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Bernhard von Clairvaux als Redner

Bernhard von Clairvaux als Redner
JÜRG ZULLIGER, ZÜRICH
Der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux (1090-1153) ist als höchst be­ gabter und au üttelnder Redner in die Geschichte eingegangen. Berühmt sind vor allem seine Auftritte gegen die Lehre Petrus Abaelards (1079- 1142) im Jahr 1140, gegen Gilbert von Poitiers (1076-1154) acht Jahre später und gegen die Katharer. Genauso wirksam und folgenschwer ent­ faltete er sein rhetorisches T ent in den Jahren 1146 und 1147, als er den Zweiten Kreuzzug predigte. Aus Engagement für die verschiedensten An­ gelegenheiten bereiste er während Jahren ankreich, Deutschland, It ien und die heutige Schweiz und setzte sich immer auch für seine monastischen und kirchlichen Ideale ein. Wo er sprach, fand er begeisterte Zuhörer, und unter seinem Einfluß gewann die zisterziensische Reform, das Ideal einer strengeren mon tischen Lebensweise, viele Anhänger in ganz Europa. In der Literatur wird Bernhard – besonders was die Werbung junger Mönche betri t – deshalb auch gerne als „Pecheur de Dieu“ bezeichnet1 .
Wie läßt sich dieser, wenn ich so sagen da�f, „kommunikative“ Er­ folg erklären? Worauf beruhte seine appante Uberzeugungskraft? Wie bereitete er seine Reden vor? Bediente er sich bewußt bestimmter Kni e oder war er ein rhetorisches Naturtalent? – Diese agen sollen im folgen­ den erörtert werden. Es geht indes nicht darum, einmal mehr den Inhalt der Predigten Bernhards zu würdigen. Vielmehr stehen – im Sinne der Kommunikationswissenschaft – die konkrete Situation einer Predigt, ihre Begleitumstände und die Frage nach der Wirkung für das Publikum im Vordergrund.
DIE DARSTELLUNG DER „VITA PRIMA“
Noch bevor Bernhard von Clairvaux zur Welt kam, soll Aleth, seine Mut­ ter, geträumt haben, ihr werde ein bellendes, schneeweißes Hündchen ge­ boren. Ein Mönch habe ihr den Traum gedeutet und vorausgesagt, sie
1 Anselme Dimier, S. Bernard et Je recrutement de Clairvaux. In: Revue Mabillon 42 (1952) 17-30, 56-78; ders., Saint Be ard, Pe eur de Dieu. Paris 1953.
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werde Mutter eines vortre i chen Hundes sein, der ein gewaltiges Bellen gegen die Feinde des Glaubens erheben werde2• Diese Legende erzählt die Vita Prima, die immer noch wichtigste Quelle für das Leben des Ab­ tes von Clairvaux. Im dritten Buch derselben werden Charakteristika Bernhards vor allem seine Beredsamkeit, die Wirkung seiner Predigten und die Qualität seiner Schriften hervorgehoben3. Heute würden wir ei­ nen Menschen mit solchen Qualitäten salopp als „großen Kommunikator“ bezeichnen. Die Zeitgenossen Bernhards waren eher geneigt, ihn als ath­
leta Ecclesiae oder vir Dei zu bezeichnen. An der Darstellung der Vita Prima ist bemerkenswert, daß etliche der Wunderheilungen, die der Abt vollbracht haben soll, Stumme betrafen. Zum Beispiel habe er seinen kran­ ken und stumm gewordenen Cousin Josbert de Ch tillon geheilt und ihm das Sprechvermögen zurückgegeben. Dank der raschen und unerklärlichen Genesung habe Josbert noch vor seinem Tod beichten und die Sterbesakra­ mente empfangen können4. Kein Zweifel, die Verfasser der Vita Prima wa­ ren bemüht, Bernhards Bestimmung als großen Redner und Prediger mit der Behauptung zu unterstreichen, daß er neben großer Eloquenz auch die Gabe besaß, Stummen die Sprache wiederzugeben.
Die Vita Prima beschreibt Bernhards wohlklingende Stimme t fol­ genden Schriftzitaten: Siquidem di usa erat gratia in labiis ejus (Ps 44,3), et ignitum eloquium ejus vehementer (Ps 118,140) …Mel et lac sub lin­ gua ejus (Cn 4,11) …5 Über Einzelheiten seiner Reden sind wir vor allem für die Zeit seiner Kreuzzugswerbung im Bild. Die wichtigsten Stationen seiner Reise zwischen März 1146 und April 1147: Vezelay, Toul, Arras, Brügge, Mainz, Worms, ankfurt, Basel, Zürich, Konstanz, Straßburg, Speyer, Trier, Köln, Aachen, Lüttich, Cambrai, Reims. Der Auftakt der Reise, der angebliche Auftritt vor dem anzösischen König Louis VII. (1120-1180) und seinem Hof in Vezelay am 31. März 1 146, ist zwar jüngst von Jean Leclercq angezweifelt worden6. Die übrigen Aufenthaltsorte ste-
2 Vita Prima, lib. 1, c. 1, PL 185, Sp. 227.
3 a. a. 0. lib. 3, c. 3, PL 185, Sp. 306 f. und lib. 3, c. 8, PL 185, Sp. 320.
4 a.a.0. lib. 1, c. 9, PL 185, Sp. 252.
5 a.a.0. lib. 3, c. 3, PL 185, Sp. 307.
6 Mit der Begründung, der Text der Rede sei nirgends überliefert, während sonst doch
fast alles, was Bernhards Auftritte betraf, von seinen Schülern und Sekretären aufge­ zeichnet wurde (Jean Leclercq, Bernhard von Clair ux: Ein Mann prägt seine Zeit, übers. von Hermann J. Benning. München 1990, 97).
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hen aber nicht zur Debatte. Man mag sich wundern, daß Bernhard auch in deutschsprachigen Regionen Gehör d; die Vita Prima ist bestrebt, dies mit der Aura, der generellen Ausstrahlung des Abtes und mit seinen Wunderheilungen zu erklären. Als er 1 147 in Deutschland predigte, sollen die Zuhörer von seiner Rede tief ergri en gewesen sein, noch bevor ein Dolmetscher sie ihnen übersetzt hatte:
Inde erat quod Germanicis etiam populis loquens miro audiebatur af­ fectu, et ex sermone ejus quem intelligere, utpote alterius linguae ho­ mines, non valebant, magis quam ex peritissimi cujuslibet post eum loquentis interpretis intellecta locutione, aedi cari illorum devotio vi­ debatur, et verbarum ejus magis sentire virtutem: cujus rei certa pro­
batio tunsio pectorum erat, et e usio lacrymarum.7
Gerade d Beispiel der Kreuzpredigt in Deutschland zeigt, daß es tat­ sächlich nicht so sehr der Inhalt der Reden Bernhards war, der ihre große Wirkung ausmachte. Nicht seine Worte, sonde sein Charisma, der spi­ ritus, den er ausstrahlte, bewegte die Menschen. Gott ied von Auxerre (gest. 1175), einer der Sekretäre Bernhards und Verfasser des dritten Bu­ ches der Vita Prima, erklärt den Erfolg Bernhards außerdem damit, daß er sich seinen Zuhörern anzupassen gewußt habe. Er habe die Au assungs­ kraft, den Charakter und die Sitten seiner Zuhörer berücksichtigt, so daß seine Predigten immer dem Publikum entsprochen hätten. Sie rusticanis plebibus loquebatur, ac si semper in rure nutritus . . . . Vor jeder beliebigen Kl se von Menschen habe er so gesprochen, ob er sich jedesmal vorher ein genaues Bild von ihrem Tun und ihrer Eigenart gemacht habe und sich genau danach gerichtet habe. Vor Gelehrten sei er der Gebildete gewe­ sen, vor einfachen Leuten habe er den schlichten Mann gespielt und vor geistlichen Zuhörern aus seinem Wissen an Schriftzitaten geschöpft. Als besonders charakteristisches Merkmal weist Gott ied ferner darauf , daß Bernhard mit Späßen sehr vorsichtig gewesen sei und in seinen Reden möglichst darauf verzichtet habe8 .
Der Abt habe, so Gott ied weiter, bei seinen Auftritten und ange­ sichts der Gunsterweisungen des Volkes d Gefühl gehabt zu träumen, so als wäre er gar nicht dabei. Es mag sein, daß ihm der enge Kontakt zu Menschen tatsächlich nicht behagte, war er doch von Kindesbeinen an ex­ trem schüchtern gewesen. Selbst im kleinen Kreise ergri er nach Gott ied
7 Vita Prima, b. 3, c. 3, PL 185, Sp. 307. 8 a.a.0. Sp. 306.
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nicht ohne Scheu das Wort. Innata ei a puero verecundia usque ad diem perseveravit extremum. Inde erat, quod licet tam magnus esset, et excelsus in verbo gloriae, numquam ta en (sicut saepe eum audivimus protestan­ tem) in quamlibet humili coetu sine metu et reverentia verbum fecit, tacere magis desiderans …9.
Die angeführten Belege für Bernhards Verhalten als Redner beruhen ausschließlich auf der Vita Prima. Wie glaubwürdig ist diese Quelle? Die von seinen Sekretären und Freunden Wilhelm von St. Thierry (gest. 1148) und Gott ied von Auxerre sowie dem Benediktinerabt Arnaud von Bon­ neval (gest. 1 156?) verfaßte Schrift war während Jahrhunderten das wich­ tigste Zeugnis für das Leben des Heiligen. Bis heute hat es die Forschung indessen versäumt, eine kritische Edition der Vita herauszugeben, man ist nach wie vor auf die Textversion in den Acta Sanetarum und in der
Patrologia Latina von Jacques-Paul Migne angewiesen. Beide Versionen beruhen wesentlichen auf der üheren Ausgabe von Jean Mabillon.
Wie ist die Vita Prima entstanden? Gott ied hatte schon 1145, zu Lebzeiten des Abtes, Aufzeichnungen für eine spätere Lebensdarstellung gesammelt10• Die insgesamt fünf Bücher dieser Vita wurden dann kurz nach dem Tod Bernhards zusammengestellt. D Werk ist nach den Scha­ blonen der damaligen Hagiographie geschrieben, in der unverkennbaren Absicht, die Kanonisation Bernhards zu erwirken. Adriaan H. Bredero konnte nachweisen, daß noch bis kurz nach der Ablehnung des ersten Ge­ suchs um Heiligsprechung durch Papst Alexander III. (1 105-1181) im Jahr 1 162 etliche Revisionen am Text vorgenommen wurden11 . Verantwortlich dafür war niemand anderes als Gottfried von Auxerre, der übrigens auch nachträglich etliche Eingri e an den Briefen und Predigten Bernhards ver­ anlaßte. Immer mit dem Zweck, Bernhard in ein günstiges Licht zu stellen;
um zu verhindern, daß der Kanonisation etwas in die Quere kam. Selbst Brief 310, den Bernhard trotz schwerer Krankheit auf dem Sterbebett nie-
9 Als Knabe sei er kaum außer Haus gegangen: Erat namque $implici$$imu$ in $aecu· laribu&, aman$ habitare &ecum, publicumfugitan&, (…) fori& raru&, et ultra quam credi po&$et verecundu$. (Vita Prima, lib. 1, c. 1, PL 185, Sp. 228 und lib. 3, c. 7, PL 185, Sp. 316)
10 Fragmenta de vita et miraculis S. Bernardi, ed. Roh. Lechat. In: Analeeta Bollan­ diana 50 (1932) 83-122.
11 Adriaan H. Bredero, Etudes sur Ia „Vita prima“ de S . Bernard. In: ASOC 17 (1961) 3-72, 215-260 und 18 (1962) 3-59.
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dergeschrieben haben soll, ist vielleicht eine Fälschung Gottfrieds, mit der Absicht, durch dieses eindrückliche Dokument Zeugnis von der Heiligkeit Bernhards abzulegen12 .
An der historischen Zuverlässigkeit der Vita Prima muß also we­ nigstens teilweise gezweifelt werden. Im folgenden soll deshalb versucht werden, die Darstellung der Vita wenn möglich mit anderen Quellen zu vergleichen, vor a em mit den nahezu 500 überlieferten Briefen Bern­ hards. Die angeführten Vorbehalte gegenüber der Vita Prima reichen aber nicht aus, um das Bild Bernhards als charismatischen Redner ernsthaft in Frage zu stellen. Sein Talent als Prediger hatte sich weitherum gesprochen und wird von genügend anderen Quellen genauso vermittelt. Erwähnt sei zum Beispiel die Schilderung von Giraldus Cambrensis (1146-1223), eines Geschichtsschreibers aus Wales. Er schildert nicht nur Bernhards Red­ nertalent, sondern versucht auch, die Wirksamkeit des Zisterziensers zu erklären. In einem Brief unbekannten Datums13 verglich er die Kreuzpre­
digt in W es im Jahr 1188 mit den Auftritten Bernhards 1147 in Deutsch­ land:
Exemplum quoque abatis Be ardi predicantis Theutonicis laicis et ad lacrimas ac etum eos commoventis, quem tamen non intelligebant, hic apponere preter rem non putavi: cuius sermonem retexuit post eum inte res optimus, monachuJ scilicet, quo loquente nichil moti sunt, ex quo patet quia qui non ardet, non incendit. In sacra namque scriptura s, non verba loquuntur, iuxta poeticum illud: Res age, tutus eris. In ea nimirum res pocius quam verba perorant et persuadent: voces enim exterius pulsant nec penetrant, spiritus autem est, qui intus agit et operatur. . .} E ectus itaque doctrine celestis in duobus consistit, in vita scilicet et sanctitate docentis meritisque bonis verbum devote suscipientis.14
12 Adriaan H. Bredero, Der Briefdes heiligen Bernh d auf dem Sterbebett: eine au­ thentische Fälschung. In: Fälschungen im Mittelalter 5 (MGH Schriften 33,5) Hannover 1988, 201-224.
13 Dieser Brief wurde nachträglich der Schrift S culum Duorum hinzugefügt, die Gi­ raldus 1216 verfaßte.
14 Giraldus Cambrensis, Ep. 8, ed. Yves Le vre und R. B. C. Huygens, 281. Der im Zitat erwähnte Übersetzer w übrigens der Abt von Salem, namens Frowin, ein Zisterzienser. Vgl. Gregor Müller, Frowin. In: CistC 3 (1891) 1-8. Bernh ds Orden war für die Organisation seiner Aktivitäten zentral; Tochterabteien dienten ihm oft als
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O enbar machten die Verdienste, der Lebenswandel, die Frömmigkeit und die Heiligkeit des Redners einen großen Eindruck.
Bernhards Auftritt gegen Gilbert von Poitiers auf dem Konzil von Reims, das der Zisterzienserpapst Eugen III. (gest. 1153) im Jahr 1148 einberief, muß ähnlich famos gewesen sein wie seine Appelle für den Zug ins Heilige Land. Nach der Vita Prima habe der Abt in einem zweitägigen Redegefecht die Irrtümer des Bischofs von Poitiers überzeugend zurückge­ wiesen. Die Quelle versucht den Eindruck zu erwecken, daß allein durch die Redegewandtheit des Abtes (athleta Ecclesiae) Gilbert seinen Über­ zeugungen abgeschworen habe15. Einzelne Formulierungen sind natürlich maßlos übertrieben, aber es besteht kein Zweifel, daß Bernhard in Reims gegen die Trinitätslehre Gilberts, die ihn allzu scharfsinnig dünkte, redete und maßgeblich für ihre Verwerfung verantwortlich war. Das ist auch durch Otto von Freising (1112-1158) ausführlich belegt16. Daß Bernhard gegen Gilbert das Wort ergri , steht auch deshalb außer Diskussion, weil der Zisterzienser schon früher Eugen auf die aus seiner Sicht gefährliche Lehre hingewiesen und ihn mehrmals zu einer Entscheidung in der Sache gedrängt hatte17.
Nicht nur das Bild Bernhards als großer Prediger, auch jenes als „Pecheur de Dieu“ wird außer von der Vita Prima durch weitere Quellen gestützt. Erwähnt sei zum Beispiel die vom Liber miraculorum erwähnte Bekehrung des Kölner Kanonikers Alexander anläßtich seines Besuchs in dieser Stadt vom 9. bis 1 3 . Januar 1 1 4 7 1 8 . Alexander soll ursprünglich
Aufenthaltsort; Ordensangehörige waren seine Reisebegleiter. Die Koordination der Kreuzzugspredigt in Deutschland übernahmen die Äbte Adam von Ehrach und Gerlach aus dem Salzburgischen Rein – ebenfalls Zisterzienser (Ludwig Schmugge, Zisterzienser, Kreuzzug und Heidenkrieg. In: Kaspar Elm, Peter Joerißen, Hermann JosefRoth (Hg.), Die Zisterzienser, Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit. Köln 1980, 59).
15 Vita Prima, Jib. 3, c. 5, PL 185, Sp. 312.
16 Otto von Freising, Gest. Frid., lib. 1, c. 56-57.
17 Watkin Williams, Saint Bernard of Clairvaux (Publications of the University of Manchester, Historical Series 69) 2. Au . Manchester 1953, 314-316.
18 Liber miraculorum, c. 1, PL 185, Sp. 374. Diese Quelle setzt sich aus den in den Jah­ ren 1146 und 1147 gemachten Aufzei nungen der Wunder des Abtes von Clairvaux, die
er während seiner Kreuzpredigt in Deutschland getätigt haben soll, zusammen. Die Au­ toren sind: Bischof Hermann von Konstanz (gest. 1166), dessen Kaplan Eberhard, Abt Baudouin von Chätillon-sur-Seine, Abt Frowin von Salem (der Bernhard zugleich als Dolmets er diente), der Mönch Gerard aus Clairvaux, Bernhards Sekretär Gottfried,
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nichts für das Leben eines Mönchs übrig gehabt haben. Ohne Zweifel wurde er gleichwohl auf Betreiben Bernhards Zisterzienser. 1149 stieg er zum Abt von Grandselve und 1166 sogar zum Abt von Citeaux auf. Er starb am 29. J 117519.
Eine ähn che Bekehrung läßt sich unabhängig von hagiographischen Quellen und terarischen Topoi anhand der Lebensgeschichte Gott ieds von Auxerre rekonstruieren: Gott ied war in Paris Schüler bei Abaelard gewesen, dem Gegenspieler Bernhards so. Er hatte sich durch Bernhards Predigt in der Stadt (1140)20 beein ussen lassen und war mit 20 anderen Schülern in Clairvaux eingetreten. Weil er Bernhard bis zu dessen Tod 1153 als notarius diente, wurde er zu einem seiner engsten Vertrauten. Er begleitete ihn im Herbst 1145 ins Languedoc, wo der Abt gegen die Häretiker predigte, und 1146/47 folgte er ihm auf seiner Kreuzpredigtreise nach Deutschland. Um 1156 wurde er Abt von Igny, von 1162-1165 nahm er diese Funktion in Clairvaux wahr, ab 1 1 70 in Fossanova und ab 1 1 75 in Hautecombe21•
Es zeigt sich, daß das Bild, das die Vita Prima in dem für mein Thema wichtigen Punkt von Bernhard zeichnet, zuverl sig ist: Er war ein hervor­ ragender Prediger, der e Menschen zu fesseln wußte. Unzuverlässig ist die Quelle hingegen, was e Charakterbeschreibung des Abtes betri t. In
Philipp (ein Archidiakon von Lüttich), die Kleriker Otto und aneo sowie Alexander, der bekehrte Kanoniker aus Köln. Sie sandten ihre Berichte unter anderem an den Klerus von Köln, an Henri (den Bruder des französischen Königs) und an Samsan (Erz­ bischof von Reims). Ihre Legenden, die der erwähnte Philipp später zusammenstellte, sind uns in verschiedenen Handschriften mit der Vita Prima überliefert und wurden deshalb teilweise als sechstes Buch derselben aufgefaßt. Vgl. dazu Adriaan H. Bredero, Etudes sur Ia „Vita prima“ de S. Bernard. In: ASOC 17 (1961) 222-231. (Edition: Li­ her miraculorum S. Bernardi, PL 185, Sp. 369-416). Der Zweck des Liber miraculorum ist klar, die Anhänger Bernhards wollten ihren Meister als Heiligen darstellen.
19 Commission d’Histoire de !’Ordre de Citeaux (Hg.), Bernard de Clairvaux. Etudes sur Ia vie de Saint Bernard. Paris 1953, 695. (Dieser Band wird im folgenden abgekürzt als „BC“). Vgl. auch Elphegius Vacandard, Leben des heiligen Bernhard von Clairvaux, deutsch von Mattbias Sierp, Band 2. Mainz 1897, 417.
20 Die Rede ist uns schriftlich überliefert als Sermo de conversione ad clericos in der Edition: Sancti Bernardi Opera, hg. Jean Leclercq, Hugh C. Talbot, Henri Rochais, vol. I-VIII. Rom 1957-1977, Band 4, 69-116. Die Edition wird im folgenden abgekürzt als „SBO“.
21 BC 717.
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dieser age ist der eigentliche Zweck der Vita, die Kanonisation Bernhards durch eine erbauliche Schrift für die Gläubigen und die Lobpreisung seiner Tugendhaftigkeit zu fördern, mehr als o ensichtlich. Ein Beispiel: Nach der Version Gott ieds von Auxerre in der Vita Prima war Bernhard trotz seiner Berühmtheit und der Ehrungen, die ihm widerfuhren, bescheiden geblieben22. Diese Aussage hält einem Vergleich mit den Briefen Bern­ hards nicht stand. Als mit Eugen III. 1 1 4 5 ein Zisterzienser den Stuhl Petri bestieg, schrieb ihm Bernhard nämlich unver oren: Aiunt, non vos esse papam, sed me . . . – also nicht Eugen, Bernhard sei der wahre Papst23. Von Bescheidenheit war also keine Spur.
Gott ied betont ferner die unglaubliche Geduld, die Bernhard im Umgang mit Menschen an den Tag gelegt habe – selbst wenn er be­ schimpft oder tätlich angegri en worden sei. Der Biograph und eund Bernhards erzählt folgendes Beispiel: Als eines Tages ein Regularkanoni­ ker nach Clairvaux gekommen sei und ungeduldig darauf bestanden habe, aufgenommen zu werden, sei er vom Abt weggewiesen worden. Darauf sei der emde wütend geworden, auf ihn losgegangen und habe ihn geohr­ feigt. Als sich die Anwesenden auf ihn gestürzt hätten, habe sie Bernhard beschworen, den Mann nicht anzurühren und soll veranlaßt haben, ihn un­ ter Schutz wegzuführen24. Dieser Charakterbeschreibung Gottfrieds ist – ebenfalls aufgrund eines Vergleichs mit den Briefen – kritisch anzufügen, daß sich Bernhard nicht nur milde und nachsichtig verhielt. Zorn war ihm keineswegs emd. Man bedenke die Verwünschungen, die er über den Ge­ genpapst Anaklet II. (1090-1138) ausstieß25 oder an die Situation, als er den Mönch Barthelemy aus dem Kloster jagte26 .
Schließlich ist eines gewiß: Seine unzähligen erfolgreichen Auftritte verleiteten Bernhard dazu, seine zweifellos ein ußreiche Position zu über­ schätzen und mit seinen daraus abgeleiteten Ansprüchen und Einmischun­ gen in die verschiedensten Angelegenheiten zu weit zu gehen. Immerhin hatte er als junger Mann gelobt, ein Leben fern der Welt führen wollen. Er war Mönch geworden mit dem Anspruch, o tio, lectio und contemplatio zu p egen. Das Leben eines Mönchs habe er längst aufgegeben, mußte er
22 Vita Prima, lib. 3, c. 7, PL 185, Sp. 316. 23 Ep. 239, SBO, Band 8, 120.
24 Ebd. 318.
25 Ep. 147, SBO, Band 7, 351.
26 Ep. 70, SBO, Band 7, 173.
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dann zwischen 1 147 und 1150 Bernard, dem Prior von Portes, gestehen. Zu ihm, so Bernhard, schreie sein ungestümes Leben und sein belastetes Gewissen; weder Kleriker noch Laie sei er: Ego enim quaedam Chimaera mei saeculi, nec clericum gero nec laicum. Nam monachi iamdudum exui conversationem, non habitum.21 Das Zitat ist berühmt geworden. Man sollte sich aber davor hüten, die Aussage zu sehr als leidvolle Selbstan­ klage Bernhards zu deuten. Der Adressat des Schreibens war ein höchst asketisch lebender Mönch, dessen Lebenswandel Bernhard dem seinigen gegenüberstellte.
WARUM PREDIGTE BERNHARD?
Wir wissen, daß Bernhard in praktischen Dingen höchst unbeholfen war. Er verzichtete zumBeispiel aufgrund seiner körperlichen Konstitution weit­ gehend auf Handarbeit28. Wegen mangelnder Übung oder mangelnden Geschicks begnügte er sich damit, Erde umzugraben oder Holz zu fällen und wegzutragen29• Er zog es vor, den Brüdern in Clairva wann immer möglich zu predigen, und zwar häufiger als es die Consuetudines eigent­ lich vorsahen. Er gestand ausdrücklich ein, manchmal zu einer Stunde zu predigen, die von der Benediktsregel zur Handarbeit bestimmt war. Er rechtfertigte vor den Brüdern diese zusätzliche – man könnte sagen „kommunikative“ – Aktivität damit, daß er ihnen so einen reichlicheren Vorrat an geistlichen Genüssen zur Verfügung stelle. Denn diese Speise (die Predigt) werde durch das Verteilen nicht vermindert, sondern eher vermehrt30• Daß Bernhard außerordentlich oft und gerne predigte, geht auch aus der Stelle hervor, wo es heißt, ihn reue die für die Predigt unter­ brochene Ruhe nicht. Zum Nutzen anderer zu predigen zog er dem Beten, Lesen, Schreiben und Meditieren vor31.
Bernhards Hauptmotiv für seine Aktivitäten nach außen war, nach
27 Ep. 250, SBO, Band 8, 147.
28 Dagmar Heller, Schriftauslegung und geistliche Erfahrung bei Bernhard von Clair­
vaux (Studien zur systematischen und sprirituellen Theologie 2) Würzburg 1990, 30, Anm. 130.
29 Vita Prima, lib. 1, c. 4, PL 185, Sp. 240.
30 QH/XC 10, 6, SBO, Band 4, 447.
31 SC 51, 2, SBO, Band 2, 86.
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seinem eigenen Zeugnis, die caritas32, die Liebe33. Der Umgang mit der Umwelt kann nach seiner Au assung sowohl Schweigen als auch Reden heißen, beides steht aber immer im Dienst der caritas34• Reden heißt, im Gebet, Kommunikation mit Gott35, und im Verkehr mit den Menschen bedeutet es Kommunikation über Gott36. Die caritas ist der Hauptgrund, weshalb Bernhard sein Mönchsideal in der Gesellschaft seiner Zeit aktiv vertrat und dafür warb37 , und sie ist das Motiv für seine Aktivitäten inner­ halb der Kirche38 und für seine häu gen Kontakte zu anderen Klöstern39.
32 Der carita& kommt in der Theologie Bernhards zentrale Bedeutung zu. Die carita&, die Liebe Gottes zum Menschen, ist der Grund und der Ausgangspunkt des Glaubens, der Erkenntnis und des Heils für den Menschen. Sie ist in ihrer vollkommenen Form glei bedeutend mit dem Heil der Seele, zu dem hin der Mensch unterwegs ist; sie ist der Zustand der vollkommenen Harmonie in der Einheit des Willens von Gott und Mensch, aber auch zwis en Mensch und Mitmens und zwischen den sich widerstreitenden Berei en im einzelnen Menschen selbst (nach Dagmar Heller, wie Anm. 28, 63 f.).
33 Die Liebe des Menschen hat zweierlei Aspekte: Sie äußert sich als Liebe zu Gott in Jesus Christus und als Liebe zum Nächsten. Die Nächstenliebe ist Vorstufe der geistlichen Liebe zu Gott (Heller, wie Anm. 28, 72; vgl. dazu auch: Joseph Lortz, Ein­ leitung. In: ders. (Hg.), Bernhard von Clairvaux, Mönch und Mystiker. Internationaler Bernhardkongreß Ma.inz 1953. Wiesbaden 1955, XIX).
34 „Silence et parole au service de la charite“ – so umschreibt dies Jean Leclercq, Silence et parole dans l’experience spirituelle d’hier et d’aujourd’hui. In: CollCist 45 (1983)
185-198, besonders 195).
35 a.a.0. 188.
36 Ebd. 196.
37 Nach Paul Sinz entfaltete die carita& Bernhards beispiellose Werbekraft für den Zisterzienserorden (Paul Sinz, Einleitung. In: Vita. Prim . Das Leben des heiligen Bernhard von Cl rvaux, hg. Paul Sinz. Düsseldorf 1962, 1 5).
38 Die carita& zwingt den Schweigenden zum Reden und veranlaßt Mönche, das klö­ sterliche Schweigen zu brechen. Sie ist das erklärte Motiv dafür, daß Bernhard um die Aufhebung des Schismas von 1130 zwischen Anaklet II. (gest. 1138) und Innozenz II. (gest. 1143) kämpfte und Partei gegen Anaklet (Petrus Leonis) ergri . In der Vita Prima heißt es: Et no& quidem agreste&, &aepiu& ligonibu& quam pragmaticü advocatio­ nibus a&sueti, &i causa fidei non urgeret, in&titutum silentium teneremu&. Nunc autem cogit nos charitas eloqui, quia tunicam Domini, quam in tempore pa&&ionis nec ethni­ cu& praesump&it scindere, nec judaeus, fauto hoc Domino, Petru& Leoni& /acerat et disrumpit (Vita Prima, lib. 2, c. 7, PL 185, Sp. 294).
39 Vgl. dazu: Ep. 82, SBO, Band 1, 214.
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Sie ist ebenso die iebfeder für seme Tätigkeit als Schriftsteller40 und Briefschreib e r 4 1 •
Es stellt sich die Frage, ob sich Bernhard darüber hinaus grundsätzlich über zwischenmenschlichen Umgang, Verständigung und Informationsaus­ tausch Gedanken gemacht hat. Findet sich in seinem Gesamtwerk ein dem heutigen Begri „Kommunikation“ ähnlicher Terminus? – Der Be­ gri communicatio kommt tatsächlich vor, und zwar in Sermo 110 der Ansprachen De Diversis. Der Abt gebrauchte ihn im Sinne von Mitteilung der Gedanken von Mensch zu Mensch. Als Werkzeug, das diese Brücke ermöglicht, dienen Worte:
Chaos magnum inter nos rmatu est, nisi, interveniente quasi in­ strumento verborum, at ad invicem transitus quidam co ium in com­ municatione cogitationum.42
Bemerkenswert scheint mir die Anschauung, wonach ohne diese Verbin­ dung Chaos unter den Menschen herrschen würde. Eben deshalb wurden die Worte erfunden: Verumtamen et nosipsos verbis iam alloqui necesse est. Also müssen wir den Abgrund zwischen den Menschen überwinden und miteinander sprechen. Doch nicht allein das, auch zu uns selbst müssen wir sprechen, wie Bernhard in Sermo 110 weiter ausführte. Etiam verbis opus habemus. Et cum utrumque sit miserum, non iam mirum quod
40 Über Schreiben als Spiegel der carita3 siehe: Ep. 523, SBO, Band 8, 488. Die ca­ rita3 als Motivation zu einer Schrift war bei mittelalterli en Autoren geradezu ein Topos. Der Oxforder Franziskaner Wilhelm von Ockham, um ein Beispiel zu nennen, fühlte sich aus carita3 verp ichtet, sein Werk Summulae in lib 3 phy3icorum über die Schwierigkeiten der Naturphilosophie niederzuschreiben. Aus carita3 gebe er dem viel­ fachen Drängen schriftkundiger Männer nach, das was er in der Schwachheit seiner Begabung in seinen Vorlesungen darüber entwickelt habe, nun auch schriftli festzu­ halten. Vgl. Jürgen Miethke, Die mittelalterli en Universitäten und das gesprochene Wort. In: HZ 251 (1990) 1-44, besonders 24.
41 Ep. 11, SBO, Band 7, 52.
42 Div 110, SBO, Band 6a, 384. Ein Kommentar der Stelle ndet sich bei Leclercq, Si­ lence et parole, wie Anm. 34, besonders 187-188. Auch Aurelius Augustinus beschäftigte sich übrigens mit der Frage, warum die Menschen zueinander sprechen, und zwar in sei­ ner als Dialog aufgebauten Frühschrift De magi3tro aus dem Jahre 389. Ähnlich wie Bernhard faßte Worte als eine Art Werkzeug auf. Ganz anders als der Zisterzienser­ abt bezog er den Zweck des Sprechens aber allein auf den des Lehrens, Belehrtwerdens oder des Erinnerns. Augustin verwendete in diesem Zusammenhang nie den Begri communicatio (Augustin, De magistro 1, 2. In: Corpus Christianorum, Series Latina 29. Turnhout 1970, 158-159).
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inter nos, mirum magis, quod etiam ad nosipsos.43 Was ist damit gemeint? – Wir müssen uns selbst immer wieder mahnen und kritisieren44 •
Mit Zitaten aus den Psalmen versuchte Bernhard in Sermo llO außer­ dem zu zeigen, wie die Seele zu sich selbst spricht. Nebst diesem Zu­ sich-selbst-Sprechen und dem Sprechen der Menschen unter sich, erwähnte Bernhard jenen Zustand, wo in der Anschauung Gottes jeder Verkehr und
jedes Wort über üssig sein werden45.
Für Bernhard ist verbale Kommunikation folglich ein notwendiges Übel, es übertrieben zu sagen. Oder theologisch ausgedrückt: Es geht ihm letz eh immer um die Kommunikation mit Gott in der unio, in der engen Gemeinschaft, in der Worte über üssig sind. Darauf ist nach Bernhards Au assung auch jede zwischenmensch che Kommunikation im letzten ausgerichtet46•
Anzufügen bleibt, daß dies die einzige Stelle im Gesamtwerk Bern­ hards ist, wo der Begri communicatio auftaucht47. Das Verb communi­ care hingegen ndet sich weit häu ger, nämlich 68 mal. Der Abt von Clair­ bezeichnete damit das Teilnehmen an den Sakramenten der Kirche, den Empfang der Eucharistie, das Ausgießen oder Mitteilen von Worten, aber auch das Miterleben und Mitfühlen mystischer Erfahrungen. Ferner meinte er damit, eine Speise kosten oder probieren, etwas teilen, ande­ rerseits sich beraten, und innerhalb seiner Trinitätslehre verwendete er communicare für den Austausch zwischen Gott dem Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist48• Teilweise gebrauchte er das Verb ähnlich wie die
43 Div 110, SBO, ebd.
44 Div 110, SBO, ebd. 384 f.
45 Ebd. 385.
46 Eine ähnliche Abwertung der Sprache (verstanden als sinnlich erklingende Worte) ndet sich auch bei andern christli en Denkern. Nach Augustin ist die Sprache eine Folge der Sünde. Vor dem Sündenfall sprach Gott direkt in den Intellekt des Menschen; esbedurftekeinerSprache. DasmenschlicheVerbumistsinnlich,unreinundverwirrend. Eigentli sollten wir es direkt mit dem erleuchtenden göttlichen Verbum zu tun haben (Kurt Flasch, Augustin, Einführung in sein Denken. Stuttgart 1980, 126).
47 Dies ist anband der Wortkonkordanz zum Gesamtwerk Bernhards leicht ersichtlich: Thesaurus Sancti Bernardi Claraevallensis, Concordantia formarum, hg. Cetedoc de Louvain-la-Neuve. Turnhout 1987 (Mikrofiches), 1685.
48 Die einzelnen Bedeutungen sind ebenfalls mit Hilfe der erwähnten Wortkonkordanz zu untersuchen: Thesaurus Sancti Bernardi Claraevallensis, wie Anm. 47, 1684 .
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Vulgata, die lateinische Übersetzung der Bibel, die er benutzte und an deren Sprache er sich stark orientierte49•
WIE BEREITETE BERNHARD DIE PREDIGTEN VOR?
Was den konkreten Kommunikationsvorgang betri t, waren bei Bernhard schriftlich festgelegte Inhalte eine wichtige Voraussetzung, besonders die Bibel. Natürlich dürfte er einen guten Teil davon auswendig präsent gehabt haben, so wie er auch seine umfangreiche Korrespondenz ohne Gedächtnisstütze erledigte. Seine Biographen haben sich vermutlich bei der Abf sung der Vita Prima, die sie ohne das Wissen Bernhards – also auch ohne dessen Mithilfe – zusammenstellten, ebenfalls zu einem guten Teil auf ihr Gedächtnis verlassen5°.
Die Texte der Heiligen Schrift, die Bernhard nach dem Wortlaut der Vulgata kannte, ossen in sehr viele seiner Gedanken ein. Watkin Williams vermutete, daß der Abt während seines ganzen Lebens keine andere Bibel besaß diejenige, mit der er schon als Kind von seiner Mutter und bei den Kanonikern von St. Vorles unterrichtet wurde51 . Er beherrschte ihren Text wohl schon üh weitgehend auswendig, und wenn er später predigte oder Texte redigierte, zitierte er sie ei aus dem Gedächtnis. Dies läßt sich anhand des Traktats De gradibus humilitatis et superbiae belegen, das der Abt um 1124/25 schrieb. Einige Leser hatten ihn darauf au erksam ge­ macht, daß er darin die Stelle Mc 13, 32 über den Zeitpunkt des Weltendes falsch zitiert hatte (NEC IPSE F IUS HOMINIS SCIT anstatt NEMO SCIT … NEQUE FILIU 52• In einer späteren Ausgabe gab er den Grund
49 Die Vulgata kennt vor allem die folgenden Bedeutungen von communicare: teilneh­ men, verkehren oder Umgang haben und be e en (zum Beispiel Mr 7, 23: Omnia haec mala ab intu$ procedunt et communicant hominem).
50 Gewiß konnten sich Wilhelm von St. Thierry und Arnaud de Bonneval teilweise auf die bei der Diskussion der Vita Prima erw nten Aufzeichnungen Gottfrieds von Au­ xerre (Fragmenta de vita et miraculis S. Bernardi; vgl. dazu Anm. 10) und den Corpu$ epi$tolarum stützen. Daneben waren sie aber weitgehend auf ihr Erinnerungsvermögen angewiesen. Zu diesem Problem liegt ein Aufsatz vor: Pierre Andre Sigal, Le travail des Hagiographes aux XI et XII siecles: sources d’information et methodes de redaction. In: Francia 15 (1987) 149-182.
51 Williams, wie Anm. 17, 15. Vgl. dazu P. Dumontier, Saint Bernard et Ia Bible. Paris 1953.
52 Hum 3, 10, SBO, Band 3, 24.
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für dieses Versehen an. Er habe erst im nachhinein gemerkt, daß dies so nicht im Evangelium stehe. Er habe nach dem allgemeinen Sinn zitiert und die Worte nicht mehr genau im Gedächtnis gehabt: . . . ego deceptus magis quam fallere volens, litterae quippe immemor, sed non sensus …53.
Die Hypothese, daß Bernhard die Bibel auswendig zitierte, läßt sich anhand weiterer vom Wortlaut der Vulgata abweichender Schriftzitate er­ härten54. Hätte er sich immer an die schriftliche Vorlage gehalten, wäre so etwas kaum vorgekommen. Dies schließt nicht aus, daß Bernhard in priva­ ter Lektüre die Bibel immer wieder gelesen hat55, auch die patristischen Kommentare sowie die glossierte Bibel, wie sie seit dem 11. Jahrhundert in Gebrauch kam56•
Bernhard war nicht nur mit der Bibel sehr vertraut, er las auch viele andere Texte. So wie er die Demütigung den Weg zur Demut sah, die Geduld als den Weg zum ieden, so nannte er das Lesen (lectio)57, den Weg zum Wissen (scientia)58• Er zitierte profane Schriftsteller wie Boethius, Cicero, Horaz, Juvenal, Ovid, Persius, Seneca, Statius, Tacitus, Terenz und Vergil59 , deren Werke ihm also zugänglich waren. Wir verfügen leider über keinen Katalog, der den Bestand der Bibliothek von Clairvaux zur Zeit Bernhards wiedergibt. Als er zur Gründung von Clairvaux ausge­ sandt wurde, wird er kaum Bücher mitgenommen haben. Das Mutterklo­ ster, Citeaux, konnte außer den wichtigsten liturgischen Schriften wenig zur Verfügung stellen; das wissenschaftliche Studium war übrigens auch kein Anliegen. Verschiedene Forscher behaupten aber, daß Bernhard und
53 Hum, SBO, Band 3, 15. Diese in der Edition Leclercqs dem Traktat vorangestellte Retractatio läßt sich nicht genau datieren.
54 Vgl. die Beispiele Leclercqs: Jean Leclercq, Lettres de S. Bernard: histoire ou litterature? In: ders., Recueil d’etudes sur Saint Bernard et ses ecrits IV. Rom 1987, 125-226, besonders 210 f.
55 Vgl. SC, SBO, Band 1, 5.
56 Heller, wie Anm. 28, 124. Vgl. auch: S. B. Smalley, glossa ordinaria. In: TRE, Band 13, 452.
57 Der Begri lectio tritt bei Bernhard in zwei verschiedenen Bedeutungen auf. Manch­ mal ist damit der Vorgang des Lesens gemeint (SC, SBO, Band 1, 4 oder Div, SBO, Band 6/1, 323), manchmal ein Textabschnitt der Schrift, der zu einem bestimmten Anlaß gelesen wird (QH/XC, SBO, Band 4, 441). Vgl. zur lectio divina: Heller, wie Anm. 28, 97-99).
58 Ep. 87, SBO, Band 7, 230.
59 Vgl. BC, 549-554; Williams, wie A . 17, 363-373.
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seine Schüler nach und nach eine fast lückenlose patristische Bibliothek gesammelt haben. Hieronymus (342-420}, Ambrosius (339-397), Augu­ stin (354-430) und Gregor der Große (um 540-604) mußten zugänglich gewesen sein, denn Bernhard hat viele ihrer Gedanken aufgenommen5°. Auch Origines (185-254), um einen weiteren Autor zu nennen, sei so gut wie vollständig vertreten gewesen. Man vermutet weiter, daß die Initiative zu dieser großzügigen Bibliothek von Bernhard ausgegangen sei61. Nach dem Fragment eines späteren Verzeichnisses standen den Mönchen in Clair­ vaux Ende des 12. Jahrhunderts 350 Bände zur Verfügung, die liturgischen Bücher nicht mitgezählt62.
Jean Leclercq hat darauf hingewiesen, daß Bernhard sich stark von liturgischen Texten beeinflussen ließ. Wenn er also die Bibel zitierte, so stützte er sich auf das, was er oft im Gottesdienst gehört hatte und im Gedächtnis präsent war63. Es war gewissermaßen ein Wiederkäuen der Psalmen (iucunda ruminatio psalmodiae), wie er sich selbst einmal dazu geäußert hat64. In seiner Predigt auf den ersten Sonntag im November zitierte er zum Beispiel eine Stelle aus dem Buch Jesaja (Is 6, 3) nicht nach der Formulierung der Vulgata (plena est omnis terra gloria eius), sondern nach einem Responsorium im Zisterzienserbrevier: PLENA ERAT, ait
contemplator noster de eo, quem super solium viderat, MAIESTATE EIUS OMNIS TERRA.65 In den Predigten zum Hohelied finden wir dasselbe Phänomen. Die Bibelstelle Hab 3, 3 taucht in der Textform des O ziums
von Kar eitag auf66•
Es stellt sich die Frage, ob die auf diese Weise inspirierten Schriftzi-
60 Vacandard, wie Anm. 19, Band 1, 543.
61 Erich Kleineid , Wissen, Wissenschaft, Theologie bei Bernhard von Clairvaux. In: Joseph Lortz (Hg.), Bernhard von Clairv ux. Internationaler Bernhardkongreß. Wiesbaden 1955, 128-167, hier 131. Vgl. auch: A. Wilmart, L’ancienne bibliotheque de Clairvaux. In: Col!Cist 11 (1949) 7-127, 301-319; A. Vernet, La bibliotbeque de l’abbaye de Clairvaux du Xlle au XVIIIe siecles. Paris 1979.
62 BC, 555.
63 „La memoire liturgique de Bernard et de son entorauge a joue un röle dans Ia redaction des epitres aussi bien que dans celle des autres ouvrages“ (Leclercq, wie Anm. 54, 211).
64 PP 2, 2, SBO, Band 5, 192.
65 I Nov 2, 1, SBO, Band 5, 307. Vgl. den Hinweis Leclercqs im Anmerkungsapparat an dieser Stelle.
66 SC 6,3, SBO, Band 1, 27 und SC 71,14, SBO, Band 2, 224. Vgl. Jean Leclercq,
70

tate von der Liturgie des entsprechenden Tages abhingen oder auch von Texten, die zeitlich weiter zurücklagen. Dagmar Heller hat belegt, daß der Zusammenhang nicht so direkt ist, wie man zunächst annehmen würde. Die Schriftzitate in den Sermones per annum61, in denen eine solche Ver­ bindung am ehesten zu vermuten wäre, kommen selten aus den jeweiligen Tageslesungen, Responsorien oder Antiphonen. Sie entstammen in der Regel kirchenjahreszeitlich weiter zurückliegenden liturgischen Texten58. Dennoch kann ein gewisser Ei uß nicht ganz ausgeschlossen werden. Es fällt nämlich auf, daß in der dritten Predigt Bernhards zur Weihnachtsvigil Is 26, 19 zu Beginn im Zusammenhang mit Ex 16, 16 zitiert wird69 . Diese beiden Verse tauchen als Versikel in der Liturgie dieses O ziums nach der gregorianischen Liturgie auf1°. Auch die erste Hoheliedpredigt, die in der Adventszeit gehalten wurde71, ist ein solcher Beleg: Gegen Ende des ersten Abschnitts wird ein Stück aus Ps 44,3 zitiert: gratia di usa in labiis tuis72, ein Vers, der an Weihnachten als Antiphon dient73. Wir sehen, daß der liturgische Einfluß auf Bernhard sehr weit gedacht werden muß. Er konnte sich anscheinend auf ein außerordentlich gutes Gedächtnis verl sen, vor allem bezüglich biblischer Verse. Sein Erinnerungsvermögen erlaubte es ihm, auf „assoziative Weise konkordanzartig zu bestimmten Bi­ belstellen jeweils weitere Verse aus ganz anderen Kontexten“ hinzuzufügen, wie Dagmar Heller festgestellt hat. Diese Fähigkeit ist weitgehend auf das liturgische Leben zurückzuführen, in welchem die Texte immer wieder wie­ derholt wurden, und zwar auf musikalische Weise, w für d menschliche Ohrvieleinprägsamerist74. SchließlichdarfaberimHinblickaufdieKo –
Recueil d’etudes sur Saint Bernard et ses ecrits I (Storia e letteratura 92) Rom 1962, 305.
67 SBO, Band 4, 161-492.
68 Heller, wie Anm. 28, 121.
69VNat3,1,SBO,Band4,211 f.
70 Sancti Gregorii magni, Liber Responsalis sive Antiphonarius, PL 78, Sp. 733.
71 SC 2, 1, SBO, Band 1, 8: Ecce enim quam multi in hac eiu&, quae pro ime celebranda e&t, nativitate gaudebunt!
72 a.a. 0. 9.
73 Heller, wie Anm. 28, 122.
74 a.a.O.
71
bination von Schriftzitaten nicht übersehen werden, daß solche oft bereits in der Tradition vorgegeben waren75.
Generell ist anzumerken, daß die Gedächtnisleistungen mittelalter­ licher Gelehrter phänomenal waren76. Die memoria, die Leistung des Gedächtnisses, wurde unermüdlich als wichtig unterstrichen. Auf Jahr­ marktsvorführungen sollen sich sogar Männer und Frauen in ihrer Gedächt­ niskraft gemessen haben77. Die im Vergleich zu heute fehlenden Aufzeich­ nungsmittel und Speichermöglichkeiten zwangen jene, die geistig tätig wa­ ren, große Mengen an Fakten, Zusammenhängen und Texten zu memorie­
ren. Als Bernhard beispielsweise in langen Gesprächen mit Wilhelm von St. Thierry über die Auslegung des Hohelieds diskutierte, prägte sich Wil­ helm alles so gut wie möglich ein. Erst nachträglich verfaßte er schriftliche Aufzeichnungen, damit ihm nichts entschwände: . . . ne mihi e ugerent, scripto a igabam, in quantum mihi Deus donabat, et memoria me juva­
bat.78
Ein gutes Gedächtnis war auch für Ansprachen unentbehrlich. Poli­ tiker unserer Tage bekommen ihren Text auf eine kleine, für das (Fern­ seh-)Publikum nicht sichtbare Glasscheibe projiziert. Solcher Hil mittel konnten sich die Prediger im Mittelalter nicht bedienen. Erschwerend kam hinzu, daß die Predigten auf Latein gehalten wurden und die Länge des heute üblichen bei weitem sprengten.
Ich habe bisher vor lem den Einfluß biblischer und liturgischer Texte auf die schriftlich vorliegenden Predigten Bernhards aufgezeigt. Wie hat man sich aber die Entstehung seiner mündlich gehaltenen Predigten vorzu­ stellen? Erschien er mit einem fertig ausformulierten Text zur Predigt im Kapitelsaal? Bestieg er, wenn er auf seinen Reisen in auswärtigen Kirchen predigte, mit einem vorbereiteten Manuskript die Kanzel? Oder hielt er seine Ansprachen aus dem Stegreif? – Ei ges spricht dafür, daß sich der Abt intensiv vorbereitet hat. Teilweise verwendete er ganze Nächte zur Vorbereitung. Denn einmal rief er aus, die ganze Nacht lang habe sein
75 a.a.0. 124.
76 Bruno Roy – Paul Zumthor (Hg.), Jeux de memoire: Aspects de Ia mnemotechnique medievale. Montreal/Paris 1985.
77 Miethke, wie Anm. 40, 33 f.
78 Vita Prima, lib. 1, c. 7, PL 185, Sp. 259.
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Herz geglüht und in der Meditation ein Feuer gebrannt, um den Brüdern ihre geistlichen Speisen zu kochen79.
In der Hoheliedpredigt sprach Bernhard einmal über etwas, das nicht im Entwurf stand, wie er andeutete80, oder er bot eine weitere Erklärung an, die ihm gerade ein el81 . Man darf also annehmen, daß er sehr wohl auf Grund von Vorlagen predigte, die vermutlich je nach Bedarf ganz knapp oder auch etwas ausführlicher sein konnten. Man erkennt in diesen Hin­ weisen aber auch, daß er die Entwürfe nicht einfach ablas82. Im Gegen­ teil. Er hatte sie normalerweise im Kopf und erschien ohne irgendwelche Schriftstücke zur Predigt83• Diesen Schluß legt der Verlauf des Rededuells zwischen Bernhard und Abaelard auf dem Konzil von Sens im Jahre 1 1 40 nahe. Die Vita Prima berichtet, daß zuerst Bernhard die Irrtümer in den Schriften des Dialektikers dargelegt und ihn aufgefordert habe, entweder deren Urheberschaft zu verleugnen, seine Fehler zu verbessern oder sogleich Rede und Antwort zu stehen. Doch Abaelard habe keinen Ton herausge­ bracht, sich der Herausforderung nicht gestellt und an Rom appelliert. Wie er später seinen Leuten gestanden haben soll, sei in jenem entscheidenden Moment sein Verstand verdunkelt und sein Gedächtnis verwirrt gewesen:
… maxima quidem ex parte memoria ejus turbata fuerit …84• Gewiß ist die zitierte Quelle tendenziös. Vielleicht war es so, daß sich Abaelard unrechtmäßig in die Rolle des Angeklagten gedrängt fühlte, ein solches Tribunal nicht anerkennen wollte und deshalb, ohne zu reden, Berufung beim Papst einlegte85• Dennoch läßt sich schließen, daß man an solchen Anlässen, ohne schriftliche Vorlage, frei aus dem Gedächtnis redete. Hätte Abaelard eine Gedächtnisstütze gehabt, wäre ihm dieser Lapsus nicht un­ terlaufen. Auch wenn wir die Vita Prima in einigen Ausführungen anz­ weifeln, können wir den gleichen Schluß ziehen. Ihre Verfasser hätten eine
79 OS 1, 3, SBO, Band 5, 329.
80 SC 9, 7, SBO, Band 1, 47.
81 a. a. 0. Band 2, 222.
82 Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik 1. München 1990, 252.
83 Dies ist das Vorgehen, wie die antike Rhetorik es emp ehlt. Die großen Redner der Griechen und Römer p egten ihren Text vorausgehend schriftli zu xieren und dann auswendig vorzutragen. Vgl. Josef Martin, Antike Rhetorik (Handbuch der Altertums­ wissenschaft Il/3} München 1974, 347 .
84 Vita Prima, lib. 3, c. 5, PL 185, Sp. 311.
85 Vgl. zu den Vorfällen in Sens auch Vacandard, wie Anm. 19, Band 2, 161.
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solche Gedächtnisschwäche gar nicht als Erklärungsmöglichkeit in Betracht gezogen, wenn man üblicherweise mit einem Manuskript erschienen wäre. Sofern schriftliche Entwürfe überhaupt erstellt wurden, dienten sie folglich allein zur Vorbereitung, gewissermaßen s mnemotechnische Esels­ brücke. Etwas, das man schriftlich vor sich hat, läßt sich besser im Ge­ dächtnis einprägen. Darüber war man sich damals im klaren. Was Bern­ hard auswendig vortrug, überforderte nicht selten das Au ahmevermögen der Brüder in Clairvaux. Er empfahl ihnen also, was dem Gedächtnis entfallen sei, nachzulesen86. Ähnlich stellte man den Studenten mittelal­
terlicher Universitäten den in quaestio und lectio mündlich vorgetragenen Sto auch schriftlich zur Verfügung – im klaren Bewußtsein, daß so das Gehörte besser behalten werden konnte87.
DER VORTEIL VON „FACE-TO-FACE COMMUNICATION“
Bernhard von Clairvaux war sich sehr wohl bewußt, daß die unmittelbare Rede vor dem zuhörenden und zusehenden Publikum oder im direkten Kontakt mit Personen am wirksamsten war. Im Jargon der Kommuni­ kationswissenschaft spricht man von „face-to-face communication“ oder zu Deutsch von „interpersonaler Kommunikation“. Bevor ich mit Quel­ len belege, daß Bernhard wann immer möglich �ese Kommunikationsform wählte, möchte ich kurz einige grundsätzliche Uberlegungen dazu wieder­ geben: Josef Benzinger, dem wir meines Wissens die Einführung des Ko ­ munikationsbegri s in der Mediävistik verdanken88, behauptet, die Rede sei für den mittel terlichen Menschen das glaubwürdigste, weil unmittel­ barste publizistische Medium gewesen. Dieser Tatsache habe man soweit wie möglich Rechnung getragen und mühevolle Reisen auf sich genom­ men, um persönlich am Ort der Handlung anwesend zu sein. Viele Päpste hätten so gehandelt1• im Bewußtsein des Wertes einer unmittelbaren Ein­ ußnahme. Welche Uberzeugungskraft die bloße Anwesenheit besaß, zeige auch die Beobachtung, daß Abwesenheit bei Rechtsstreitigkeiten bereits als Schuldindiz gewertet wurde. Man könne sagen, daß die Glaubwürdigkeit einer Sache mit der Anwesenheit ihres Vertreters stand und el89 . Im fol-
86 SC, SBO, B d 2, 102.
87 Miethke, wie Anm. 40, 25.
88 JosefBenzinger, Zum Wesen und zu den Formen von Kommuni tion und Publizistik im Mittelalter. In: Publizistik 15 (1970) 295-318.
89 a. a. 0. 310.
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genden soll diese These anhand der Briefe Bernhards überprüft werden. Finden sich Stellen, die Benzinger Recht geben? Oder schätzte Bernhard, als großer Briefsteller, die Möglichkeiten schriftlichen Austausches ähnlich hoch ein wie ein persönliches Aufeinandertre en?
Bernhard war sich der Nachteile brie icher Kommunikation sehr wohl bewußt. Wir finden unzählige Stellen in seinen Briefen, wo er durchblicken läßt, daß seine Briefe weniger wirksam sind als eine direkte Begegnung.
Quid opus est verbis? meinte er einmal, als es mit Thomas, dem Probst von Beverley bei Yorkshire, etw zu klären galt. Thomas hatte sich den Zisterziensern versprochen, zögerte aber, seine Zusage zu erfüllen. Bern­ hard verlangte, ihn zu sehen. Fervens spiritus et vehemens desiderium aperiri sola lingua non su cit. Er brauche seine Gegenwart, damit sie sich gegenseitig besser verstünden90.
Man mag einwenden, daß dieser Beleg von einem Brief Bernhards stammt, der gewiß auch toposartige Elemente enthält. War es vielleicht nur Ausdruck von Hö ichkeit, daß er so oft bedauerte, nicht persönlich mit seinen Briefpartnern sprechen zu können? Handelt es sich um eine leere Redensart, einen literarischen Topos? – Ich glaube nicht, denn in sehr vielen Briefen fehlt dieses Motiv91. Es wurde gewiß bewußt verwendet. Dafür spricht auch die Tatsache, daß es in sehr verschiedenen Formulie­ rungen auftaucht. Betrachten wir dazu Epistel 4 an Arnold, den ersten Abt der Zisterzienserabtei von Morimond. Bernhard versuchte eindring­ lich, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, mit einer Schar Mönche ins Heilige Land zu pilgern. Wenn er wüßte, wo er zu finden sei, würde er ihm persönlich folgen und mit ihm reden wollen: . . . e ecturus fortasse per meipsum quod nullis litteris possum92. Man fragt sich sogleich, wie Bernhard an jemanden einen Brief richten kann, dessen Standort ihm un­ bekannt ist. Vermutlich gab er das Schreiben an den Boten Arnolds weiter, der in Clairvaux auf den Abt von Citeaux wartete93 und wissen mußte, wo
90 Ep. 107, SBO, Band 7, 267. Über einen ähnlichen F siehe: Ep. 82, SBO, Band 7, 214.
91 Das Element fehlt zum Beispiel in einem Brief an einen der engsten Freunde Bern­ hards, an Malachias (gest. 1148), den iris en Erzbischof von Armagh. Das Schreiben ist sonst in sehr persönli em Ton gehalten (Ep. 341, SBO, Band 8, 282-283).
92 Ep. 4, SBO, Band 7, 25.
93 Primo scire te volo domnum Ciste iensem, necdum quando tuus nuntius ad nos venit, de Flandria, quo paulo ante per nos t nsierat, remeasse, et ob hoc nec litteras
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sein Auftraggeber weilte. Doch zurück zum Thema: Käme es zu einem direkten Gespräch, erklärte Bernhard, so würde er dem leichtfertigen Abt die Meinung ohne Rücksicht ins Gesicht sagen. Nicht bloß mit Worten, auch mit Miene und Blick würde er ihm entgegenschleudern, was er vor­ zubringen habe: Quanta quae me movent adversum te, frustra nescio an fructuose, iacerem tibi in faciem, non solum verbis, sed et vultu et oculis. Und er zählte weitere Möglichkeiten einer persönlichen Begegnung auf: Er würde sich vor ihm niederwerfen, seine Füße umf sen, die Knie umfangen, sich an seinen Hals hängen, sein Haupt küssen, er könnte weinen, bitten und ihn an ehen94. Im einzelnen mag das übertrieben sein, aber es war bestimmt nicht außergewöhnlich, daß man sich bei Begegnungen anfaßte und der Körper mehr einbezogen wurde als heute. Brie iche Kommu­ nikation umschrieb Bernhard denn auch gerne mit absente co ore95 als ihr wesentliches Merkmal, und er kennzeichnete damit auch ihren wich­ tigsten Nachteil. Zweifels ei geht aus mehreren Passagen hervor, daß
Be hard die Möglichkeiten der Überzeugung durch direkten Augen- und Körperkontakt sehr hoch einschätzte. Jene, die Bernhard kannten, wußten um die Wirksamkeit seines Auftretens bei persönlichen Begegnungen96. Aber auch Bernhard selbst muß sich seiner Wirkung bewußt gewesen sein. Das ersehen wir aus einem Brief an den Mönch Adam, der zu der Gruppe abtrünniger Mönche um den oben genannten Arnold gehörte und auch den Weg nach Jerusalem in Angri genommen hatte. Bernhard forderte ihn auf, nirgends hinzugehen ohne ihn vorher persönlich aufzusuchen und mit ihm zu sprechen97• Der Abt von Clairvaux vertraute darauf, ihm anläßlich
accepi&&e, qua& ei iu&&i&ti prae&entari, et adhuc e&&e tantae a te prae&umptae novitati& ignarum (Ep. 4, SBO, Band 7, 24).
94 a.a.0. 25. Den Gedanken, daß Bernhard nicht nur aufgrund seiner Worte, son­ dern auch wegen seiner Mimik und Gestik zu überzeugen wußte, hat übrigens jüngst auch Jean Leclercq aufgenommen: Jean Lecl cq, S. Be ard et les debuts de !’ordre cistercien. In: Studia monastica 34 (1992) 63-78, besonders 68.
95 Ep. 186, SBO, Band 8, 8.
96 A old, der einst in Citeaux Bekanntschaft mit Bernhard geschlossen hatte, ging einer Begegnung mit ihm natürli aus dem Weg. Bruno Scott James schreibt in seinem Kommentar: „As Bernard knew the headstrong character of Arnold, so Arnold must have been fully aware of the persuasiveness of Bernard for, unwilling to be turned from his purpose, he was careful to keep out of Be ard’s way“ (The letters of St. Bernard of Clairvaux, hg. Bruno Scott James. Chicago 1953, 20).
97 Ep. 5, SBO, Band 7, 29.
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eines direkten Gesprächs derart ins Gewissen reden zu können, daß er von seinem Vorhaben ablassen würde.
In einem 1152 entstandenen Brief98 an Eskil (gest. 1181), den Erzbi­ schof von Lund, äußerte Bernhard den innigen Wunsch, sich mit gespro­ chenem anstatt mit geschriebenem Wort an ihn zu wenden. Die Zunge vermöge mehr auszudrücken als ein Brief. Mit eindringlichen Formu­ lierungen erklärte Bernhard, die Augen eines Sprechenden erst würden Glaubwürdigkeit verleihen; das Gesicht zeige Gefühle besser als die Schrift:
Utinam mihi datum esset desuper haec dicere, non dictare, ut me potius loquens quam scribens aperire valerem. Pro certo acceptior es­ set sermo vivus quam scriptus, e cacior lingua quam littera. Oculi quippe loquentis dem facerent dictis, et melius a ectum vultus ex­ primeret quam digitus. Sed quia illud absens per me non possum, per litteras, quae secundum in huiusmodi locum obtinent, satisfacio quantum possum.99
In allen Fällen zeigt sich klar, daß Bernhard das direkte Gespräch und das, was wir heute als „Gestik“ bezeichnen, als die besten Möglichkeiten ansah sich zu ö nen und mitzuteilen. Demgegenüber sei schriftlicher Aus­ tausch nur eine zweitrangige Variante. Als weitere Vorteile einer direkten Begegnung erwähnte Bernhard, man erfahre die Wahrheit auf diesem Weg am ehesten100, man brauche nicht lange zu überlegen, sorgsam darzulegen und aufzuschreiben, wie es ein Brief erfordere. Selbst wenn die Redenden beisammen seien, sei es nicht immer leicht auszudrücken, was man sagen wolle101• Erst recht nicht einfach ist es, so könnte man den Gedanken zu Ende führen, wenn man fern voneinander ist und zum umständlichen Verständigungsmittel eines Briefs greifen muß.
Was Josef Benzinger formuliert, bestätigt sich also am Beispiel Bern­ hards von Clairvaux. Nach seinem Verständnis sind die Möglichkeiten ei­ ner direkten Begegnung vielfältiger als jene schriftlicher Kommunikation:
98 Ep. 390, SBO, Band 8, 358.
99 Ep. 390, SBO, Band 8, 359.
100 Ep. 82, SBO, Band 7, 214.
101 Eaque ip&a tanto occu tior, quanto la rio&ior, dum non quidem prae&ente& alte· rutrum leviter dicere valemu& quae volumw, &ed ab&entibu& neceue e&t nobiJ invicem diligenter dictare quae vel petimu& ab invicem, vel petimur. Dum vero ab&en& cogito, dictito, &criptito, mittoque qu prae&en& lega&, rogo ubi otium, ubi &ilentii quie&? (Ep. 89, SBO, Band 7, 235).
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Gesichtsausdruck, Augen- und Körperkontakt vermittelten viel besser, was gemeint sei. Durch diese Mittel zeige sich die Wahrheit oder Aufrichtigkeit einer Person am ehesten. Was man sagen wolle, lasse sich rascher und bes­ ser ausdrücken. Außerdem wirkten das Erlebnis eines persönlichen Aufein­ andertre ens an und für sich und die Autorität einer Person verstärkend.
LATEIN, VOLKSSPRACHE UND GERÜCHTE
In der Umgebung von Clairvaux sprach man zur Zeit Bernhards sehr un­ terschiedliche Dialekte des Französischen. In einem Brief an die Benedikti­ nerabtei Saint-Germer de Flay in der Diözese von Beauvais schrieb er, sie seien durch verschiedene Sprachen getrennt: … diversis provinciis, et dis­ similibus linguis ab invicem distamus …102• Damit ist zweifellos gemeint, daßinderUmgebungvonFlayeineandereMundartgesprochenwurde. Im Kloster zu Clairvaux sprach man den Burgundischen Dialekt, vor allem die Konversen, die kein Latein konnten. Im Umgang mit den Laienbrüdern, wenn Bernhard sie bei der Arbeit besuchte, aber auch wenn er in benach­ barten Dörfern predigte, war die Volkssprache unumgänglich. Nach den
Consuetudines der Zisterzienser war den Konversen an allen Sonntagen und an einigen Feiertagen zu predigen. Der Abt verwendete in diesen Pre­ digten ihre Mundart, die einzige Sprache, die sie verstanden103. Aus der Tatsache, daß ausschließlich lateinische Ansprachen Bernhards schriftlich überliefert sind, ist keinesfalls zu schließen, er hätte nie auf anzösisch gepredigt1 04 .
Die Kreuzpredigten in Deutschland hielt Bernhard auf Latein105, ver­ mutlich auch diejenigen in ankreich. In Deutschland wirkten Dolmet­ scher mit106 . Es ist anzunehmen, daß Bernhards gesprochenes Latein recht
102 Ep. 67, SBO, Band 7, 164.
103 Bei Vacandard – in der Übersetzung von Matthi Sierp – heißt es: „Bernard mußte
sich also ihrer Schwäche anbequemen und in der platten Volkssprache zu ihnen reden“ (Vacandard, wie Anm. 19, Band 1, 540).
104 Jean Leclercq, Pour l’etude des sermons fran�ais de S. Bernard. In: ders., Recueil d’etudes de Saint Bernard et ses ecrits II, 253-260.
105 Vacandard, wie Anm. 19, Band 1, 557. Williams schließt nicht aus, daß der Abt einige Brocken Deutsch hinzuzu gen verstand (Williams, wie Anm. 17, 273).
106 W rend der Kreuzpredigtreise im deutschsprachigen Raum stand Be hard win, der Zisterzienserabt von Salem, als Dolmetscher zur Verfügung. Vgl. Anm. 14.
78
einfach aufgebaut war107, völlig anders seine geschriebenen Texte, die einer rigorosen Grammatik gehorchen. Das ist durchaus plausibel, weil Be hard stets bemüht sein mußte, sich seinem Publikum anzupassen. D einfache Volk vermochte Latein kaum zu verstehen, geschweige denn zu sprechen.
Mündliche Kommunikation ist nicht bloß als begrenzter, auf die Zahl der gerade anwesenden Zuhörer ausgerichteter Vorgang aufzuf sen. Als Gerücht gewährleistete sie im Mittelalter einen vergleichsweise raschen und weiträumigen lnformationsaustausch. Wie anders sollte sich die Kunde etwa vom Au uf zu einem Kreuzzug bis in die entlegensten Winkel ver­ breiten? Die Mobilisierungserfolge der Kreuzzugsbewegung lassen darauf schließen, daß die Gerüchte vom Aufbruch zur bewa neten Pilgerfahrt auch dorthin gelangten, wo kein Prediger und kein brieflicher Appell hin­ kamen. Es bedurfte o enbar einer Initialzündung, zum Beispiel einer feu­ rigen Kreuzzugspredigt Bernhards von Clairvaux, die sich vielleicht einige tausend Christen anhörten. Dann verbreitete sich der Au uf wie ein Lauf­ feuer. Diejenigen, die dabei waren, erzählten es den Daheimgebliebenen. Diese wiederum schwatzten vielleicht mit den Nachbarn darüber. Ein jeder teilte es andern mit. So war eine sehr rasche Vervielfachung einer Botschaft möglich. Dieses Prinzip hat bereits der Benediktiner Guibert von Nogent (1064-1125) in seiner zwischen 1104 und 1108 verfaßten Geschichte des Ersten Kreuzzugs erkannt und wie folgt beschrieben:
Non e t ecc/esiasticae cuiquam personae necesarium ut ad excitandos pro hoc ipso populos in ecc/esiis dec/amaret, quum alter alteri non minus monitis quam exemplo domiforisque profectionis vota c/amaret. Ardebant studia singulorum . ..108•
In einer späteren Ph e verfaßten Dichter Kreuzlieder und elegische Klagen über die Bedrohung von Jerusalem – in Latein und in den Volkssprachen – und stachelten die Menschen damit weiter an109•
D von Guibert von Nogent geschilderte Prinzip spielte genauso bei den Kreuzpredigten Be hards eine wichtige Rolle. Als an Weihnachten 1146 der deutsche König Konrad III., vom Abt von Clairvaux beeinfiußt,
107 Jean Leclercq, Les Sermons sur les Cantiques ont-ils ete prononces? In: ders., Recueil d’etudes sur Saint Bernard et ses ecrits I, 193-212, besonders 204-206.
108 Guibert von Nogent, Gesta Dei per ancos, lib. 1, RHC, Occ. Band 4, 124.
109 Hans Eberhard Mayer, Geschichte der Kreuzzüge, 6. überarbeitete Au age (Urban­ Taschenbücher 86) Stuttgart 1985, 127.
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d Kreuz nahm, verbreitete sich die Kunde davon wie ein Lau euer – oder wie die Begleiter Bernhards es mit einem tre enden Wort aus den Psalmen (Ps 147,15) ausdrückten: cucu it velociter sermo vivus et e ­ cax110. Daß es sich hier bloß um einen literarischen Topos handelt, ist unwahrscheinlich111• Die Menge derer, die den Vorfall durch mündliche Weitererzählung vernahmen, war gewiß viel größer als die Zahl unmittel­ barer Augenzeugen. Gewiß wurden gelegentlich schriftliche Aufzeichnun­ gen solcher Vorf e verbreitet. Man denke an den Liber miraculorum112, der Briefe an die verschiedensten Adressaten enthält, mit denen gezielt die Wunderzeichen Bernhards bekannt gemacht wurden. Ansonsten waren Gerüchte vorherrschend. Kommunikation auf diesem Weg ist natürlich in hohem Maß Verfälschungen ausgesetzt. Mit jeder weiteren Vervielfachung wird der ursprüngliche Inhalt immer mehr entstellt und durch individuelle Vorurteile, die mit jedem Weitererzählen ein eßen, getrübt113. Dessen war man sich schon damals bewußt und versuchte, diese E ekte durch
schriftliche Fixierung einzudämmen114.
SYMBOLE, GESTEN UND KÖRPERSPRACHE
Es ist ein Gemeinplatz, daß auch im Mittelalter symbolträchtige Worte, Bilder, Gesten, Zeichen und Objekte eine große Rolle spielten. Das gilt für d Alltagsleben genauso wie für Feste, im Gottesdienst, aber auch wenn es um die Legitimation von Herrschaft ging. Der Grund dafür liegt darin, daß im Mittelalter Schriftlichkeit weit weniger verbreitet war
110 Liber miraculorm, c. 4, PL 185, Sp. 381.
111 Mir scheint dieses Psalmzitat sehr bewußt gewählt. Denn derselbe Vorgang, das r che Ausbreiten eines Gerüchts, nden wir an andern Stellen mit ganz anderen For­ mulierungen ausgedrückt (vgl. zum Beispiel: Vita Prima, lib. 2, c. 2, PL 185, Sp. 275 und c. 3, Sp. 277).
112 Der Text des Liber miracu/orum ist im üchtigen Stil täglicher Protokolle von Anhäng Bernhards verlaßt, die ihn begleiteten und eilfertig auf einer Jchedula no­ tierten, was sie an übernatürlichen Zeichen zu sehen glaubten. Zur Kritik der Quelle vgl. Anm. 18.
113 Ralph L. Rosnow – Gary Alan Fine, Rumour and Gossip. New York 1976; Anitra Karsten (Hg.), Vorurteil, Ergebnisse psychologischer und sozialpsychologischer For­ schung (Wege der Forschung 401) Darmstadt 1978.
1 14 Propterea qui praeJenteJ fuimuJ, dignum duzimuJ annotare ea vitandae gratia con­
fuJionil, et dubitationil abigendae“ (Liber miraculorum, c. 1 , PL 185, Sp. 373). 80

heute. Nur ein Teil der Kommunikation war durch direkten mündlichen oder schriftlichen Austausch möglich. Vor allem der Kontakt zwischen Elite und einfachem Volk, aber auch unter manchen Teilen der illiteraten Elite wurde durch Symbole bewerkstelligt. Janos M. Bak hat darauf hin­ gewiesen, daß es sich den meisten Fällen nicht bloß um eine „Verlegen­ heitslösung“ handelte. Das heißt, Symbolik wurde nicht angewandt, um Kommunikationsschwierigkeiten zu überwinden. Es ging vielmehr darum, durch Symbole ausgedehnte Sinngehalte zu verkürzen. Zum Beispiel wäre es weder durch geschriebene noch durch gesprochene Worte möglich ge­ wesen, das für die vielen Teilnehmer und Zuschauer verständlich aus­ zudrücken, was eine kirchliche Gemeindefahne mit dem Bild des heiligen Patrons, unter Umständen in Verbindung mit einem bildliehen Hinweis auf ein lokales Wunder oder eine Vision mitteilen konnte: heiligen Schutz, Hierarchie in der Gemeinde, geheiligte Stätten und Gemeinschaft115.
Auch der Erfolg mancher Kreuzzugspredigt hing mit der wirkungs­ vollen Verwendung von Symbolen zusammen. Als am 3 1 . März 1 1 46 in Vezelay für den Zug ins Heilige Land geworben wurde116, haben viele der Zuhörer das Kreuz zu empfangen begehrt, darunter der anzösische König Louis VII.117 Weil anscheinend die Kreuze, die man vorbereitet hatte, nicht ausreichten, sollen viele im Rausch des Gemeinschaftserleb­ nisses aus Gewändern Sto reuze geschnitten und sich an die Schulter geheftet haben118. Auf dem Reichstag von Speyer (Weihnachten 1146) habe sich der deutsche König Konrad 111., nachdem ihn die ammende Rede Bernhards überzeugt haben soll, eine solche Fahne durch den Zi­ sterzienserabt vom Altar reichen lassen: … vexillum ab altari per manum Patris suscepit, quod ipse in exercitu Domini manu propria deportaret.119 Die Kreuznahme wurde symbolisch als Nachfolge Christi verstanden, ge­ treu nach den Worten aus dem Lukasevangelium: qui non baiulat crucem suam et venit post me non potest meus esse discipulus (Lc 14, 27).
115 Janos M. Bak, Symbolik und Kommunikation im Mittelalter. In: Medium Aevum Quotidianum 20 {1990) 8.
116 Bernhards Präsenz in Vezelay ist nicht mit Sicherheit belegt (Leclercq, wie Anm. 6, 97).
117 Williams, wie Anm. 17, 265.
118 Vacandard, wie Anm. 19, Band 2, 296. Vgl. zu ähnlichen Vorfällen auch: Guibert von Nogent, wie Anm. 108, 140 und Mayer, wie Anm. 109, 14.
119 Liber miraculorum, c. 4, PL 185, Sp. 382.
81

Bernhard wußte sehr wohl um die Symbolkraft des Kreuzes in der mittelalterlichen Gesellschaft. Als er im Jahre 1135 in Mailand weilte, um die Stadt für Innozenz II. (gest. 1143) zu gewinnen, habe man ihm einige besessene Menschen gebracht und auf Heilung geho t. Der Abt soll ihnen beschwörend ein Kreuz entgegen gehalten haben und die Dämonen sollen den Leibern entwichen sein120. Der Abt habe d Wunder der Gläubigkeit des Volkes zugeschrieben, die Leute aber hätten die Heiligkeit des Abtes als Ursache betrachtet. Nachdem dieser eine weitere Heilung vollbracht haben soll, sei die Kunde davon in der ganzen Stadt verbreitet worden. Jeder sei hinzugelaufen und habe sich Heil von der bloßen Berührung des Abtes versprochen121.
Gestik, Gebärdensprache und körperliche Berührung waren im Mit­ telalter wichtige Kommunikationsmittel. Dies hat jüngst Jean-Claude Schmitt ausführlich belegt und die Bedeutung der Gestik neben der nur schwach entwickelten schriftlichen Kommunikation hervorgehoben. Mit Gestik meint er alle Bewegungen und Haltungen des Körpers122. Sie sei eine grundlegende und über nationalsprachliche Grenzen hinweg verständ­ liche Ausdrucksform des Menschen; Schmitt verwendet dafür ausdrücklich den Terminus „commu cation“ oder „communication gestuelle “ 1 2 3 . Er spricht vom Mittelalter einer „civilisation du geste“124. Das Problem dieses Ansatzes besteht allerding� darin, daß die schriftlichen Zeugnisse nur höchst selten Aufschlüsse darüber zulassen. Abgesehen von der Liturgie und der gut erforschten monastischen Zeichensprache der Zisterzienser125 zur Umgehung des Schweigegebots gilt dies besonders für Bernhard von Clairvaux und sein Umfeld.
Die wichtigste Quelle für die in der römischen Antike üblichen und im Mittelalter weiterlebenden Gesten der Hand ist die Institutio oratoria des Quintilian (1. Jh. n. Chr.), der die verschiedenen Hand- und Fingerhal­ tungen des Redners erläuterte. Abgesehen davon kennen wir die meisten
120 Vita Prima, lib. 2, c. 2, PL 185, Sp. 274. 121a.a.0. Sp. 275.
122 Jean-Claude Schmitt, La raison des Gestes dans l’Occident medieval. Paris 1990, 14.
123a.a.0. 19,26,362f.
124a.a.0. 357f.
125 Robert Barakat, The Cistercian Sign Language. A Study in Non-Verbal Commu­ nication (Cistercian Studies Series 11) Kalamazoo 1975.
82

Gesten nur von bildliehen Darstellungen. Meist genügt der Kontext, um die Bedeutung einer bestimmten Geste zu bestimmen. Die Verwendung der Gestik im Mittelalter war sehr vielfältig. Sie diente dazu, sowohl in­ nere als auch äußere Vorgänge zu verdeutlichen. Recht gebräuchlich waren zum Beispiel die Unterwerfungsgesten des Sich-Niederwerfens (Proskyne­ sis) und des Kniens mit ausgestreckten Händen oder die Huldigungsgeste des Stehens mit erhobener Hand (Akklamation)126. Weiter sind zu nen­ nen, Gesten die Trauer ausdrückten (Hand an der Wange und Neigen des Kopfes) oder Besitzergreifen (Berühren oder Ergreifen des Gegenstandes), aber auch Konsens (Handreichung), Unschuld (Uberkreuzen der Arme auf der Brust), Ablehnung (Erheben der Hände mit o enen Hand ächen) und Befehle (erhobener Zeige nger)127.
Gibt es in den Quellen Anhaltspunkte, daß Bernhard solche elemen­ tare Mittel der Verständigung eingesetzt hat? – Wenn er in fremdsprachi­ gen Gebieten unterwegs war, hat er sich sehr wohl elementarer Symbole und Gesten bedient: Nach einer Darstellung des berühmten Altenherger Bernhard-Zyklus führte er auf seiner Kreuzpredigtreise ein Kruzi x und eine Bulle mit dem Auftrag des Papstes mit sich. Wenn er Kranken begeg­ nete, so sprach er ihnen mit einer einfachen, allen verständlichen Handge­ ste seinen Segen aus:1 Zeige-, Mittel nger und Daumen ausgestreckt – als Ausdruck des Segens 28.
Ein schriftlicher Quellenbeleg für die Bedeutung von Körpersprache und Gestik im Umfeld Bernhards ist die Art und Weise, wie die Mönche von Clairvaux ihren Abt nach langer Abwesenheit begrüßten. Als Bern­ hard 1135 von seiner zweiten Italienreise heimkehrte, seien ihm einige Brüder bis nach Langres entgegengezogen. Ihre Huldigung drückten sie fol­ gendermaßen aus: Zuerst hätten sie sich vor ihm auf die Knie geworfen und sich schließend zum iedenskuß erhoben129. Das restliche Wegstück habe man gemeinsam zurückgelegt und sich angeregt unterhalten. So­ bald die Klosterpforte passiert wurde, galt es o enbar, die eude – einem
126 Josef Engemann, Geste. In: LexMA 4, Sp. 1411-1412.
127 Gernot Kocher, Gebärden und Gesten. In: LexMA 4, Sp. 1154.
128 Vgl. dazu Scheibe Nr. 43 des im 16. Jahrhundert entstandenen Altenherger Bern­ hard-Zyklus, die sich heute im Schnütgen-Museum in Köln be ndet (abgebildet in: Arno Pa rath, Bernhard von Clairvaux: Leben und Wirken, dargestellt in den Bilderzyklen von Altenberg bis Zwettl. Köln 1984, 156).
129…provoluti genibuJ, Jurguntad o3cula … (VitaPrima,lib.2,c.5,PL185,Sp.284).
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Mönch gemäß – möglichst geräuschlos zu zeigen: Die restlichen Brüder, die innerhalb des Klosters gewartet hätten, sollen Bernhard ohne jeden Au uhr begrüßt haben. Ihre eude hätten sie nicht mit lauten Worten und nicht mit Ausgelassenheit gezeigt. Der Ausdruck ihres Gesichtes, die Art sich zu gebärden und die Angemessenheit ihrer Worte seien Zeichen ihrer ohen Stimmung gewesen130.
Wie wichtig für die Menschen körperlicher Kontakt war, zeigt schließ­ lich das folgende Beispiel: Als Bernhard im Juni 1 135 Mailand besuchte, soll ihm die Bevölkerung in Scharen entgegengezogen sein. Ihre Verehrung hätten die Menschen ausgedrückt, indem sie sich vor ihm zu Boden warfen und seine Füße küßten. Verbale Kommunikation war gewiß nicht möglich, einerseits weil man nicht dieselbe Sprache redete, andererseits weil sich zu viele Menschen gleichzeitig um ihn drängten. Also waren die Mailänder schon oh, wenn sie den Abt nur sehen oder gar seine Stimme hören konnten(auchwennsiekeinWortverstanden): Omnespariterdelectantur
aspectu, felices se judicant qui possunt frui auditu. Einige sollen so weit gegangen sein, daß sie ihm Fetzen von den Kleidern rissen, um damit Kranke zu heilen131. W er berührte, hielten sie o ensichtlich für heilig.
Oft diente Gestik auch als behelfsmäßiges Verständigungsmittel, be­ sonderswennsichMenschenverschiedenerMuttersprachebegegneten. We­ gen der vergleichsweise geringen Mobilität im Mittelalter hatte man na­ türlich kaum die Gelegenheit konkret zu erfahren, daß die Menschen sehr verschiedene Sprachen gebrauchten132. So wurde wohl mancher Kreuz­ fahrer stutzig, als er vielleicht erstmals merkte, daß andere Christen eine emde, für ihn „barbarische“ Sprache gebrauchten. Guibert von Nogent beschrieb dies mit den Worten: Testor Deum me audisse nescio cujus bar­ barae gentis homines ad nostri portum maris appulsos, quorum sermo adeo habebatur incognitus … . Wo die Sprache als Kommunikationsmittel ver­ sagte, bediente man sich der Gebärden: . . . ut lingua vacante, digitorum su­ per digitos transversione Crucis signa praetenderent; hisque indiciis, quod
130 Vita Prima, a. a. 0.
131 a.a.0. lib. 2, c. 2, PL 185, Sp. 274.
132 Mehrsprachigkeit hatte in gewisser Weise einen negativen Anstrich. Immerhin ist sie ein oft wiederkehrendes, stereotypes Element der Schilderung von Besessenen. Wer von Dämonen gepeinigt wurde, redete wirr bald die eine, bald eine andere Sprache
(vgl. zum Beispiel: Vita Prima, lib. 2, c. 4, PL 185, Sp. 282; lib. 4, c. 4, PL 185, Sp. 336).
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nequibant vocibus, se dei causa pro cisei monstrarent.133 Das mit den Fingern geformte Kreuz war jedem Christen verständlich.
FAZIT
Um zu einer realistischen Einschätzung der Wirkung Bernhards als Red­ ner zu gelangen, muß man nicht nur die legendenhaften Berichte dazu hinter agen, sondern auch prüfen, welche seiner Aktivitäten ohne Wir­ kung blieben. Einige Widersprüche sind nicht zu übersehen: Er selbst stand in hohem Maß unter dem Einfluß anderer. Man muß bedenken, daß er oft auf Veranlassung von Freunden sowie weltlichen und geistlichen Au­ toritäten aktiv wurde. Als es 1130 darum ging, sich zwischen Innozenz II. und Anaklet II. zu entscheiden und einem drohenden Schisma entgegen­ zuwirken, war es der französische König Louis IV., der den Abt um Rat anging. Gegen Abaelard schritt er ein, weil ihn Wilhelm von St. Thierry über dessen vorgebliche Irrlehre informiert hatte134. Er machte sich 1145 nach Toulouse auf, um gegen die Katharer einzuschreiten, nachdem ihn der päpstliche Legat Alberic von Ostia dazu aufgefordert hatte135. Den Kreuzzug predigte er auf Geheiß Eugens III. Zu dieser Widersprüchlichkeit gehört auch, daß er in mancherlei Hinsicht erfolglos war. 1146/47 gelang es zwar mit seinen unermüdlichen Predigten, viele Christen für den Kreuz­ zug zu gewinnen, aber dessen konkrete Durchführung endete in einer Ka­ t trophe. Die Appelle des Zisterziensers, die Juden zu schonen, blieben weitgehend ungehört136. Der Plan, drei Jahre später das Kreuzzugsvorha­ ben neu zu beleben137, verlief im Sand. Alle Bemühungen, den römischen Aufstand unter Arnold von Brescia (gest. 1 154) gegen die päpstliche Macht einzudämmen, waren erfolglos: Weder sein direkt an die Römer gerichte-
133 Guibert von Nogent, wie Anm. 108, 125.
134 Edward Little, Bernard and Abelard at the Council of Sens 1140. In: M. Basil
Pennington (Hg.), Bernard of Clairvaux (Cistercian Studies Series 23) Washington 1973, 55-72.
135 Vita Prima, lib. 3, c. 6, PL 185, Sp. 313.
136 Adriaan H. Bredero, Studien zu den Kreuzzugsbriefen Bernhards von Clairvaux und seiner Reise nach Deutschland im Jahre 1146. In: MIÖG 66 {1958) 331-343, besonders 333.
137 Ep. 256, SBO, Band 8, 163-165.
85
ter Brief, noch sein Aufruf an Konrad 111.138, die päpstliche Autorität zu schützen, zeitigten eine Wirkung.
Bernhards Einfluß und Rednertalent kamen am stärksten durch die beispiellose Entfaltung seines Ordens zum Ausdruck. Sein Rang zeigte sich auch in vielen innerkirchlichen Angelegenheiten, auf manchen Konzilien und bei Bischofswahlen. Ihn darüber hi�aus zur maßgeblichen Figur seiner Zeit emporheben zu wollen, wäre eine Uberzeichnung.
138 Ep. 2 , SBO, B d 8, 134-136.
86
Krems 1992
MEDIUM AEVUM
QUOTIDIAN UM
27
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramer
Satz und Korrektur: Birgit Kar! und Gundi Tarcsay
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesells aft zur Erforschung der materi­ ellen Kultur des Mittelalters. Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich. – Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche Zustimmung jegli­ cher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7 STEPHAN J. TRAMER, Zum neuen ‚Gesicht‘ von „Medium
Aevum Quoti anum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
WOLFGANG SCHILD, Der griesgrimmige Löwe als Vor-Bild
desRichters …………………………………………….. 11
VERENA WINIWARTER, Landwirtschaftliche Kalender im
ühen Mittelalter. Überlegungen zum Fortleben antiken
Bildungsgutes und zu seinen Funktionszusammenhängen . . . . . . . . . 33
JÜRG ZULLIGER,BernhardvonClairvauxalsRedner …………. 56 KATHARINA SIMON-MUSCHEID, Kon iktkonstellationen im
Handwerkdes14.bis16.Jahrhunderts . …………………….. 87 KOMMUNIKATION ZWISCHEN ÜRIENT UND ÜKZIDENT.
ALLTAG UND SACHKULTUR
Kurzfassungen der Kongreßreferate
RALPH-JOHANNES LILIE, Die Handelsbeziehungen zwi­
schen Byzanz, den it ienischen Seestädten und der Levante vom10.JahrhundertbiszumAusgangderKreuzzüge ……….. 110
TELEMACHOS LOUNGHIS, Die byzantinischen Gesandten
als Vermittler materieller Kultur vom 4. bis ins 1 1 . Jahr-
hundert ……………………………………………….. 113
SOPHIA MENACHE, The Transmission of News in the Per- iodoftheGrusades ……………………………………… 116
NoRMAN A . DANIEL (t), Impediments to the Transmission
of the Cultural In uence of Islam to Western Europe in the
MiddleAges ……………………………………………. 119
ULRICH REBSTOCK, Angewandtes Rechnen in der islami- schenWeltunddessenEin üsseaufdasAbendland …………. 122
5

DAVID A. KING, Astronomical Instruments between East
andWest ………………………………………………. 125
ANDREW M . WAT S O N , The Imperfect Transmission of
Arab Agricultural Innovations into Christian Europe . . . . . . . . . . . . 131
WOLFGANG VON STROMER, Die Vorgeschichte der ürn-
berger Nadelwaldsaat von 1368 – iberisch-islamische Uber- lieferungantikerForstk tur ……………………………… 133
ULRICH HAARMANN, Wa en und Gesellschaft im spätmit- telalterlichen Ägypten ……………………………………
TAXIARCHIS G. KoLIAS, Wechselseitige Ein üsse zwischen OrientundOkzidentimBereichdesKriegswesens ……………
YEDIDA K . STILLMAN, The Medieval Islamic Vestimentary
System: EvolutionandConsolidation ……………………… 141
FRIEDRUN R. HAU, Die Chirurgie und ihre Instrumente in OrientundOkzidentvom10.bis16.Jahrhundert …………… 143
PETER DILG, Materia medica und therapeutische Praxis
um 1500. Zum Ein uß der arabischen Heilkunde auf den
europäischen Arzneischatz ……………………………….. 147
PETER HEINE, Rezeption der arabischen Kochkunst und GetränkeinEuropa …………………………………….. 150
HERBERT HUNGER, Griechische Buchproduktion in Italien
im 15. Jahrhundert. Voraussetzungenund Anfänge ………….. 152
KLAUS-PETER �ATSCHKE, Westliche Bergleute auf dem
Balkan und im Agäisraum im 14. und 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . 155
Rezensionen :
Stavroula Leontsini, Die Prostitution im ühen Byzanz
(Nikolaj Seriko ) ……………………………………….. 158 Dorothee Rippmann, Bauern und Städter (Albert Müller) 162
6
137
139
Vorwort
Das vorliegende Heft von Medium Aevum Quotidianumfolgt einerseits eta­ blierten Traditionen, andererseits wird versucht, in manchen Bereichen neue Maßstäbe zu setzen und Veränderungen zu initüeren. Der wohl au­ genfälligste Wandel ist das neue ‚Gesicht‘ der Zeitschrift, welches wir schon seit längerer Zeit zu verwirklichen gewünscht hatten. Einer glücklichen Verbindung zu dem für die Basler Denkmalpflege tätigen Graphiker Ste­ phan J. er haben wir es zu verdanken, daß eine unserer Ansicht nach sehr gelungene Visualisierung der Anliegen der Gesellschaft und damit auch der Zeitschrift Medium Aevum Quotidianum entstanden ist. Wir danken Herrn amer auch, daß er sich bereit erklärt hat, uns einige Ge­ danken zur Entstehung der Titelgraphik zu überlassen (S. 9 f.).
Ein größerer Teil des vorliegenden Heftes ist den Kurzfassungen der Referate gewidmet, welche anläßtich des von Medium Aevum Quotidianum gemeinsam mit dem Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veran­ stalteten Kongresses „Kommunikation zwischen Orient und Okzident. All­ tag uns Sachkultur“ (Krems, 6. bis 9. Oktober 1992) gehalten werden. Wir danken den Referenten für Ihre Bereitschaft, uns Abstracts zur Verfügung zu stellen.
Die vier, den Kurzfassungen der Referate vorausgehenden Beiträge sollen im besonderen zeigen, in welche unterschiedlichen Richtungen all­ tagsgeschichtliche Forschung zu sehen und zu gehen hat, wenn sie versu­ chen will, breite, interdisziplinäre Ansätze zu verwirklichen. Wenn auch keiner der Aufsätze dem folgt, was wir vielleicht eine typische alltagsge­ schichtliche Problematik nennen würden, so zeigen sie dennoch beispielhaft und in signi kanter Weise, wie vielschichtig Fragestellungen sein können, welche zumindest indirekt für die Erforschung von Alltag und Sachkultur des Mittelalters relevant sein können. Sie vermitteln, auf welch di eren­ zierte Weise an diese agen herangegangen werden kann, und damit auch die Verschiedenartigkeit der Methoden, deren Anwendung in jedem Fall zu wichtigen neuen Erkenntnissen zu führen imstande ist.
Die Mitglieder unserer Gesellschaft werden vielleicht mit einiger Über­ raschung den Erhalt des Heftes 26 von Medium Aevum Quotidianum zur
7
Kenntnis genommen haben, eines Bandes, den wir bis dato auch noch nicht in unseren Vorausschauen angekündigt hatten. Der schnelle Ent­ schluß, dieses Heft in unserer Reihe aufzunehmen, ergab sich einerseits daraus, daß von Manfred Thaller, dem Herausgeber der Halbgrauen Reihe zur Historischen Fachinformatik, ein diesbezügliches Angebot vorlag. An­ dererseits zeigt gerade die jüngere Entwicklung mancher Tendenzen in der Mediävistik, daß dem Bild als Quelle und seiner adäquaten Analyse in vie­ ler Richtung immer stärkere Bedeutung zugemessen wird. Gleichzeitig ist die Weiterentwicklung von Methoden der digitalen Bildverarbeitung und ihre verstärkte Anwendung in den historischen Wissenschaften – nicht nur in der Kunstgeschichte – ein international an vielen Orten zu erkennendes Phänomen, an dem gerade auch eine Alltagsgeschichte des Mittelalters, welche der Interpretation von bildlieber Überlieferung starkes Augenmerk zuwendet, nicht vorübergehen kann. Wir hielten es deshalb für legitim, den Band aufzunehmen, auch wenn er sich nur peripher mit konkreter Anwendung der neuen Methoden auf alltagsgeschichtliche Analyse ausein­
andersetzt.
Auf Grund dieses Einschubes hat sich der bereits angekündigte Er­ scheinungstermin des Sonderbandes 2 von Medium Aevum Quotidianum etwas verschoben. „The Politics of Cruelty in the Ancient and Medieval World“ wird daher voraussichtlich erst im Laufe des Novembers erscheinen und zum Versand gelangen.
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Gerhard Jaritz
Zum neuen ‚Gesicht‘ von „Medium Aevum Quotidianum“
STEPHAN J. TRAMER, BASEL
Ich bin vom Herausgeber gebeten worden, einige Gedanken zu meinem Entwurf des neuen Titelblattes der Zeitschrift „Medium Aevum Quotidia­ num“ zu äußern. Ich ging davon aus, bloß eine ungefähre Ahnung darüber zu haben, w die Realienkunde des Mittelalters genau bedeuten könnte. Wie soll ich ihr also ein passendes ‚Gesicht‘ zuweisen?
Da ich zeitweilig in der Bauforschung der Basler Denkmalp ege tätig bin, stellte ich mir vor, daß die Realienkunde dort beginnt, wo unsere Hausforschung etwa au ört. Es sind Verknüpfungen von Fakten und de­ ren Interpretationsversuch e . Wo aber hört die strenge Wissenschaft auf und wo beginnen die subjektiven, zeitbedingten Fahrlässigkeiten der phan­ tasiereichen Modi kationsprozesse? Wir untersuchen alte Häuser und ihre Einzelteile, wie Gebälksysteme, die Wachstumsschübe und ihre jeweiligen Mauercharaktere. Wir analysieren und sortieren. Was wir immer besser zu kennen glauben, sind aber oft zu vereinbarten Begri ichkeiten kompo­ stierte Ablagerungen, Rückstände längst vergangener sozioökonomischer und kultureller Verhältnisse, deren Geschmack – wortwörtlich – verduftet ist.
Und sind es nicht gerade die Düfte, welche in uns die wirkungs­ reichsten Erinnerungsschocks auszulösen vermögen? Plötzlich werden lang zurückliegende Realitäten wieder unverschämt gegenwärtig. Der Duft ei­ nes Misthaufens, unverändert durch alle Epochen hindurch sich treu blei­ bend, verbindet mich mit allen Düften aller Misthaufen der Geschichte. Und was dem Misthaufen bekannterweise vorausgeht, ist das Essen. So stelle ich mir die Realienkunde vor, daß ich mich in die alltäglichen Be­ ndlichkeiten der Menschen, die vor uns gelebt haben, einarbeite. Die Notwendigkeit zu essen verbindet mich mit allen Geschlechtern. Nur, war das üher nicht oft mehr Mühe als Genuß? Mit der gewohnten Addition von netten Versatzstücken aus dem Folklorealbum des Mittelalters kann ich das nicht ausdrücken. Ich möchte aber diesen Duft des Mittelalters optisch und gefühlsmäßig zugleich zur Darstellung bringen.
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Da nde ich in vielen Unterlagen die Abbildung eines uralten Holz­ tellers, oder zumindest das Bild von dem, was von ihm übriggeb eben ist. Den Rest hat die Zeit schon selber aufgegessen. Der Teller drückt für mich aus, was wir trotz aller nutiöser Bauuntersuchung nie entdecken können: den Odem des alltäglichen Lebens, das sich zwischen den von uns auf Milli­ meterpapier verzeichneten Gemäuern abgespielt hat. Der Teller wird zum Zeichen dafür, wie die Rea enkunde, wie ich sie hier verstehe, versucht, über die Grenzen der Verfügbarkeiten der rein materiellen Archäologie hinauszugehen und in die in der Zeit verborgenen Alltäg chkeiten der Ge­ schichte einzudringen. Was kann ich nun mit diesem Teller anfangen? Ich wende das Photo um neunzig Grad und merke plötzlich, daß die Bruch­ kante dieses Holzobjektes dem Pro l eines Menschen au allend ähn ch ist.
Da stöbere ich wieder in einem Berg von Unterlagen, um Augen zu n­ den, die für diesen ‚Kopf‘ passen würden. Die romanischen Figuren haben doch manchmal esen wie auf Unendlich eingestellten Drillbohrerb ck. Da finde ich die Umzeichnungen von auf mittelalter chen Pilzkacheln re­ liefartig abgebildeten Köpfen. Das sind genau die Augen, die den rechten B ck aus der Tiefe der Geschichte aufzuweisen schienen. Das nke Auge klebe ich in den Teller, das andere dorthin, wo der verlorene Tellerteil zu ergänzen wäre. Diese Rekonstruktion bewerkstellige ich mit dem Kreis, der Metaphorik der wissenschaft chen Arbeit sozusagen. Jetzt blickt der Teller seitwärts und direkt auf mich. Dieser Widerspruch könnte auch passend sein. Das einfache Schwarz-Weiß-Schema deutet auf die Abstrak­ tionsarbeit hin, die laufend getan werden muß, um nicht in anekdotische Geschichtsforschung zu verfallen. Nun füge ich längs der senkrechten Mit­ telachse des Blattes eine Schrift hinzu, die einfach und klar sein soll. Das Wort „Quotidianum“ greift zudem formal mit seinen beiden „0“ dem Kreis voraus. So ist das ‚Alltägliche‘ des Mittelalters auch typographisch veran­ kert.
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