Adeliges Publikum im Kernraum Niederösterreichs
im 12. und 13. Jahrhundert
Kar! Brunner
Vorspiel in Frankreich
Es ist Winter im Norden Frankreichs und es stürmt und regnet ftirchterlich. Der
junge Graf Arnold von Gu’ines sitzt wegen des Unwetters schon zwei Tage in
Ardres mit seinen Gefolgsleuten fest. Das sind einerseits junge Leute, mit denen
er Spaß hat, aber auch alte, die ihnen von Aventüren und Geschichten erzählen. 1
Man hat schon alles durch, von den römischen Kaisern bis zu König Artus, auch
von den Kreuzfahrern, jetzt will Arnold die Geschichte seiner Vorfahren hören,
die Stadt und Kloster Ardres (Dept. Pas-de-Calais) gründeten. Einer seiner
familiares, seiner Vettrauten, ein alter Mann, selbst ein illegitimer Spross seines
Hauses- wie Lambert von Ardres (i“ n. 1203), der Autor der zitietten Chronik
und offenbar sein literarisches Gegenbild -, legt die rechte Hand an den Bart,
streicht ihn und hebt an zu erzählen, wie er es von seinen Verwandten gehört
hat, und sie vergessen das Heulen des Windes. Fuit quidam . . . , es war eirunal.
Diese Stelle, die der alte Manitius schon karmte2 und auf die vor einiger
Zeit Michael Curschmann wieder aufmerksam gemacht hat, 3 ist ein Anker ftir
1 Lambert von Ardres: Historia corniturn Ghisnensium, hg. von Johann Heller, Hannover
1879 (MGH SS 24, Nachdr. Stuttgmt 1975, S. 550-642, c. 96, S. 607: Senes autem … , quod
veterum eventuras et fabulas et historias ei narrarent et moralitatis seria narrationi sue
continuarent et annecterent, venerabatur et secum de1inebat. Genannt werden Robert de
Coutances, qui de Romanis imperatoribus et de Karlomanno, de Rolando et Olivero et de
Arthuro Britannie rege eum instruebat, Philipp von Monjardin, der den Osten mit den
Kreuzzugsdichtungen abdeckt, und Waller de L’Ecluse, qui Anglorum geslis elfabulis, de
Gormundo el Ysembardo, de Tristanno el Hisolda, de Merlino et Merchu/fo et de
Ardentium ges1is et de prima Ardee cons1ruc1ione … diligenter edocebat.
2 Max Manitius: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters Bd. 3, München 1931,
Neudr. 1973, S. 498-502; hier S. 499.
3 Michael Curschmann: Höfische Laienkultur zwischen Mündlichkeil und Schriftlichkeit. Das
Zeugnis Lamberts von Ardres, in: ,Aulfohrung‘ und , Schrift‘ in Mittelalter und früher Neu-
8
unser Wissen um den Sitz im Leben der bekanntesten mittelalterlichen Stoffe,
und es verwundert, dass es bis heute keine deutsche Übersetzung diese Quelle
gibt.
Ähnlich wichtig für unsere Vorstellung von der Literatur-Rezeption sind
noch weitere Stellen in der Chronik der Grafen von Gutnes. Sie handeln vom
Vater des genannten Grafen, der als zweiter in der Familie den flandrischen Traditionsnamen
Balduin trug (t 1 205). Er war nicht nur klug (prudens) in
weltlichen Dingen, Ratgeber des französischen wie des englischen Königs4 und
ein exzessiver Jäger, nicht nur nach Schürzen, sondern auch weise (sapiens)5• Er
war zwar Laie und illiteratus, d. h. er las kaum und schrieb nicht selbst. Er hatte
kaum eine Ahnung von den artes liberales, den klassischen Künsten der Freien,
war aber fiir die Kleriker, die ihn sehr respektierten, ein interessierter Zuhörer
und Gesprächspartner.6 Ab illis enirn divinum accepit eloquiurn, et eis, quas a
fabulatoribus accepit, gentiliurn nenias vicario modo communicavit et
impartivit, von ihnen nahm er das Gotteswort auf und ihnen teilte er sozusagen
stellvertretend mit, was er von den Geschichtenerzählern an weltlichen Liedern
hörte.
Das ist ein Schli.isselsatz, denn er beschreibt den lebendigen Austausch
unter Personen gleicher Herkunft und ähnlicher Interessen, gleichgültig ob
weltlichen oder geistlichen Standes.7 Einem solchen Austausch verdanken wir
einen großen Teil der schriftlichen Überlieferung der volkssprachigen Dichtung,
wie es zum Beispiel in dem gewaltigen und im Charakter sehr gemischten
zeit, hg. von Jan-Dirk Müller (DFG Symposion 1994, Germanistische Symposien Bd. 17,
Stuttgart-Weimar 1996) S . 149-169; Elisabeth Schmid: Familiengeschichten und Heilsmythologie.
Die Venvandtschaftsstrukturen in den jt-anzösischen und deutschen
Gralromanen des 12. und /3. Jahrhunderts, Tiibingen 1986 (Beihefte zur Zeitschrift fiir
romanische Philologie Bd. 21 I), S. 24f. Hans Fromm: Die miue/alterlichen Eneasromane
und die Poetik des ordo narrandi, in: Erzählungen in Enählungen. Phänomene der
Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Harald Haferland und Michael
Mecklenburg, München 1996, S. 29-39, hier S. 32f. Englische Übersetzung: Lambert of
Ardres: The Histo1y ofthe Counts ofGuines and Lords of Ardres, übers. und mit einer Einleitung
von Leah Shopkow, Philadelphia 2001, S. 155.
4 Lambert: Historia (wie Anm. 1), c. 88, S . 602f.
5 Lambert: Historia (wie Amn. I), c. 80, S. 598.
6 Landgraf Ludwig II. von Thüringen hingegen (t 1 1 72) galt als literatus. Caesarius von
Heisterbach: Dialogus miraculontm. Dialog über die Wunder, lat./dt., übers. und kommentiert
von Nikolaus Nösges und Horst Schneider. 5 Bde. Tumbout 2009, Bd. I, c. 27, S.
282.
7 V gl. auch Christina Lutter: Zwischen Hof und Kloster. Kulturelle Gemeinschaften im mittelalterlichen
Österreich, Wien-Köln-Weimar 2010 (Antrillsvorlesungen aus der Historisch-
Kultunvissenschafilichen Fakultät Bd. 2) und dies.: Geistliche Gemeinschaften in der
Welt. Kommentar zur Sektion Individuum und Gemeinschaft. Innen und Außen, in: Klöster
im Miue/alter zwischen Jenseits und Welt, hg. von Gen Melville, Bemd Schneidmiiller und
Stefan Weinfurter, Regensburg 2014 (Klöster als Innovationslabore Bd. 1), S . 145-160.
9
Konvolut des sogenannten Prosalanzelot (französische Fassung aus dem 1 3 .
Jahrhundert) z u Tage tritt.8
Balduin war der erste der Herren von Gu!nes, der den Grafentitel trug. Die
Familie war stolz auf ihre etwas fragwürdige Herkunft: Einer der ihren hatte
eine flandrische Fürstentochter geschwängert, war aber dann nach Gulnes
geflohen und dort gestorben. Der Neffe der Dame vertraute ihrem Sohn aus
diesem Abenteuer, den er aus der Taufe hob, die Herrschaft dort an.9
Der flandrische Hof war einer der bedeutendsten in Europa und fur ihn
wirkte auch zwischen 1 1 64 und 1 J 80 der be1ühmte Dichter Chrestien de Troyes.
In seinem „Perceval“ rühmt der Dichter Philipp von flandem als „den trefflichsten
Mann im Römischen Reich“. 10 Lange Zeit galt daher bei uns das
Verdikt: na ja, in Frankreich, und noch dazu in diesem Zentralraum der
europäischen Ritterkultt1r, wo ein geschickter Politiker zwischen dem französischen
und dem englischen König lavieren konnte. Beide, Ludwig VII. und
Heinrich II., hatten die Fürstin Eleonore von Aquitanien zur Frau. Deren Töchter
Marie de Champagne und Alis von Bleis waren ebenso wie ihre Mutter bedeutende
Mäzeninnen. Marie war die Auftraggeberin Chrestiens ftir seinen „Lancelot“,
ja, sie hat dem Dichter matiere et san vorgegeben, Stoff w1d Sinn.11
Chrestiens Held „Yvain“ (auch: Der Löwenritter) aber findet bei einem
seiner Abenteuer- die Dichtung entstand gegen 1 1 70 – einen wunderbaren Bettüberwurf
vor, ein covert d’une coute si riche, qu‘ ains n‘ ot tel li dus d’Osteriche,
so kostbar, dass selbst der Herzog von Österreich nie einen solchen sein Eigen
narmte. 12 Gibt es vergleichbare Standards oder waren die Herzöge am Rande der
damals bekannten Welt flir Chrestien schon so exotisch, dass man dort orientalische
Reichtümer phantasierte?
8 Deutsche Fassung des Prosalanzelot, nur wenig jünger, Buch 1 und H: Lancelor und Ginover;
Buch 111 und IV: Lancelot und der Gral, hg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt 1 995
(Bibliothek des Mittelalters Bd. 14 und 15) und Frankfurt 2003 (Bd. 1 6 und 17), Kommentar
Bd. 17, S. 723-73 1 . Der Abschnitt Der Tod des König Artus muss nach der alten
Ausgabe von Reinhold Kluge, Berlin 1948-1 974, beniltzt werden.
9 Lambert: Historia (wie Arun. I), c. 1 1 und 12, S. 568.
1° Cbretien de Troyes: Le Roman de Perceva/ ou Le conte de Graal, übers. und hg. von
Felicitas OlefKrafft, Stuttgart 1991 (Rec/am Universalbibliothek Bd. 8649), V. 1 1-13, S. 4.
11 Chrestien de Troyes: Lancelot (der Dichter selbst betont, sein Werk handle del cheva/ier de
Ia charrete, vom Karrenritter), übers. und eingel. von Helga Jauss-Meyer, Milnchen 1974
(Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben Bd. 13), V. 1-
29, S. 14.
12 Chrestien de Troyes: Yvain, hg. nach Wendetin Förster, übers. und eingeleitet von Irene
Nolting-Hauff, 2. Aufl. München 1983 (Klassische Texte des romanischen Miuelalters in
zweisprachigen Ausgaben Bd. 2), V. 104 l f., S. 64. Vgl. Alpbons Lhotsky: Studia Neuburgensia.
Beiträge zu einer Geschichte der Wissenschaftspflege im spätmittelalterlichen Niederösterreich,
in: Aufsätze und Vorträge Bd. 3, hg. von Hans Wagner und Heinrieb Koller,
Wien 1972, S. 1 80 und Karl Brunner: Leopo/d, der heilige. Ein Portrait aus dem Frühling
des Mittelalters, Wien-Köln-Weimar 2009, S. 32.
10
Eine Kulturlandschaft in der Österreichischen Mark
Es lässt sich zeigen, dass die östetTeichischen Fürsten nicht nur als wohlhabend
galten, längst vor dem „Geldsegen“ aufgmnd der Gefangennahme von Richard
Löwenherz, sondern auch, dass sie kulturell europaweit vernetzt waren. Und das
galt nicht nur für ihren Hof, sondern auch fur ihre Gefolgsleute. Deutliche
Spuren davon finden sich in der bildenden Kunst. In den letzten Jahren hat eine
Reihe von kostbaren Funden zu einem Perspektivenwechsel gefühtt, dessen
Folgen noch bei weitem nicht ausgelotet sind. Sie werden dennoch hier
vorgestellt und mit neuer Forschung und altbekannten Fakten in Beziehung
gebracht, um zu zeigen, in welche Richtung eine künftige interdisziplinäre wissenschaftliche
Arbeit führen kann, und mn weitere Kolleginnen und Kollegen
dazu einzuladen, Beiträge aus ihren Kenntnissen einzubringen und in den von
ihnen betreuten Regionen ähnliche Verknüpfungen zu suchen.
Dafur müssen wir zunächst zeitlich etwas ausholen. Der erste Fund
geschah in Krems. Die Fresken in der sogenannten Gozzoburg sind inzwischen
relativ bekannt geworden, aber das letzte Wort darüber ist noch nicht gesprochen.
Es sei hier nur kurz rekapituliert: Gozzo ist mehtfach als Stadtrichter in
Krems bezeugt. Er ließ sich eine Stadtburg – vielleicht indirekt13- nach italienischem
Vorbild bauen, die 1258 zum ersten Mal als domus … Gozzonis tune
iudicis bezeugt ist. Mit den Arkadenbögen ist zum ersten Mal im Herzogturn
architektonisch ein säkularer Ort statt des bishetigen Kirchenportals als Schauplatz
öffentlicher Handlungen geschaffen worden. 14 Der Priester seiner Hauskapelle
fühJte sogar eine Art Schule, 15 wie es auch die Adelslehre des Thomasin
von Zerklaere vorsclu-ieb.16 Im Rahmen der Generalsanierung des Gebäudes in
13 Vgl. Jii’i Kuthan: Pfemysl Onokar 11. König, Bauherr und Mäzen – Höfische Kunst im 13.
Jahrhundert, Wien-Köln-Weimar 1996, bes. S. 247-252.
14 Kar! Brunner: Vielfalt und Wende – Kultur und Gesellschaft im Hochmittelalter, in: Heinz
Dopsch, Kar! Brunner und Maximilian Weltin, Die Länder und das Reich. Der
Ostalpenraum im Hochmiue/alter, Wien 1999 ( Osterreichische Geschichte 1 122-1278, hg.
von Herwig Wolfram) S. 2 1-1 15, hier S. 52f.
15 Der vielgenannte Kremser “ Schulmeister“ von 1232 war ein Scholar und wird
dementsprechend auch hinter dem Diakon gereiht, Alois Plesser: Zur Kirchengeschichte
des Waldviertels vor 1627, St. Pölten 1939 (Geschichtliche Beilagen zum St. Pöltner
Diözesanblatt Bd. 12), Nr. 496. Im Jahr 1257 wird in einer Zeugenliste aus Krems ein
Albertus scholasticus genannt, Helga Penz: Materialien zur Frühgeschichte von Krems an
der Donau 995 – 1276, Wien 1998 (Staatsprüfungsarbeit am Institut fiir Osterr. Geschichtsforschung),
Reg. Nr. 263, S. 55, Urkundenbuch des Landes ob der Enns Bd. 3,
bearb. von Erich Trinks, Wien 1862, Nr. 257, S. 246. Erst 1267 lässt Gozzo dem Priester
seiner Hauskapelle vom Passauer Bischof zusagen, er dürfe (höchstens) vier Schüler
unterrichten, Penz Reg. Nr. 303, S. 65, Plesser 12, Nr. 497; Die Regesten der Bischöfe von
Passau Bd. 3, bearb. von Egon Boshofu. a., München 2008, Nr. 303, S. 65.
16
Horst Wenzel: Hören und Sehen. Schrift und Bild, München 1995, S. 35f. Thomasin von
Zirclaria: Der wälsche Gast, hg. von Heinrich Rückert, Quedlinburg-Leipzig 1852
(Bibliothek der gesammren deutschen National-Literatur Bd. 30), V. 9251-9256, S. 252.
1 1
den Jahren 2006 und 2007 wurde eine sensationelle Entdeckung gemacht:
Wandmalereien im ehemals beheizbaren Freskenraum, dessen Bausubstanz man
auf die zweite Hälfte des 1 3 . Jahrhunderts datierte. Die Fragmente über den
später eingezogenen Gewölbezwickeln gehören zu den besterhaltenen Darstellungen
aus dem Mittelalter.
Gertrud B lasehitz hat festfestellt, dass es sich bei den Bildern, die derzeit
meist um 1270 datiert werden, 1 aber vielleicht auch deutlich später entstanden
sein könnten, um Szenen zur Legende des Barlaam und Josaphat handelt, die
seit der Spätantike bekannt ist und Berührungen mit der Buddha-Legende aufweist.
18 Zuletzt hat sie die Vermutung angesprochen, dass Parallelen zum Leben
Pi’emysl Ottokars die Auswahl der Szenen bestimmten 19; aber das wird sich
eventuell bei einer späteren Datierung nicht halten Jassen. Die Darstellung der
Ritter in diesen Wandmalereien erinnert stark an das Titelblatt der Zwettler „Bärenhaut“,
das 1310/1 l gestaltet wurde. 20 D01t geht es um die Herkunftsgeschichte
der Kuenringer.2 1 Soweit hinauf zu gehen, würde allerdings allen
bisherigen Ergebnissen widersprechen. Es gibt aber paläographisch begründete
Überlegungen, ob man nicht die Entstehungszeit der Fresken nach oben
koiTigieren müsse22; allerdings könnten die Inschriften erst später zu den Bildern
dazugekommen sein. Andere Interpretationsversuche der Fresken mit Bezug auf
17 Elga Lanc: Die neuentdeckten Wandmalereien im Tunnzimmer und in der romanischen
Kapelle der Gozzoburg, in: Günther Buchinger, Paul Mitchell, Doris Schön und Helga
Schönfellner-Lechner: Gozzoburg, Stand der Dinge, Horn 2007, S. 20-27. 18 Gertrud Blaschitz: Buddha in Krems. Josaphat und Ouokar im Freskenzyklus der Kremser
,.Gozzoburg“, in: Das WaldvierLei 2009 (58/4), S. 321-251, hier S. 3 2 1 ; Peter Zawrel:
Gozzo von Krems: Ein Politiker und Mäzen des 13. Jahrhunderts, Wien 1983 (ungedr.
Staatsprüfungsarbeit am Institut fiir Österreichische Geschichtsforschung); Genrud Blaschitz:
.. Barlaam und Josaphat“ als Vorlage for Wandmalereien in der Gozzoburg von
Krems, in: Medium Aevum Quotidianum 2008 (Bd. 57), S. 28-48; dieser Text auch
verfiigbar unter: http://www.imareal.oeaw.ac.atlseitenltextelbarlaam.pdf; vgl. auch Genrod
Blaschitz: Wandmalereien im Freskensaal der .. Gozzoburg“ Krems – Josaphat und
01/okar 1/. Pfemysl, in: Osterreichische Zeitschriftfiir Kunst und Denf..malpjlege 2008 (62.
Heft 4) S. 565-597. Genrud Blasehitz zuletzi über eine andere Überlieferung: .. Barlaam
und Josaphat“ im moldawischen Kloster Neamt, Rumänien, in: Barlaam und Josaphat.
Neue Perspektiven auf ein europäisches Phänomen, hg. von Constanza Cordoni und Mathias
Meyer, Berlin-München-Boston 2015, S. 2 1 – 42.
19 Vgl. Blaschitz: Buddha (wie Anm. 18), S. 344f. 20 Liber fundatorum Zwetlensis monasterii, Zwettl, Archiv Hs. 2/1, fol. 8r, Codices Selecti
phototypice impressi, Graz 1 9 8 1 (Facsimi/e und Commentariorum Bd. 73), Kommentar
von Joachim Rössl, S. 1 8 und S. 125f. 21 Kar! Brunner: Die Herkunft der Kuenringer, in: Mi/teilungen des Instituts fiir Osterreichische
Geschichtsforschung 1978 (86), S. 291-309. Dagegen polemisierte Heide Dienst: Tradition
und Realität. Quellenkritische Bemerkungen zu frühen .,Kuenringern „, in: Kuenringer
Forschungen, hg. von Andreas Kustemig und Max Weltin. Jahrbuchfor Landeskunde
von Niederösterreich 1 980/81 (NF 46/47), S. 40-97. Rückblickend zeigt sich, dass die
beiden Aufsätze einander gut ergänzen.
22 Mündlicher Hinweis von Andreas Zajic.
12
den Antichrist könnten den Hintergrund haben, dass es noch im Mittelalter Neudeutungen
oder Missverständnisse zur Bedeutung der Bildsequenzen gab.23 Es
wird spannend, wie alle Stimmen miteinander versöhnt werden könnten.
Der staufisch gesinnte dienestman ze Muntfort, wie er sich in seiner
Dichtung Wilhelm von Griens selbst bezeiclmete/4 Rudolf von (Hohen-)Ems (t
1250/54)/5 hat aus diesem Stoff in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine
umfangreiche lehrhafte Dichtung gestaltet. Die Geschichte handelt von der
Bekehrung eines heidnischen Königssohnes und bietet dem Dichter die
Gelegenheit, eine ganze Christenlehre vorzufUhren, die für heutige Leser etwas
mühsam aufzunehmen ist, aber offenbar dem reichen Kremser Bürger Gozzo so
wichtig war, dass er Szenen daraus von einem bedeutenden Künstler in einem
repräsentativen Wohnraum gestalten ließ.
Zeitlich näher der Schilderung aus dem Norden Frankreichs kommen wir
mit einem jüngeren und bisher kaum bekannten Fund. Im kleinen Ort Wink! im
Felde vor Königsbrunn am Wagram steht auf einem niedrigen, aber heute noch
weitgehend überschwemmungssicheren Hügel eine Kirche, deren mittelalterlichen
Teile Überreste der ehemaligen Burgkapelle sind, die auf die Zeit vor
1200 datiert werden.26 An der ehemaligen Außenseite dieser Burgkapelle gab es
Wandmalereien, deren Überreste 2003 entdeckt wurden und die von Elga Lanc
in die Zeit zwischen 1 200 und 1220 gestellt werden.27 Ihre Restaurierung durch
Josef Voithofer wurde 2005 abgeschlossen. 28 Die Hen·en von Wink! gehören
zum mittleren Adel des Landes, sie stehen aber mehrfach mit den Landesfürsten
und den fuhrenden Adelsgruppen in Verbindung. Ihr Hauptaktionsfeld umfasste
das Tullnerfeld bis über den Wagram. 29 Ihre Position ist ft.ir östeneichische
Verhältnisse ein wenig mit jener der Hen·en von Guines vergleichbar.
Von den auf Secco gemalten Wandbildern ist vor allem die Vorzeichnung
erhalten, die Malschicht dürfte durch einen Brand verloren gegangen sein. Die
erste Szene ist leicht erkennbar: In sehr routinierter Manier gestaltete der
Künstler die biblische Geschichte des Sündenfalls. Beziehungen zur zeitgenössischen
Buchmalerei sind nicht überraschend. Wirklich spannend wird aber der
23 Christian Nikolaus Opitz: Die Wandmalereien im Turmzimmer der Kremser Gozzoburg.
Ein herrschaftliches Bildprogramm des späten 13. Jahrhunderts, in: Östen·eichische Zeitschrift
fiir Kunst und Denkmalpflege 2008 (62, Heft 4), S. 588-602. Blaschitz: Buddha
(wie Anm. 18), S. 350.
24 Rudolf von Ems: Wilhe/m von Griens, hg. von Victor Junk, Berlin 1905, Nachdr. DublinZürich
1 967, V. 1 5629, S. 248.
25 Vgl. auch Brunner: Vielfalt (wie Anm. 14), S. 95f.
26 Gerhard ReicW1alter, Karin und Thomas Kühtreiber: Burgen Weinviertel, Wien 2005, S.
23 1-23 3.
27 Wolfgang Baatz, Günther Marian, Claudia Riff-Podgorschek und Ronald Woldron: Die neu
entdeckten romanischen Wandmalereien in der Filialkirche Hf. Nikolaus in Winkt, in:
Unsere Heimat 2004 (75) S. 63 -65.
28 Vgl. seinen Beitrag in diesem Band S. !06-1 18.
29 Vgl. den Ausschnitt aus der Dissertation von Günther Marian in diesem BandS. 20-79.
13
zweite Abschnitt: Ein Reiter mit nacktem Oberkörper auf einem fliehenden
Pferd, der vor sich eine nicht mehr erkennbare Gestalt liegen hat. Die Untersuchung
mit speziellem Licht brachte eine Sensation zutage: Der Reiter hat
einen Pfeil im Bein, woraus man schließen kann,30 dass es sich um Achilles
handeln müsste, der hier wohl Chryseis entfuhrt, deren Körper nur mehr als
weißer Umriss zu erkennen ist. Briseis galt ebenfalls als Kriegsbeute Achills.31
Chryseis wird dann von Achill dem Agamenmon als Sklavin überlassen tmd
wird dessen Geliebte. Agamenmon will sie ihrem Vater Chryses, einem Priester
Apollos, nicht zurückgeben. Der Gott Apollo überzieht daraufhin die Griechen
mit einer furchtbaren Pest. Schließlich wird Chryseis doch zwückgegeben, Agamenmon
verlangt daraufhin Briseis von Achill, und das ist die Ursache des
Zornes des Atriden, mit dem die Ilias beginnt.
Viele antike Stoffe waren um 1 200 bekannt, sie gehörten vielleicht zu den
ultramarinarum partium gesta oder zu den gentilium neniae, von denen einige
Lambert von Ardres aufzäh1t.32 Vielleicht hat auch Ortolf von Wink! beim 3 .
Kreuzzug noch eine Anregung mitbekommen.33 Aber ungewöhnlich ist, dass der
Held nicht in mittelalterlicher Rüstung dargestellt wird, sondern antikisierend.
Wie man aus den Vorzeichnungen sieht, hatte der Künstler bei der Ausführung
des Pferdekopfes Schwierigkeiten und musste dort mehrmals probieren. Es
stand also ganz deutlich bei ihm und/oder beim Auftraggeber ein anspruchsvoller
ästhetischer Anspruch dahinter. Eine mögliche Bildvorlage ist bisher
nicht bekannt.
Wie der Bilderzyklus weiterging, können wir nicht wissen, denn der
weitere Teil der Wand wurde abgerissen. Entscheidend für unsere Fragestellung
aber ist, dass der Auftraggeber damit vor seinen Standesgenossen repräsentieren
wollte, also mit deren Erstaunen und Interesse rechnete. Sie konnten also in
Wink! nicht nur der Bibel, sondern auch der Weltliteratur begegnen. Vielleicht
ging der Zyklus mit weiteren sagenhaften Katastrophen weiter.
Nicht ganz zur Weltliteratur zählt eine Dichtung Komads von
Fußesbrunnen, die um 1200 entstand. Immerhin geriet der Autor einmal in denschlecht
begründeten- Verdacht, der unbekannte Dichter des Nibelungenliedes
30 Der Erste, der diese Vemm111ng aussprach, war Wolfgang Hilger.
31 Bei Herbort von Fritzlar: Liet von Troye (zwischen 1 1 90 und 1200 entstanden) ist es Briseis,
die Tochter von Calchas, hg. von Kar! Fronunann, Quedlinburg-Leipzig 1837 (Bibliothek
der gesammten deutschen Naiional-Literatur Bd. 5), S. 36, V. 3 1 07, der zu den Griechen
überläuft und sie daher von den Trojanern fordert, V. 8555. Dort muss sie von ihrem Geliebten
Troilus Abschied nehmen. Diomedes verliebt sich in sie, vergeblich zunächst. Doch
da Troilus sie der Untreue verdächtigt, wendet sie sich Diomedes zu; dessen Frau Aegiale
sinnt auf Rache. Dass Briseis eine ,Beute‘ Achills war, gehörte nach Auskunft von Kurt
Smolak im Mittelalter wohl zum mythologischen Gnmdwissen, vgl. Ovid: Heroides 3 , 1 :
rapta; 20,69: cepil; ars amatoria 713: capta.
32 Lambert: Chronik (wie Anm. 1), c. 96, S. 607 und c. 80, S. 598. Vgl. den Beitrag von Hylla
in diesem Band S. 119-134.
33 Vgl. Marian in diesem Band S. 50-53.
14
zu sein.34 Das namengebende Feuersbrunn liegt nur wenige Kilometer westlich
von Wink!, nach mittelalterlichen Verhältnissen kaum einen halben Tagesritt
Konrad gehört zum gleichen Adelskreis wie die Henn von Wink! und wird wie
sie auch in den Klostemeuburger Traditionen genannt.35 Der Stoff geht direkt
oder – eher – indirekt auf eines der Kindheitsevangelien zurück.36 Aber, wie
jeder weiß, kommt man auf der Flucht nach Ägypten im niederösterreichischen
Weinviertel vorbei und erlebt dort einige Abenteuer, die nicht in den Vorbildern
stehen. Da kann es schon sein, dass man unter die Räuber gerät. Einer von
diesen erbannt sich des Heiligen Paares und lädt es in seine recht bescheidene
Burg ein. Dort wird das Jesus-Kind auch gebadet.37 Der Schaum, den das Kind
im Badewasser schlug, erweist sich als heilsam, so dass die Gastgeber in der
waltfeste wohlhabend wurden und das Heilige Paar auf der Rückreise einen
prächtigen Haushalt vorfindet.38 Diesem Umstand verdanken wir recht kostbare
Schilderungen von Burgen und Gastlichkeit.39
Auch in der kleinen Burg gibt es ein Gemach fur Frauen, wo sie auch das
Kind pflegen. Aber die Mahlzeit findet im Freien statt, in einem mit Laub
überdachten Hof, wo Sitzgelegenheiten bereitet werden. Es gab dort auch fließendes,
klares Wasser. Immerhin hat der HausbetT alle Dienerschaft, die man
braucht, so truhscezen unde schenchen, die aufwarten, und koche unt spisare, die
das Essen bereiten. Was sie diesmal bekamen, wird nicht berichtet. Ein Gästezimmer
zum Schlafen findet sich auch, und am Morgen gibt es – der Wirt hat
mehr Bildung, als man es von einem Räuber erwarten würde- ein petitmangir,
eine kleine Mahlzeit, immerhin ist Obst und Braten dabei.40
Als die Gastgeber zu Wohlstand kamen, konnten sie sich Felle und Teppiche
vor das Feuer legen und auch im Garten bekam man pelzüberzogene Pöls-
34 Waller Hansen: Die Spur des Sängers, Bergisch Gladbach 1987. Die Stelle aus der Klage,
die dazu Anlass gab, bei Reichen in seiner Nibelungenlied-Ausgabe (wie Anm. 46), S. 355:
Daz mcere briefen d6 began sfn schrfber meister Ktinrat, da begann die Geschichte
niederzuschreiben sein (des Bischofs von Passau) Schreiber Meister Konrad; über diesen
ebd. S. 356f. und S. 359.
35 Codex traditionum eccl. coll. Claustroneoburgensis. hg. von Maximilian Fischer, Wien
1851 (Fontes rerum Austriacarum li 4) Nr. 550, S. 122 ( 1177/94) Konrad mit seinem Vater
Gerung; Nr. 382, S. 80 (1 185/90) mit seinem Bruder, ebenfalls Gemng, Nr. 344, S. 69
(nach 1168) dieser alleine. Vgl. auch Marian, in diesem Band S. 75.
36 Evangelia infantiae apokrypha. Apocryphe Kindheitsevangelien, übers. und eingel. von
Gerhard Schneider, Freiburg-Basel-Wien etc. 1995 ( Fonres Christiani 18). Vgl. Fritz Peter
Knapp: Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg,
Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273, hg. von Herbert Zemann
(Geschichte der Literatur in Österreich Bd. 1), S. 242-245.
37 Konrad von Fußesbrunnen: Die Kindheit Jesu, hg. von Hans Fromm und Klaus Gmbrnüller,
Berlin-New York 1973, V. 1503-1905, S. 126-1140.
38 Konrad: Kindheit (wie Anm. 37), V. 2105-2484, S. 147-161.
39 Vgl. auch den Beitrag von Themas Kühtreiber in diesem Band S. 80-105.
4° Konrad: Kindheit (wie Anm. 37), S. 138-140.
15
ter. Sie bekamen in vornehmen Gefaßen, chöphe, mez und glasvaz, die – wenigstens
in der Dichtung – standesgemäßen Getränke moraz, wfn und met,
Maulbeerwein, Wein und Met und allerbesten lutertranc, mit Kräutern
gewürzten Rotwein. So hat es der Dichter wohl in den Büchern gelesen; es kann
sein, dass er sich neben dem obligaten Wein auch vergorene und nicht vergorene
Obstsäfte darunter vorstellte.41 Im Bächlein kühlten sie den Wein. Für das Essen
bereitete der Hausben alles nach franzeiser sit, nach französischer Art, die Tische
waren mit weißen Tüchern belegt und die Gäste wurden von Knechten
bedient, die vor ihnen knieten. Selbstverständlich gab es nun etliche Sorten
Fleisch, von zahmen und wilden Tieren.42 Es fallt auf, dass der Luxus größtenteils
nach den literarischen Vorbildern klingt: Die wichtigste Aussage ist, dass
man alles hatte, was „man“ so haben sollte. Wie weit die heimische ,,Hochkultur“
entwickelt war, erfahren wir eigentlich nicht. Von einer Burgkapelle kann
leider nicht die Rede sein, denn der Dichter folgt dann wieder der biblischen Geschichte:
Der Räuber wird der „rechte“ Schächer (Lk 23, 40-43).
Es ist davon auszugehen, dass das Interesse des (nieder-)östen·eichischen
Publikums sich keineswegs schwerpunktmäßig auf geistliche Themen beschränkte,
aber diese sowohl baulich – auch Burgen waren mit bildliehen Darstellungen
ausgestaltet – als auch schriftlich mehr Chancen auf Überlieferung
hatten. Die Winkler und ihr Kreis hatten selbstverständlich mehrfach mit den
Passauer Bischöfen zu tun.43 In den Jandesftirstlichen Urkunden stehen sie übrigens
häufig in einer Liste mit Hadmar von Kueming.44 Es ist zwar nicht belegt,
aber doch nicht unmöglich, dass einige aus diesem Kreis auch 1203 bei der
Visitationsreise Bischof Wolfgers von Erla mit diesem zusammentrafen und
dabei waren, als am 10. November in leiseimauer Walther von der Vogelweide
das Geld für einen Pelzrock erhielt:45 Zu seinem Publikum dürfen wir sie getrost
41 Details dazu künftig in Kar! Bmnner: Kontext der Dinge. Kultur und Natur in der
millelalterlichen Selbstdeutung.
42 Konrad: Kindheit (wie Anm. 37), S. 154-160.
43 Die Regesten der Bischöfe von Passau, hg. von Egon Boshofund Franz-Reiner Erkens, Bd.
1, München 1992, z. B. Nr. 693, S. 213 (1150, Poppo); Nr. 762, S. 237 (1160 fur Adalbero
von Kuenring, Orto1f); Nr. 925, S. 282 (1 172/88, Ortlieb, hier ist bereits Wolfger von Erla,
der spätere Bischof, dabei).
44 Z. B. Urkundenbuch zur Geschichte der Habenherger in Österreich, bearb. von Heinrich
Fichtenau und Erich Zöllner (BUB). Bd. 1: Die Siegelurkunden der Habenherger bis I 215,
Wien 1950, Nr. 57, S. 78 (1180, Ortlieb/Ortolf); Nr. 70, S. 96 (1188, Ortlieb/Ortolf); Nr. 73,
S. 100 (1188, Ortlieb/Ortolf). Die Kuenringer übernahmen übrigens im 13. Jahrhundert die
Burg Ried, vgl. den Beitrag von Steinegger in diesem Band S. 136-141.
45 Hedwig Heger: Das Lebenszeugnis Walthers von der Vogelweide. Die Reiserechnungen des
BischofS Wolfger von Erla, Wien 1970, S. 81. Vgl. zuletzt Der hundertjährige Pelzrock.
Wallher von der Vogelweide- Wolfger von Erla – Zeiselmauer, hg. von Helmut Birk.han,
Wien 2005 ( Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil. hisl. Kl., Sitzungsberichte
Bd. 721).
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zählen, zum Publikum des Nibelungenliedes46 und des Parzival Wolframs von
Eschenbach: lmmerhin wird im Waldviertel um 1200 eine Burg de Aneschowe
genannt, deren Name mit „Anjou“ in Frankreich in Verbindung gebracht werden
kann.47 Wie könnte man auf die Benennung nach einer so entfernten Gegend
gekommen sein? Ein Anschewfn, also einer aus Anjou, ist der Vater Parzivals,
Gahmuret, und auf diesen scheint der Burgname anzuspielen. 48 Wolfger von
Erla war auch Patriarch von Aquileja, als DornhetT Thomasin von Zerklaere dort
im Winter 1 2 1 5/16 seinen „Welschen Gast“ schrieb, der sich beim adeligen
Publikum lange Zeit großer Beliebtheit erfreute.49
Diese niederösterreichischen Adeligen waren aber nicht das bevorzugte
Publikum Neidharts, bekannt als „von Reuental“, obwohl er sich nicht direkt so
nennt. Er wurde von Leuten in Mödling, von Eppen und von Gumpen, nicht
besonders gut behandelt. 5° Das wäre verständlich, wenn ich mit meiner Interpretation
recht habe: Ich vermute nämlich, dass die in den Liedern verspotteten
Bauern gar keine sind, sondern dass sich dahinter ein Spott der aufsteigenden
Wiener Hofgesellschaft gegenüber dem Tullnerfelder Landadel – der zu den
Leuten in Mödling gute Beziehungen pflegte – verbirgt; mit diesem sah man
sich offenbar in Konkurrenz, nicht nur um die Gunst von Mädchen, sondern
auch um Wohlstand und Einfluss. Hat sich doch Wien als Babenberger-
46 Eigentlich müsste es „Kriemhildlied“ heißen, denn Hs. B beginnt mit Ez wuochs in
Burgonden … , bei Kar! Bartsch die Strophe 2; jetzt zu benützen in der Ausgabe Das
Nibelungenlied. Nach der St. Galler Handschrift hg. und er!. von Hermann Reichert,
Berlin-New York 2005.
47 Peter Wiesinger: Die Namen der Burgen im niederösterreichischen Waldviertel. In: Sein &
Sinn, Burg & Mensch, hg. von Falko Da im tmd Themas Kühtreibcr. St. Pölten 200 I
(Kataloge des Niederösterreichischen Landesmuseums N.F. 434), S. 469-486, hier: S. 479.
Die Burg liegt im 1 ordwesten von Bad Trauostein (VB Zwettl) und heißt heute Anschau,
vgl. Markus Jeitler und Gerhard Reichhalter, Anschau. In: Burgen Waldviertel – Wachau Mährisches
Thayatal, hg. von Falko Daim, Karin KUhtreiber und Themas Kühtreiber
(Wien 2009), S. 526 f. bzw. http://www.imareal.sbg.ac.at/noe-burgen-online/resultlburgid/
2429 (Zugriff30.1 .2016); BUB (wie Anm. 44), Nr. 287 (1230), S. 123: Zeuge Rudgerus de
Anschowe.
48 Wolfram von Eschenbach: Parzival, Studienausgabe nach Kar! Lachmann, übers. von Peter
Knecht, Einf. von Bemd Schirok, Berlin-New York 1998, Buch 1, Abschnitt 6 V. 26f., S. 8.
Vgl. Hermann Reichert: Wolfram von Eschenbach .,Parzival“for Anfänger, 2. Auf!. Wien
2007, S. 56.
49 Vgl. Anm. 16 und die Auswahl mit Übersetzung von Eva Willms, Berlin-New York 2004.
Dazu bes. Beweglichkeit der Bilder. Text und Tmagination i11 den illustrierten Handschriften
des ., Welschen Gastes“ von Thomasin von Zerc/aere, hg. von Horst Wenzel und
Christina Lechtcrrnann, Köln-Weimar-Wien 2002. Die älteste Handschrift aus der 2. H. des
13. Jh.s starnrnt wohl aus Bayern: Heidelberg, Universitätsbibliothek cpg 389, auch beschrieben
in Beweglichkeit (wie Anm. 49), S. 257. Diese Handschrift ist online unter
http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglitlcpg389 (Zugriff 1.2.20 16).
50 Die Lieder Neidharts, hg. von Edmund Wießner, fortgef. von Hanns Fischer, 5. Auf!. hg.
von Paul Sappler, Tübingen 1999 (Altdeutsche Textbibliothek Nr. 44), Winterlied 24, S.
132f.
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Residenz erst nach 1200 langsam entwickelt; zuvor waren Tulln und
Klosterneuburg wichtiger. Noch Herzog Friedrich II. „der Streitbare“ – der
allerdings etliche Probleme mit den Wienern hatte 51 – hat sich die Burg
Starhemberg bei Wiener Neustadt zur Residenz ausgebaut und dort in den
vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts regelrecht Hof gehalten. 52
Oder vielleicht umgekehrt, wie es im „Veilchenschwank“ – man verzeihe
um der Deutlichkeit willen den Zeitsprung – gespielt werden sollte:53 „Neidhart“
findet das erste Veilchen im F1ühjahr. Er legt seinen Hut darüber, um es zu
bewahren und der Herzogin zu zeigen. Die „Bauern“ beobachten ihn, machen
statt des Veilchens einen Haufen hin und Neidhart verlie1t vorübergehend die
Gnade der Fürstin. Hieß das eirunal, die Leute von da draußen „scheißen“ auf
die Wiener? Das entwertet keine der traditionellen Interpretationen, sondern
verweist nur auf eine der möglichen und bisher übersehenen Wurzeln. Das
Bürgertum, zumindest seine führenden Schichten, ist jedenfalls nicht aus dem
Bauernstand „emporgewachsen“,54 sondern war lange Zeit mit dem ländlichen
Adel verbunden, wie die breiteren Schichten der Stadt mit den Handwerkern und
Zinsleuten in den regionalen Zentralorten. Die Wandbilder zu „Neidhart“-Themen,
die sich erhalten haben, sind immer in Häusern sehr vornehmer Leute, die
es nicht nötig hatten, sich von „Bauern“ abzusetzen, aber mit ihresgleichen
konkmTierten und unter ihresgleichen ihre Feste feietten. 55
Wie dem auch sei, wir brauchen nicht mehr voller Neid nach Ardres zu
schielen, sondern sollten die Erzählung von dort und die Anhaltspunkte hier als
Ansporn zu einer neuen interdisziplinären Forschung nehmen.56 Vielleicht ka1m
5 1 Karl Brunner: Zum Prozeß gegen Herzog Friedrich 11. von 1236, in: Mitleilungen des
Instituts for Geschichtsforschung 1970 (78), S. 260-273. Zu späteren Reflexen dieser Probleme
vgl. künftig Christina Lutter: A.flective Stralegiesfor Nan·ating Communily. Jans the
,.Enike/s “ Fürstenbuch as an Examp/e of Vemacular Popular Culture, in: Narrating
Communities. Historiographfes in Centrat and Eastern Europe (13th-16th ct.), hg. von
Christina Lutter und Pavlina Rychterova, Turnhout 2017 (1-/istoriographies ofldentily Bd.
5).
52 Karl Brunner: Die Datierung der Ebsd01jer Weltkarte, in: ,.Eine ganz normale l11schrift“ … ,
hg. von Franziska Beutler und Wolfgang Hameter, Wien 2005 (Festschrift for Ekkehard
Weber, Althistorisch-Epigraphische Studien Bd. 5) S. 609-613, hier S. 611 f.
53 Vgl. die Bilder in der Beilage zu Neidhartrezeption in Wort und Bild, hg. von Gertrud Blaschitz,
Krems 2000 (Medium AeV!Im Quotidianum Sonderbd. 10), dort aus der Schwanksarrunlung
Neidhart Fuchs, Inkunabel Augsburg 149 l /97 zu Hie danzt die herzogin V!lmb
den veil vnd die herzogin hept den huot auf Sehr gut in Überblick tmd Einordnung, mit
Literatur, https://de. wikipedia.org!wiki/V eilehenschwank (Zugriff 29.1.20 16).
54 Erhard Jöst: Den Bawrn zu leydfahr ich dahere. Text und Bild im .,Neidhard Fuchs“, in:
Neidhartrezeption (wie Anm. 53), S. 205.
55 Den Hinweis verdanke ich Edith Wenzel, die an einer Neidhart-Ausgabe arbeitet: Neidhart.
Selected Songs from the Riedegg Manuscript, Amsterdam 2016; zu den Bildern vgl.
Neidhartrezeption (wie Anm. 53).
56 Vgl. z. B. Socia/ and Cultural Communities across Medieval Monastic, Urban, and Courtly
Cultures in High and Late Medieva/ Central Europe (PI Christina Lutter), Projekt im
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man dann unsere Skizze ausgestalten und womöglich sind auch anderswo mit
einigem Spürsinn solche Kulturlandschaften zu entdecken,57 wenn man sich ein
wenig von der Faszination der Fürstenhöfe löst bzw. nachfrägt, an wen außer
dem unmittelbaren Umstand sich die Propaganda der Fürsten richtet.
Rahmen des Spezialforschungsbereichs (SFB 42) VTSCOM Visions of Community:
Compararive Approaches ro Ethnicity, Region and Empire in Christianity, Islam and
Buddhism (400-1600 CE), Sprecher: Walter Pohl, geförden vom FWF,
https://viscom.ac.atlprojects/late-medieval-central-europelresearch-focus/material-cultureart-
histOiy/.
57 Vgl. z. B. auch die ältere Studie von Bernd Thum: Aufbruch und Verweigerung. Literatur
und Geschichte am Oberrhein im hohen Mittelalter. Aspekte eines geschichtlichen
Kulturraumes, Waldkirch i. Br. 1980.
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Adelskultur in der „Provinz“:
Das niederösten·eichische Tullnerfeld
als mittelalterliche Kulturlandschaft ( 1 2.-14. Jh.)