustre messer Alberio …“ Diario Ferrarese .. . (wie Anm. 55) S. 63.
59 „11 conte Lore o de
duca et olo de madonna F ppa da Ia Tavo/a da Ferrara, nefece un ‚altra in el suo palazo Schivanoio. efu Ia dominica de camevale, chefu a di ultimo de Febraro.“ Diario Ferrarese … (wie m.55)S.86.
·
S t r o i d a F e r r a r a e l o i l l . m e s s e r A l b e r t o d ‚ t e Jr a t e l l o d e / p r a c t o
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übe ehmen politische Funktionen. Der Empfang diplomatischer Delegationen reiht sich in der Chronik ganz natürlich neben die festlichen Bankette und Ver­ gnügungen. Drei Wochen nach dem Tod des Borso d’Este empfangt Ercole I. eine venezianische Delegation. „… an diesem Tag stieg seine Exzellenz aufsein Pferd und ritt zusammen mit seiner Gefolgschaft, den Verbündeten des verstor­ benen Herzog Borso und seinen Brüde bis Francolino den Gesandten der Si­ gnorie von Venedig entgegen; diese men aufB uch, um den Tod des Borso zu betraue und sich zufreuen über den Aufstieg seiner Exzellenz zum Herzog. Die Gesandten waren Andrea Vendramin und Alvise Foscarini, die zu den er­ sten Familien in Venedig gehören; von ihrem Tre unkt aus begleitete sie Er­
cole bis zu ihrer Unterkun im Palazzo Schifanoia. „60 Diese Begegnung ist in ihrer Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen. Venedig ist in dieser Zeit die bedeutendste Macht Norditaliens; seit 1405 hat die Seerepublik auf dem Fest­ land Fuß gefaßt, 1481 wird die venezianische Expansion ihre größte Ausdeh­ nung erreicht haben und sich bis nach Crema, das heißt in die unmittelbare Nä­ he Mailands, erstrecken. Das Veneto, das Friaul, Teile der Lombardei und der Emilia stehen in mehr oder weniger direkter Abhängigkeit zur venezianischen Republik. Die Unterschiedlichkeit dieser Unterwerfungssverhältnisse zeigt sich gerade an einem Vergleich zwischen Padua und Ferrara. Während in Padua ve­ nezianische Patrizier die zentralen Schaltstellen der kommunalen Strukturen übe ehmen, arrangiert sich Ferrara damit, Venedig unbeschränkte Rechte r die Schiffahrt auf dem Po zu gewähren. Die venezianische Gesandtscha stattet dem Herzog von Ferrara nicht nur einen Hö ichkeitsbesuch ab, sonde erkennt Ercole I. in seiner neuen Funktion als Herzog im Tausch gegen die E euerung der Schiffahrtsrechte auf dem Po an. Die Würdigung des Ercole I. d’Este als Fürst scheint r die venezianische Gesandtscha die beste Möglichkeit, der Republik Venedig ihre bisherigen Rechte zu siche ; um so mehr als der neue Herzog offensichtlich die sozialen Bindungen und Klientelbeziehungen seines verstorbenen Bruders tel quel übe ommen hat, denn er emp ngt die Venezia­ ner in Begleitung der entourage des Borso, hrt hier mit anderen Worten die unveränderte politische Berater- und Gefolgscha seines Bruders vor. Diese Treffen spielen sich zumindest teilweise im Palazzo Schifanoia ab. Bedauerli­ cherweise ist von den venezianischen Gesandten kein Bericht vorhanden, der uns etwas von den prachtvollen Inszenierungen, die zu ihrer Ankun bereitet wurden, oder sogar vom Interieur des Palazzo Schifanoia erzählen könnte. An-
60 “ … in quello giorno monto sua Exellentia a cavallo et ando incontra, con Ia sua comitiva et con tuta lafameglia del quondam duca Borso, et cum lifratel/i, a ambasciatori de Ia Signo­ ria de Venecia insino a Francolino, ehe veneano a visitare sua Excellentia et a dolerse de Ia morte delfratello et allegrarse de sua Excellentia, ehefusse ascesa in alto. Li quali amba­ scaturi o messer Andrea Vendremino et messer Alovisio Foscarini, di principali gentil­ homini di Venetia, et Ii acompagno insino al logiamento, chefu a Schivanoio.“ Diario Fer­ rarese … (wie A . 55) S. 74.
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drea Vendramin und Alvise Foscarini dür en vom Bilderschmuck der Sala dei Mesi ähnlich beeindruckt gewesen sein wie zwei Gesandte aus Mailand, die am Hofe des Ludovico Gonzaga während Verhandlungen vom Fürsten in einen vollständig freskierten Raum ge ihrt werden, die Camera degli sposi. In einem Schreiben an ihren Signore, Galeazzo Maria Sforza, berichten sie: „Dara be­ gann man über schöne Dinge zu sprechen; nachdem ein bißchen so gesprochen wurde, zeigte uns der Markgrafein Zimmer, das er bemalen läßt und in dem seine Herrlichkeit selbst in natürlicher Weise dargestellt ist, seine Gattin Don­ na Barbara, Don Federico und alle anderen Söhne und Töchter; und während man so über die Figuren sprach, ließ er seine beiden Töchter kommen, Paula diejüngere und Donna Barbara die ältere, die uns zumindest, soviel wie wir davon verstehen, schön und anmutig, von guter Gesundheit und mit guten Um­ gangsformen erschienen ist.“61 Der Bilder klus der Camera degli sposi scheint sich in diesem Bericht ganz natürlich in das politische Gespräch integrieren; die Präsentation der Fresken ist keineswegs deplaziert, ja sie scheinen die Ge­ sandten beein ussen, indem ihnen dabei die klare Distinktion zwischen idealisierendem Fresko und politischer Realität etwas verloren geht. Es ist un­ möglich, die Wirkung exakt benennen, die die Bilder auf die beiden Mailän­ der ausgeübt haben, doch es steht außer Zweifel, dass sie eine Wirkung hatten, und dass Ludovico sie seinen Gästen aus diesem Grund gezeigt hat.
Kehren wir nach Ferrara zurück. Auf den delikaten Zeitpunkt, zu dem der Be­ such der venezianischen Gesandten er lgt, wurde bereits hingewiesen. Im Lichte der besonderen lehensrechtlichen Herrscha sverhältnisse der Este ge­ winnen die Verhandlungen mit Venedig zusätzliche Brisanz. Als Herzöge von Ferrara sind die Este Vikare in temporalibus des Papstes, als Herzöge von Mo­ dena und Reggio hingegen Vasallen des Kaisers. Neben diese beiden formellen Herren tritt nun im 1 5 . Jahrhundert die sehr reale Herrschaft der sich auf der Terra Ferma etablierenden Republik Venedig. Mit allen drei Mächten muß der Herzog geschickt verhandeln wissen. In die Regierungszeit des Borso fallen sowohl Besuche Kaiser Friedrichs ll1. wie auch Papst Pius II. Friedrich verleiht Borso im Jahre 1 452, als er sich auf seiner Krönungs- und Hochzeitsreise von Wien nach Rom befindet, den Titel eines Herzogs von Modena und Reggio, während Pius ihm allerdings denjenigen eines Herzogs von Ferrara verwei-
61 „Dapoi se intro in rasonare de cose da piacere: et rasonato per uno pezo, nefece mons/ra­ re una camera Ja depingere, dove e retracta a/ naturale soa signoria, madonna Barbara soa consorte, domino Federico e tuli / ‚altri glioli et gliole; e/ parlando de questefigure nefece venire lefgi liole tutte due, cioe madonna Pau/a minore e madonna Barbora maiore, quale ad nui, per quello ne intendiamo, e parsa una bella e gentile madona et de bono aere et bone moniere.“ Der Brief ist publiziert bei A. TISSONI-BENVENUT!: Un nuovo documento sulla <> del Mante a, in: ltalia Medioevale e Umanistica, 24 ( 1 98 1 ), S. 357- 360.
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gert.62 Für die Anwesenheit der beiden höchsten Vertreter der weltlichen und der geistlichen Autorität scheut Borso keinen Au and. Prächtige Einmärsche und Feste finden in der Stadt wie auch im distretto statt, im Palazzo Ducale wie auf der Piazza. In die verschiedenen Palazzi werden die hohen Gäste zu ihrer Unterkun gebracht. Der Diario Ferrarese berichtet aus hrlich über dieses ‚Theater der Macht‘, das der Herzog r sich und seine Gäste inszeniert. Loka­ litäten wie der Palazzo Schifanoia gehören in das Arsenal von ver gbaren Or­ ten, an welchen diese Inszenierungen statt nden. Dabei handelt es sich um ei­ nen ausgesprochen prächtigen Ort, so dass sich eine Leseweise aufdrängt, die diesen Reichtum nktional zu deuten sucht.63
Der Palazzo Schifanoia ist kein privater Raum, ist nicht ‚chambre separe‘ des Herzogs, sonde öffentlicher Repräsentationsbau. Darunter haben wir eine repräsentative Öffentlichkeit zu verstehen, ein autoreferentielles System der Le­ gitimation von Herrscha .64 Repräsentation des Fürsten soll im folgenden hei­ ßen einerseits die Darstellung der rstlichen Macht, andererseits der Prozeß, der diese Macht ständig neu schaf , wirksam umsetzt und in einem genau fest­ geschriebenen Segment von Öffentlichkeit unablässig testet; das Gelingen oder Scheite rstlicher Repräsentation läßt sich alleine in der Wirksamkeit einer Herrschaft bestimmen.65 Wie sich ein Freskenzyklus in diesen Prozeß einordnet und wie die Repräsentation der fürstlichen Macht gelingen kann, soll im fol­ genden erläutert werden. Die Fresken werden dabei keineswegs auf funktionale Illustrationen der Macht reduziert, sonde die Bildersprache als kultureller Code steht im Zent m des Interesses.
Dem Vorrecht des Fürsten, über den öffentlichen Raum als Bühne für die Inszenierung seiner Herrscha zu verfügen, kommt dabei eine zentrale Bedeu­ tung zu. Im Freskenzyklus des Palazzo Schifanoia gelangt das Konzept einer privilegie en fürstlichen Sichtbarkeit ganz ausgeprägt zur Anwendung. Der
62 Erst 14 7 1 kurz vor seinem Tod wird Borso in Rom von Paul l l der Titel eines Herzogs von Ferrara verliehen. Diese Reise ist von Francesco Ariosto, einem Begleiter des Borso, sehr aus­ hrlieh beschrieben. Vgl. La venuta di Borso d’Este in Roma ( 1 5. 4 . 1 4 7 1 ) di Francesco Ariosto Pere ino. A cura di E. CELANI. : Archivio de a societa Romana di storia Patria, 13, 1890, s. 361-450.
63 Die prächtige Ausstattung des Palazzo Schifanoia beschränkt sich nicht auf die Sala dei Mesi. Andere Räume wie etwa die benachbarte Sala delle Virtu oder die Sala dei Marmi sind ebenfalls kostbar geschmückt. Die Fassadendekoration, wie sie Ranieri Varese in einer Re­ konstruktion vorschlägt, trägt diesen Reichtum auch aus den Räumen des Palazzo hinaus; zusammen mit den Ga enanlagen, von denen der Palazzo noch bis ins he 18. Jahrhundert umgeben ist, erweckt der Palazzo im ausgehenden 15. Jahrhunde sicherlich nicht denselben unscheinbaren Eindruck, wie wir ihn von der heutigen Via Scandiana aus gewinnen. Vgl. R. VARESE: Atlante … (wie Anm. 5 I).
J. HABERMAS: S uktu andel … (wie Anm. 48) S. 20.
65 Weiter hrend H. GOTZKY, H. WENZEL: Hö sche Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1 990, dort vor allem die Einleitung, S. l – l 5 .
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Einbezug des Freskenzyklus in die Umsetzung dieser Repräsentationsstrategie verdeutlicht, wie bewusst man sich der kommunikativen Eigenscha en unter­ schiedlieber Medien ist.
2. Fürstliche Verkörpe ngen
Im Sommer des Jahres 1459 Enea Silvio Piccolomini, seit einem Jahr als Pius II. im Amt des Pontifex, in Mantua die Signori der italienischen Staaten zusammen, um mit deren Hilfe den Kreuzzug gegen die Türken zur Durch h­ rung zu bringen. Trotz mehrfacher Au orderung seitens des Papstes und wie­ derholter Versprechen seinerseits erscheint Borso d’Este nicht in Mantua. An­ statt dem Ruf des Papstes Folge zu leisten, entschuldigt er sich mit einem Horo­ skop, das ihm r eine Reise nach Mantua den sicheren Tod voraussagt. Pius li. tadelt den Fürsten für seinen heidnischen Stemenglauben, hält das von Borso vorgeschützte Horoskop jedoch wohl schlicht für eine Ausrede.66 Daraufhin führt Borso zur Entschuldigung , er läge mit hohem Fieber krank damieder, gebt jedoch in der Emilia auf Vogeljagd, was Pius Il. für kindisch und eines Fürsten unwürdig hält. All dies veranlaßt Pius II. in seinen Kommentaren zu einem Kapitel mit dem Titel „de Borsii instabilitate et mendacia“ („Von Borsos Unbeständigkeit und Verlogenheit“).67 Auch an Borsos herrscherlieber Praxis der Aufwendungen und Inszenierung der eigenen Person nimmt Enea Silvio Anstoß, weil er sie für lasterha e Eitelkeit hält. In der Schilderung der von Bor­ so betriebenen Omnipräsenz der rstlichen Person offenbart Enea Silvio, ohne diese Absicht zu verfolgen, jedoch auch die Wirksamkeit dieser Praxis: “ … und sie (die Fürsten] glauben den Schmeichlern, von welchen die Höfe voll sind, und denken sowohl in Anwesenheit wie in Abwesenheit gleichermaßen verehrt zu werden. Dabei geschieht o mals das Gegenteil. Selten wird, wer öfef ntlich ge­ priesen wird, verehrt, wenn er abwesend ist. Wohin Borso auch ging, bei seinen Untertanen, bejubelte ihn das Volk. In fremden Herrscha en war sein Name verrufen.‘ 8 Die Wirksamkeit einer Herrscha ist eng mit der Präsenz des Für­ sten verbunden.
„lterum vocatus, mutato consi/io, renuit, astronomorum iudicia causatus, qui sibi mortem portendere asrra con rmarenr, Manruam petituro. Increpavit eum Pontifex, qui Gemi/ium sequererur ineptias et per astro m inspectionem futuri se conscium diceret. . . . Astrologorum iudicia, mense martio edita, prius sibi notafinsse quam Pontifici promisisset adventum.“ In: Piusll.,Comment ii,lib.III,cap. 21.AcuradiL.TOTARO,Mailand 1984.
“ (wie . 66).
67Pius IJ., Commentarii, lib. , p. 21 (wie . 66).
68 „er adulatoribus credentes, quanun p/enae sunt au/ae, quaefaciunt sicut in presentia sie et in absentia laudari putant. Contra multo evenit: raro absens colitur, qui coram celebratur. ßorsius quacunque iterfecit inter subditos, voces applauserum poprdi; in aliena terra nomen
eius infamefuit ..
.
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Die Fresken der Sala dei Mesi folgen diesem Konzept sehr deutlich. Die Figur des Borso d’Este ist omnipräsent. In jedem Monatsbild ist er mehrmals dargestellt; Das Bild des Fürsten wird m eigentlichen Programm des Zyklus. Auf die untere Zone, wo dies am deutlichsten wird, jedoch keineswegs aus­ schließlich gilt, soll sich r einen Moment unser Blick konzentrieren. Anband des Freskos des Monats März sollen exemplarisch die Orte, Funktionen und Bedeutungen der physischen Präsenz des Fürsten untersucht werden.
Der Körper des Fürsten ist bei den drei Darstellungen dieses Bildaus­ schnittes immer in prächtige Gewänder gehüllt. Borso muß als Fürst erkennbar sein, weshalb seine physische Erscheinung in allen Darstellungen unverändert bleibt. Aus den ihn umgebenden Höflingen, seiner Comitiva, sticht er als die zweifellos prächtigste Figur heraus. Selbstverständlich ist es nötig, dass Borso sich von seinen Höflingen kenntlich unterscheidet, doch ist das Mittel der Di­ stinktion durch prachtvolle Kleidung r die Herrschaft Borsos nicht nur eine bildliehe Strategie.69 Der anonyme Chronist des Diario Ferrarese berichtet von der immer reich gekleideten Person des Fürsten: “ … und er war immer in gold­ gewirkten Sto en gekleidet, sowohl in der V a wie aufdem Land, sowohl zur Jagd wie auch zu Hause . ..“70 Dass einem prachtvoll gekleidetem Körper über den Gestus von symbolischer Verschwendung hinaus auch eine politische Wirksamkeit zukommt, schildert Machiavelli in einer Episode aus Florenz, die sich während der theokratischen Herrscha des Girolamo Savonarola zutrug. In einer Auseinandersetzung zwischen im Streit liegenden Parteien zieht ein Volkshaufen vor das Haus des zur Faktion der Frateschi gehörenden Pagolanto­ nio Soderini und bedroht denselben. Der zufällig im Haus anwesende Bruder Francesco, damals Bischof von Volterra, vermag die Menge zu beruhigen, in­ dem er seine prächtigsten Kleider anzieht, das Chorhemd darüberwirft und den Bewaffneten entgegengeht. Durch den Au ritt seines reich gekleideten Körpers gelingt es ihm, seinen Bruder zu beschützen.71 Die prächtige Erscheinung einer Autorität ist im Moment einer politischen Krise wirksam.
Borso d’Este mag – Enea Silvio ist durchaus eine glaubwürdige Quelle ­ eitel sein; die Wirksamkeit des prächtig geschmückten Fürstenkörpers kennt er bestens und er weiß, das Erscheinen dieses Körpers effizient zu inszenieren. Dies fuhrt dazu, dass Borso auch uns ausschließlich in dieser glänzenden Hülle goldgewirkter Stoffe bekannt ist. Die Präsentation des rstlichen Körpers
69 Es gibt durchaus auch andere Strategien die Zentralität einer Person bildlich inszenieren. Im oben bereits ange h en Zyklus der ‚Camera degli sposi‘ in Mantua wird der Au ragge­ ber, Ludovico Gonzaga, keineswegs prächtiger gekleidet dargestellt als die Mitglieder seiner Familie. Gegenteil; hier scheint prächtige Kleidung ein Privileg und Kennzeichen der hö ­ schen Jugend sein.
70 „er sempre andava vestito de panno d’oro arrizado, cosi in villa come in Ia terra, a spara­ viero et stare in casa …“ Diario Ferrarese … (wie Anm. 55) S. 66.
71 Discorsi I, 54.
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schöpft jedoch das Potential an lnszenierungsmöglichkeiten, wie es die Sala dei Mesi vorfuhrt, bei weitem nicht aus. Borso vertraut nicht alleine auf die präch­ tige Erscheinung seiner Person; ebenso geschickt setzt er Seigneurale Gesten ein.
Im Fresko des März steht Borso, wie immer von seinem Gefolge dicht umgeben, einen Bittgänger anhörend vor einer reich verzie en Loggia (Abb. 13).72 Der Blick in die Loggia suggeriert, dass sich hier der Eingang zu einem Gebäude be ndet, das jedoch selbst nirgends sichtbar wird, obwohl die Per­ spektive dies verlangen würde. Im ganzen Zyklus werden Darstellungen von Architektur und Natur geschickt eingesetzt, um Dinge nur zu evozieren, deren perspektivisch korrekte Aus hrung dann jedoch fehlt; so auch hier. Über dem Türsturz, der nur in ein schwarzes Loch hrt, können wir die Bestimmung des Gebäudes erkennen, das im Bild nur noch aus seiner eigenen Loggia besteht.
Für das Bildprogramm ist dies jedoch nicht entscheidend, kommt es doch nur darauf an, die Lokalität, die mit JUSTITIA als Gerichtsort bezeichnet ist, in möglichst vielfacher Weise mit dem Fürsten in Beziehung zu setzen. Dies ge­ lingt in dreifacher Weise. Borso ist als tugendvoller Fürst im Begriff, Gerech­ tigkeit zu üben; die Begegnung mit der nicht-hö schen Gruppe präsentiert dem Publikum einen für seine Untertanen ansprechbaren Herrscher, der nicht durch das hö sche Zeremoniell gänzlich entrückt ist; dies ist ein Topos gerechter Herrschaft, wie er auch in Texten überliefe ist.
Über der Gruppe um Borso ist das Wappen der Este angebracht73. Die Präsenz der eigenen heraldischen Zeichen im ö entlichen Raum, so wie es das Fresko uns glauben machen möchte, ist das Privileg der Herrscherfamilie. Gleichzeitig wird hier jedoch das Wappen der Este unzertrennlich mit der Tu­ gend der Justitia verbunden; um dies gleichsam mit einer Emphase nochmals zu wiederholen, ist im Hintergrund über dem Schriftzug JUSTITIA ein Medaillon sichtbar, das den Fürsten abbildet. Die wiederholte Darstellung des Fürsten oder seiner Zeichen in der Nähe und Umgebung der Gerechtigkeit verdichten sich zu einer Kontextualisierung des Borso mit der höchsten moralischen und staatser­ haltenden Tugend.74 Die Gerechtigkeit bildet in einem Staatswesen das Funda­ ment einer guten Herrschaft, eines buon governo; in der Sala dei Mesi wird sie nun gleichsam originär an Borso gebunden, der damit zum guten Fürsten wird, zum Signore liberale. Das Fresko bietet dem Publikum eine in Körper und Kompetenz des Fürsten gekleidete Allegorie der Gerechtigkeit an.
72 Wahrscheinlich gehören der Mann, die Frau und das Kind zusammen, da sie sich in der Kleidung doch sehr deutlich von den Höflingen terscheiden.
73 1452 erhält Borso zusammen mit dem Herzogstitel von Friedrich III. das Privileg, den kai­ serlichen Adler im Wappen zu hren.
74 der klassischen politischen Theorie, sowohl in der Nikomachischen Ethik des Anstoteies wie auch der Politeia des Plato, ist die Gerechtigkeit die höchste Tugend.
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Neben der Szenerie um Borso als Allegorie und Garant der Gerechtigkeit sind im Märzfresko noch zwei weitere Darstellungen des Fürsten zu sehen. Die sich in jedem der sieben erhaltenen Fresken wiederholende Jagd mit dem Fal­ ken wird meist als persönliche Vorliebe des Fürsten gedeutet. Die Empörung Enea Silvios über dieses kindische Vergnügen ist bereits bekannt, und auch der Diario Ferrarese berichtet unablässig von den rstlichen Jagdvergnügen. Die beinahe schon penetrante Wiederholung der Jagdszenen läßt sich über eine mögliche persönliche Vorliebe des Borso hinaus aber auch politisch lesen; es bleibt ein fundamentaler Unterschied zwischen der Jagd selbst und ihrer Dar­ stellung in einem Freskenzyklus. Der Diario berichtet von einem Für­ stenbesuch: „…und es m nach Ferrara Ludovico Gonzaga, Markgraf von Mantua, der einen Monat lang mit Borso d’Este zur Voge agd wollte, und er kam mit 100 Pferden.“15 Der hier geschilderte Au and ist enorm und läßt sich mit he scha lichem Habitus in seiner exklusivsten Form wohl plausibler erklä­ ren als mit den persönlichen Marotten der rstlichen Machthaber. Das Privileg der Jagd ist dem Adel vorbehalten. Gerade in der Vogeljagd ist der rstliche Gestus des Jagens in seiner Sublimiertesten Form sehen. Über den ökonomi­ schen Wert der Jagdfalken, das Wissen, das es zu ihrer Abrichtung bedarf, und das Privileg, sie auf Jagden einzusetzen, über all das ver gt Borso. Darüber hinaus ist die Jagd mit den Falken auch ein Eingriff der rstlichen Macht und der von ihr repräsentierten Ordnung in die Natur. Die in den Fresken darge­ stellte Fauna beschränkt sich jedoch keineswegs auf die Jagdfalken und -hunde des Fürsten. Die im Zyklus dargestellten, exotischen Tiere bilden gewisserma­ ßen eine eigene Hofhaltung.76
Die Zähmung der Jagdfalken und gemeinsam mit diesen aller exotischen Tiere, die das Dekorationssystem präsentiert, spiegelt die Zähmung einer unab­ lässig mit Unordnung drohenden Natur. Eine Stelle im Diario Ferrarese hrt diesen Gestus des rstlichen Ordnungsausgriffs ad absurdum, so dass auch der anonyme, der Herrscherfamilie ansonsten wohlgesinnte Chronist nicht mehr ganz folgen kann: „… der wohlgeborene Herzog Borso begann einen Berg aus Erde erbauen zu lassen, mit Hilfe von Wagen, Sch e n, Karren und Arbeite , und es war eine große Unternehmung; darüber klagte das Volk sehr, weil völlig nutzlos war, und die Bauern deswegen das Land nicht bebauen nnten; und er ließ dies an einem Ort machen, der Monte Sancto heißt; und das Volk
75 „• • • gionse in Ferrara messer Ludovico da Gonzaga, marehexe de Mantua, i/ quale vene a Star uno meze a fasani e pernigoni cum il prefacto duca Borso, el vene cum cento caval/i.“
50).
.
Diario Ferrarese … (wie
76 Seit der Studie von Martin Wamke zum Hotkünstler ist bekannt, dass Fürstenhöfe nicht nur selbst exzen ische soziale O sind, sonde sich auch einer exzentrischen Sprache in Wort
55) S. .
und Bild bedienen. Vgl. M. WARN : Der Hotkünstler . . . (wie
.
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murrte sehr deswegen.“71 Gerade die völlige Nutzlosigkeit und Unsinnigkeit des Vorhabens, in der Poebene einen Berg errichten, steigert den irstlichen Machtgestus beträchtlich.
Aber längst nicht alle machtvollen Eingriffe in die Natur, die Borso ver­ anlaßt, zeichnen sich in erster Linie durch Sinnlosigkeit und symbolische Ver­ schwendung aus. Während seiner Herrscha werden im distretto von Ferrara Gewässerregulierungen vorgenommen, Sümpfe, aus denen die Poebene noch bis ins späte 1 6. Jahrhundert, noch bis den von Venedig zentralistisch orga­ nisierten Miliorationen bestehen sollte, trockengelegt und Deiche gebaut.78 Die Schiffahrt aufdem Po ist einerseits ir einen über den lokalen Markt hinausrei­ chenden Güterstrom notwendig, andererseits stellt sie eine wichtige Einnahme­ quelle r den Fürsten dar. In diesem doppelten Sinn von Naturzähmung und ökonomischer Bedeutsamkeit sind in den Fresken der Sala dei Mesi (Mai und Juni) die von Borso lancierten Projekte der Flussregulierung des Po und seiner Nebenläufe dargestellt. Im Monatsbild des Mai ist ein künstlich angelegtes Flußbett – wohl eine Bewässerungsanlage – sehen, während im Juni Han­ delsschiffe dargestellt sind. Ökonomische Aktivität und Bewegung kennzeich­ nen nicht nur diese beiden Fresken. Die als ikonographische Motive in der Tra­ dition der Kalendarien stehenden Darstellungen der bäuerlichen Arbeit verweist ebenso auf Fruchtbarkeit und Produktivität wie der Handel. Die meist nur lok­ kere Einhaltung eines formalen Kanons, wie ihn die Bildtradition vorschreibt, läßt jedoch hinter diesen Darstellungen noch einen weiteren Sinn vermuten. Trotz aller Bewegung, die im contado sichtbar wird, bleibt eine harmonische Ordnung bestehen. Garantiert ist diese Ordnung von derselben Instanz, die ir eine gutes Regiment steht und die Natur zu bändigen vermag: Borso d’Este. Kein verwildertes Land, sonde kultivierte Äcker und Felder, keine aufständi­ schen, sonde arbeitende Baue werden im Freskenzyklus präsentiert. Vom Land selbst überträgt sich der irstlich machtvolle Zugriff auch auf die Landbe­ völkerung. Das gilt nicht nur ir die Baue , sonde ir alle, die sich durch den distretto bewegen.
Was ir den distretto gilt, hat auch r Stadt und contado Gültigkeit. Stadt und Umland, citta und contado, sind in den Stadtstaaten und Fürstenhöfen der italienischen Renaissance untrennbar verbunden. In den erhaltenen Fresken
7 7 “ • • . l o i l l u s t r i s s i m o d u e a B o r s o . e o m i n c i o a d a r e p r i n c pi i o a f a r e u n a m o n t a g n a d e t e r r a p e r forza de can·i, navi et brozi et de opere manuali, ehe era una gran facenda; del ehe tuto i/ populo se ne redoleva molto, perehe non era utile aleuno et Ii eontadini non poteano lavarare l e p o s s e s i o n i p e r e a g i o n e d e d i e t o / a v o r i e r o ; e t fa e e a fa r e q u e s t a m o n t a g n a d o v e s e c h i a m a Monte Saneto; et di questo ilpopulo mormorava molto.“ Diario Ferrarese … (wie A . 55)
S. 66.
78 Aufgrund ihrer ‚feudalen‘ Grundstrukturen und der rückständigen merkantilen Entwicklung sind diese Projekte ftir die fe aresische Ökonomie besonders notwendig. Ygl. W. L. GUNDERSHE ER: Ferrara … {wie . 54) S. 124.
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wird nur einmal städtisches Leben explizit thematisiert. Ganz im Stil seiner Vorfahren, die als Signori von Ferrara die ihnen delegierte Macht usurpiert und in ihrer Dynastie vererbt haben, deutet Borso alte, noch aus der Zeit des kom­ munalen Regiments stammende Konzepte von Herrscha r seine eigene Herr­ scherinszenierung um. Zu Ehren des Stadtpatrons, des Hl. Georg, nden in Fer­ rara am 23. April verschiedene Wettläufe, Pali genannt, statt. Das Fresko des April hrt uns im Hintergrund eine solche Szenerie vor (Abb. 14). Zunächst scheint es ein ungleiches Rennen zu sein, denn auf Pferden und Eseln reitende Jünglinge liegen im Wettstreit mit laufenden Männe und Frauen. Vergegen­ wärtigt man sich jedoch die Struktur vergleichbarer städtischer Rituale, wie sie in anderen Quellen überliefert sind, wird deutlich, dass hier diachrone Momente eines Rituals dargestellt sind. Drei unterschiedliche Wettläufe sind hier neben­ einander vorge hrt. Zuvorderst sehen wir Jünglinge auf Pferden und Eseln, da­ hinter laufende Männer und zuletzt Frauen.79 Einer aus Perugia stammenden Beschreibung entsprechend sind die Prostituierten, worum es sich bei den Frau­ en wohl eher handeln dür e als um einfache oder arme Bürgerinnen, bis zum Gurt hochgeschnürt dargestellt, „alzatefina alla centura“.80 Die Armen, reprä­
sentiert durch die drei laufenden Männer, werden ebenso gezwungen den Rennen teilzunehmen wie die Jünglinge. Diese sozial und politisch am Rande der städtischen Gemeinschaft Stehenden, die von innen heraus die bestehende Ordnung geHihrden können, werden dem öffentlichen E iedrigungsritual un­ terworfen. Die kollektive E iedrigung sozial Marginalisierter ehrt nach Trexler die Stadt als gesamtes und etabliert das Regiment der reichen, in Familie und Klientel eingebundenen Männer gesetzten Alters.81 Diese Gruppe der Magnaten ist im Fresko zusammen mit ihren Familien und Gefolgscbaften, den amici e clienti, als Publikum dieser autorefentiellen Inszenierung auch zu sehen. Die auf der Empore in Stühlen sitzende Gruppe von nf Männe repräsentieren das städtische Patriziat. Umgeben sind sie von der Generation ihrer Söhne, die je­ doch an der Regierung noch nicht teilnehmen, und von ihren Frauen und Töch­ tern, die sich zwar auf den Balkonen zeigen, jedoch in der Sicherheit des häus­ lichen Schutzes verweilen müssen. Die Show einer sozialen Elite, die sich selbst und ihre Herrscha bestätigt, indem sie diejenigen e iedrigt, die daran keinen Anteil haben.
In der mittleren Figur der zu Pferd versammelten Gruppe lässt sich auch der Fürst selbst erkennen. Die rstliche Kopfbedeckung und der goldgewirkte
79 Seit der Untersuchung von Richard Trexler zum Thema sind die Sozial uppen, die die­ sen Rennen gezwungen werden, ebenso bekannt wie der Transfer der Pali aus dem ursprüng­ lich militärischen Bereich als einem ‚insulting military theatre‘ in die Städte hinein. Vgl. R. C. TREXLER: Co ere Ia te a. Collective Insults in the Late Middle Ages. In: Me/anges de I ‚Ecole
an aise de Rome, Moyen Age – Temps Modern , 96 ( 1 984), S. 845-902. 8°CronacadelGraziani.ln:ArchivioStorico/taliano, 16,parteI,1850,S.115. 81 R. C. TREXLER: Correre Ia Terra … (wie . 79) S. 900.
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Wams kennzeichnen Borso deutlich. Das Fest des Stadtpatrons kann selbstver­ ständlich nicht ohne ihn über die Bühne gehen, oder besser, ohne dass er im Kreis seiner Höflinge auf die Bühne tritt, denn die Empore auf der die Zuschau­ er sich be nden und nicht die Strasse, in der gelaufen wird, ist in dieser Insze­ nierung die eigentliche Bühne, der eigentlich zentrale Ort des ‚Schauspiels‘. Doch auch aufdieser Bühne sind nicht alle gleich, werden hierarchische Unter­ schiede formuliert. Die hier dargestellte Herrscha des städtischen Regiments kann nur eine Vertretung des Fürsten meinen und verweist damit unmißver­ ständlich auf Borso d ‚ Este, denn für die Selbstinszenierung einer politisch wirklich mächtigen G ppe städtischer Magnaten ist im Palazzo Schifanoia kein Platz.
Nicht alle Wettläufe und Pferderennen können als großes Theater der Eh­
re und Unehre interpretiert werden; Pali, deren Sieg mit einem hohen Prestige­ gewinn verbunden ist, sind ebenfalls sehr verbreitet.82 Diese Pferderennen wer­ den von den Eliten – städtisches Patriziat oder Fürsten – als Gelegenheit wahr­ genommen, ihre mit großem Au and gehaltenen Rennpferde, die sogenannten barbari oder corsieri, im öffentlichen Raum der Stadt laufen zu lassen. So läßt anläßlich der Wahl Enea Silvio Piccolominis zum Papst im Jahre 1458 Borso d’Este einen Patio ausrichten: „… und Pio di Tolomei von Siena wurde zum Papst ernannt; deswegen gab es in Ferrara ein großes Fest, das der wohlgebo­ rene Herzog Borso machen ließ, denn der Papst war sein Verwandter; und er ließ die Geschäfte drei Tage geschlossen halten und veranstaltete einen Patio mit Pferden, dessen Preis ein g ner Dalmaziersto. war.“83 Borso ist in der Lage – sozusagen ausserterminlich – das Treiben der städtischen Ökonomie r drei Tage zu unterbrechen und den öffentlichen Raum der Stadt in einen Renn­ platz umzuwandeln, um seine entfe te Verwandtscha mit dem neuen Papst zu demonstrieren. Dass die verwandtscha liche Verbindung zum neuen Papst und deren Deklamation möglicherweise auch politisch ertragreich sein könnte, dür e wohl den Ausschlag zu der öffentlichen Inszenierung gegeben haben.84
3. Allegorien rstlicher Herrschaft
Während die untere Zone damit spezifisch, identi zierbar und zeitgenössisch
erscheint, bleiben die Register der oberen Zone, die gemeinhin als Triumphzüge
32 Zum berühmtesten und heute noch ausge agenen Palio in Siena vgl. A. DUNDES, A. F SSI: La terra in Piazza. Interpretation ofthe Palio ofSiena, Berkeley 1975.
e. facto Papa Pio di Tolomei Siena; per i l c efufacta grandefesta in Ferrara, c e fecefare lo ill. duca Borso, per essere dicto Papa suo parente [die Mutter des Borso ist Stella di Tolomei, L.B.], etfece tenire aserato tri giomi le boteglze, etfece correre a Ii barbari uno
33 „.••
alio de dalmasco verde.“ Diario Ferrarese … (wie . 55) S. 38.
Diese Ho ung ist jedoch trügerisch. Obwohl Borso Enea Silvio bedrängt, weigert dieser sich, ihm den Herzogstitel zu verleihen (vgl. . 62).
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der olympischen Götter bezeichnet werden, entrückt und entziehen sich über die von Warburg geleistete Rekonstruktion hinaus einer Interpretation. Trotz n­ damentaler Unterschiede ihrer Bildersprache müssen die untere und obere Zone eine logische Verbindung au eisen, bilden sie doch Teile eines gemeinsamen B i ldprogramms. 85
Das Motiv des Triumphzuges ist nicht nur in Perrara ein überaus beliebter Gegenstand höfischer Kultur. Der Zyklus und gerade die obere Zone evozieren dabei bekannte Bilder, die dem Publikum aus Kunst, Literatur, höfischen Festen und prächtigen Einzügen ihrer Herrscher wohlvertraut sind. 1452 berichtet der Chronist Johannes Ferrariensis vom Einzug des Herzogs in Modena und Reg­ gio. Im Namen der Bürgerscha wird Borso, der auf einem Wagen sitzend von verschiedenen Tugendallegorien umgeben ist, von einer Schar von Engeln als Zeichen der Anerkennung seiner Herrscha Schlüssel und Szepter überreicht.86 Einzüge dieser und die dazu verwendeten Triumphwagen sind uns aus ganz Italien bekannt. Mehr noch als die Miniatur, die Borso d’Este auf einem Trium­ phwagen abbildet,87 ist die Darstellung des Piero della Francesca bekannt, die er auf der Rückseite des Porträtdyptichons von Federico de Montefeltre und seiner Gattin Battista Sforza angefertigt hat und, das sich heute in den U izien in Flo­ renz befindet.88 Die Fresken in der Sala dei Mesi werden demnach vor dem Hintergrund einer ganzen Anzahl ähnlicher Bilder, die aus der realen Herr­ scha spraxis des Fürsten stammen, wahrgenommen und lassen sieb somit ver­ gleichen und einordnen.
Die obere Zone präsentiert in immer neue Allegorik gekleidet dem Publi­ kum einen durch das Jahr hindurch nicht abbrechenden Triumphzug des Borso d’Este. Dabei übertragen sich auf die in den Allegorien vertretene Person des Fürsten die Patronate und Ein üsse der olympischen Götter. Die Fresken er­ weitern sich zu einem vom Fürsten präsentierten Tugendkatalog, dessen ober-
85 Die unterschi liche Bildersprache zwischen oberer und unterer Zone wurde bisher ebenso wenig untersucht wie ihre logische Verbindung, obwohl etwa die Abwesenheit des Weibli­ chen in der Hofhaltung des Borso doch recht auffällig ist, während die Triumphzüge Themen der Weiblichkeit sowie diese selbst in ganz ausgeprägtem Masse präsentieren. Für die Fresken der Sala dei Mesi im speziellen stellt dies ein offenes Problem dar; zum Themenkomplex ge­ schlechtlicher Codierung am Ferrareser Hof im allgemeinen vgl. L. LOCKWOOD: Music in Renaissance Ferrara 1400-1505: The Creation of a Musical Center in the Fi eenth Century, G bridge 1984; W. L. G DERSHE R: Clarity and ambiguity in Renaissance gesture: the case ofBorso d’Este. : Jou al ofMedieval and Rena sance Studies 23, 1 993.
86 Johannes Ferrariensis: Ex annalium libris marchionum estensium excerpta (AA 500- 1500). A cura di L. SI ONI. : RJS. vol. 20, pa e 2, S. 42f.
87 Die in der Biblioteca Estense in Modena aufbewahrte Miniatur aus der Handschri des GASPARE TRIBRACO DE‘ TRTMBOCCHI: Divi Ducis Borsii estensis triumphus, Ms. Alpha, M, 7, 2 1 (Lat. 82) ist zwischen 1461 und 1471 entstanden.
88 Zuletzt dazu C. 1. HESSLER: Piero della Francescas Panorama. : Zeitschrift ir Kunstge­ schichte 55, 1992, S. 161-179.
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ster Repräsentant er selbst ist. Inhaltliche Bezüge lassen sich dabei zwischen den Fresken und der Herrschaft des Borso herstellen. Die Fresken unterteilen sich in der oberen Zone in einen Mittelteil, in dem der Triumphwagen der olympischen Götter mit seinem Gespann zu sehen ist, und zwei Nebenschau­ plätzen, die teils inhaltlich voneinander getrennt sind, teils zusammengehören. Für den März ließen sich denkbare Rekurse auf Borso etwa so darstellen: Dem Triumph der Mine a, der Göttin des Verstandes und der Klugheit und der Pa­ tronin der Weberei, ist eine Gruppe Gelehrter Männer und eine mit Webarbeiten
beschäftigte Gruppe von Bürgers auen beigegeben. Der Aufschwung der als studium genera/e im Jahre 1391 gegründeten Universität von Ferrara verdankt sich der Förderung durch Borso ebenso wie derjenigen seiner Vorgänger Leo­ nello und Niccolo d’Este.89 Die Seidenweberei wird gar erst von Borso in Ferra­ ra eingeführt.90 Während zeitgenössische Betrachter der Fresken solche Zu­ sammenhänge gleichsam automatisch mit der Person oder spezi schen Hand­ lungen des Fürsten assoziieren, müssen wir sie heute Stück für Stück rekon­ struieren. Analog zum Monatsbild des März Iiessen sich auch die übrigen my­
thologischen Bildmotive aufBorso d’Este beziehen.
Dass es zwischen den drei übereinander gelegenen Registe ein logische Beziehung geben muß, die über den Jahresablauf und die entsprechende Ster­ nenkonstellation hinausreicht, scheinen die Säulen zu unterstreichen, die die Monatsbilder von ihren Nachbarmonaten trennen und eine vertikale Lesart sug­ gerieren. Seit Edgar Wind ist einerseits bekannt, dass die Darstellung olympi­ scher Götter in der Renaissance durchaus weite Verbreitung ndet, andererseits dass ihre Darstellung nicht gleichbedeutend ist mit einer ‚Rückkehr zum Hei­ dentum der Antike‘. Hinter den Götte des Olymps, die als Arsenal von Figu­ rationen dienen, verbirgt sich der eine christliche Gott. Die Beziehung bleibt – zumindest auf der Ebene des Glaubens kenntnisses – immer dieselbe, die von den Prä gurationen auf Gott selbst verweist. Der Hinweis ist deshalb wichtig, weil die im Freskenzyklus repräsentierte Herrscha somit in Ordnungsschemen eingeordnet wird, die sich ihrer irdischen Macht im Grunde entziehen, was sie
jedoch bestätigt und legitimiert. Die Herrscha des Borso d’Este ist nicht nur ein buon gove o, ein gutes Regiment, sonde sie ist auch Teil einer göttlichen Ordnung.
In diese Ordnung reiht sich auch die mittlere Zone ein. Aby Warburg hat gezeigt, dass es sich bei den drei Figuren, die jeweils ein Ste zeichen umge-
89 W. L. GUNDERSHE ER: Ferrara … (wie . 54) S. 87f.
Vgl. C. M. ROSENBERG: lmmagini di Borso e aspetto della F del tempo nella fasce superiore del Salone dei Mesi. In: R. VARESE: Atlante di Schifanoia …. (wie . 51); H. GN JENSEN: The Universe of the Este Court in the Sala dei Mesi. A Study of the Means used by Painters to represent the Courts View of e Universe in the Palazzo Schifanoia, in: La corte di Ferrara e il suo mecenatismo, 1441-1 598. Ed. M. PADE et al., Kopenhagen 1991.
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ben, um die sogenannten Dekane handelt.91 Der Einbezug der antiken und mit­ telalterlichen Astrologie, wie ihn die mittlere Zone vollzieht, wird bei einer vertikalen Lesart einem Verbindungsglied zwischen oben und unten, zwi­ schen göttlicher und irdischer Herrscha . Ein einzelner Monat präsentiert dem­ nach stets die weltliche Ordnung des Herzogs von Ferrara, über der die Ste ­ zeichen und Dekane die kosmische Ordnung repräsentieren; zuoberst wird in einer überaus reichen und komplexen Allegorik, die sich der antiken Mytholo­ gie und der Schutzverhältnisse bedient, wie sie im „Astronomicon“ des Manili­ us beschrieben sind, die göttliche Ordnung und Zustimmung darüber, was ganz unten geschieht, dargestellt. Der Verweis auf göttliche Ordnungsmuster vermag ir die Herrscha des Borso – wie sein Vorgänger Leonello ist auch er ein ille­ gitimer Sohn des Niccolo III. – und der von ihm im Bild gestifteten Ordnung Legitimation zu erzeugen.
Mehr noch als die Gruppen, die links und rechts der Triumphzüge au au­ chen, enthalten die Figuren im Hintergrund symbolische Anspielungen aus der Tradition mythologischer Stoffe. Mit Sicherheit lassen sich die Symbole nur schwer ganz bestimmten ikonographischen oder textuellen Vorbilde zuord­ nen, aus denen sich eine gesicherte Bedeutung herauslesen ließe. Meist sind mehrere Bezüge denkbar oder drängen sich sogar auf. Denn in komplexen und vielschichtigen Systemen wie der klassischen Mythologie oder der christlichen Theologie, die über Jahrhunderte gerei sind und immer weiter ausgebaut wur­ den, kann fast alles irgend etwas bedeuten.92 Es ist nicht möglich, die dichte Symbolik der Sala dei Mesi in ihren Einzelteilen eindeutig zu interpretieren. Mit der Rekonstruktion all dieser Bezüge und Rekurse ließe sich allenfalls eine wohl reiche Materialsammlung erstellen, jedoch kein lnterpretament ir das Ge­ samtprogramm finden. Die Untersuchung aller Symbole mythologischer, theo­ logischer oder auch astrologischer Traditionen und ihrer Rekurse zu der Person und Herrscha des Borso d’Este deshalb nicht weiter, weil der daraus flie­ ßende Gewinn in erster Linie in der ohnehin nur schwerlich zu erreichenden Vollständigkeit zu sehen wäre. Nicht die Summe aller Einzelheiten des Dekora­ tionssystems, sonde nur die Untersuchung der Struktur, derer sich der Zyklus bedient, also die eigentliche Bildersprache kann neue Ergebnisse hinsichtlich der mit dem Medium Bild betriebenen Strategie rstlicher Repräsentation lie­ fe . In einer entkontextualisierten Analyse ist dies nicht möglich, und die Pro-
91 Mit meiner Analyse möchte ich keineswegs bestreiten, dass sich der Zyklus als as ologi­ sches Lehrgedicht lesen lässt, im Gegenteil. Bei dieser Perspektive scheint mir das Nebenein­ ander von Ste englaube und einer Geistesbewegung, die man ‚Aufklärung der Renaissance‘ genannt hat besonders beachtenswert; dieser Aspekt wurde, obwohl als eines von Warburgs Hauptinteressen überhaupt zu bezeichnen, r den Zyklus in Fe ara nicht mehr weite erfolgt 92 M. BA NDALL: Ursachen der Bilder. Über das historische Erklären von Kunst, Berlin 1990 (eng!. 1985). Ebenfalls R. ST , L. PARTRIDGE: Arts ofPower … (wie Anm. 24) S. 1 1 7f.
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blematik neuer Inte retationen bleibt die alte: Vieldeutigkeit eines überreichen Angebotes an Symbolen, die mehrfach mit Bedeutung belegt werden können, jedoch zusammen keine Gesamtinterpretation ergeben.
III. Die etorik der Bilder
Die Redundanz des Bildprogramms anzunehmen, heißt zu verhinde , dass sich die Bilder, kaum mit einer Bedeutung belegt, dieser sofort wieder entziehen. Gleichzeitig lassen sich auch die vielfaltigen Möglichkeiten einer zeitgenössi­ schen Bildwah ehmung beleuchten. Erkennt man im Spiel der vielen Möglich­ keiten und Bezeichnungen der Fresken gar das Prinzip eines zeitgenössischen Umgangs mit Bilde , entfe t man sich vermutlich gar nicht so sehr vom hö ­ schen Ideal. Im „Buch vom Ho ann“ des Baldassare Castiglione schlägt Pietro Aretino am Hof der Elisabetta Gonzaga in Urbino folgendes Spiel zum Zeitver­ treib vor: „Jeder von uns soll sagen, was er über die Bedeutung des Buchsta­ bens S denkt, den die Frau Herzogin an der Sti e trägt. Denn obwohl er si­ cherlich wie ein künstlicher Schleier die Aufgabe hat, etwas zu verhüllen, wird sich doch vielleicht eine Auslegung (interpretazione) nden lassen, woran sie selbst nicht gedacht hat.“ Später am Abend, als der Gegenstand der Unterhal­ tung – der ideale Hofmann – bereits ge nden ist, bereichert Federico Fregoso die hö sche Unterhaltung mit einer zusätzlichen, scheinbar formalen Spielre­ gel: „. . . und bei dieser Erörterung soll einem jeden jedweder Widerspruch er­ laubt sein wie in den Schulen der Philosophen.“93 Das ragionamento, die Kunst des wohlüberlegten und gut vorgetragenen Argumentierens, Diskutierens und Erwidems, macht hier die eigentliche Unterhaltung selbst aus; ein Motiv mög­ lichst elegant und in modo spiritoso zum Gegenstand einer Unterhaltung zu ma­ chen, gehört gewiß zu den eigenen Freuden der höfischen Kultur der Renais­ sance. Rhetorische Kompetenz und sprezzatura, gehört zu den unerläßlichen Eigenscha en des idealen Höflings, ohne die er platt, ungebildet und roh bleibt; der gute Ho ann ist auch ein wendiger Kommentator des Ambivalenten.
Die Unterhaltungen, die sich vor dem Freskenzyklus im Palazzo Schifa­ noia austragen ließen, kann man sich leicht vorstellen; die Erwiderungen auf eine Deutung eines gewissen Symbols wären sicherlieb vielfaltig, denn die Am­ bivalenz der Fresken lädt geradezu ein, sich seinem Kontrahenten im rhetori­ schen Wettstreit mit noch geistreicheren Worten entgegenzustellen, einen noch eleganteren Brückenschlag zu anderen Bilde vorzuschlagen. Das Interesse an der Bedeutung der einzelnen Symbole darf in solchen Wortgefechten wohl gleich hoch eingeschätzt werden, wie dasjenige an der Bedeutung des Buchsta-
93 B. CASTIGLIONE: D Buch vom Ho München 1907 ( stmals ital. Venedig 1 528), I, 9 und I, 12.
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bens S, der Elisabetta Gonzagas Sti ziert. Die Unterhaltung der Höflinge sucht weder hier noch dort die eindeutige Bestimmung und Bedeutung von Zei­ chen und Symbolen, sonde erfreut sich Spiel der Möglichkeiten, wobei der rhetorischen Form und der Eleganz des Vortrags zentrale Bedeutung zu­ kommt.94 Die Debatte um Bedeutung, Auslegung und Wiedererkennen be­ stimmter, scheinbar verschlossener Motive bedeutet jedoch nicht alleine Gesel­ ligkeit und Unterhaltung, sonde festigt gleichzeitig den hö schen Diskurs und damit die soziale und politische Organisationsform selbst, in der dieser Diskurs statt ndet.
Wie der hö sche Diskurs anhand der Fresken der Sala dei Mesi ge h worden ist, verrät uns der Cortegiano nicht;95 die rhetorischen Strategien lassen sich freilich als ein Modell von Ausdruck und Wah ehmung aufnehmen, wie es in den hö schen Gesellscha en des ausgehenden 1 5 . Jahrhunderts verbreitet
ist, und in die allgemeine Diskussion um Bilder integrieren. Gerade weil sie kein ausgewähltes Objekt im Auge hat, vermag die kunsttheoretische Literatur, st kturell über Bilder und deren Funktionen zu sprechen. Dabei ist seit der Untersuchung von Baxandall bekannt, in welchem Masse die Rhetorik für die Entstehung der mode en Kunsttheorie relevant ist, während dies für den Hu­ manismus im allgemeinen der Forschung seit längerer Zeit bewußt war.
Um zu erklären, wie ein Bild zu beginnen sei, beschreibt Leon Battista Alberti in seinem Traktat über die Malerei Bilder als offene Fenster. „Vorerst beschreibe ich ein rechtwinkliges Viereck beliebiger Größe, welches ich mir wie ein o enes Fenster vorstelle, wodurch ich das erblicke, was hier gemalt werden so .“91 Nehmen wir Albertis Metapher auf, eröffnet uns der Zyklus im Palazzo Schifanoia einen eindrücklichen Ausblick auf die ‚höfische Landscha ‚ Ferraras. Das Publikum blickt durch die Fresken als Fenster hindurch auf die
94 Hierzu zuletzt M. HINZ: Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italieni­ schen Hofmannstraktaten des 16. und I 7. Jahrhunderts, Stuttgart 1 992.
95 An diesem Punkt wäre wohl auch eine zeitgenössische Bildbeschreibung, wie sie oben r die camera degli sposi herbeigezogen wurde, nicht von grossem Interesse. Denn die Suche nach Beschreibungen, von denen man sich gemeinhin Erkenntnis über zeitgenössische W ­ nehmungsweisen verspricht, schenkt der Tatsache nicht genügend Beachtung, dass es sich dabei natürlich ebenfalls um Rhetorik handelt.
M. BAXANDALL: Giotto and the Orators. Humanist Observers of Painting in ltaly and the Discovery of Pictoria1 Composition, 1350-1450, Oxford 19862• Zur Bedeutung der Rhetorik r den Humanismus. H. BARON: The Crisis of the Early ltalian Renaissance. Civic Human­ ism and Republican Liberty in an Age ofClassicism and Tyranny, Princeton 1 966: C. VASOLI: dialettica e Ia reto ca deii’Umanesimo. >>lnvenzione<< e >>Metodo<< nella cultura del XV e XVI secolo, Mailand 1968. 97 „Scrivo uno quadrangolo di retti angoli quanto grande io voglio, e/ quale reputo essere una nestra apertaper donde io miri que/lo ehe quivi sara dipinto.“ L. B. ALBERn: Della pittura libri tre. Hg. von H. JANITSCHEK. In: Quellenschr tenfor Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Millefalters und der Renaissance, XI ( 1 877), S. 79. 105 ideale Hofhaltung des Borso d’Este und auf sein ionerstes Zentrum, den Fürsten selbst. Mit dem Blick nehmen die Betrachter nicht nur die Person des Fürsten wahr, sonde auch die von dessen prachtvoll geschmücktem Körper ausgehen­ de He scha über Stadt und Land. AJbe is Traktat der Malerei, wie er ihn um 1435 als erste mode en Kunsttheorie formuliert, basiert auf dem Vorbild der klassischen Rhetorik; ir das zweite und dritte Buch ist die Rhetorik geradezu Ausgangspunkt. Dabei ist die Interdependenz von Rhetorik und Kunsttheorie als Möglichkeit der Theo­ riebildung von Alberti erkannt worden. Alberti selbst bezeichnet sein Interesse als theoretisch, wenn er vom Ursprung und der Geschichte der Malerei zu spre­ chen beginnt, wobei er sieb explizit von Plinius abgrenzt: „Doch hier verschlägt nicht viel zu wissen, welche die Er nder dieser Kunst, oder wer die ältesten Maler gewesen, da ich nicht wie Plinius Geschichten erzählen will, sonde von Neue ein Lehrbuch der Kunst der Malerei anfertigen möchte. Findet sich doch keine Schri hierüber in unserem Zeitalter vor, …“98 Die Möglichkeit, ein sol­ ches theoretisches Interesse überhaupt zu formulieren, ist in doppelter Weise gebunden. Einerseits sind, wie Baxandall gezeigt hat, eine Rezeption der von der Antike geprägten Analogie von Rhetorik und bildender Kunst durch die Humanisten und die Kenntnis erster theoretischer Konzepte der Rhetorik nötig; andererseits erklärt sich die Entwicklung einer solchen Systematik auch in Ab­ hängigkeit der jeweiligen philologischen Möglichkeiten. Die Ver igbarkeit der Schri en Ciceros und Quinitlians erweist sich als wesentliche Vorausset­ zung des Malereitraktats von Alberti. ln der zweiten Häl e des Jahres 1421 entdeckt der Bischof von Lodi, Gerardo Landriani, in seiner Kathedrale die vollständigen Werke Ciceros zur Rhetorik. Mit der Transkription der Texte wird Gasperino Barzizza beau ragt, der seit 1 407 in Padua als Lehrer r Rhe­ torik und Moralphilosophie tätig ist.1 Die Schri en Quintilians hingegen wer­ den in Italien durch Poggio Bracciolini bekannt, der im Kloster von St. Gallen im Jahre 1 4 1 6 eine Handschri entdeckt; in Frankreich sind sie bereits seit den 98 „Ma qui non molto si richiede sapere quali prima ssero inventori dell ‚arte o pictori, poi ehe noi non come Plinio recitiamo storie ma di nuovo fabrichiamo una arte di pictura, della quale in questa heta quale io vegga nulla si truova scritto.“ ln: L. B. ALBERT!: Della pittura … (wie Anm. 97) S. 92. M. BAXANDA : A Dialogue on om the Court of nello d’Este. : 26, 1 963, S. 304-327; !DEM: Bartholomaeus Facius on Painting. A Fi eenth-Century Manuscript ofthe >De viris illustribus<. : JWC/ 21, 1964, S. 90- 108; loEM: Guarino, Pisanello and Manuel Chrysoloras. : JWC/ 28 (1965), S. 1 83-204; lDEM: Giotto and the Orators … (wie . 96) S. 121-139; K. PA : Zum Be i der >Historia< in L. B. Albertis >De pictura<. In: it­ schri for Kunstgeschichte 49, 1 986, S. 269-287. 1 Biographische Angaben zu Barzizza liefert G. MARTELOTII: Gasperino Barzizza. : Di­ zionario biogra co degli italiani, Rom 1965, Bd. 7. 106 90er Jahren des 14. Jahrhunderts nachweisbar.101 Die Schri en Ciceros und Quintilians sind zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Italien bekannt. Alberti selbst ist in seiner Studienzeit in Padua mit dem Kreis von Gasperino Barzizza in Berührung gekommen und mit der aktuellen Diskussion um Rheto k ver­ traut.102 Albertis Traktat zur Malerei läßt sich denn auch sowohl im Aufbau wie in der von ihm verwendeten Terminologie als eine Rhetorik der Bilder lesen. Die drei Bestandteile circumscriptio, compositio und Iumen receptio, die Alberti zur Beschreibung der Malerei verwendet, haben in der Rhetorik ihre Gegenstücke in inventio, dispositio und elocutio.103 Hier soll das Augenmerk jedoch etwas vom systematischen Aufbau des Traktats auf die rhetorischen Begri e selbst gelenkt werden, die Alberti zur Beschreibung der Malerei verwendet. „Quello ehe prima da volupta nella istoria, viene dalla copia e varieta delle cose.“104 Copia und variet sind Termini, die bereits in den Schri en Ciceros und Quintilians vorko men.105 Mit theoretischer Grundlage und Ter­ minologie der klassischen Rhetorik vertraut nimmt Alberti diese Termini in sei­ nen Malereitraktat auf; nicht als leere Begriffe, sonde als eine mit der von der Rhetorik begründeten Bedeutung konnotierte Terminologie formulieren sie in Albertis Schri eine Rhetorik der Bilder. Der rhetorisch effektive Bildbeg , wie ihn Alberti hier präsentiert, ist jedoch eine delikate Angelegenheit, kann doch ein Bild gerade auch rhetorisch mißlingen. Diesem Punkt gilt denn auch Albertis besondere Au erksamkeit. Der Einsatz von copia und varieta bewegt sich auf dem schmalen Pfad zwischen ‚gesunder Fülle‘ und ’schädlichem Übermass‘. Alberti kritisiert jene Bilder, die überladen sind: „Jene Maler tadle ich, die, um des Scheines der Reichhaltigkeit willen, kein Flecken des Bildes 101 Zur Überlieferung und Verbreitung der Sclui en Ciceros und Quintilians vgl. R. SABBAD I: Storia e critica di testi latini, Padua 1 9 7 1 2, S. 84 und S. 283 102 Bio aphische Angaben zu Alberti nden sich bei C. G YSON: L. B. Alberti. In: Diziona­ rio biografico degli italiani, Rom 1960, Bd. I . 103 Diese direkte Analogie wird bereits ir die Kunsttheoretiker des Cinquecento problema­ tisch, denn die beiden Begriffe der memoria und der actio, die den f nfteiligen Aufbau der klassischen Rhetorik vervollständigen, fmden in Albertis Traktat keine be ifflichen Gegen­ stücke. Die Bedeutung, die Albertis Systematik die gesamte Kunsttheo e dennoch besitzt, zeigt sich gerade in der intensiven Auseinandersetzung mit seiner Sc De pictura und dem Versuch, das Fehlen der zwei Begri e in verschiedener Weise zu kompensieren. Vgl. K. PA : Zum Begriff … (wie . 99) S. 273. 1 L. B. ALBERT!: Della pittura … (wie . 97) S. 1 17. Janitschek übersetzt wie folgt: „Das was an dem Geschichtsbild zuerst Ver ügen hervorru , ist der Reichtum und die Mannigfal­ tigkeit der Gestalten.“ Damit wird wohl der Sinn recht deutlich verfehlt. Die Be i e istoria, copia und varieta sind rhetorische Be ffe und nicht, e Janitschek annimt, kunsthistorische Gattungsbegriffe (Geschichts- istorienbild). Rhetorische Be iffe bleiben in der Literatur­ wissenscha denn auch meist unübersetzt, was sich hier wohl auch emp ehlt. 105 Vgl. J.-C. MARGOL : >>Copia<<. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von G. UED!NG, Tübingen 1 994, Bd. 2.
107
leer lassen: wodurch statt der ‚Composition ‚ zügellose Verwirrung hervorge­ bracht wird und der Schein entsteht, dass es sich auf dem Bild nicht um einen Hergang, sonde einen Tumult handle. Und vielleicht wird dem, welcher auf würdevolle Haltung ganz besonders bedacht ist, in seinem Bild eine sehr be­ schränkte Anzahl von Figuren zusagen.“106 Er äuße kein Werturteil zugunsten der copia oder einer weniger reichhaltigen Ausführung (solitudine) eines Bil­ des. Albertis K terium ist die Wirksamkeit der Bilder, ihre rhetorische Kom­ petenz. In diesem wertneutralen Sinn stehen bereits bei Quintilians Schri zur Ausbildun_g des Redners _die entg��engesetzte� Be�ffe der CO ia und der br�­ vitas ururuttelbar nebenemander. 0 Ebenso w1e es m der klasstschen Rhetonk dem guten Redner überlassen ist, entsprechend den Umständen und der beab­ sichtigten Wirkung die copia oder die brevitas anzuwenden, muß der Maler sein Bild gemäß diesen Kriterien gestalten. Nur dort, wo sie etwas aussagt, ist die copia zu verwenden. Dazu nochmals Alberti: „Jenem Bilde werde ich Fülle und Mannigfaltig it zusprechen, wo man in richtiger Postierung alte und junge Männer, Knaben, Frauen, Mädchen, Kinder, Hühner, Hündchen, Vögel, Pferde, Rinder, Gebäude, Ortscha en u. dgl. Dinge vermischt sieht. Undjede Reich­ haltigkeit werde ich loben, wenn sie nur zum Gegenstand der Darstellung in Bezug steht, und sicherlich wird die Reichhaltigkeit des Malers sich viel Aner­ kennung erwerben, wenn der Beschauer im aufmerksamen Betrachten all der vorgefohrten Dinge lange Zeit verweilt.“ 108
Bei dieser allgemeinen Charakterisierung der Malerei könnte es sich auch um eine grobe Beschreibung des Zyklus im Palazzo Schifanoia handeln; die hö­ fische Gesellscha und die in den contado und distretto transponie e Reprä­ sentation der Herrscha Borso d’Estes verwenden das von Alberti in seinem Traktat geforderte Arsenal von Ausdrucksmitteln. Die Vielfalt und der Reich­ tum an Dingen und Personen ist hier jedoch nicht um ihrer selbst willen darge­ stellt, sonde um die Herrschaft des Fürsten visuell wirksam umzusetzen. Ne­ ben der formalen Beurteilung des Zyklus ist auch dessen rhetorische Funktion angesprochen. Für wen diese Bildersprache bestimmt ist, an wen sich die Rhe­ torik der Bilder richtet, ist bei Alberti nicht näher de niert; er spricht sehr all­ gemein von einem Publikum oder von Betrachte (chi guarda).
106 „Biasimo io quelli pictori quali, dove voglior10 parere copiosi, nul/a lassando vacuo, ivi non compositione ma dsi soluta co sione disseminano; pertanto non pare Ia storia facci qualehe cosa degnia, ma sia in tumulto aviluppata. Etforse, chi molto cerchera dignita in sua storia, ad costui piacera Ia solitudine.“ L. 8. ALBERT! : Della pittura . . . (wie . 97) S. 1 1 9 . 107 t. orat., Buch X, 5, 8: „sua brevitati gratia, sua copiae“.
108 „vecchi, giovani, fanciulli, donne, fanciul/e, fanciullini, pol/i, catellini, uce/lini, cavalli, pechore, hede ci, province e tutte simili cose. Et lodero io qualunque copia quale s ‚apartenga a quella istoria; et interviene, dove chi guarda sopra sta rimirando tutte le cose ivi Ia copia delpictore aquisti molta gratia.“ L. B. ALBERn: Della pittura … (wie 97) S.
117.
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Das Dekorationsprogramm der Sala dei Mesi vermag als rhetorisch ef­ fektives System, als welches Alberti uns die Malerei im allgemeinen vorstellt, den Betrachte nicht nur ein Fenster zu öffnen, durch das sich ein Blick auf die ideale Hothaltung Borso d’Estes werfen läßt, sonde hält dem Publikum auch einen Spiegel vor. 109 Diese Eigenscha der Malerei beschreibt Alberti mit einer Metapher aus der Geschichte des Narziss, der sein Spiegelbild im Wasser be­ trachtet. “ könntest wohl sagen, dass Malen nichts anderes sei, als kunstvoll Spiegelbildfestzuhalten, das aus der Quelle blickt.“110 Der Blick durch die Fenster ist demnach auch ein Blick in einen Spiegel und damit ein Blick zurück auf sich selbst. Der höfischen Gesellscha Ferraras, die durch die Spiegelung auch als Protagonistin des Bildprogramms erkennbar wird, wird das ideale Hofleben und die ideale Herrscha des Borso d’Este als Abbild, Anleitung und Drohung zugleich präsentiert. Das Spiegelbild des Borso d’Este ist dasjenige eines Fürsten, wie er uns aus Fürstenspiegeln bekannt ist. Die hö sche Gesell­ schaft Ferraras hält sich nicht nur selbst den Spiegel des Fürsten vor, sondern dieser wird nicht zuletzt auch einem auswärtigen Publikum von Diplomaten und Fürsten vorgehalten. An jene richtet sich das Freskenprogramm als ein autorefe­ rentielles System von herrscherlicher Repräsentation, an diese als eine stabile Herrschaft garantierende Darstellung derselben; mit beiden hren die Fresken eine kommunikative Auseinandersetzung.
Diese Kommunikation kann jedoch nur gelingen durch eine göttliche Kraft, eine Eigenschaft, die dem Bild zusammen mit der Freundscha gemein ist. Alberti beschreibt die Magie der Bilder. „Die Malerei birgt in sich eine wahrha göttliche Kra , indem sie nicht bloß gleich der Freundschaft bewirkt, dass ferne Menschen uns gegenwärtig sind, noch mehr, dass die Toten nach vielen Jahrhunderten noch zu leben scheinen, so dass wir sie mit hoher Bewun­ derung r den Künstler und großer eigener Lust wieder und wieder betrach­ ten.“1 1 1 Die Repräsentationsfunktion von Bilde , in dem von uns hier verwen­ deten zweifachen Sinn, ist schon Alberti bewußt und er hält sie r eine beson­ dere Eigenscha der Malerei. Weil auch dem Dekorationssystem der Sala dei Mesi diese Wirkung innewohnt, ist es möglich, dass der Bilderzyklus einen be-
109 Dazu V. STOICHITA: Imago Regis: Kunsttheorie und königliches Porträt in den Meninas von Veläzquez. In: Zeitschr fürKunstgeschichte 49, 1986, S. 165-189.
1 1 0 “ C h e d i r a i e s s e r e d i p i n g e r e a l t r a c o s a e h e s i m i l e a b r a c c i a r e c o n a r t e , q u e l l e i v i s u p e r ­ cie delfonte.“ L. B. ALBERT!: Della pittura … (wie A 97) S. 93.
1 1 1 „Tiene in se Ia pittu forza divina non solo quanto si dice dell ‚amicitia quale ja Ii huomi­ ni assenti essere presenti ma piu i morti dopo molti secoli essere quasi vivi, tale ehe con molta admiratione del arte ce et con molla volupta si riconoscono.“ L. B. ALBERT!: Della pittura … (wie Anm. 97) S. 88. Der Übersetzung von Janitschek kann ich hier nicht folgen, gerade weil sie die Pointe der Repräsentation unterschlägt. Subjekt des Nebensatzes bleiben ‚Ii huomini assenti‘ und ‚i morti‘, die man dank der Macht der Malerei den Bilde und Gemälden ‚wiedererkennen kann‘; mit anderen Worten: sie sind, obwohl physisch abwesend, durch die Malerei hier vertreten, also präsent.
109
bilderten politischen Dialog formuliert, den die Herrschenden, allen voran Bor­ so d’Este, mit sich und ihresgleichen hren. Ein Dialog, der nicht nur die Herr­ scha des Borso d’Este als Ideal abbildet, sonde sie auch unablässig testet und immer wieder von neuem umzusetzen hilft.
Bildnachweis: Abb. I : Musei Civici Padova, Gabinetto Foto a co, N. 10314; Abb. 2-1 1 aus: A. TENEN et al. (Hgg.): II Palazzo della Ra one a Padova, 3 vo1s., Roma 1992, tav. 139, 293, L V , 249, 308, 2 1 , 3 1 0, 198; Abb. 12-14 aus: R. Varese: Atlante di Schifanoia, Fer­ rara 1989, S. 303, 313. 334.
110
III
Abb. 2: Hl. Mar s, Sa1one della Ragione
1 12
Abb. 3: Madonnen önung, Salone della Ragione 113
1 14
Abb. 5: Kardinal genden, Salone della Ragione 1 15
Abb. 6: Salone della Ragione, Ausschnitt aus der Westwand
Abb. 7: Monatsbild Dezember, Salone della Ragione 1 17
Abb. 8 : Zodiakalzeichen des Fisches, Salone della Ragione
1 18
Abb. 9: Mars im Zeichen des Widder, Salone della Ragione 1 19
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i
– –

Abb. 1 2: Francesco del Cossa, Monate März bis Mai, Palazzo Schifanoia, Ferrara
_. L- –
Abb. 1 3 : Francesco del Cossa, Monat März, Palazzo Schifanoia, Ferrara 123
Abb. 14: Francesco del Cossa, Monatsbild April, Palazzo Schifanoia, Ferrara
MEDIUM AEVUM QUOTIDIANUM
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MS 1999
HE USGEGEBEN VON GE JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG DES AMTES DER NlEDERÖSTERREICHJSCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der materiellen Kultur des Mittelalters, Kö ermarkt 13, A-3500 Krems, Öster­ reich. Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren aus­ drückliche Zustimmung jeglicher Nachd ck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1 050 Wien.
Inhalt
Vorwort …………………………………………………………………………………………………. 5 Helmut Hundsbichler, AIItagsforschung und lnterdisziplinarität ………………….. 7
Andreas Külzer, Die byzantinische Reiseliteratur:
Anmerkungen zu ihrer literarischen Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ……………… 35
lliana Tschekova, Folklor-episehe Paradigmen in der Nestorchronik ………… 52
Lucas Burka , Kommunale und seigneurale Bildersprache
des Quattrocento in Padua und Ferrara …………………………………………… Rezensionen ……………………………………………………………………………………….. 125
3
66
Vorwort
Das vorliegende He 40 von Medium Aevum Quotidianum veremtgt eine Anzahl von Beiträgen, die in den letzten Monaten von Mitgliede und Freunden unserer Gesellscha zur Ver gung gestellt wurden. Diese sollen vor allem die Bedeutung vermitteln, welche interdisziplinären Ansätzen in einer Geschichte von Alltag und Sachkultur des Mittelalters zukommt.
Die Planungen ir die nächsten He e sind insoweit fortgeschritten, als sich besonders einige Sonderbände bereits in einer konkreten Vorbereitungs­ phase be nden. Dies gilt vor allem ir zwei Bibliographien: Detlev Kraack (Berlin) und sein inte ationaler Mitarbeiterstab be nden sich in den Abschlußarbeiten für eine Bibliographie zu den Gra ti des Mittelalters und der hen Neuzeit, welche Ende 1999 oder Anfang 2000 erscheinen wird. Außerdem beschä igen wir uns schon seit längerem mit einer Überarbeitung und sehr nötigen Ergänzung der im Jahre 1986 als Medium Aevum Quotidianum-Newsfetter 718 erschienenen Auswahlbibliographie zu Alltag und materieller Kultur des Mittelalters. Auch für jene ist ein Erscheinungstermin
1999/2000 vorgesehen.
Als Autor einer der nächsten Sonderbände konnte Markus Späth
(Hamburg) gewonnen werden, der sich mit der räumlichen Differenzierung in der hochmittelalterlichen Klosterarchitektur am Beispiel nordenglischer Zisterzen auseinandersetzen wird.
Schließlich möchten wir Sie wieder herzlich einladen, unsere Website http:// . imareal.oeaw. ac. at/maq/ zu besuchen. Im Augenblick nden Sie dort die Inhaltsverzeichnisse aller bisher erschienenen Bände unserer Reihe. Binnem kurzem wird dieses Angebot ergänzt werden durch die Zugriffsmöglichkeit auf den Volltext ausgewählter, uns besonders wichtig erscheinender Beiträge aus zum Teil bereits vergriffenen Bände vergangener Jahre.
Gerhard Ja tz, Herausgeber
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