Alltagsleben und materielle Kultur
im Spiegel von Wirtschaftsquellen:
Materielle Kultur und Geschlecht
DüROTHEE RIPPMANN, ZÜRICH
Hagiographische Zeugnisse von Frauen und Kanonisationsakten, Mirakelberichte,
1 Gerichtsakten, Zunftakten, Bürgerbücher, Testamente wie auch
Steuerbücher und andere Personenverzeichnisse werden seit geraumer Zeit
für die Historische Frauenforschung und Geschlechtergeschichte fruchtbar
gemacht. 2 Hingegen stehen Rechnungsbücher und andere Wirtschaftsquel-
1 Aus der Sicht der Geschlechtergeschichte u. a. Opitz, Claudia, Frauenalltag im Mittelalter.
Biographien des 13. und 14. Jahrhunderts (Ergebnisse der Frauenforschung
5). Wcinhcim/Dascl 1985; Signori, Gabriela, Gewalt und Frömmigkeit. Die Waadtländer
Landschaft im Spiegel der Wunderbücher „Unserer Lieben Frau“ (1232-1242) Conons
von Estavayer. Ein Beitrag zur sozialgeschichtlichen Erforschung hoch- und spätmittelalterlicher
Mirakelbücher, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 40/2 (1990), S.
127-152; dies., Hagiographie, Architektur und Pilgerwesen im Spannungsfeld städtischen
Legitimations- und lntegrationsstrebens (Gottfried von Ensmingens Straßburger Wunderbuch
der ·’heiligen Maria“ 1290), in: ZHF 17/3 (1990), S. 257-279; dies., Ländliche
Zwänge – städtische Freiheiten? Weibliche Mobilität und Geselligkeit im Spiegel spätmittelalterlicher
Marienwallfahrten, in: Frauen und Öffentlichkeit. Beiträge der 6. Schweizerischen
Historikerinnentagung, hg. v. Otbenin-Girard, Mireille et al., Zürich 1991, S.
29-61; Habermas. Rebekka, Weibliche Erfahrungswelten. Frauen in der Welt des Wunders,
in: Lundt, Bea (Hg.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter, München 1991,
s. 65-80.
2 Siehe Röckelein, Hedwig, Historische Frauenforschung. Ein Literaturbericht zur Geschichte
des Mittelalters, in: HZ 255/2 (1992), S. 377-409; Howell, Martha C., Women,
Production, and Patriarchy in Late Medieval Cities, Chicago, London 1986; Erler, Mary,
Kowaleski, Maryanne, Women and Power in the Middle Ages, Athens/London 1988; Uitz,
Erika: Die Frau in der mittelalterlichen Stadt, 2. von der Autorin durchgesehene u. verbesserte
Auft. (Herder/Spektrum 4081), Freiburg i.Br. 1992; Vogel, Barbara und Ulrike
Wecke! (Hg.), Frauen in der Ständegesellschaft: Leben und Arbeiten in der Stadt vom
späten Mittelalter bis zur Neuzeit (Beiträge zur deutschen und europäischen Geschichte
4). Harnburg 1991; Burghartz, Susanna, Kein Ort für Frauen? Städtische Gerichte im
Spätmittelalter. in: Lundt, Bea (Hg.) (wie Anm. 1), S. 49-64.
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len bislang noch im Hintergrund einer alltagsgeschichtlichen Forschung, welche
den Blick auf die Lebenslage von Frauen und Männern und auf die
Asymmetrien in den Geschlechterbeziehungen richtet.3
Die Konsultation auch dieser Quellengruppe erweist sich für eine Alltagsgeschichte
im Spätmittelalter als ergiebig und sie ist besonders in jenen
geographischen Regionen sinnvoll, für die Steuerbücher, Gerichtsakten, Test.
amente – falls überhaupt – in geringer Zahl vorliegen. Das ist beispielsweise
in der Herrschaft Birseck des Bischofs von Basel und in der sogenannten
‚Alten Landschaft Basel‘, den Kerngebieten des späteren Kantons
Baselland (Schweiz) der Fall. Für die Erforschung der Lebensformen in der
ländlichen Gesellschaft dieser Region wie auch des Sundgaus, der Kornkammer
im Basler Hinterland, bilden Rechnungsbücher, Zinsbücher und urbarielle
Aufzeichnungen ( Beraine) neben den Urkunden bis ins 16. Jahrhundert
die wichtigsten Quellen.4 Anders stellt sich die Ausgangslage inbezug auf die
städtische Gesellschaft dar, indem hier Rechnungs- und Steuerbücher nur
ergänzend zu anderen, lebendigeren und beredsameren Zeugnissen hinzutreten.
Sie dienen jedoch auch hier als Grundlage zur Erforschung des Lebenszuschnitts
und der Lebensweise bestimmter städtischer Sozialgruppen.5 So
fanden beispielsweise Haushaltungsbücher von Stadtbürgern die Aufmerksamkeit
von Wirtschaftshistorikern, die sich für die Fragen des Bedarfs und
der Konsumgewohnheiten in den Haushalten der Oberschicht interessier-
3 Vgl. etwa die Beiträge in: Frau und spätmittelalterlicher Alltag (Internationaler Kongreß
Krems an der Donau 2. bis 5. Okt. 1984, Veröffentlichungen des Instituts für
mittelalterliche Realienkunde Österreichs 9), Wien 1986; eine Kritik bisheriger frauengeschichtlicher
Forschungsansätze bei Rath, Brigitte, Auf der Suche nach Alltagen – der
Frauenalltag im Mittelalter oder Leicht hatten es die Frauen nicht, in: Medium Aevum
Quotidianum-Newsletter 10, Krems 1987, S. 49-56.
4 Gilomen, Hans-Jörg, Die Grundherrschaft des Basler Cluniazenser-Priorates St. Alban
im Mittelalter (Quellen und Forschungen zur Basler Geschichte 9), Basel 1977; OtheninGirard,
Mireille, Ländliche Lebensweise und Lebensformen im Spätmittelalter. Eine
wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchung der nordwestschweizerischen Herrschaft
Farnsburg (im Druck, Liestal 1994).
5 Vgl. Dirlmeier, ülf, Untersuchungen zu Einkommensverhältnissen und Lebenskosten
in oberdeutschen Städten des Spätmittelalters (Mitte 14. bis Mitte 16. Jahrhundert),
Heidelberg 1978; frauengeschichtliche Aspekte bei: Simon-Muscheid, Katharina, Basler
Handwerkszünfte im Spätmittelalter. Zunftinterne Strukturen und innerstädtische
Konflikte, BerufFrankfurt a. M./New York/Paris 1988.
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ten.6 Sie knüpften an die im Elsaß, in Deutschland und in Österreich u.a.
von Abbe Hanauer, Moritz Elsas und Alfred Pribram7 vertretene Tradition
der Geschichte von Löhnen und Preisen an, die sie um die Dimensionen
der Sachkultur und der Lebensgewohnheiten erweiterten. Zahllose Untersuchungen
sind der Lohnarbeiterschaft, insbesondere der Beschäftigungsund
Einkommenslage der Bauarbeiter gewidmet. 8 Andere Studien rekonstruieren
aus Rechnungen den Reisekostenaufwand und das auf Reisen zur
Entfaltung gelangende Repräsentationsbedürfnis von Kaufleuten, Diplomaten
und Fürsten. 9
6 Irsigler, Franz, Ein großbürgerlicher Kölner Haushalt am Ende des 14. Jahrhunderts,
in: Festschrift Mattbias Zender. Studien zu Volkskultur, Sprache und Landesgeschichte,
hg. v. Edith Ennen u. Günter Wiegelmann, Bonn 1972, Bd. 2, S. 637-668; Dirlmeier,
Ulf. Alltag, materielle Kultur, Lebensgewohnheiten im Spiegel spätmittelalterlicher und
frühneuzeitlicher Abrechnungen, in: Mensch und Objekt im Mittelalter und in der Frühen
Neuzeit. Leben-Alltag-Kultur (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des
Mittelalters und der Frühen Neuzeit 13), Wien 1990, S. 157-180.
7 Hanauer, Auguste, Etudes Economiques sur l’Alsace Ancienne et Moderne, 2 Bde.,
Paris/Strasbourg 1876 und 1878; Elsas, M. J., Umriß einer Geschichte der Preise und
Löhne in Deutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zum Beginn des neunzehnten
Jahrhunderts, Bd. 1 , Leiden 1936; Pribram, Alfred Francis, Materialien zur Geschichte
der Preise und Löhne in Österreich, Bd. I, Wien 1938.
8 Sosson, Jean-Pierre, Les travaux publies de Ia ville de Bruges. XIVe–XVe siecles. Les
materiaux. Les hommes, Bruxelles 1977; ders., Les metiers: Norme et Realite. L’exemple
des anciens Pays-Bas Meridionaux aux XIVe et XVe siecles, in: Hamesse, Jacqueline u.
Muraille-Samaran, Colette (Hg.), Le travail au moyen äge. Une approche interdisciplinaire,
Louvain-La-Neuve 1990, S. 339-348; Dirlmeier, Ulf, Zu Arbeitsbedingungen
und Löhnen von Bauhandwerkern im Spätmittelalter, in: Rainer Elkar (Hg.), Deutsches
Handwerk in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1983, S. 35-53; Elkar, Rainer
S. u. Fouquet, Gerhard, Und sie bauten einen Turm … Bemerkungen zur materiellen
Kultur des Alltags in einer kleineren deutschen Stadt des Spätmittelalters, in: Handwerk
und Sachkultur im Spätmittelalter. (Internationaler Kongreß Krems a. d. Donau 7. bis
10. Oktober 1986), Wien 1988, S. 169-201 .
9 Rowan, Steven W., Die Jahresrechnungen eines Freiburger Kaufmanns 1487/88 (mit
einem Nachwort von B. Schwineköper) , in: Stadt und Umland, hg. v. Erich Maschke
und Jürgen Sydow, Stuttgart 1974, S. 227-277; Dirlmeier, Ulf, Fouquet, Gerhard, Bischof
Johannes von Venningen ( 1458-1478) auf Reisen. Aufwand und Konsum als Merkmale
adliger Selbstführung, in: Symbole des Alltags – Alltag der Symbole: Festschrift für
Harry Kühne!, hg. v. G. Blaschitz, H. Hundsbichler, G. Jaritz, E. Vavra, Graz 1992, S.
113-145.
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Es ist an der Zeit, die spröden Rechnungsbücher im Rahmen einer
Alltagsgeschichte auch für das Thema ‚Materielle Kultur und Geschlecht‘
fruchtbar zu machen.10 Im folgenden stelle ich anhand einer Reihe von Rechnungsbüchern
städtischer und ländlicher Provenienz exemplarisch mögliche
Zugänge und Fragestellungen vor. Sie beziehen sich auf die zwei Themen
‚Stadt-Land-Beziehungen im Spätmittelalter‘ und ‚ Arbeit, Arbeitsteilung
und Geschlecht‘ . Die alltagsgeschichtliche Erkundung gilt vornehmlich
Dienstboten und Tagelöhnern. In beiden Gruppen der Lohnarbeiterinnen
sind die Erfahrungen von Migration (Arbeitsrnigration) präsent, in
beiden Gruppen begegnen sich ländliche und städtische Lebensweise, sei
es, daß sich ländliche Zuwanderer auf Dauer oder für beschränkte Zeit in
der Stadt niederlassen oder daß sie hier gelegenheitshalber arbeiten, sei es,
daß Städter und Städterinnen sich in den saisonalen Spitzenzeiten auf dem
Lande verdingen. 1 1 Über das Arbeitsleben auf dem Lande, über Landwirtschaftsprodnktion,
Gartenbau und Weinbau vermitteln insbesondere die
in städtischen Archiven aufbewahrten Rechnungen der Klöster, Stifte und
Spitäler reiche Auskünfte, da diese Institutionen als bedeutende städtische
Landbesitzer hervortreten. 12 Ihre Angaben über wirtschaftliche Vorgänge
10 Vgl. Vanja, Christina, Frauen im Dol’f. Ihre Stellung unter besonderer Berücksichtigung
landgräflich-hessischer Quellen im Mittelalter, in: ZAA 34, (1986), S. 147-159;
Piccinni. Gabriella, Per uno studio del lavoro delle donne nelle campagne: considerazioni
dall’Italia medievale, in: La donna nell’economia secc. XIII-XVIII, hg. v. Simonetta
Cavaciocchi, Florenz 1990, S. 71-81.
1 1 Hufton, Olwen, Arbeit und Familie, in: Geschichte der Frauen, hg. v. Georges Duby
u. Michelle Perrot, Bd. 3, Frühe Neuzeit, Frankfurt 1994, S. 27-59.
12 Vgl. für die Schweiz etwa Gilomen (wie Anm. 4) und Köppe!, Christa, Von der
Äbtissin zu den gnädigen Herren. Untersuchungen zu Wirtschaft und Verwaltung der
Fraumünsterabtei und des Fraumünsteramts in Zürich 1418-1549, Zürich 1991. Zum
Landbesitz der Spitäler vgl. Kießling, Rolf, Bürgerlicher Besitz auf dem Land – ein
Schlüssel zu den Stadt-Land-Beziehungen im Spätmittelalter aufgezeigt am Beispiel Augsburgs
und anderer ostschwäbischer Städte, in: P. Fried (Hg.), Bayerisch-Schwäbische
Landesgeschichte an der Universität Augsburg 1975-1977, Sigmaringen 1979, S. 121-
140; Pinto, Giuliano, Il Personale, Je Balie e i Salariati dell’Ospedale di San Gallo di
Firenze Negli Anni 1395-1406. Note Per Ia Storia del Salariato Nelle Citta Medievali,
in: Riccrche Storiche: Rivista semestrale del Centro Piombines e di Studi Storici 2,
Firenze 1974. S. 113-168; Sonderegger, Stefan, Landwirtschaftliche Entwicklung in der
spätmittelalterlichen Nordostschweiz. Eine Untersuchung ausgehend von den wirtschaftlichen
Aktivitäten des Heiliggeist-Spitals St. Gallen (St. Galler Kultur und Geschichte
47
im Rahmen der grundherrschaftliehen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen
Bauern und Grundherrn gestatten der Forschung auch Schritte in das Terrain
der Mentalitätengeschichte zu unternehmen.13
QUELLEN, QUELLENKRITIK
Um eine Hauptkomponente von „Alltag“ aufzugreifen und den Spuren von
Arbeit und alltäglichen Arbeitssituationen zu folgen, 14 ist es sinnvoll, die
Erkenntnisse aus Rechnungen unterschiedlicher Provenienz zusammenzufügen;
so gewinnt man Einsichtsmöglichkeiten in verschiedene Betriebsformen
und Produktionszweige. Einer Regionalstudie im Raume Basels wurden folgende
Rechnungen zugrundegelegt: zum Land: Die Rechnungen des Landvogts
im Amt Birseck, einer Herrschaft des Fürstbischofs von Basel, 15 Ämterrechnungen
des Stadtbasler Territoriums, 16 zur Stadt: Rechnungen der
Bauhütte des Basler Münsters (sogen. Münsterfabrik) , 1 7 Rechnungsbücher
des Heilig-Geist-Spitals in Basel, 18 das Handlungsbuch des Basler Kaufmanns
und Ratsherrn Ulrich Meltinger (gest. 1502). Es ist eine Mischung
aus privatem Notizbuch und Geschäftsbuch.19
22), S t . Gallen 1994; jaritz, Gerhard, Die „Armen Leute“ i m Spital. Zur Aussage der
Kremser Spitalmeisterrechnungen aus den Jahren 1459 bis 1461, in: Mitteilungen des
Kremser Stadtarchivs, Bd. 21 und 22 (1981/82), S. 21-64; Piccinni (wie Anm. 10).
13 Graus, Frantisek, Mentalität – Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der
Untersuchung, in: F. Graus (Hg.), Mentalitäten im Mittelalter: Methodische und inhaltliche
Probleme (Vorträge und Forschungen 25), Sigmaringen 1987, S. 9-48; Wunder,
Heide, Der dumme und der schlaue Bauer, in: Mentalität und Alltag im Spätmittelalter,
hg. v. C. Meckseper u. E. Schraut, Göttingen 1985, S. 34-52; Köppel (wie Anm. 12).
14 Zur inhaltlichen Ausrichtung von Alltagsgeschichte „auf den werktätigen, arbeitenden
Menschen in seiner Umwelt und seinen normalen Zeitabläufen“ und zur Erforschung des
Alltags der Nichtprivilegierten einer Gesellschaft vgl. Köpstein, Helga, Realienkunde –
materielle Kultur – Alltagsleben in Byzanz. Zu Termini und Forschungsgegenstand, in:
Medium Aevum Quotidiannm-Newsletter 9, Krems 1987, S. 6-25.
15 Archives de l’Ancien Eveche de Bäle (AAEB, Porrentruy, JU), Comptes de Birseck
( 1429 bis Mitte 18. Jh.).
16 Staatsarchiv Baselland, Liestal (StABL) L. 9.196 und 197; L. 76.529.
17 Staatsarchiv Basel-Stadt (StABS), Domstift NN (1399-1487).
18 StABS, Spital F12 (ab Mitte des 15. Jahrhunderts).
19 StABS, PA 62; vgl. hierzu Rippmann, Dorothee, Bauern und Städter: Stadt-LandBeziehungen
im 15. Jahrhundert: das Beispiel Basel unter besonderer Berücksichtigung
48
Eine Schwierigkeit der Interpretation von Rechnungen liegt im Umstand
der bisweilen extremen Uneinheitlichkeit der dargebotenen Informationen
begründet: Selbst innerhalb derselben Serie ändern sich die Buchungsprinzipien
von Schreiber zu Schreiber, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt.
Gewisse Ausgaben- und Einnahmenrubriken können zu jenem Zeitpunkt
für immer entfallen, in dem ein Grundherr beispielsweise den Eigenbetrieb
zugunsten einer anderen Bewirtschaftungsform aufgibt20 oder wenn die Verwaltung
über Teilbereiche der Wirtschaftstätigkeit separate (nicht auf uns
gekommene) Zettel und Bücher anlegt. Die Nachteile solcher methodischen
Hürden und Uneinheitlichkeiten werden durch Chancen und Vorteile wie
den des vergleichenden Ansatzes aufgewogen. Wendet man sich Betrieben
unterschiedlicher Trägerschaft, Größe und Organisationsform zu, sei
es dem Haushalt eines Kaufmanns, einem unter Ratskontrolle stehenden
bürgerlichen Spital oder der Landvogtei des Bischofs, so nimmt man unterschiedliche
soziale „Realitäten“ im Alltagsleben wahr. Die verbuchten
ökonomischen Transaktionen fügen sich in je spezifische sozialökonomische
Rahmenbedingungen ein. Jedem Corpus von Rechnungen liegen eigene
Anlässe, 1otivationen und Absichten zugrunde. Dementsprechend sind
auch die in ihnen aufscheinenden Facetten von Alltag (Alltagen) modelliert.
Um die Perspektiven für eine Alltagsgeschichte näher erörtern zu
können, sei zunächst die Wirtschaft der drei wichtigsten hier behandelten
Körperschaften kurz vorgestellt, deren Rechnungen überliefert sind.
Die bischöfliche Eigenwirtschaft im Amt Birseck dient der Versorgung
des bischöflichen Hofstaates und dem Unterhalt der Schlösser und Ökonomiebauten.
Sie stützt sich auf zweierlei Arbeitskräfte: auf Lohnarbeiter
und auf die Fronarbeit der Untertanen. 21
Das Domstift betreibt auf seinen stadtnahen Gütern eine marktorientierte
Eigenwirtschaft und geht in gewissen Produktionsbereichen (Weinder
Nahmarktbeziehungen und der sozialen Verhältnisse im Umland (Basler Beiträge zur
Geschichtswissenschaft 159), Basel/Frankfurt 1990, S. 180-239.
20 So geht beispielsweise die Münsterbauhütte in den 1440er Jahren dazu über, ihre
Reben zu verpachten.
21 Vgl. Berner, Hans, „die gute correspondenz“: Die Politik der Stadt Basel gegenüber
dem Fürstbistum Basel in den Jahren 1525-1585 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft
158), Basel/Frankfurt a. M. 1989; ders., Gemeinden und Obrigkeit
im fürstbischöflichen Birseck: Herrschaftsverhältnisse zwischen Konflikt und Konsens,
Liestal 1994 (im Druck).
49
bau) im 15. Jahrhundert zur Pachtwirtschaft über. Aus den Markterlösen
finanziert es die Bautätigkeit der Münsterbauhütte, den Unterhalt der Kathedrale
und des Bischofshofs. Die Rechnungen des Domstifts geben überdies
Einblick in die mit der Seelsorge der Münsterpriester verbundenen wirtschaftlichen
Aktivitäten (Bestattungskosten, Gräberkosten, Einnahmen aus
Legaten, Jahrzeiten). Fronarbeit spielt hier keine Rolle. Die Münsterbauhütte
beschäftigt festes Personal, Handwerker (Kundenhandwerker) und
Tagelöhner Innen.
Andere Schlaglichter werfen die Rechnungen des städtischen Spitals.
Es ist ein gut organisierter Betrieb mit umfangreichem Landbesitz vor den
Toren der Stadt und im Umland. Seine Kernstücke sind das Hospital an der
oberen Freien Straße und der am Rande der Stadt befindliche Wirtschaftshof.
Im Spital leben die Pfründner und das Personal auf engem Raum
als Kommunität zusammen; es gelten teilweise die Prinzipien einer geistlichen
Gemeinschaft. 22 Anhand der Spitalrechnungen lassen sich vielfältige
Aspekte des Wirtschaftens und des gelebten Alltags thematisieren: so die
Bereiche der Agrarproduktion und des städtischen Handwerks, ebenso der
Themenkreis Konsumgewohnheiten und Ernährung.23
PERSPEKTIVEN FÜR EINE ALLTAGSGESCHICHTE
Nur Rechnungsbücher von Kaufleuten orientieren uns außer über ihre Handelsgeschäfte
auch über die „private“ Welt des Bürgerhaushalts und lassen
Schlüsse über die innereheliche Teilung von Arbeit und Verantwortung und
die Rolle von Kindern und Gesinde in der Familienwirtschaft zu. Andererseits
dokumentieren Rechnungsbücher des Bischofs, des Domstifts, von
Klöstern und Spitälern Arbeitssituationen, an denen fest angestelltes Personal
und befristet beschäftigte Arbeitskräfte in wechselnden Formationen
22 von Tscharner-Aue, Michaela, Die Wirtschaftsführung des Basler Spitals bis zum
Jahre 1500. Ein Beitrag zur Geschichte der Löhne und Preise (Quellen und Forschungen
zur Basler Geschichte 12), Basel 1983. Vgl. Knefelka.mp, Ulrich, Das Heilig-Geist-Spital
in Nürnberg vom 14.-17. Jahrhundert (Nürnberger Forsch. 26), Nürnberg 1989.
23 Vgl. S. Sonderegger, Landwirtschaftliche Entwicklung (wie Anm. 12); Dinges, Martin,
L’höpital St. Andre de Bordeaux: Objectifs et realisations de l’assistance municipale au
XVIle siede, in: Annales du Midi 179 (1987), S. 303-330. Zur pflanzlichen Ernährung ein
laufendes, interdisziplinäres Forschungsprojekt von D. Rippmann und Stefanie Jacomet
über ‚Nahrungs- und Nutzpflanzen vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit im Raume
Basels (11.-18. Jh.)‘.
50
beteiligt sind. Es handelt sich um Handwerker (seltener Handwerkerinnen)
und Tagelöhner sowie Tagelöhnerinnen. Wir begegnen ihnen nicht
im „W<‚rktag“ im Familienbetrieb sondern in Arbeitszusammenhängen der
außerhäuslichen Erwerbsarbeit und des Frondienstes. Es ist im allgemeinen
kollektiv verrichtete Arbeit, die Gruppen von Menschen verschiedenen
rechtlichen und sozialen Status‘ zusammenführt: Leibeigene, Bauern,
Einheimische, zugewanderte Fremde, gelernte Handwerker, Gesellen, ungelernte
Frauen und Männer. Die Fronarbeiterinnen kommen aufgrund herrschaftlichen
Zwangs des Grund- und Landesherrn, die Lohnarbeiterinnen
aufgnmd des Arbeitsangebots städtischer oder ländlicher Arbeitgeber.
Klöster und Spitäler haben auf dem Arbeitsmarkt eine öffentlichkeitswirksame
Stellung inne, weil sie im allgemeinen einen erheblichen Arbeitskräftebedarf
ausweisen. Sie beschäftigen u. a. Arbeiter,24 die den Rückhalt
einer Zunft oder einer Gesellenvereinigung besitzen und deshalb in der Lage
sind, ihren Forderungen in kollektiven Aktionen Nachdruck zu verleihen. V.
a. in der Stadt entstehen häufig Arbeits- und Tarifkonflikte; deren Lösungen
setzen eine Norm fest, die theoretisch für alle verbindlich ist, auch für die
privaten, bürgerlichen und adeligen Arbeitgeber. Wenn sie nicht im Rahmen
der Zünfte selbst gelöst werden können, schaltet sich die Obrigkeit, der
Rat, ein, um Höchstlohntarife und andere Vorschriften zu erlassen.25 Inwieweit
eine als Verhaltensrichtschnur gesetzte Norm als verbindlich respektiert
wurde, läßt sich anband von Rechnungen ermitteln. Mit einer solchen
24 Hie.r ist mit Absicht allein die männliche Form gewählt, da den Frauen in den Zünften
nicht die gleichen Recht.e wie den Männern zustanden und es für Lohnarbeiterinnen keine
Organisationen analog zur Gesellenbruderschaft gab. Vgl. Bräuer, Helmut, Gesellen im
sächsischen Zunfthandwerk des 15. und 16. Jahrhunderts, Weimar 1989 ; ders., Handwerk
im alten Chemnitz. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Chemnitzer
Handwerks von den Anfängen bis zum Beginn der industriellen Revolution, Chemnitz
1992; D. Rippmaun, Einleitung zum Kapitel ‚Arbeit, Überleben und Selbstbehauptung‘,
in: Eine Stadt der Frauen. Quellen und Studien zur Geschichte der Baslerinnen im
späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit (13.-17. Jahrhundert), hg. v. Heide Wunder
in Zusammenarbeit mit Susanna Burghartz, Dorothee Rippmann und Katharina
Simon-Muscheid. Basel/Frankfurt 1995 (im Druck).
25 Schulz, Knut, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter. Untersuchungen zur oberrheinischen
und oberdeutschen Stadtgeschichte des 14. bis 17. Jahrhunderts, Sigmaringen
1985.
5 1
Abklärnng im Spannungsfeld zwischen Norm und Realität26 ist gleichzeitig
auch die .. Inspektion einer Herrenkultur“27 zu verbinden. D.h. die
in normativen Zeugnissen herrschenden Sprachregelungen sind hinsichtlich
der Geschlechtszugehörigkeit des angesprochenen Personals zu hinterfragen.
Es bleibt zu prüfen, inwiefern der sprachlich (durch Verwendung der
männlichen Form für Personen und Berufsnamen oder durch geschlechtsneutrale
vVendungen) vermittelte Eindruck einer ‚männlich dominierten Arbeitswelt‘
die in Rechnungen allenfalls faßbaren „Realitäten“ verschleiert.
Damit hat die Analyse dem Faktum Rechnung zu tragen, daß Hierarchien
und Ungleichheiten in einer Gesellschaft nach den sich überlagernden Mustern
sozialer Ungleichheit und der Geschlechterdifferenz organisiert sind.28
Unterschiedliche Wahrnehmung der Geschlechter äußert sich auf der Ebene
der Sprache – wie auch der Bilder.29 Wenn die Verfasser normativer Texte
die Zuschreibung gewisser Funktionen und Tätigkeiten an ein Geschlecht
offenließen bzw. auf präzise Angaben dazu verzichteten, so konnten sie
übrigens das selbstverständliche, allgemeine Wissen über die geschlechtsspezifische
Arbeitsteilung bei ihren Adressaten und Adressatinnen voraussetzen.
Nach einer gängigen Sprachregelung setzten die Schreiber in Zunftstatuten,
Ratsmandaten, Dorfordnungen und andern normativen Texten
Berufsbezeichnungen im Masculinum, auch dann, wenn Frauen mitgemeint
waren. Wird in einem Dorfw·eistum beispielsweise die Fronpflicht und die
Fronvertretung in den herrschaftlichen Rehbergen geregelt, so richten sich
die Bestimmungen an die Männer in ihrer Eigenschaft als verantwortliche
Haushaltsvorstände wie in folgendem elsässischen Beispiel. „Wir sprechen
ouch ze recht, das die tagwen soellent anvohen ze liechtmess und man die
26 Siehe hierzu den Beitrag von Gerhard Jaritz in diesem Heft.
27 Pusch, Luise E. (Hg.), Feminismus. Inspektion der Herrenkultur. Ein Handbuch,
Frankfurt 1983.
28 Vgl. Kelly, Joan Gadol, The Doubled Vision of Feminist Theory, in: dies., Women,
History and Theory, ChicagoJLondon 1984, S. 51-64; Hausen, Karin, Wirtschaften
mit der Geschlechterordnung. Ein Essay, in: dieselbe (Hg.), Geschlechterhierarchie und
Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen,
Göttingen 1993, S. 40-67.
29 Epperlein, Siegfried, Bäuerliche Arbeitsdarstellungen auf mittelalterlichen Bildzeugnissen,
in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1976/1), S. 181-208; ders., Medieval pictorial
evidence of working country-women in Europe from the 12th to the 15th century,
in: La douna nell‘ economia secc. XIII-XVIII (wie Anm. 10), S. 217-224.
52
tagwen tuen sol mit schnidende, mit stickende, mit bindende, mit volbandende
und mit anderem rebwercke.30 Wir sprechen ouch ze rechte, so ein
hueber sinen suon oder sinen gedingten botten (sendet, der) für inn sinen
tagwen tuet, dem sol man geben einen sechsteling rotz wins und zwey muescr
geteilt und ze nacht einen nachtleip, der zwölff einen sester tuond,
und in der vasten häring und auch mueser die zuo der vasten gehörent . . .
wenn ein ungewitter einen (huober) sinen sun oder sinen gedingten botten
abtribe, der mag inn den hof gon bant reinen oder einen stal misten
oder ander werk, dz inn den hofe ze tuond wer, und mag domitte sinen
tagwen geton haben.“31 Aufgrund des Textes würde man nicht vermuten,
daß eine ganze Reihe der erwähnten Tätigkeiten der Rebenpflege im Elsaß
den Frauen obliegcn32 und daß im vorliegenden Falle auch Frauen, Töchter
oder Mägde zu Frondienst verpflichtet sind. Andere Formulierungen lassen
die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ebenfalls außer Acht, wie z.B. in
einer Tarifbestimmung der Fraumünsterabtei zu Zürich, die die Löhne im
grundherrschaftliehen Weinbau festlegt: Löhne der Weinarbeiter 1455 für
eine „tagwen“ :33 groß klein „ze howen“ 5 s; „ze rouffen“ 2 s 6 dn; „claine
tagwe ze heften“ 2 , 5 s; „knebel howen“ 5 s; „ze howen“ 4 s; „klaine tagwe“
2 s ; „ze schniden“ 4 s; „ze stechen“ 4 s; „ze gruoben“ 4 s; „ze binden“ 5 s;
„ze gruoben“ 4 s; „ze binden“ 4 s; „ze karsten“ 5 s; „ze binden“ 4 s.
ARBEITSORGANISATION IM WEINBAU
Am Beispiel des Weinbaus, der nach der Agrarkrise des 14. Jahrhunderts
und dem Preiszerfall für Getreide vielerorts intensiviert wurde,31 kann
die Arbeitsorganisation aufgrund von einschlägigen Rechnungen des Basler
30 Reben schneiden, Rehpfähle („Stecken“ ) einschlagen („sticken“), die Rebstöcke an die
Pfähle binden, die Triebe anheften.
3 1 Grimm, Jacob, Weisthümer, Bd. 4, Göttingen 1840, S. 1 1 8f., Dinghof Sennheim,
1354.
32 Vgl. die Colmarer Tarifverordnung bei Schulz (wie Anm. 25), S. 354{.
33 Köppe! (wie Anm. 12), S. 284.
34 Bassermann-Jordan, Fricdrich von, Geschichte des Weinbaus, 2. wesentlich erw.
Aufi., 2 Bd.e Frankfurt 1923; Barth, Medard, Der Rehbau des Elsaß, Straßburg/Paris
1958; Feldbauer, Peter, Lohnarbeit im Österreichischen Weinbau. Zur sozialen Lage der
niederösterreichischen Weingartenarbeiter des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in:
ZBLG 38 (1975), S. 227-243; Hundsbichler, Helmut, Der Wein als Kulturaufgabe und
als Kulturträger im Mittelalter, in: Probleme des niederösterreichischen Weinbaus in
53
Domstifts, des Basler Spitals und des Amtes Birseck genauer untersucht
werden. Voraussetzung dazu ist die minutiöse Rechnungsführung, in der
eine Verwaltungsperson Tag für Tag einzeln die Anzahl der beschäftigten
Männer und Frauen und die Kosten für deren Beköstigung und Entlöhnung
notiert. Dank der präzisen Angaben kann man Arbeitsabläufe, die Arbeitsorganisation
und Arbeitsbedingungen von Fronarbeitern und Tagelöhnern
mikrohistorisch analysieren; auch gelingt es, den Arbeitsbeitrag der Geschlechter
quantitativ zu ermitteln, indem man die zu einem ganzen Arbeitsjahr
vorliegenden Daten zusammenfaßt und die geleisteten Arbeitstage
(‚Tagwen‘ ) von Männern und Frauen auszählt. Als wichtiger Forschungsgegenstand
wäre die Geschichte der Löhne zu thematisieren.35 Mit den Angaben
zu der vom Arbeitgeber gewährten Beköstigung, dem Naturalteil des
Mischlohnes, lassen sich überdies Erkenntnisse über die Eßkultur der „einfachen
Leute“ gewinnen.36 Obwohl die Geschichte der (landwirtschaftlichen)
Frauenlohnarbeit in England schon von Alice Clark, einer Pionierin der
Frauengeschichte, untersucht wurde, fand das Thema in der neueren Historischen
Frauenforschung bislang wenig Beachtung, weshalb die Erarbeitung
epochenübergreifender Regionalstudien zu Frauenlöhnen ein Forschungsdesiderat
bleibt. 37
Vergangenheit und Gegenwart, hg. v. Helmut Feigl (Studien und Forschungen aus dem
niederösterreichischen Institut f. Landeskunde 13), Wien 1990, S. 49-70; Sonderegger
(wie Anm. 12). Zum wirtschaftlichen Wandel infolge der Krise des 14. Jahrhunderts
vgl. Gilomen, Hans-Jörg, Die Schweiz in der spätmittelalterlichen Krisenzeit, in: Die
Schweiz: gestern – heute – morgen (Die Orientierung 99, hg. von der Schweizerischen
Volksbank) , Bern 1991, S. 12-18.
35 Vgl. dazu besonders Knut Schulz, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter (wie Anm.
25).
36 Dazu Dyer, Christopher, English Diet in the Later Middle Ages, in: Social Relations
and Ideas, ed. T. H. Aston et al., Cambridge 1983, S. 210-214; ders, Changes in Diet in
Late Middle Ages: The Case of Harvest Workers, in: ders., Everyday Life in Medieval
England, London/Rio Grande 1994, S. 77-99; Fenton, Alexander, Kisban, Eszter (Hg.),
Food in Change, Eating Habits from the Middle Ages to the Present Day, Edinburgh
1986.
37 Clark, Alice, Working Life of Women in the Seventeenth Century, London 1919. Vgl.
dazu Davis, Natalie Zemon, Gesellschaft und Geschlechter. Vorschläge für eine neue
Frauengeschichte, in: dieselbe, Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit, Berlin
1986, S. 117-132, besonders S. 124. Unter den neueren Studien zu Frauenlohnarbeit in
der Landwirtschaft etwa Penn, Sirnon A. C., Fernale Wage Earners in Late Fourteenth-
54
Schon den ältesten Aufzeichnungen des Magisters der Basler Münsterbauhütte
seit 1399 ist zu entnehmen, daß Frauen einen erheblichen Beitrag
zur Rebenpflege leisteten und ihnen auch die Schwerarbeit des Düngens
aufgebürdet wurde, beispielsweise in einer Woche im Frühjahr 1 4 2 1 : „Item
feria tertia 5 s pro carnibus do hat ich 9 frawen die mist in die reben
truogen. Item den 9 frowen ieclicher 14 d faci unt 11 s. 38 Item feria quinta
10 knecht in den garten ze hacken ieclichem 2 s 4 d faciunt 1 lb 3 s 4 d.
Item 9 mulieribus ad portandum fumum uni 14 d. Item 5 s pro carnibus
ad domum et ad ortum. 39 ltern feria sexta 13 knecht und Tifners40 sind
iedichem knecht 2 s 4 d und den knaben 14 d faciunt 30 s 18 d. Itern 4 s
pro pisc:ibus ad ortum. ltem sabato 8 knecht in den reben ieclichern 2 s 4 d
ze haken in dem garten faciunt 19 [s] minus 4 d. Itern 3 s umb eyger. ltem
gen Ystein in die reben 13 mulieribus ad portandurn fumum uni 1 s. ltem
36 tagwan ze hacken ieclichem 2 s 4 d faciunt 4 lb 4 s. ltem aber 8 tagwen
in den garten und Zifners sun ze hacken eim 2 s 4 d und sin sun 1 4 d.“41
Während zum Düngen und zur Rebenernte Frauen und Männer eingesetzt
wurden, galten das Aufbinden der Rebenschößlinge, das Heften der
jungen Triebe und das Ausbrechen überflüssiger Triebe als „Frauenwerk“
schlechthin.42 Die besser bezahlten Aufgaben der Männer waren der Rebenschnitt,
die Rebenverjüngung, das Einschlagen der Rehstecken und das
mehrmalige Hacken und Rühren (Jäthauen). Fassen wir die Forschungsresultate
zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zusammen, ohne die Technik
des \\’einbaus im einzelnen zu behandeln, so ergibt sich folgendes Bild:43
Der Beitrag der Frauen in der Rebenpflege erstreckte sich über das ganze
Century England, in: Agricultural History Review 35 (1987), S. 1-14; vgl. auch Zangger,
Alfred, Grundherrschaft und Bauern. Eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchung
der Grundherrschaft der Prämonstratenserabtei Rüti (ZH) im Spätmittelalter,
Zürich 1991, S. 327-333.
38 s = Schilling; d = Pfennige. 12 Basler Pfennige ergeben 1 Schilling.
39 „ad ortum“ : gemeint ist der Weingarten.
40 Name des örtlichen Bannwarts.
41 StABS, Domstift NN, 1421, Woche nach Quasimodogeniti. Die Eintragung bezieht
sich auf die Reben im Birsfeld, vor den Toren der Stadt Basel. Vgl. auch Jaritz, Die
„Armen Leute“ im Spital (wie Anm. 12).
42 AAEB, Comptes de Birseck, 1446/7.
43 Den Zahlenangaben liegen die Untersuchungen von 20 Jahrgängen der birseckischen
Rehbaurechnungen (hier handelt es sich um Fronarbeit in den herrschaftlichen Reben)
55
Arbeitsjahr von Februar/März bis zur Weinernte, an der übrigens auch
I\:inder teilnahmen; rund 30 bis 43 Prozent aller Tagewerke im Rebberg
entfielen auf Frauen; in manchen Jahren lag ihr Anteil an der Rebenpflege
– bezogen auf die Gesamtzahl der Tagwen eines Jahres – mit über 50%
wesentlich höher. 44
Mit dem „genauen Blick“ vermag eine alltagsgeschichtliche Auswertung
von Quellen die Kenntnisse über die Arbeitsbedingungen in Kreisen
der Lohnarbeiterschaft wie auch bäuerlicher Schichten zu erweitern. Quantitative
Erhebungen in der hier skizzierten Art sind notwendig, um die Positionen
von Frauen und Männern in den Produktionsprozessen von Landund
Gartenbau näher zu bestimmen und jene Erwerbsmöglichkeiten zu betrachten,
die Frauen weiterhin offenstanden, als das zünftisch organisierte
Gewerbe die weibliche „Konkurrenz“ zunehmend abwehrte, und die auch
in der Phase der Protoindustrialisierung ihre Bedeutung behielten.45
MÄGDE IN DER STADT
Die Sozialgruppe der Mägde, die zu den städtischen Unterschichten gezählt
wird, setzte sich uneinheitlich zusammen: uneinheitlich, was den ehelichen
und vou 7 Jahrgängen der Spitalausgabenbücher (Lohnarbeit) im Zeitraum zwischen
1459 und 1557 zugrunde.
44 Im Jahr 1461 entfielen in den Weingärten des Spitals von den insgesamt 570 Tagewerken
deren 224 (39,3%) auf Tagelöhnerinnen und 346 {60,7%) auf Tagelöhner. Im
Jahr 1462 wurden 288 {52,8%) Tagewerke von Frauen und 208 {38,2%) Tagewerke von
Männern geleistet; das Geschlecht von 49 {9%) weiteren Arbeitskräften ist in der Rechnung
nicht angegeben {StABS, Spital F12).
45 Wunder, Heide, Frauen in der Gesellschaft Mitteleuropas im späten Mittelalter und in
der Frühen Neuzeit {15. bis 18. Jahrhundert), in: Valentinitsch, Helfried (Hg.), Hexen
und Zauberer. Die große Verfolgung – ein europäisches Phänomen in der Steiermark,
Graz/Wien 1987, S. 123-154; Ogilvie, Sheilagh, Women and Protoindustrialisation in a
Corporate Society: Württemberg Woolen Weaving, 1590-1760, in: Women’s Work in the
Family Economy in Historical Perspective, hg. v. P. Hudson u. W. R. Lee, Manchester/
ew York 1990, S. 76-103; Simon-Muscheid, Katharina, Konfliktkonstellationen im
Handwerk des 14. bis 16. Jahrhunderts, in: Medium Aevum Quotidianum 27, Krems
1992, S. 87-108; Head, Anne-Lise, Indroduction: Les femmes dans Ja societe urbaine,
in: A.-L. Head u. Albert Tauner (Hg.), Frauen in der Stadt. Les femmes dans Ja ville
(Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts· und Sozialgeschichte 1 1 ) , Zürich 1993, S .
7-22.
56
Stand anbetraf, das Alter, den ökonomischen Spielraum und die Zukunftsaussichten.
Nicht für alle bedeutete der Gesindedienst bloß ein Durchgangsstadium
vor der Heirat, also nicht alle sind als junge „life-cycle-servants“
zu bezeichnen. Ihr Verdienst, ihre durch Kleidung bestimmte äußere Erscheinung,
ihre Erwerbschancen bemaßen sich vor allem nach dem sozialen
Kontext ihres Arbeitsumfelds, nach dem Status ihres Arbeitgebers.
Beginnen wir beim Gesinde des Spitals46: Hier arbeitete eine von Jahr
zu Jahr schwankende Anzahl von Gesinde beiderlei Geschlechts, um die 40
bis 60 Personen insgesamt, mehr Männer als Frauen. Alle unterstanden der
Befehlsgewalt des Spitalmeisters, des Spitalmeiers und deren Ehefrauen,
und innerhalb der Gruppe gab es Hierarchien. Zuoberst in der Frauenhierarchie
standen die Kaltmutter und die Ammen, unten die „Kübelmagd“ .
A n der Spitze der Männerhierarchie befanden sich der Ackermeister und der
Rebmeister: sie trugen die Verantwortung für die Landwirtschaft und den
Weinbau und erhielten einen drei- bis fünffach höheren Lohn als die Mägde.
Aber nicht nur das: ebenso wie auf den Geldanteil des Mischlohnes kam
es auf den Naturalteil, das Kleiderdeputat an. Selbstverständlich erhielt
das Personal an der Spitze der Hierarchie Kleidung aus besserem, teurerem,
u. U. importiertem Tuch, während sich die Dienstboten mit gröberem
1\lch aus der regionalen Produktion zu kleiden hatten. Die Ausstattung der
Mägde nimmt sich bescheiden, um nicht zu sagen dürftig, aus, vergleicht
man die Angaben über Kosten und Qualität (Farbe) der ihnen zugeteilten
Kleidungsstücke mit jenen im Handlungsbuch des Kaufmanns Meltinger.
Offensichtlich waren die Mägde vornehmer Patrizierhaushalte farbiger und
reicher gekleidet als die Spitalmägde.47 Die Knechte im Spital erhielten
öfters neue Schuhe als die Mägde; einzig den Knechten im landwirtschaftlichen
„Außendienst“ standen periodisch Stiefel und Socken zu.48
Dieser Befund führt mich zu einem Exkurs über Archäologie und Sachkultur,
über die Probleme archäologischer Erklärungsmodelle: Wenn die
Grabungen in Schleswig insgesamt deutlich mehr Männerschuhe als Frauenschuhe
zu Tage förderten, so ist das nicht zwingend als Indiz für einen
46 Hierzu Schulz (wie Anm. 25), S. 366-370.
4 7 StABS, PA 62; Rippmann, Dorothee, Frauen in Wirtschaft und Alltag des Spätmittelalters.
Aufzeichnungen des Kaufmanns Ulrich Meltinger, in: Eine Stadt der Frauen
(wie Anm. 24).
48 StABS, Spital Fl2. Vgl. Sonderegger (wie Anm. 12), S. 268f., ohne Berücksichtigung
des Schuhverbrauchs von Frauen.
57
;..riinnerüberschuß im hochmittelalterlichen Schleswig zu werten, wie dies
die I3earbeitcrin Christine Schnack als eine der Erklärungsvarianten vorschlägt.
Vielmehr dürften für den Befund kulturelle Gründe verantwortlich
sein: die verbrauchsanfällige, kurzlebige Ressource „Schuh“ war nicht
beiden Geschlechtern gleichermaßen zugänglich.49 Wenn die archäologische
Auswert-ung sich auf nur ein einziges Element – die Schuhe – aus der ganzen
Breite der ··authentischen Realität“ stützt, ohne die Kenntnisse einer
sozialgeschichtlich orientierten Realienkunde einzubringen, so nimmt sie die
Gdahr von Vereinfachung und Fehlinterpretation in Kauf. Zumal der dieser
Disziplin zugängliche Ausschnitt aus der Sachkultur sich „auf eine Auswahl
( = was ergraben worden ist) aus einer Auswahl ( = was überdauert hat)
aus einer Auswahl ( = was in den Boden gelangt ist) aus einer Auswahl der
Lebenswelt ( = den materiellen Gütern)“ beschränkt, wie Hundsbichler es
priignaut formuliert.50 Ohne Berücksichtigung des kulturhistorischen Kontextes
(mit Komponenten wie Bedürfnislagen, Wertungen und Handlungsweisen)
muß der Versuch fehlschlagen, die Objekte in dem Beziehungsgeflecht
der Kategorien Mensch – Objekt – Situation – Qualität zu situieren.51
(Ende des Exkurses)
Zurück zu den Arbeits- und Lebensbedingungen im Basler Spital. Häufig
kam es nicht zu einer engen Verbindung von Dienstboten mit der Spitalgemeinschaft,
ist doch anband der Gesinderubrik in den Ausgabenbüchern
eine lebhafte Personalfluktuation zu beobachten. Knechte und Mägde verließen
diese Arbeitsstelle unter Umständen schon nach ein paar Wochen
oder Monaten wieder. Vertrags- und Aufdingtermin waren Weihnachten
49 C. Schnack, Die mittelalterlichen Schuhe aus Scbleswig Ausgrabung Schild 1971-1975
(Ausgrabungen in Scbleswig. Berichte und Studien 19), Neumünster 1992 , S. 152-158.
50 Hundsbichler, Helmut, Perspektiven für die Archäologie des Mittelalters im Rahmen
einer Alltagsgeschichte des Mittelalters, in: Tauber, Jürg (Hg.), Metboden und Perspektiven
der Archäologie des Mittelalters (Archäologie und Museum 20. Berichte aus der
Arbeit des Amtes für Museen und Archäologie des Kantons Baselland), Liestal 1991,
S. 85-99, hier S. 90f.; vgl. auch ders., Realienkunde zwischen „Kulturgeschichte“ und
„Geschichte des Alltags“, in: Medium Aevum Quotidianum-Newsletter 9, Krems 1987,
s. 34-42.
51 Jaritz, Gerbard, Zwischen Augenblick und Ewigkeit. Einführung in die Alltagsgeschichte
des Mittelalters, Wien/Köln 1989, S. 13-26, mit Graphik I. Vgl. auch Pesez,
Jean-Marie, Culture materielle et arcbeologie medievale, in: Mensch und Objekt (wie
Anm. 6), S. 37-5 1 .
58
und St. Johann im Sommer; die Spitalleitung schloß mit ihren „Diensten“
Halbjahres- und Jahresverträge ab. Teilweise waren sie aus der Fremde,
aus Städten vornehmlich in Schwaben und im Bodenseeraum zugewandert,
seltener kamen sie vom Basler Hinterland. Etliche waren verheiratet, hatten
auch Kinder. Das Leben in der gemischtgeschlechtlichen, aber sonst
„konventähnlichen“ Kommunität des Spitals entbehrte mitunter der Harmonie,
wie wir aus den Spitalordnungen wissen. Es kam vor, daß Mägde
oder Pfründnerinnen von Knechten bedroht und vergewaltigt wurden. 52
Auf andere Lebensverhältnisse von Mägden verweisen die Angaben im
Rechnungsbuch der Münster- „Fabrik“ .53 Der Meister der Bauhütte war für
den Unterhalt und Ausbau des Münsters und die Verwaltung der für diese
Zwecke genutzten Güter und Vermögenswerte zuständig. Er verwaltete
auch die dem Domstift zufallenden Geld- und Sachlegate und führte über
die Kosten liturgischer Leistungen bei Tod und Begräbnis Buch. In dieser
Hinsicht sind die Rechnungen als Zeugnis der „comptabilite de l’audela“
54 auch mentalitätsgeschichtlich aufschlußreich. In Verbindung mit
den religiös-liturgischen Leistungen der Basler Kathedralkirche begegnen
wir einem Gesindetypus, den man zutreffender als Diener und Dienerirr bezeichnen
könnte. In Einzelfällen erhalten wir Kenntnis von Mägden, die sich
Renten kauften; auf diese Weise vermochten sie sich finanziell für Krankheit
und im Hinblick auf das Alter abzusichern. Sie schlossen – im Zusammenhang
mit Jahrzeitstiftungen – mit Klerikern am Münster Verträge ab, in
denen sie die Modalitäten ihrer eigenen Bestattung festlegten. Ihre Geldanlagen
fürs Diesseits und das Jenseits sind in Verbindung mit Geschenken
bzw. mit Erbschaften zu sehen, die sie von ihren Arbeitgebern erhalten hatten.
Einem solchen Akt der Anerkennung und Verbundenheit war u.U. ein
längeres Dienstverhältnis beim Arbeitgeber vorausgegangen, aus dem sich
ein Vertrauensverhältnis entwickeln konnte. Dieser Sozialtyp der Mägde
weist in die Sphäre von Adels- oder vornehmen Patrizierhaushalten.
Ein ökonomisch interessanter Familientypus war der Witwenhaushalt
mit Magd oder mehreren Mägden. Die Magd führte den Haushalt, war
Vertraute, vielleicht auch handwerkliche Arbeiterin im Auftrag ihrer als
52 StABS, Spital A5; vgl. auch Knefelkamp (wie Anm. 22), S. 260ff.
53 StABS, Domstift NN.
54 Chiffoleau, Jacques, La comptabilite de l’au-dela. Les hommes, la mort et la religion
en Comtat Venaissin a la fin du Moyen Age, Rom 1980.
59
Unternehmerin tätigen Herrin; solche „Arbeitsgemeinschaften“ gab es in
Luxusgewerben der Textilproduktion (Heidnischwerkerinnen).55 Nebenbei
sei bemerkt, daß sich sowohl die Lebens- und Zukunftsmöglichkeiten dieser
Frauen wie auch ihre Kleiderausstattung wesentlich vom tieferen Lebensstandard
der Mägde im Spital unterschied. Über den Geldwert und Qualit.
ätsanspruch ihrer Kleidung erhalten wir Auskunft aus der jeweils seitenlangen
Rubrik, die der „Magister Fabricae“ über die der Kirche gestifteten
Kleider- und Sachlegate führte. 56 Unter den Donatoren finden sich vereinzelt
Mägde und Knechte. Informationen über die von ihnen gestifteten
Objekte sind für die „realienkundliche“ Forschung wichtig, besonders wenn
wie im Fall Basels Testamente (eine andere Quellengruppe zur Geschichte
der materiellen Lebensbedingungen) nur in geringer Zahl überliefert sind.
Die festere Anhindung an einen „stabilen“ Haushalt eröffnete einer
Magd die Aussicht, Beziehungen zu der dem Arbeitgeber nahestehenden
Kirche zu knüpfen. Aus dem religiös-seelsorgerischen Kontakt mit den
Geistlichen wuchs auch das Bedürfnis der individuellen Jenseits-Vorsorge.
Wir hatten von Mägden von Adeligen, Patriziern und in Witwenhaushalten
gesprochen. Ein anderer Typus des Einpersonenhaushaltes mit Magd war
der Haushalt vornehmer Geistlicher, die die Dienste einer Haushälterin in
Anspruch nahmen. An Einzelbeispielen läßt sich erkennen, daß beim Arbeitgeber
ein Gefühl der Verpflichtung ihr gegenüber auch nach ihrem Tod
wirksam blieb: die Rechnungen 1443/44 halten fest, daß der Münsterdekan
seine „Magd“ in allen Ehren beim Münster bestatten ließ und für sie sogar
eine Grabplatte anfertigen ließ. Hier liegt ein weites Forschungsfeld für die
sozialgeschichtliche Auswertung des nach sozialem Prestige und individuellen
Bedürfnissen abgestuften Aufwandes für die liturgischen Begräbnisleistungen
der Kirche.57
55 Vgl. Rapp Buri, Anna und Monica Stucky-Schürer, Die Brandin. Vergabungen und
religiöse Stiftungen einer frommen Witwe, in: Eine Stadt der Frauen (wie Anm. 24).
56 Zu Frauen- und Männerstiftungen im Straßburger Münster („Liber donationum“)
jetzt Signori, Gabriela, Männlich – weiblich? Spätmittelalterliche Stadtheilige im wechselhaften
Spiel von Aneignung und Umdeutung, in: Traverse: Zeitschrift für Geschichte
1994/2, s. 90-108.
57 Illi, Martin, Wohin die Toten gingen. Begräbnis und Kirchhof im alten Zürich, Zürich
1992.
60
FAZIT
Rechnungen sind für die Alltagsgeschichte durchaus ergiebig. Sie erschließen
sich nic-ht nur mittels quantitativem Zugang zu wirtschaftsgeschichtlichen
Problemen, sondern sie sind ebenso hinsichtlich sozialgeschichtlicher Fragestellungen
interpretierbar. Geschlechtergeschichtlich eröffnet die Quellenanalyse
die Aussicht, den Arbeitsbeitrag von Männern und Frauen in verschiedenen
Milieus und Produktionsbereichen auch quantitativ abzuschätzen.
Gleichzeitig werden die Wirkungsbereiche von Frauen und Männern,
die Art der Kooperation wie auch der Trennung der Geschlechter in der
Arbeitssphäre genauer faßbar. Anhand von Rechnungen können sich Historikerlnnen
auch der Lebensweise jener städtischen und ländlichen Bevölkerungsschichten
zuwenden, die selbst keinen Zugang zur Schriftlichkeit
hatten und über die nicht allzuviele einschlägige Quellen berichten. Dort,
wo die Schreiber „geschwätzig“ sind und den Pfad der dürren Kostenaufstellung
verlassen, sind auch sporadisch Einblicke in menschliche Biographien,
die Kenntnis von Bruchstücken ihrer Lebensläufe möglich. Der hier
grob skizzierte methodische Weg ist insbesondere realienkundlieh vielversprechend.
Was er jedoch nicht vermitteln kann, ist eine Einsicht in die Subj
ektivität der Wahrnehmungen und Entscheide der Betroffenen. Über ihre
Selbsteinschätzung ihrer individuellen gesellschaftlichen Position und ihre
persönlic-hen Formen der Lebensbewältigung sind keine Aussagen möglich.
Insofern wird diese Methode einem wesentlichen theoretischen Anspruch
der Alltagsgeschichte oder Microhistorie nicht gerecht. Hier wird die Erforschung
von Gerichtsakten und erzählenden Quellen58 zum Zuge kommen.
58 Uitz, Erika, Zur Darstellung der Stadtbürgerin, ihrer Rolle in Ehe, Familie und
Öffentlichkeit in der Chronistik und in den Rechtsquellen der spätmittelalterlichen deutschen
Stadt, in: Jb. für die Geschichte des Feudalismus 7 (1983), S. 130-156; Wunder,
Heide, Frauen in den Leichenpredigten des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Lenz, Rudolf
(Hg.}, Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Bd. 3, Marburg
1984, S. 57-67; Davis, Natalie Zemon, Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und
ihre Erzähler, Frankfurt 1991; Beyreuther, Gerald, Barbara Pätzold, Erika Uitz (Hg.),
Fürstinnen und Städterinnen. Frauen im Mittelalter, Freiburg/Basel/Wien 1993.
61
MED IUM AEVUM
QUOTIDIANUM
30
KREMS 1994
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik Stephan J.T ramer
Satz und Korrektur: Birgit Kar! und Gundi Tarcsay
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der materiellen
Kultur des Mittelalters. Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich. – Für den
Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche Zustimmung jeglicher
Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. -Druck: KOPITU Ges. m. b. H.,
Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7
PAPERS DELIVERED AT THE l!IITERNATIONAL MEDIEVAL
Co:-:GREss, LEEDs 1 994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
HA:-.15- Vi/ER:’\‘ ER G OETZ, Methodological Problems of a History
of Everyday Life in the Early Middle Ages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
GERHARD JARITZ, Methodological Aspects of the History
of Everyday Life in the Late Middle Ages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
KATHARINA SLVION-MUSCHEID, Gerichtsquellen und Alltagsgeschichte
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
DOROTHEE RIPPMANN, Alltagsleben und materielle Kultur
im Spiegel von Wirtschaftsquellen: Materielle Kultur und
Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
DIE VIELFALT DER D INGE: 10. Internationaler Kongreß veranstaltet
von Medium Aevum Quotidianum und vom Institut
für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit.
R<’siim<‚cs der Vorträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
UR�1AC\‘ J . G . POUNDS, The Multiplicity of Things: the
Hist.orical Perspective . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
HELMt:T HtJ!\DSBICHLER, Sachen und Menschen. Das Kon-
Z<‚pt Realienkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
BARBARA SCHULKMANN, Sachen und Menschen: Der Beitrag
der archäologischen Mittelalterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
JOHN MORELAND, Theory in Medieval Archaeology . . . . . . . . . . . . . . . 70
BERNWARD DENEKE, Sachkulturforschuug in der modernen
Volkskunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
FRED KASPAR. Das mittelalterliche Haus als öffentlicher
und privater Raum 75
5
PETER JEZLER, Mittelalterliche „Kunst“ und der öffentliche
und privat.f‘ Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
FRANZ VERHAEGHE, Medieval Social Networks: The Gontribution
of Archaeological Evidence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
J OZSEF LASZLOVSZKY, Archaeological Research into the Social
Structure of the Late Middle Ages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
CHRISTOPHER DYER , Social aspects of medieval material
culture . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
GÖRA!’\ DAHLBÄCK, Sozialgeschichtliche Aspekte der materiellen
Kultur im spätmittelalterlichen Skandinavien . . . . . . . . . . . . . . . 88
DucciO BALESTRACCI, The Regulation of „Salus Publica“
in Medieval Towns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
SVEN ScHÜTTE, Der archäologische Befund als Quelle der
Verwirklichung städtischer Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
KATHARINA SIMON-MUSCHEID, Materielle Kultur des Mittelalters.
Ein Spiegel der Normen handwerklicher Produktion?
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
HEIKO STEUER, Archäologie und Realität mittelalterlichen
Alltagslebens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
JEAN-CLAUDE SCHMITT‘ Le soulier du Christ ou le reel
transfigure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
Other Papers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
REZENSIONEN:
HausGEschichten. Bauen und Wohnen im alten Hall und
seiner Katharinenvorstadt – Ausstellung u. Katalog zur Stadtarchäologie
und Stadtgeschichte in Baden-Württemberg (Helga
Schüppert) .. . . . . . . . .. . . .. . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 100
Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für Frantisek
Graus (Brigitte Rath) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Andnis Pal6czi Horvath, Petscherregen Kumanen Jassen.
Steppenvölker im mittelalterlichen Ungarn (Marina Mundt) 107
6
Vorwort
Das vorliegende Heft widmet sich zwei Anlässen: dem International Medieval
Congress. Leeds 1994, an dem Medium Aevum Quotidianum zwei Sektion(‚
n ausrichtete, und dem Kongreß Die Vielfalt der Dinge, den Medium
Aevum Quotidiamtm zusammen mit dem Institut für Realienkunde des Mittelalters
und der frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
im Oktober 1994 in Krems veranstaltet. Zum einen kommen vier
überarbeitete Vorträge der Tagung von Leeds zum Abdruck. Zum anderen
werden Resümees der Vorträge der Kremser Veranstaltung präsentiert, die
auch den Kongreßbesuchern als Einführung dienen sollen.
Im “ ovember 1994 wird als Sonderband unserer Reihe Elke Schlenkrichs
„Alltag der Lehrlinge im sächsischen Handwerk, 15. bis 19. Jahrhundert“
publiziert werden. Gleichfalls noch im heurigen Jahr wird Heft 31
von Medium A e·vum Quotidianum erscheinen.
Gerhard Jaritz
7
PAPERS
DELIVERED AT THE INTERNATIONAL MEDIEVAL CONGRESS,
LEEDS 1994
9