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Das ambivalente Schwein:
Sichtweisen in den Tierkunden des Mittelalters
Ingrid Matschinegg
Bewertungen und Wahrnehmungen von Tieren sind von kulturellen Traditionen
und religiösen Einstellungen geprägt. Im ostasiatischen Raum, dem
Herkunftsgebiet des domestizierten Schweins, ist es generell ein positiv charakterisiertes
Tier, besonders in China, wo es zum astrologischen Tierkreis gehört
und mit einer Reihe von positiven Attributen ausgestattet ist. Als Opfertier hatte
es in der römisch-antiken Zivilisation Kultstatus.
In jüdischen und arabischen Gesellschaften gelten Schweine als unreine
Tiere, die – bereits im Mittelalter – mit Nahrungstabus und Berührungsverboten
belegt und entsprechend negativ behaftet waren. Die europäisch-christliche
Sichtweise ist ambivalent. Laut dem Alten Testament ist das Schwein für die
Ernährung ungeeignet, weil es nicht zu den Wiederkäuern gehört (Leviticus
11:13). Dass sich das Schweinefleischverbot im mittelalterlichen Alltag nicht
durchsetzen konnte, ist evident: der Genuss von Schweinefleisch war weit
verbreitet; es zählte im europäischen Raum zu den wichtigsten Energie- und
Eiweißlieferanten.
Grundlage der folgenden Ausführungen über das mehrdeutige Image des
Schweines ist die christliche Naturkunde des Mittelalters. Diese ging in ihrer
Zielsetzung über die systematische Erfassung der Fauna und Flora hinaus. Das
Wissen über die Natur sollte zu einem besseren Verständnis der göttlichen
Gnade beitragen. Hugo von St. Viktor formulierte im 12. Jahrhundert , dass die
gesamte sinnlich wahrnehmbare Welt als ein von Gott geschriebenes Buch
erfahrbar sei: Universus enim mundus iste sensibilis quasi quidam liber est
scriptus digito Dei […].1
1 Hugo von St. Victor, Didascalion, hg. von Jacques P. Migne, Patrologia Latina 176. Paris
1854 (ND Turnhout 1976), Sp. 814.
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Wie Pieter Beullens zuletzt gezeigt hat, waren die naturkundlichen
Ansätze im Mittelalter sehr zahlreich und weit verbreitet.2 Diese basierten zu
einem Gutteil auf antiken Vorlagen wie den zoologischen Schriften von
Aristoteles und der “Naturalis Historia” des Plinius des Älteren aus dem 1.
Jahrhundert n. Chr.
Plinius interessierte sich bei der Beschreibung des Schweins schwerpunktmäßig
für landwirtschaftliche Fragen wie Aufzucht, Fütterung oder die
Behandlung von Krankheiten. Schweinefleisch spielte eine wichtige Rolle in der
Fleischversorgung der Bevölkerung in der römisch-antiken Epoche. In diesem
Kontext wurde der hohen Fruchtbarkeit des Hausschweins ein besonders
positiver Stellenwert beigemessen.
Die Angewohnheit von Schweinen, sich im Schmutz zu wälzen wurde
von Plinius erwähnt, aber nicht weiter kommentiert. Bei der durchwegs
positiven Sicht durch Plinius überrascht nur die unvermittelte Ansage, dass
dieses Tier von allen das roheste sei,3 was jedoch umgehend relativiert wird,
durch den Verweis auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten, die Stimme seines
Hirten zu erkennen und sogar in der Stadt den Marktplatz und ihre Häuser
aufzusuchen. Hier findet sich ganz nebenbei ein eindeutiger Verweis auf
städtische Schweinehaltung.
In der christlichen Zoographie mischte sich neben der Betonung der
Nützlichkeit für die Ernährung und zur Gewinnung von Heilmitteln eine
negative Charakterisierung in die Beschreibungen des Schweins. Schon Isidor
von Sevilla leitete in seinem sehr kurzen Eintrag über das (weibliche) Schwein
dessen Namen so ab: Porcus dicitur, quasi spurcus.4 Von Thomas von
Cantimpré im „Liber de natura rerum“5 und den nachfolgenden Kompilationen
des späteren Mittelalters wie etwa dem „Hortus Sanitatis“ von Johannes de
Cuba6 wurde das Schwein als böses und unreines Tier beschrieben, das an
stinkenden Orten wohnt. Noch deutlich weiter ging Hildegard von Bingen in
ihrem Naturbuch: Sie verknüpfte den Charakter des Schweins mit den
Hauptsünden Völlerei (gula) und Wollust (luxuria) und eröffnete damit die
2 Vgl. Pieter Beullens, Like a Book written by God’s Finger: Animals Showing the Path toward
God, in: Brigitte Resl (Hg.), A Cultural History of Animals in the Medieval Ages.
Oxford – New York 2007, 127-151, hier 142 f.
3 Vgl. C. Plinius Secundus, Naturkunde: Lateinisch – deutsch Buch VIII. Zoologie: Landtiere,
hg. und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler. München
1976), 149 – 155, hier 151.
4 Der zwölfte Band der 20-bändigen Enzylopädie „Etymologiae“ des Isidor von Sevilla (560-
636) hat die Tiere zum Inhalt: Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum
Liber XII: De Animalibus. http://penelope.uchicago.edu/Thayer/L/Roman/Texts/ Isidore/
12*.html#1 (letzter Zugriff August 2015), sowie Lenelotte Möller (Hg)., Die Enzyklopädie
des Isidor von Sevilla. Wiesbaden 2008, Buch XII: Von den Tieren, 447-449, bes. 450
(vom Schwein).
5 Thomas Cantimpratensis, Liber de natura rerum. Editio princeps secundum codices manuscriptos,
Teil 1. Berlin 1976.
6 Johannes de Cuba, Hortus Sanitatis. Straßburg: Johannes Prüss der Ältere 1497.
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symbolische Übertragung von Wertungen der christlichen Laster – Tugenden-
Verhaltensskala auf Tiere:
„Das Schwein ist warm und hat eine hitzige Natur. Es ist schleimig, weil
keine Kälte es reinigt. Es ist immer gefräßig; deshalb ist es ihm
gleichgültig, was es frisst und es frisst bisweilen auch Unreines. In seiner
Gier zeigt es die Verhaltensweise eines Wolfes. […] Es vermindert
nämlich im Menschen weder den Schleim noch andere Krankheiten,
sondern vermehrt sie, weil seine Hitze sich zur menschlichen Hitze
addiert und beide zusammen erregen im Menschen stürmisches benehmen
und stürmisches Handeln im Bösen.“7
(Porcus calidus est, et ardentem naturam in se habet, et limosus [livosus
ed.] est, quoniam nullum frigus ipsum purgat; et aliquantum eyterecht
est, ac semper avidus est ad comedendum, et ideo non curat quid
comedat, et etiam interdum inmunda comedit. Et in aviditate sua lupinos
mores habet […] sed inmundum animal est, unde caro eius non est sana,
sed tortuosa, et nec sanis nec infirmis hominibus ad comedendum bona
est, quia nec flecma nec alias infirmitates minuit in homine, sed auget,
quoniam calor ejus calori hominis se adjungit et tempestates in moribus et
in operibus quae mala sunt in homine excitant.)8
Die in den bekanntesten christlichen Naturkundebüchern dargestellten Kreaturen
– je nach Umfang der Ausgabe sind das zwischen ca. 50 bis ca. 400, meist
gegliedert in Säugetiere, Fische, Vögel und Kriechtiere – wurden von den
durchwegs theologisch und naturphilosophisch ausgebildeten Verfassern in ein
symbolisches Beziehungssystem gesetzt, dass sich durch Nähe zu Gott oder zum
Satan bestimmt.9 Der Ausgangspunkt solch wirkungsmächtiger Zuschreibungen
war in der biblischen Überlieferung wie auch im frühchristlichen Physiologus
zu finden. Hinter der versuchten Dämonisierung des Schweins (z.B. bei Hildegard)
stand möglicherweise die im Neuen Testament erzählte Geschichte von
der Heilung eines Besessenen, bei der die ausgetriebenen Dämonen in eine
Schweineherde einfahren (Markus, 5:11-13). Aus der Serie der naturkundlichen
Ausführungen über das Schwein unterschied sich die Darstellung Engelberts
von Admont in seinem „Tractatus de naturis animalium“ von allen anderen
bisher erwähnten. In Anlehnung an Isidor von Sevilla fungiert das Schwein hier
neben seiner positiven Fähigkeit giftige Speisen zu erkennen als Gegnerin der
7 Hildegard von Bingen, Das Buch von den Tieren. Nach den Quellen übersetzt und erläutert
von Peter Riethe. Salzburg 1996, 106.
8 C[harles Victor] Daremberg (Hg.), S. Hildegardis Abbatissae Subtilitatum Diversarum
Naturarum Creaturarum Libri Novem, Patrologia Latina 197. Paris 1888, Sp. 1525-1526.
9 Zur Tierallegorese vgl. Isabella Nicka, Von Tieren und Menschen. Ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht
im Lichte visueller Medien im Spätmittelalter, in: Sinnbild – Nutztier –
Schauobjekt. Tiere in historischer Perspektive, Historische Sozialkunde. Geschichte –
Fachdidaktik – Politische Bildung 41/4 (2011) 11-17.
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generell negativ besetzten Schlange und ist damit im doppelten Sinn positiv
codiert:
„Das Schwein, wie Isidor sagt, ist ein bestimmtes Tier. So genannt, weil
es allzu feist ist. Durch seinen Geruchssinn werden Speisen als gesund
und/oder giftig offengelegt. Von daher sagt Draconcius: „Es schneidet
von vorne herein das Schwein die Kraft eines jeglichen Giftes ab“. Es ist
aber ein Tier, das viele Borsten hat und der Schlange und der Natter
auflauert. Diesbezüglich – wenn es gegen die Natter kämpft, richtet es den
Schwanz auf und die Natter beobachtet jenen in besonderem Maße,
gleichsam als Kampfinstrument und sobald sie sich auf den Schwanz
gesetzt hat, rollt sich das Schwein plötzlich zusammen und tötet mit den
spitzen Borsten die Natter.“
(Suillus, dicit Ysidorus, est quoddam animal ita vocatum ab eo quod
nimis pingwe est. Huius odore cibi salubres et venenosi manifestantur.
Unde Draconcius: ‘Precidit swillus vim cuiuscumque veneni.’ Est autem
animal habens setas multas et insidiatur serpenti et aspidi, unde quando
pugnat contra aspidem, erigit caudam et aspis maxime observat illam
quasi instrumentum pugne et cum incubuerit caude, statim swillus
conplicat se et acumine setarum interficit aspidem.)10
Im gelehrten Diskurs über die Fauna ging es nicht zuletzt um eine
grundsätzliche Frage, nämlich die der Beziehung zwischen Mensch und Tier,
nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Interessant erscheint dabei
besonders, dass gerade das Schwein als dem Menschen am Ähnlichsten gesehen
wurde:
„Das Saublut und das Menschenblut sind gleich in allen Dingen und
desgleichen auch ihrer beider Fleisch. Es wurde Menschenfleisch für
Schweinefleisch verkauft und das ist verborgen geblieben, bis das man die
Finger darin gefunden hat.“
(Avicena. Porci sanguis & hominis similes sunt in omnire: similiter &
carnes amborum, ita ut quidam venditerung carnem hominis pro carne
porci, &latuit, donec in ea inuenti sunt digiti hominis).11
Diese Aussage wurde in der um die Mitte des 13. Jahrhunderts verfassten
großen Enzyklopädie von Vincenz von Beauvais unter Berufung auf Avicenna
gemacht und hielt sich in den nachfolgenden Enzyklopädien bis ins 16. Jahr-
10 Engelbert von Admont, Tractatus de naturis animalium, Stiftsbibliothek Admont, Codex
Admontensis 119, fol. 37v. Für den Hinweis auf das bisher wenig bekannte und nicht
edierte Tierbuch danke ich Prof. Max Schmitz. S. weiterführend auch Max Schmitz, Zur
Verbreitung der Werke Engelberts von Admont (1250 – 1331), in: Codices Manuscripti
70/71 (2009) 1-26. Für die Hilfe bei den Übersetzungen aus dem Lateinischen danke ich
Helmut Hundsbichler ganz herzlich.
11 (Vincent de Beauvais), Speculum Quadruplex sive Speculum Maius Naturale/Doctrinale/
Morale/Historiale. Ndr. Graz 1964, Sp. 1369-1370.
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hundert. Conrad Gesner, der als universitär ausgebildeter Arzt über genaue
anatomische Kenntnisse verfügte, stellte in seinem Thierbuch eine Mensch-
Schwein-Übereinstimmung bei Fleisch und Blut wie auch den inneren Organe
fest: „von allen vierfüßigen Tieren ist keines, dass bei so vielen innerlichen
Teilen und Gliedern dem Menschen ähnlicher und gleichförmiger ist als das
Schwein“.12 Die Frage der Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Tieren, die
neben dem Schwein noch den Affen attestiert wurde, ist gleichzeitig eine Frage
der Abgrenzung des Menschen von den Tieren. Der Gart der Natur („Hortus
sanitatis“) aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert enthält im Teil über die Tiere
(„Tractatus de Animalibus“) eine Beschreibung des Menschen (Homo), die den
Anfang zu den 163 in der Folge alphabetisch von Aries bis Zubra geordneten
„vierfüßigen und kriechenden“ Kreaturen macht.13
Eine zentrale Trennlinie zwischen Mensch und Tier vermochte Albertus
Magnus im Sexualverhalten zu erkennen. Im Unterschied zu Tieren seien
Menschen aufgrund ihres Bewusstseins der Scham zum lautlosen Koitus fähig.14
Bei der symbolischen Zuschreibung von tierischen Charaktereigenschaften auf
Menschen spielten Sexualität bzw. ihre Kontrolle durch christliche Moralvorstellungen
eine nicht unwesentliche Rolle. Am Schwein wurde moralisches
Fehlverhalten festgemacht; der Schmutz, in dem es sich lustvoll wälzt, wurde
zum Symbolbild für die Sünde der luxuria.
Das Schwein entsprach damit in idealer Weise den mittelalterlichen
Vorstellungen über die Funktion von Tieren, wie etwa jener des englischen
Predigers Thomas Chobham (ca. 1160-1230):
„Denn der Herr schuf verschiedene Geschöpfe mit verschiedenen
Eigenschaften, nicht nur dem Menschen zur Nahrung, sondern auch zur
Belehrung. Durch jene Geschöpfe erfahren wir nicht nur was dem Körper,
nein, was auch der Seele nützlich ist.“
(Dominus enim diversas creavit creaturas, diversas naturas habentes, non
solum ad sustentationem hominum, sed etiam ad doctrina eorum. Ut per
12 Conrad Gesner, Historia animalium I de quadrupedibus viparis […] (Zürich: Christoffel
Froschauer,1551-1556): https://ceb.nlm.nih.gov/proj/ttp/flash/gesner/gesner.html.
Auch eine spätere Ausgabe der deutschsprachigen Auflage ist online zugänglich:
http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0008/bsb00086947/images/index.html?id=
00086947&groesser=&fip=eayayztsewqqrseayaeayaewqwxdsydsdasewq&no=3&seite=5
(letzte Zugriffe Dezember 2015). S. die Kapitel über das Schwein.
13 Vgl. zu den mittelalterlichen Tierbüchern Ingrid Matschinegg, Tierkunde im Mittelalter.
Tiere im Interessensfeld zwischen christlicher Heilslehre und profaner Wissenschaft, in:
Sinnbild – Nutztier – Schauobjekt. Tiere in historischer Perspektive, Historische Sozialkunde.
Geschichte – Fachdidaktik – Politische Bildung 41/4 (2011), 4-10.
14 Darauf verweist Michael Camille, Image on the Edge: The Margins of Medieval Art.
London 1992, 47-48.
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ipsas creaturas non solum inspiciamus quid nobis utilis sit in corpore, sed
etiam sit utile in anima.)15
15 Thomas de Chobham, Summa de arte praedicandi, Kap VII 2.1 (De invenzione in
narrazione), hg. von F. Morenzoni, Corpus Christianorum, continuatio medievalis 82.
Turnhout 1988, 275. Übersetzung nach Martin Lhotzky, Gibt’s gar nicht! Hat er sich selbst
ausgedacht. Fabelwesen in mittelalterlicher Kunst und Realität, ungedr. Diplomarbeit.
Wien 2000, 13.