Antike Helden in der hochmittelalterlichen Kleinkunst
Alexandra Hylla
Das gesamte Kunstschaffen des 1 2. Jahrhunderts war geprägt von einer verstärkten
Auseinandersetzung mit antiken Themen. Nicht zuletzt die Krise
zwischen regnum und sacerdotium im 1 1 . Jahrhundert hatte zu einer gesteigeiten
Rückbesinnung auf die Wmzeln des Regnum Teutonicum und damit
auf die römische Geschichte gefiihrt. 1 In der Folge mehrten sich so zum
Beispiel die Bemühungen, den Ursprung konkreter Adelsgeschlechter in der
Geschichte Roms zu suchen. Ein frühes und prominentes Exempel dieses
neuen adeligen Selbstverständnisses l ieferte das Haus der Welfen, das nach
der Genealogia Welforum der 1 1 20er Jahre bis auf den römischen Verschwörer
Catilina zurückverfolgt werden konnte.2 In die römische Vorgeschichte
wagte sich dagegen Otto von Freising, der das Haus der Staufer in
Troja entstehen ließ.3 Die Beliebtheit antiker Mythen und Legenden wuchs
schließlich derart, dass ab der Mitte des 12. Jahrhunderts zahlreiche
volksprachliche Romane zu antiken Heroen entstehen ko1mten, wie Lamprechts
Alexander oder Heinrich von Veldekes Eneasroman. Eine fundierte
Kenntnis der Schulautoren Vergil und Ovid lässt sich dabei gerade bei Heinrich
von Veldeke nachweisen.4
1 Vgl. Barbara Haupt: Antike Helden im Hochmittelalter, in: Medien der Erinnerung in
Mittelalter und Renaissance, hg. von Andrea von Hülsen-Esch, Düsseldorf 2009
(Diisseldorfer Studien zu Mittelalter und Renaissance Bd. 42), 5 .54-82, hier: S. 70.
2 Die mögliche Übersetzung des „catulus“ als ,junger Hund“ wird dabei als wichtiges
Argument angeftihrt. Trotz der durch die Cicero-Werke bekannten Zwielichtigkeil dieses
Ahnherren, ließ ilm doch seine Abstammung aus dem römischen Adel als einen
geeigneten Urahn der Welfen erscheinen, siehe: Heinz Krieg: Antikenrezeption im hohen
Mittelalter. Zur welfischen Traditionsbildung, in: Antike im Mittelalter. Fortleben,
Nachwirken, Wahrnehmung. 25 Jahre Forschungsverbund „Archäologie und Geschichte
des ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland“, hg. von Sebastian Brather u.a.
Ostfitdem 2014 (Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland
Bd. 2 1 ), S. 371-382.
3 Vgl. Haupt: Antike Helden im Hochmittelalter (wie Anm. l), S. 70.
4 Vgl. ebd. S. 54-82.
1 19
Zlu· Verbreitung antiken Wissens diente w1ter anderem die
Schulliteratur des 1 1 . und 1 2 . Jahrhunderts, die in weiten Teilen illustrierte
Gegenüberstellungen antiker und biblischer Erzählungen zur Vermittlung von
Tugenden und Laster nutzte. Solche bebilde1ten Texte inspirierten schließlich
auch Künstler außerhalb der Buchmalerei, wie Josepha Weitzmann-Fiedler
dies fur die romanischen gravierten Bronzeschalen eindrucksvoll herausarbeiten
konnte. Es handelt sich dabei um bronzene Becken, die im 1 2 .
Jahrhundert nördlich der Alpen hergestellt wurden – möglicherweise i n der
Nähe von Bergwerkszentren – und die meist reiche, erzählerische Gravuren
aufWeisen. Nach Weitzmann-Fiedler wurden sie zur Waschung im Rahmen
der Beichte in Nonnenklöstern gebraucht und sollten anhand der Bebilderung
und Beschriftung den Tugendkanon der Schulliteratur vermitteln.5 Es sei nun
dahingestellt, ob die Becken mit ihren unterschiedlichsten Motiven tatsächlich
nur fur diesen sehr kleinen Gebrauchsrahmen Verwendung gefunden haben
und nicht doch auch im profanen Bereich genutzt worden sein könnten. Auf
jeden Fall bemerkenswert ist die Gestaltung dieser Objektgruppe.
Abb. 1 : Detail der Achilles-Schale aus Bronze, 12. Jh. (d: 27cm, h: 5cm, Rand l cm). Paris,
Bibliotheque Nationale, Cabinet des Medailles et A.ntiques, lnv. Nr. 525 (WeitzmannFiedler,
Kat. Nr. 1).
5 Vgl. Josepha Weitzmann-Fiedler: Romanische gravierte Bronzescha/en, Berlin 1 98 1 , S.
9-17.
120
So zeigt die sogenannte Achilles-Schale im Cabinet des Medailles
Paris (Abb. 1) einen siebenteiligen B ilderzyklus mit Legenden, die direkt auf
den Text der antiken Achilleis des Statius zurilckzuftihren sind. Um das
Zentrum der Schale kreisförrnig angeordnet sind die Darstellungen des Harfe
spielenden Chiren neben Achilles mit der Leier, die Fahrt der Thetis mit
ihrem Sohn ilber das Meer, die Verbergung des Helden als Mädchen verkleidet
bei König Lykomedes, die Erkennung des Achilles durch Odysseus, die
Erkennung des Achilles mit dem Trompete blasenden Agyrtes vor Lykomedes
und seinen Töchtern und der wn die Hand der Deidamia anhaltende
Achilles mit seiner Geliebten im Arm vor ihrem Vater Lykomedes und
Odysseus. In einem umrahmten Medaillon im Zentrun1 der Schale ist schließlich
die Abfahrt des Achilles von Scyrus in einem Schiff voller Krieger zu
sehen. Die Achilles-Schale ist die einzige in der Sammlung WeitzmannFiedlers,
deren Umschriften direkt aus einem antiken Text entnommen wurden.
Dennoch zeigen die Motive typisch mittelalterliche Elemente, die an
Illustrationen der zeitgleich entstehenden Ritterromane erinnern und nur vermengt
sind mit antikisch dargestellten Objekten, wie der Leier des Achilles.6
Abb, 2: Sog. Kadmus-Schale mit Herkulestaten, 12. Jh. (d: 25,7cm, h: 7,8cm, Rand J cm).
London, British Museum 1, lnv. Nr. 192 1 , 3-25,1 (Weitzmann-Fiedler Kat. Nr. 2).
6 Vgl. ebd. S. 18-2 1 , Kat. Nr. 1 .
1 2 1
Eine weitere mythologische Schale mit dem wohl beliebtesten
Heldenzyklus, ist die sogenannte Kadmus-Schale im British Museum London
(Abb. 2), die Anfang des 1 9. Jahrhunderts in der Nähe von Gloucester im
Flussbett des Sevem gefunden wurde. Im Zentrum der Schale wird Kadmus,
der König von Theben, als Erfinder des griechischen Alphabets und damit als
Urvater der schriftlichen Überlieferung der Antike, sitzend vor einem
Schreibpult dargestellt. Die Darstellungsweise erinne1t stark an einen schreibenden
Evangelisten. Um das Kadmus-Medaillon sind, durch die Umschriften
arkadenartig unterteilt, sechs Szenen aus dem Leben des Herkules angeordnet.
Gezeigt wird die Geburt des Helden, gefolgt von dem Würgen (nur)
einer Schlange in der Wiege, dem Kampf gegen den Drachen um die Äpfel
der Hesperiden, dem Raub der Krone des Geryon, dem Kampf gegen Cacus,
und schließlich dem trauemden Helden auf dem Scheiterhaufen. Die
Umschriften in leoninischen Hexametem gehen direkt auf eine Ekloge des
Theodulus des 10. Jahrhunde1ts zmück und entstammen damit wahrscheinlich
einem bebilderten Schulwerk, das biblische Szenen den mythologischen
entgegenstellte. Entsprechend ähnelt der Herkuleszyklus der Schale in der
Zusammensetzung der Motive stark einer Heiligengeschichte. Noch stärker
als bei der Achilles-Schale, sind die Darstellungen des Herkules-Zyklus ganz
in die Zeit des Künstlers übertragen. Antike Nacktheit hat auch hier keinen
Platz, Geryon ist kein Monster, Cacus kein Riese. Auffallend präsent ist
dennoch das Löwenfell des Helden, das in der Hand oder als Fellkragen
getragen wird und schließlich, neben dem Sterbenden an einem Baum hängt.7
Während der Gebrauchsrahmen der Bronzeschalen nicht abschließend
geklä1t ist, ist der direkte Zweck einer anderen Gruppe der „Kleinkunst“ mit
antiken Motiven ohne Zweifel. Gemeint sind figürlich verzierte Brettsteine
des 12. Jahrhunderts, die nördlich der Alpen weit verbreitet gewesen sein
müssen und häufig im Kontext von Burganlagen gefunden werden. Ob aus
Kr!ochen, Hirschgeweih, Walrosszahn oder Elfenbein, es haben sich einige
Spielsteine in unterschiedlichster Qualität erhalten, aufwelchen antike Helden
abgebildet sind. Teilweise lassen sich noch Sets rekonstruieren, die zum Beispiel
für das Spiel Trictrac aus insgesamt 30 Spielsteinen bestanden und
farblieh in zwei Pmteien geteilt waren.8
Von großer Bekanntheit ist eine über mehrere Sammlungen verstreute
Gruppe aus Elfenbein-Spielsteinen, die wohl ein Set bildete. Es handelt sich
um eine absolute Luxusversion des Spiels und kann durch die Sclmitztechnik
eindeutig einer Werkstatt zugeordnet werden. Wahrscheinlich entstand das
7 Vgl. ebd. S. 2 1 -25 I Kat. Nr. 2.
8 Vgl. Antje Kluge-Pinsker: Schach und Trictmc. Zeugnisse mittelalterlicher Spielfreude
in salischer Zeit, Sigmaringen 1 9 9 1 (Monographien Bd. 30), S . 55-72.
122
Set um 1 140/50 in einer der zahlreichen elfenbeinverarbeitenden Werkstätten
in Köln. Während hier die eine Spielerpartei rotgefärbte Steine mit Szenen
aus dem Leben Samsons spielte, setzte der Gegner Herkules-Spielsteine ein.
So stellte man, wie bei der illustrierten Schulliteratur, biblische Helden den
antiken Heroen entgegen (Abb. 3).
Abb, 3 : Vier Spielsteine des Luxus-Sets mit Herkules- und Samsonzyklus, Köln, 1 1 20-
1 1 40, n . Goldschmidt ( d: 6 1 -64mm). Aus: Adolph Goldschmidt: Die Elfenbeinskulpturen
aus der romanischen Zeit. XJ.-XI/l. Jahrhundert, Bd. 3, Berlin 1923, Ausschnitt Tafel Llll
(Kluge-Pinsker Kat. Nr. 99, 100, 104, 105).
Gerade die Kombination Samson-Herkules wurde auf Spielsteinen gerne verwendet.
Das Kölner Luxus-Set zeigt auf vier erhaltenen Exemplaren Samson
und die Füchse, den Kampf des Helden gegen die Philister mit dem
Eselskiefer, die Philister über dem Gefesselten und Samsan bei der Zerstörung
des Tempels der Philister. Dagegen steht Herkules mit noch sechs erhaltenen
Steinen. Dargestellt ist Herkules als Kind mit den Schlangen, links
sitzend der Seher Tiresias, der Held im Kampf mit dem Drachen im Garten
der Hesperiden, Herkules mit Pfeil und Bogen auf zwei Kentauren schießend,
der Kampf mit dem dreileibigen Geryon, Herkules, der Diemedes seinen
123
Pferden zum Fraß vorwirft, und der Kampf um Deianera mit dem, in einen
Stier verwandelten Acheloos.9 Spielsteine anderer Werkstätten mit HerkulesMotiv,
ein heute verlorenes Exemplar sogar mit entsprechender Legende,
zeigen besonders häufig den Kampf des Helden gegen Cacus. 10 Neben
Herkules finden sich noch weitere antike Helden. So hat sich eine kleinere
Gruppe von Spielsteinen aus Walrosszahn erhalten, die aufgnmd des Materials
nach Nordfrankreich ver011et wird und ab 1 1 25 entstanden sein könnte.
Neben dem Heiligen Martin, sind hier drei Szenen aus der Odyssee vertreten.
Abb. 4: Achilles gegen Cygnus, Spielstein, Nordfrank.reich, nach 1 12 5 (d: 63mm).
Historisches Museum Basel, fnv. Nr. 1 8 7 1 . 5 1 (Kluge-Pinsker Kat. Nr. 46)
Ein weiterer Spielstein mit einer Kampfszene zwischen drei Reitern
wird als Kampf des Achilles gegen Cygnus aus Ovids Metamorphosen
interpretiert (Abb. 4) Zu sehen ist hier nicht der Moment, in dem sich Neptuns
Sohn in einen Schwan vetwandelt, sondern das vergebliche Einschlagen des
9 Vgl. ebd. S. 72-80 I Kat. Nr. B 98-108, d: 61 -64mm. 10
Ebd. Kat. Nr. B 1 1 8.
124
Achilles auf den unvetwundbaren Leib des Cygnus und der stürzende
Menoites, der Achilles zum Opfer geworden war.1 1 Wie bei den Schalen sind
auch die Darstellungen der Spielsteine in die eigene Zeit übettragen worden,
so treten Achilles und Cygnus ganz in ritterlicher Tracht auf und beim Kampf
des Herk:ules gegen Cacus schwingt der Held stets ein Schwert statt einer
Keule. Auch deshalb wird die Interpretation einzelner Szenen erschwert, noch
viele weitere Spielsteine mit Kampfszenen und Fabelwesen könnten eine
Deutung innerhalb antiker Erzählstoffe erfahren.
Die weite Verbreitung der mythologischen Spielsteine, allen voran
solche mit Herkulestaten, beweist, wie bekannt diese Erzählungen auch in der
breiteren Bevölkerung, außerhalb der Schulen, gewesen sein müssen.
Seltenste Funde von figürlichen Trictrac-Steinen aus Holz als dem billigsten
und vergänglichsten Schnitzmaterial, lassen auf eine einstmals noch viel
größere Verbreitung solcher „erzählender“ Spiel-Sets schließen.12 Ob sich
auch das einfachere Volk figürlich geschnitzte Spiele leistete ist ungewiss,
dennoch konnten Menschen jenseits von Schulbildung und Vermögen mit
antiker Mythologie in Kontakt kommen. Wichtigster Moment der Vermittlung
war natürlich der Kirchenbesuch mit entsprechenden Predigten und der
künstlerischen Ausgestaltung der Gotteshäuser. 13
Eine bemerkenswerte Präsenz im Alltag der Bevölkerung erreichte der
Held Herkules in Böhmen, Bayem und dem heutigen Niederösterreich zu Beginn
des 12. Jahrhunderts. Ab 1 I 09 ließ Herzog Waldislaw I. von Böhmen in
Prag Münzen prägen, die unter anderem Herku1es im Kampf mit dem Löwen
und dem Eber zeigen. 14 Die Qualität der Münzbilder ist extrem fein, bei der
Darstellung des Löwenkampfes war der Stempelschneider bemüht, der Szene
ein antikes Aussehen zu verleihen. So tritt der Held mit einer kurzen, eng
gegürteten Tunika und mit Rundschild auf. Mit großem Schwung holt er weit
mit seinem Schwert aus, um den angreifenden Löwen abzuwehren. Links im
Feld befindet sich eine Pflanze.
Die Münzlegende lautet „+DVX. VVLADISLA VS“, auf der Rückseite
ist der Heilige Wenzel im Bmstbild mit Buch und Kreuz abgebildet, darum
11 Vgl. ebd. S. 78f. I Kat. Nr. B 44-48, d: 60-63,5mm.
12 Vgl. ebd. S. 69.
13 Ein schönes Beispiel fiir ein antikes Thema in der kirchlichen Wandmalerei findet sich
in der Klosterkirche von Corvey, wo sich ein karolingischer Odysseus-Zyklus in Teilen
erhalten hat. Vgl. hierzu: Hilde Claussen: Odysseus und Herfades in der karolingischen
Kunst. !. Odysseus und das .,grausige Meer dieser Welt“: Zur ikonographischen Tradition
der karolingischen Wandmalerei in Corvey, in: lconologia sacra. Mythos, Bildkunst
und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas. Festschrift fiir Kar/
Hauck zum 75. Geburtstag, hg. von Hagen Keller, Berlin u.a. I 994 (Arbeiten zur
Frühmiuelalteiforschung Bd. 23), S. 341-382.
14 Frantiek Cach: Nejstarsi Ceske Mince, 4 Bde. Prag 1972, Bd. 2: Ceske a moravske
dendry od mincovni reformy Bretislava I. do doby brakteatove, Kat. Nr. 540, 554, d : um
16mm.
1 25
steht „+SCS.WENCEZLAVS“(Abb. 5a,b). Der Stempelschneider verband
mithilfe der Legende den böhmischen Herzog mit dem antiken Helden.
Gerade Herkules galt spätestens seit der Zeit Karls des Kahlen und der
karolingischen Auseinandersetzung mit dem Werk des Boethius, als ein
christlicher Tugendheld und Idealbild eines christlichen Henschers.1 5 Und als
eben solcher sollte hier Wladislaw I. dargestellt werden. Für die Münzrückseite
wählte man mit dem Heiligen Wenzel, als böhmischem Landespatron
und Stammvater der Pl’emysliden, das bedeutendste Vorbild eines gerechten
Renschers aus der böhmischen Vergangenheit.
Das Prager Herkules-Motiv wurde um 1 1 20 unter BischofHartwig I. in
der Münzstätte Regensburg, beinahe exakt kopie11, auf den viel größeren
Regensburger Denaren abgebildet (Abb. 6).16 Auch hier steht der Held neben
einer Pflanze und kämpft mit Schwert und Rundschild gegen den Löwen von
rechts. Wohl durch die Vermischung mit dem böhmischen Eberkampf, hat der
Regensburger Löwe allerdings seinen Schwanz verloren. Der Regensburger
Herkules reiht sich in eine ganz besondere Gruppe von Münzen der 1 120/30
Jahre in der bayerischen Hauptstadt, eine Ernission voll von Raubtieren und
Kämpfern. Wie bei den Spielsteinen wird dem Herkules auf diesen Denaren
der biblische Samson entgegengestellt, allerdings auf der Münzrückseite.
Samson ist dabei in dem Moment dargestellt, als er den Tempel der Philister
über sich zum Einsturz bringt: Eine dünne, langhaarige Figur mit kurzem
Rock steht unter einer Architektur und windet Arme lmd Beine um die
stützenden Pfeiler (Abb. 7).17 Ein weiteres Münzbild das mit Samson oder
Herkules kombiniert wurde ist ein nach links schreitender Kentaur mit Spitzbart
und Hömem, bei sich ein Beil, Kriegsbeute oder auch einen abgetrenntem
Menschenkopf tragend(Abb. 8).18 Auf den Münzen stehen sich also jeweils
die Helden der Antike und der Bibel gegenüber, oder einer der
Tugendhelden dem lasterhaften Kentaur. Eine enge Verbindung zu denselben
Vorbildern der Bronzeschalen und Spielsteine ist anzunehmen. Möglicherweise
hatte auch der Stempelschneider dieser Münzen, der Aufgrund der
Darstellungsqualität mit S icherheit ein Regensburger Goldschmied war,
Zugang zur illustrierten Schulliteratur die den Bronzeschalen zugrunde liegt.
15 Vgl. Nikolaus Staubach: Odysseus und Herkules in der karolingischen Kunst. !!.
Herkules an der “ Cathedra Petri „, in: /conologia sacra. Mythos, Bildl.:unst und
Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas. Festschriftfor Kar[ Hauck
zum 75. Geburtstag, hg. von Hagen Keller, Berlin u.a. 1 994 (Arbeiten zur
Frühmittela/te/forschung Bd. 23), S. 383-402.
16 Hubert Emmerig: Der Regensburger Pfennig. Die Münzprägung in Regensburg vom 12.
Jahrhundert bis 1409, Berlin 1 993 (Berliner numismatische Forschungen. Neue Folge
Bd. 3), Kat. Nr. 59 (Herkules – Samson), 60 (Herkules – Kentaur), 6 1 (Herkules –
Bischof), d: um 25mm.
17 Ebd. Kat. Nr. 59.
18 Ebd. Kat. Nr. 58 (Samson – Kentaur), 60 (Herkules- Kentaur), d: um 25mm.
126
Abb. 5a,b Herkules-Denar Wladislavs 1 . , Prag ab 1 1 09 (d: 1 5mm). Wien, Kunsthistorisches
Museum, Münzkabinett, Inv. Nr. 17761 (Cach 540)
127
Abb. 6: Herkules gegen den Löwen, Regensburger Denar um 1 120/30 (d: ca. 23mm).
Staatliche Münzsammlung München, Schatzfund von Obing (Emmerig 6 1 , Av.)
Abb. 7: Samson im Tempel der Philister, Regensburger Denar um 1 1 20/30 (d: ca. 25mm).
Staatliche Münzsammlung München (Emmerig 58c, Av.).
128
Abb. 8: Kentaur mit Beil, Regensburger Denar um 1 1 20/30 (d: ca. 24mm). Staatliche
Münzsammlung München (Ernmerig 60c, Rv.)
Abb. 9: Kentaur zwischen Sternen, Münzstätte 1eunkirchen I Formbach, um 1 1 30 (d: ca.
22mm). Wien, Kunsthistorisches Museum, Münzkabinett, lnv. Nr. 133588 (CNA B 4 l a,
Av.)
129
Umgedeutet als Sternzeichen, weniger als Tugendhelden, tauchen die
Herkules- und Kentaurendarstellungen kurze Zeit später in der Münzprägung
des Klosters Formbach in Neunkirchen auf, wo sie zwischen Sternen platziert,
als Serpentarius und Sagittarius interpretiett werden könnten (Abb. 9).19 Die
niederösterreichische Münzstätte scheint dabei durch Personal oder Werkzeug
Unterstützung durch die Regensburger Münzer erhalten zu haben, da hier
teilweise identische Münzpunzen zum Einsatz gekommen sind?0
Abb. 1 0 : Geiseln unter Standarte, Münzstätte Neunkirchen/Formbach, um 1 1 1 0/ 1 1 2 0 (d:
20mm). Wien, Kunsthistorisches Museum, Münzkabinett, Inv. Nr. 1 7 7443 (CNA B 3 , Av.)
Anlass zur Übernahme von Münzbildern konnten offensichtlich auch
Funde antiker Münzen selbst geben. So sind zwei Münztypen von 1 1 1 0/20
bekannt, vielleicht aus der Münzstätte Regensburg oder Krems, wahrschein-
19 Bernhard Koch: Corpus nummorum auslriacorum (CNA), Bd. 1: Mittelalter, Wien 1 994,
Kat. Nr. B 4la, geprägt um 1 1 30? 20
Die jeweilige Inspirationsquelle der Stempelschneider in Prag und Regensburg und die
näheren Hintergründe der Imitationen sind bisher noch nicht eingehend untersucht
worden. Generell wurde die Ikonographie mittelalterlicher Münzprägung in der Numismatik
bisher nur am Rande behandelt. In naher Zukunft sollen jedoch, im Rahmen einer
gemeinsamen Wanderausstellung im Jahr 2017 des Schlosses Runkelstein in Bozen, des
Münzkabinetts des Kunsthistorischen Museums Wien und der Staatlichen Münzsammlung
München, tiefgreifende Forschungen zur Bilderwelt der hochmittelalterlichen
Münzprägung Böhmens, Bayerns, Österreichs und Tirols vorgestellt werden. Ziel ist es,
die Münzen in ihrer Funktion als Bildträger gerade auch von kunsthistorischer Seite zu
betrachten und sie mit anderen Gattungen der Kleinkunst zu vergleichen.
1 3 0
licher aber aus Neunkirchen stammend, die zwei Figuren unter einer Standarte
auf ihrer Vorderseite darstellen, auf der Rückseite je ein Kreuz oder eine
Architektur (Abb. 10).21
Abb. I I a, b: Münze Constantins I . , London, 320-321 n. Chr. München, Staatliche Münzsanun1ung
(RIC 1 9 1 )
21
Koch: CNA (wie Anm. 1 9), Wien 1 994, Kat. Nr. B 3 I Emmerig: Der Regensburger
Pfennig (wie Anm. 16), Kat. Nr. 48, d: um 20mm. Aufgrund der Schrötlingsbeschaffenheit
und der Motivwahl der Rückseite, lassen sich die beiden Münztypen am
ehesten in die Münzprägung von Neunkirchen I Formbach eingliedern.
1 3 1
Das Bild der beiden Gefangenen unter dem Feldzeichen, hier mit dem
christlichen Kreuz versehen, begegnet als Münzbild schon auf den Denaren
der römischen Kaiserzeit und wurde von den späten Soldatenkaisem häufig
genutzt. (Abb. 1 1 )?2
Abb. 12: Bewaffneter Reiter über gestürztem, Regensburger Denar um 1 1 50 (d: ca. 20
mm). München, Staatliche Münzsanunlung (Auktion Sonntag 20, Dezember 2014, Los
Nr. 13 17)
Sicher ist auch die Übernahme des Regensburger Reiters von 1 1 50 mit
kurzem Mantel, der mit erhobenem Speer von rechts über eine am Boden
liegende Figur springt (Abb. 12).23 Das Motiv kam in der späten Kaiserzeit
22 Hier exemplarisch eine Münze Konstantins d. Gr., Münzstätte London, zwischen 320-
321, Bronze (ehemals versilbert), d: 19mm, s. Patrick M. Bruun: Constantine and
Licinius. A.D. 313-337, London 21972, bg. von Carol H. V. Sutherland I R. A. G.
Carson (The Roman imperial Coinage [RJC]. Vol. V/1), S. 109, Kat. Nr. 1 9 1 .
23 Dieser noch unedierte Münztyp dürfte etwa um 1 150 i n Regensburg geschlagen worden
sein und passt stilistisch zu Emrnerig: Der Regensburger Pfennig (wie Anm. 16), Kat.
Nr. 73. Bisher erschienen in: Auktionen Münzhandlung Sonntag, Auktion 20, 9. – 10.
Dezember 2014, Stuttgart, Los Nr. 1 3 1 7.
132
besonders häufig auf den Kleinstnominalen zum Einsatz (Abb. 1 3).24 In
beiden fällen wurde sogar die Bodenlinie übernommen, die den antiken
Stempelschneidern zur Anbringung der Münzstättenzeichen im Absatz diente.
Bei den Vorbildern handelt es sich jeweils um Münztypen, die in großen
Zahlen produziert wurden und häufig in Bayern als Streufunde auftauchen.
Dass in beiden fällen die Legenden mit dem Wort „virtus“ beginnen können,
ist nach dem bisher gezeigten wahrscheinlich kein Zufall.
Abb. 13 a,b: Münze fiir Maximinus Daia, Aquileia, 305-306 n. Chr. München, Staatliche
Münzsammlung (RIC 67b)
Antikes Wissen konnte also nicht nur über Schriften und Buchmalerei
vemlittelt werden, sondern durch direkte Übernahme von antiken Objekten
24 Als Beispiel eine Prägung Kaiser Maximianus Herculius fiir den Caesar Maximinus
Daia, Münzstätte Aquileia, zwischen 305-306 n. Chr, Bronze (ehemals versilbert), d:
29mm, s. Carol H.V. Sutherlaod: From Diocletian „s reform (A.D. 294} tot he death of
Maximinus (A.D. 313), London 1967, hg. von Carol H. V. Sutherlaod I R. A. G. Carson
(The Roman imperial Coinage [RJC], Vol. VI), S. 320, Kat. Nr. 67b.
1 3 3
einen Einfluss auf die Kleinkunst und den Alltag des 12. Jahrhunderts nehmen.
Abschließend gilt es jedoch noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass
die hier gezeigten Formen von Antikenrezeption in der Kleinkunst für den
mittelalterlichen Rezipienten nicht eine Beschäftigung mit der fremden Antike
bedeutete, sondern einen Umgang mit der eigenen Geschichte. Der Tugendheld
Herkules hatte in der hochmittelalterlichen Geisteswelt einen ebenso
festen Platz wie sein biblisches Gegenstück Samson. Gleiches gilt flir Aeneas,
Achilles und Odysseus, deren Geschichten voller Verirrungen und Laster,
aber auch Tapferkeit und Heldenmut scheinbar nichts an Aktualität verloren
hatten.
134
Adelskultur in der „Provinz“:
Das niederösten·eichische Tullnerfeld
als mittelalterliche Kulturlandschaft ( 1 2.-14. Jh.)