Der griesgrimmige Löwe als Vor-Bild des Richters
WOLFGANG SCHILD, BIELEFELD
Harry Kühnel zum 65. Geburtstag
Bekannt (weil viel zitiert) ist die Bestimmung der Soester Gerichtsordnung
um 1500: „Wie sich der Richter verhalten soll: Er soll sitzen auf
seinem Richterstuhle als ein griesgrimiger Löwe und schlagen den rechten
Fuß über den linken.“ Die weiteren Worte dieser Gerichtsordnung werden
unterschiedlich überliefert. Jacob Grimm schreibt: „und wann er
aus der Sache nicht recht könne urteilen, soll er dieselbe ein, zwei, dreimal
überlegen.“1 Pranz Reinemann schreibt: „und wann er aus der Sache
nicht recht könne urteilen, soll er dieselbe hundert dreiundzwanzigmal
überlegen.“2 Wolf-Herbert Deus zitiert die „Forma des gemeinen GerichtsProzesses,
in dem Gericht vor den vier Bänken gehalten“ : „und [soll] denken
an das strenge Urteil und an das Gericht, das Gott am Jüngsten Tag
abhalten wird, und richten dann nach Klag und Antwort; dünkt dann dem
Richter, wie es damit ist, daß er in dem Verfahren nicht weiterkomme,
überlegt der Richter ein, zwei, drei Mal, damit niemand in seinem Rechte
verkürzt oder versäumt werde.“3 Übereinstimmung besteht in dem zuerst
genannten Spruch über die Sitzhaltung des Richters; und darüber sollen
im Folgenden einige Thesen und Spekulationen vorgetragen werden, die
Harry Kühne] zum 65. Geburtstag gewidmet sind: in der Hoffnung, daß
diese Ausführungen ihm trotz aller Spekulation gefallen können.
1 . DIE SITZHALTUNG DES RICHTERS
Die Wissenschaft hat sich überwiegend mit dem Beinkreuzen des Richters
beschäftigt und den Hinweis auf den griesgrimmigen Löwen vernachlässigt.
1 Jacob Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer ll, 4. Aufl. Leipzig 1899, 375.
2 Franz Heinemann, Der Richter und die Rechtsgelehrten. Leipzig 1900, 20.
3 Wolf-Herbert Deus, Richter mit gekreuzten Beinen. In: Soester Zeitschrift 82 (1970)
18 ff. – Die „Forma“ wird nach Emminghaus (Memorabilia Suatensia, 1748) zitiert.
11
1. 1 . Diese Konzentration a.uf da.s Beinkreuzen erklärt sich sicherlich durch
da.s Interesse der (Kunst- und Rechts-)Historiker, aber auch der Volkskundler,
a.n den Gebärden und der Gebärdensprache der früheren Zeiten.
So ha.t Joha.n Jakob Tikka.nen in seiner monumentalen Arbeit über „Die
Beinstellung in der Kunstgeschichte“ (1912) auch da.s Beinkreuzen untersucht.
Er fand diese Haltung in einigen unterschiedlichen Formen in zahlreichen
Darstellungen des Mittelalters, vornehmlich von Fürsten, Richtern
und sonstigen Würdenträgern4. Wolf-Herbert Deus bringt zahlreiche Hinweise,
vor a.llem auch a.us der Soester Gegend. Bekannt wiederum und
häufig a.bgebildet5 ist die Miniatur im Soester Nequambuch (1315-1421),
die wohl den Stadtrichter in dieser Haltung freilich gena.u umgekehrt –
den linken Fuß über den rechten geschlagen! – zeigt, und deren Entstehung
herkömmlich in die Zeit des frühen 14. Jahrhunderts gelegt wird;
gerne wird von den Interpreten dieses Bildes darauf hingewiesen, da.ß der
abgebildete Richter in keiner Weise wie ein griesgrimmiger Löwe dreinschaue;
wa.s vielleicht die Konzentration der Gelehrten auf die gekreuzten
Beine verständlich macht.
1 . 2. Die Erklärung dieser Sitzhaltung wird unterschiedlich gegeben. Fra.nz
Reinemann weist auf da.s gesamte Gerichtsverfahren als „Sitzung“ hin und
meint: diesem Beinkreuzen sei die Aufgabe zugekommen, den Richter
a.m Aufstehen zu hindern, da. dieses ein Ende des Verfahrens bedeutet
hätte; der Richter „mußte wohl oder übel auf seinem Sitze bleiben.“6 Ja.cob
Grimm stellt a.uf da.s „Sitzen“ selbst a.b und erläutert: „für ein zeichen
der ruhe und beschaulichkeit galt es im alterthum, die beine übereinanderzuschla.
gen.“7 John Meier sieht entsprechend dieser Erklärung darin den
Ausdruck einer sinnenden Na.chdenklichkeit8. Leopold Schmidt vertieft
diese These und sieht in der nachdenklichen Haltung den Ausdruck von
4 Johan Jakob Tikkanen, Die Beinstellung in der Kunstgeschichte. In: Acta Societatis
Scientiarum Fennicae 42 (1912) 1 ff. (163).
5 Vgl. Abb. 141 bei Wolfgang Schild, Alte Gerichtsbarkeit, 2. Auf!. München 1985, 77.
6 Heinemann, Richter 20.
7 Grimm, Rechtsalterthümer 375. – Dieser Interpretation folgt u. a. Max Pappenheim
in seiner Besprechung von P. Puntschart (Herzogseinsetzung und Huldigung in Kärnten,
1899) in ZRG-GA 20 (1899) 307 ff. (309).
8 John Meier, Besprechung von A. Ilg (Beiträge zur Geschichte der Kunst und Kunsttechnik
aus mittelalterlimen Dichtungen, 1892) in: Zeitschrift für Kulturgeschichte NF
1 (1894) 262 ff. (265).
12
Einsamkeit, Abseitsstehen, wodurch der Betreffende von vielem aus- und
abgeschlossen sei und zugleich unangreifbar9. Wolf-Herbert Deus nimmt
diese Interpretation auf und bezieht die berühmten Verse von Walther von
der Vogelweide ein, der auf dem Stein saß „und dachte Bein mit Beine“;
zusätzlich verweist Deus auf die sich anschließenden Worte in der Soester
Gerichtsordnung: „und denken an das strenge Urteil und das Gericht“
Gottes am Jüngsten Tag10. Adalbert Erler bezieht auch das Objekt ein,
das mit diesem Sitzen verbunden ist, nämlich den „Richterstuhl“; und
Erler stellt auf das „Hochsitzen“ des Richters ab als Zeichen der Herrschaft;
und nicht ohne Grund erwähnt er auch den griesgrimmigen Löwen.
Der Richterstuhl entspreche dem Königsthron – da doch der mittelalterliche
Richter nicht der Urteiler (also nicht Träger rechtlicher Erkenntnis)
gewesen sei, sondern der Leiter des Verfahrens (und damit Träger
der rechtlichen Gewalt) – und entspreche letztlich dem Sitz des Ahns,
wie er als Mittelpunkt des Lebens kultisch verehrt worden sei; also der
Hochsitz als erhöhter Erbmittelpunkt (wie der Berg oder ein Hügel als
Sitz der Gottheiten bzw. des vergöttlichten Ahns)11. Von dieser in den
Mythos zurückgehenden Interpretation her ist es selbstverständlich, daß
Erler die genannten Erklärungen (vor allem von Jacob Grimm) für das
Beinkreuzen nicht genügen: „Es liegt auf der Hand, daß diese Erklärung
nicht ausreicht.“ Erler verweist auf die „neuere Forschung“ (und nennt
vor allem Hanns Bächtolt-Stäubli), nach der dieses Beinkreuzen (oder
-verschränken) ein Abwehrritus gegen böse Geister sei, ein Hemmungszauber,
der den Richter vor Schadenszauber bewahren soll; verwandt den
Riten des Flechtens, Bindens, Knüpfens und Verschlingens. Angemerkt
sei, daß Bächtolt-Stäubli noch in seinem Aufsatz 1925 eine andere Interpretation
für möglich hielt: daß nämlich der Richter durch diese Haltung
den Angeklagten „bannen“ sollte12; doch erwähnt er diese Möglichkeit in
9 Leopold Schmidt, Die volkstümlichen Grundlagen der Gebärdensprache. In: Beiträge
zur sprachlichen Volksüberlieferung. Festschrift für Adolf Spamer. Berlin/Ost 1953,
233 ff. (246 f.). Vgl. auch ders., Der Richter über dem Riesentor von St. Stephan. In:
Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 8 (1950) 80 ff.
1 0 Deus, Richter 18.
11 Adalbert Erler, Der Hochsitz in der deutschen Rechtsgeschichte. In: Paideuma 1
(1938-1940) 168 ff. – Ähnlich schon Paul Sartori, Sitzen und Aufstehen. In: Zeitschrift
des Vereins für rheinische und westfälische Volkskunde 18 (1921) 2 ff.
12
Hanns Bächtold-Stäubli, Beine kreuzen oder verschränken. In: Schweizerisches Archiv
für Volkskunde 26 (1925) 47 ff. (54).
13
seinem Beitrag im ‚Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens'(1927-
1941) nicht mehr, sondern spricht nur mehr vom Abwehrzauber13. Herbert
Fischer hat in ähnlicher Weise (und vor allem ähnlich zu Leopold Schmidt)
die Gebärdengestalt dieses Überkreuzens der Gliedmaßen interpretiert. Im
Unterschied zur offenen Kreuzhaltung, die die Gestalt des Menschen öffnet
(z. B. gegenüber dem Wort Gottes), werde durch diese Haltung eine betonte
Abschließung verdeutlicht, über deren rituelle Bedeutung sich die
Brauchtumsforschung genügend Einsichten erarbeitet habe (und zitiert
wird wieder – neben anderen- Bächtolt-Stäubli)14• D. h. also: das Beinkreuzen
wäre damit eine magische Handlung, durch die verhindert werden
sollte, daß negative Kräfte (oder – personifiziert – böse Geister oder gar
der Teufel) Einfluß auf den Richter und über seine Leitung Einfluß auf das
Gerichtsverfahren nehmen würden. Bei den Aschanti wird -so berichtet
Erler!15 – der Königsstuhl sofort nach Aufstehen des Königs umgestürzt,
damit nicht unbefugte Personen (und namentlich: Geister) sich auf dem
Sitz niederlassen könnten!
Doch stellt Adalbert Erler in derselben Arbeit diese magische Interpretation
in Zweifel. Es sei – so meint er!16 – gerade ein hervorstechendes
Merkmal der deutschen Rechtssymbolik (im Unterschied zur Symbolik
vieler anderer Kulturen, z. B. auch der Aschanti), daß sie „positiv und unbefangen
geartet“ sei: „namentlich das Verfahrensrecht kennt keine Geisterfurcht,
keine dies nefasti, keine Abwehrriten gegen böse Geister -und
das nicht aus Aufklärung, sondern aus dem Volkscharakter heraus“; erst
im Bereich des Strafvollzuges, nachdem also der Urteilsspruch den Täter
auf die Nachtseite des Lebens gestoßen habe, würden sich Tabuvorstellungen
und Abwehrriten in reicherer Fülle finden. Freilich will Erler nicht
ausschließen, daß vielleicht in vorchristlicher Zeit ein solches magisches
Denken bestimmend gewesen sei; für das Mittelalter (und damit für unsere
Beispiele, vor allem aus Soest) könne dies nicht mehr zutreffen, sondern sei
wohl „ein unverstanden fortgeübter Rechtsbrauch, dessen einstige Impulse
in unerforschlicher Zeit liegen“.
13 Hanns Bä.chtold-Stä.ubli, „Beine kreuzen, verschränken“ . In: HWB des deutschen
Aberglaubens I (Berlin 1927-1941), Sp. 1012 ff.
14 Herbert Fischer, Die offene Kreuzhaltung im RechtsrituaL In: Festschrift für Artur
Steinwenter. Gra.z -Köln 1958, 9 ff. (27).
15 Erler, Hochsitz 177.
16 Erler, Hochsitz 177 f.
14
1. 3. Soweit die Erklärungsversuche, die ich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit)
kenne. Ich denke, daß im Ergebnis Erler recht hat. Zwar ist seine
Behauptung, daß das Verfahrensrecht (als solches und überhaupt) keine
Geisterfurcht und Abwehrriten gekannt habe, so nicht richtig. Ganz im
Gegenteil zeigen m. E. die Hegungszeremonien das Bestreben, durch magische
Handlungen einen Bereich abzustecken und abzuschirmen, in dem
das Böse, das Negative, das Un-Rechtliche – ob personifiziert oder nicht!
– keine Macht erhalten sollte; wodurch ein Bereich eröffnet und gesichert
werden sollte, in dem das Gute, das Positive, das Rechtliche sich durchsetzen
könne: eben das Urteil gefunden werden könne17• Aber- und deshalb
hat Erler im Ergebnis recht! – : Innerhalb dieses Kreises, der aus der
Welt des Alltags und ihrem Charakter als Schauplatz des Kampfes zwischen
Gutem/Positivem und Bösem/Negativem, also zwischen Heiligem
(Heilskräftigem) und Un-Heiligem (Dämonischem) herausgehoben wurde,
waren Ort und Zeit nur heilig, deshalb auch an heiliger Stätte und zu heiligen
Terminen! Der Richter (und die Urteiler, die ihren Alltag draußen
vor-lassen mußten (daher auch z. B. die Kopfbedeckung und ihre Mäntel
ablegen mußten]) waren innerhalb dieses Bann- und Hegungskreises vor
dem Bösen geschützt; es herrschte heilige Ordnung (und damit: Friedensordnung)!
Das Beinkreuzen des Richters brauchte deshalb keine negativen
Einflüsse (mehr) abzuwehren!
Ganz im Gegenteil sollte der Richter in dieser Haltung „denken“.
Wolf-Herbert Deus ist sogar der Meinung, daß das Wort „denken“ zum
Wort „decken“ (nämlich: „Bein mit Bein zu decken“ ) sprachlich sehr nabestehen
würde; man erinnere sich nur an Walther von der Vogelweide:
„und dachte Bein mit Beine“ , dabei sogar den Ellbogen aufgestützt und die
Wange in die Hand geschmiegt18 . Dabei bedurfte dieses Denken der Ruhe
und Beschaulichkeit- wie Jacob Grim erkannt hat! – und zwar deshalb,
weil es zusammenhing mit dem Sich-Offnen des Menschen zur Wahrheit
und damit – bei der damaligen Einheit von Wahrheit und Recht! – zum
Recht. Recht (und Urteil) waren nicht etwas, was der Mensch machen
könnte, z. B . durch seinen rationalen Verstand aktiv erarbeiten könnte;
Recht (und Urteil) mußten gefunden werden, was nur deshalb überhaupt
möglich war, weil Recht (und Urteil) sich finden ließen, sich vernehmen
17 Vgl. dazu Schild, Gerichtsbarkeit 125 (mit weiteren Nachweisen).
18 Deus, Richter 18 f.
15
ließen, wenn der Mensch sich ihnen nur öffnete:19 durch seine Ver-Nunft,
welches Wort dieses Ver-Nehmen und Hin-Hören zum Ausdruck bringt.
Deshalb war das entscheidende Organ auch das Ohr des Menschen (weshalb
er aufrecht zu sitzen hatte am Hoch-Sitz oder die Wange aufgestützt,
das Ohr dem Himmel zugewandt); und nicht wie für den auf zu bearbeitende
Objekte konzentrierten Verstand das Auge mit dem forschenden
Blick.
Von daher könnte der von Herbert Fischer m. E. völlig richtig gedeutete
Charakter der Gebärde des Beinkrenzens als ein betontes Abschließen20
zugrunde gelegt werden, aber nur in eine andere Richtung interpretiert
werden: nämlich als abchließend nach unten und zur Seite und
damit zugleich als mögliches Sich-Offnen nach oben; wie ein Gefäß, das fest
in sich ruht und Stand hat und deshalb geöffnet ist nach oben; und damit
bereit (und geeignet), sich vom heiligen Geist des gerechten und das Recht
liebenden Gottes erfüllen zu lassen!21 Von daher würde sich auch einer der
Inhalte dieses Denkens nahe legen, wie sie die Soester Gerichtsordnung
nennt: nämlich das Gericht Gottes am Jüngsten Tag! Und wäre es von
daher nicht mehr als nur Zufall, daß die Beine ein Kreuz darstellen sollen
(wie oft auch die Faltstühle als Würdesitzmöbel gekreuzte Beinpaare
aufwiesen22)?
1. 4. Die Sitzhaltung des Richters mit gekreuzten Beinen könnte von daher
Inhalte zum Ausdruck bringen (sollen), wie sie in der Gestalt der Richtertugend
der Justitia – wie sie sich allmählich aus der allgemeinen Tugend
des gerechten Menschen herausgebildet hat!23 -und deren Attributen Niederschlag
gefunden haben. Gleich ist die ruhige, vornehme Haltung; läßt
doch der Tugendspiegel „De quattuor virtutibus cardinalibus“ des Pseudo-
19 Vgl. Wolfgang Schild, Der „entliehe Rechtstag“ als das Theater des Rechts. In: Peter
Landau – Friedrich-Christian Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption.
Frankfurt/Main 1984, 119 ff. (138 ff.).
2° Fischer, Offene Kreuzhaltung 27.
21 Zu diesem leiblichen Freiheitsverständnis siehe Schild, Gerichtsbarkeit llO ff.
22 Vgl. Leopold Schmidt, Amtsstühle und Würdesitze in ihrer alten Verbreitung und
Geltung. In: Festschrift für Matthias Zender. Bonn 1972, 680 ff. (682: aber auch als
Abwehrzauber interpretiert).
23 Siehe dazu Wolfgang Schild, Gerechtigkeitsbilder. In: Wolfgang Pleister – Wolfgang
Schild (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst. Köln 1987,
93 ff.
16
Seneca (eigentlich: des Bischof Martin von Braga aus dem 6. Jahrhundert)
in einer illuminierten Fassung von 1403/1470 die Justitia auf einem Bett
sitzen: „daß der Richter in vollständiger Ruhe seinen Urteilsvorschlag vorbereiten
soll“, wobei das Kopfkissen auf dem Bett in Beziehung zur Barmherzigkeit
gesetzt wird24 . In gleiche Richtung wirkt die Binde der Justitia,
die ja nicht Ausdruck der Blindheit oder gar Torheit des Richters (im Sinne
einer Justizschelte oder -karikatur) sein sollte, sondern das Ausschalten des
Auges und dadurch die innere Sammlung (und Vernunft) sinnbildlich darstellen
sollte, nach dem Vorbild der Richter von Theben, denen deshalb
die Augen ausgestochen wurden25; überhaupt war das Ohr für den Richter
zentral: Man denke an die Geschichte des Alexander des Großen (in
den sog. Gerechtigkeitsbildern), der immer einer Partei je ein Ohr lieh26,
auch an die Forderung, stets beide Seiten zu hören (was auf die zentrale
Bedeutung der gesprochenen bzw. gebrüllten27 Formeln der Parteien vor
Gericht hindeutet). Schließlich stellt das Kreuzen der Beine die Gestalt als
im Gleichmaß sitzend dar: vielleicht eine Parallele zu den im Ausgleich befindlichen
Waagschalen der Justitia; woraus sich auch die Gleichgültigkeit
-ob nun rechtes Bein über dem linken oder umgekehrt! – ergeben würde.
Freilich darf trotz dieser Vergleichbarkeit der Inhalte der wesentliche
Unterschied von der Sitzhaltung des Richters zum Tugendbild der Justitia
nicht übersehen werden, was zugleich die These einer geschichtlichen Entwicklung
nahelegen könnte28• Die vorgeschriebene Sitzhaltung des Richters
bedeutet doch, daß der Richter selbst die Gerechtigkeit unmittelbar
und sinnlich wahrnehmbar verkörpern muß: er muß als gerechter Richter
dasitzen! Noch ist die Gerechtigkeit kein (bloßes) Symbol der Gerechtigkeit
als der Tugendforderung, die angibt, wie ein Richter sein soll; sondern
24 Siehe Abb. 194 bei Schild, Gerechtigkeitsbilder 121.
25 Da.zu siehe Ernst von Moeller, Die Augenbinde der Justitia. In: Zeitschrift für
christliche Kunst 18 (1905) 107 ff., 141 ff. – Dazu siehe auch Ernst H. Gombrich, Icones
Symbolicae. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 1 1 {1948/49) 163
ff. {178). Im übrigen findet sich der maßgebende Hinweis auf die Richter von Theben
in Andreas Alciatus, Emblematum Libellus. Paris 1542 (Nachdruck 1987), 134 f.
26 Siehe Abb. 271 bei Schild, Gerechtigkeitsbilder 169 f. Zum Motiv vgl. Sidsel Helliesen,
Thronus Justitiae. In: Oud Holland 91 {1977) 232 ff. {247).
27 Vgl. das Gebrüll des Klägers im Herforder Stadtrechtsbuch: dazu Wolfgang Schild,
Rechtshistorische Anmerkungen zum Herforder Rechtsbuch. In: Faksimile-Ausgabe des
Herforder Rechtsbuches. Herford-Bielefeld 1990, 141 ff.
28 Vgl. die Hinweise bei Schild, Gerechtigkeitsbilder 93.
17
ein Mensch ist nur dann wirklich Richter, wenn er als verkörperte Gerechtigkeit
auch sinnlich wahrgenommen werden kann. Notwendig ist das
wirkliche Bild der Gerechtigkeit in Gestalt des gerechten Richters – also
noch in der Einheit von Sein und Sollen! -; zugleich ein wirkliches VorBild
für jeden Menschen, der als Richter tätig zu werden hat. Von daher
hat Franz Reinemann durchaus ein richtiges Moment angesprochen: der
Richter muß die gesamte Zeit des Verfahrens in dieser Haltung -eben als
wirklicher Richter! – wahrnehmbar sein.
1. 5. Von daher ließe sich eine geschichtsphilosophische Spekulation einer
Entwicklung der Rechtsvorstellung ausbauen: im Sinne einer sich herausbildenden
Vergeistigung (Symbolisierung, Versprachlichung, Theoretisierung)
und zugleich Ent-Sinnlichung29• Wahrscheinlich war das Recht
ursprünglich noch ein sinnlich wahrnehmbares Phänomen, was bedeutet:
nicht als irgendeine Norm (eines Sollens) vorgestellt, sondern eine Form
des wirklichen Lebensverhältnisses; sozusagen das Recht als wirklich gelebtes
(und wegen seiner Wirkkraft auch richtiges = „heiliges“ )30 Rechtsverhältnis,
wie es sich sinnlich wahrnehmbar in der Kraft der Sippe, in der
Macht der Eidesbrüder (Eidesführer und Eideshelfer) oder im Sieg im Zweikampf,
später im Gottesurteil, herausstellte und durchsetzte, negativ auch
z. B. in der Handhaftigkeit der Tat. Recht als Rechtsverhältnis war immer
die seinsmächtige Ordnung, die in bestimmer Gestalthaftigkeit (Formelhaftigkeit)
ihren Niederschlag finden mußte (und vielleicht zuletzt auf
überlieferte Handlungsgestalten der Ahnen oder des maßgebenden Ahns
zurückgeführt wurde) . Auch eine Gerichtsverhandlung hatte ein solches
wirkliches Rechtsverhältnis zu sein, weshalb die Beteiligten die vorgeschriebenen
Körperhaltungen und Prozeßhandlungen sinnlich wahrnehmbar zu
verwirklichen hatten. Nur in der tradierten Sitzhaltung war deshalb der
Richter wirklich Richter! Nur in einem von diesem geleiteten Verfahren
konnte das Rechtsverhältnis- das strittig war und die Ordnung bedrohte!
– sich wiederherstellen und durchsetzen; was auch bedeutete: von den anderen
anerkannt werden, da sie dieses Offenbarwerden des Rechts sinnlich
29 Vgl. dazu erste Ansätze bei Wolfgang Schild, Der gequälte und entehrte Leib. In:
Klaus Schreiner – Norbert Schnitzler (Hrsg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. München
1992.
30 Zu dieser Vorstellung vgl. Wolfgang Schild, Rechtsphilosophische Hintergründe der
Bestrafung von Fälschern. In: Fälschungen des Mittelalters. Akten des Münchner
Kongresses der Monumenta Germaniae Historica 1987. Hannover 1988, Bd. II, 713 ff.
18
und damit unzweifelhaft erleben konnten! Das Verfahren war noch nicht
die arbeitsmäßige Produktion eines Urteils, sondern das Finden des wirklichen
Rechtsverhältnisses, das wegen seiner Rechtlichkeit auch die WirkKraft
hatte, sich durchzusetzen; soferne ihm der Raum und die Zeit und
die prozessuale Form eröffnet worden waren. Im Urteil kam das eigentliche
(wahre, richtige, deshalb: wirkliche) Verhältnis der Parteien zutage,
die Unwahrheit erwies sich als Schein; deshalb eine Ur-Teilung in Wirklichkeit
und Schein; und zwar in jedem Einzelfall!31
Dagegen weist die Tugendgestalt der Justitia auf ein anderes Verständnis
des Richters hin. Nun ist er der maßgebende aktive Teil, der
einen Rechtsfall zu lösen hat; die gesamte Ausgabe der Pseudo-Seneca aus
dem 15. Jahrhundert erkennt ihm bereits die Aufgabe zu, den Urteilsvorschlag
zu formulieren32 . Der Richter muß sich bereits für diese Tätigkeit als
denkender und normanwendender Rechtskundiger erweisen; bis er zuletzt
studierter Jurist werden muß. Recht ist schon allgemeine Norm geworden,
die auf Einzelfälle angewendet werden kann und soll; durch theoretische
Argumentation, wie es am besten die Professoren der Rechtsfakultäten
können, die deshalb um Gutachten gebeten werden. Diese Gutachter
sehen nur mehr in das Gesetzbuch oder in das Naturrecht des gerechten
Gottes; den Fall, das Täterindividuum, die Beweisstücke nehmen sie
nicht mehr sinnlich wahr. Sie denken nur mehr; und sollen dies auch
richtig tun. Die Tugend der Justitia verlangt diese Un-Sinnlichkeit und
damit die Schriftlichkeit, Theoretisierung und Verwissenschaftlichung der
Rechtssprechung. Gerechtigkeit heißt nun rationales schlüssiges Argumentieren,
bedeutet methodisches Denken, wie es der Objektivität der Wissenschaft
überhaupt entspricht33. Der Jurist soll blind werden für das sinnliche
Ergebnis (z. B. die Hinrichtung des Verurteilten)34, seine schriftliche
Begründung soll wie das Schwert richtige und falsche Argumente scheiden
und wie das Gleichmaß der Waage ausgewogen sein! Binde, Schwert und
Waage sind nur mehr geistige Gehalte, nur mehr Attribute einer Sollensfor-
31 Vgl. Schild, Rechtstag 138 ff.
32 Siehe Anm. 24.
33 Die Tugendgestalt der Justitia verkörpert bald auch die Jurisprudenz (Rechtswissenschaft):
mit Gesetzbuch, Zirkel, Lot als Attribute.
34 Vgl. die Gerechtigkeitsvorbilder Trajan, Herkimbald, Zaleukos u. a., die dem Gesetz
mehr gehorchen als ihren Gefühlen und deshalb nahestehende Personen wegen Gesetzesbrüchen
hinrichten, bei: Schild, Gerechtigkeitsbilder 156 ff.
19
derung, die selbst nur geistig zu verstehen und zu akzeptieren ist! Justitia
selbst ist nur mehr ein Symbol, keine sinnliche wahrnehmbare Frauengestalt,
sondern ein Zeichen, das auch zu Legitimationszwecken eingesetzt
werden kann, bis es zum Markenzeichen der Rechtsfabriken der Gerichtsgebäude
wird!35
Von daher wäre die Soester Vorschrift über die Sitzhaltung des Richters
für die späteren Juristen nicht mehr zu begreifen; aufzufassen nur
als ein Symbol, als Zeichen für die Richtertätigkeit; vergleichbar eben der
Justitia-Figur. Der ehemalige und eigentliche Sinn wäre nur mehr spekulativ
erschließbar!
2. DIE LÖWENHAFTIG KEIT DES RICHTERS
In dieser Fassung könnte also eine Theorie angeboten werden, die für manche
(hoffentlich nicht für alle) wohl schon spekulativ genug ist! Aber ich
halte es für notwendig, noch einen weiteren Schritt in die Spekulation zu
setzen; und die Vorschrift der Soester Gerichtsordnung vollständig zu thematisieren.
Nämlich: bisher ist der „griesgrimmige Löwe“, als der doch
der Richter sitzen soll, noch nicht genügend berücksichtigt. Ihm gilt es
sich nun spekulativ zuzuwenden.
2. 1 . Freilich hat Adalbert Erler bereits auf den Zusammenhang hingewiesen:
das Sitzen (genauer: das Hoch-Sitzen) des Richters sei eng verwandt
mit dem Sitzen des Herrschers (also des Königs) auf dem Thron; „der
Richter (dessen Funktion ja nicht das Urteilen ist, sondern die Leitung des
Verfahrens] ist … nicht Träger rechtlicher Erkenntnis, sondern rechtlicher
Gewalt und gleicht darin dem König. Richter und König sind daher in letzter
Linie gleichbedeutend.“36 Und- so können wir nun sagen! -als diesen
Trägern rechtlicher Gewalt kommt ihnen der Löwe als Bild der Herrschaft
zu.
Diese These dürfte unbestritten sein. Der Löwe war (und ist wohl
bis heute) Symbol der Herrschaft des weisen Königs37. Deutlich wird dies
35 Dazu vgl. Wolfgang Schild, Spekulationen zur Weiblichkeit der Justitia. Vortragsmanuskript.
36 Erler, Hochsitz 171.
37 Vgl. nur die Nachweise bei Andreas Wacke, Plaudereien über den Löwen und seine
Gesellschaft. In: Rechtshistorisches Journal 10 {1991) 119 ff. {121 ff.).
20
vor allem am Löwenthron des alttestamentlichen Königs Salomon:38 Dieser
ließ sich (nach 1 Könige 10, 18 ff.) “ einen großen Thron aus Elfenbein anfertigen
und mit Feingold überziehen. Sechs Stufen waren an dem Thron,
Stierköpfe hatte der Thron oben rückwärts, auf beiden Seiten waren an
dem Sitz Armlehnen, neben den Armlehnen standen zwei Löwen. Auf den
sechs Stufen standen zu beiden Seiten zwölf Löwen.“
Das Bild des (männlichen) Löwen ist für diese Symbolik auch sehr
gut geeignet, da es die Majestät des Königs der {landlebenden) Tiere zum
Ausdruck bringt: ein großes, ruhiges Tier, mit wallendem (langem) Haupthaar
bei sonst kurzhaarigem Körper, ein ausdrucksvoller Kopf („Haupt“)
gemessen am schlanken, muskulösen, geschmeidigen Körper, eine mächtige
Stimme, auch sonst bei Aktivität ein starkes, schnelles, auch tötendes Tier,
weshalb die Ruhestellung auf Selbst- Sicherheit, Nach-innen-Gerichtetheit,
also “ Souveränität“ hindeutet usw. Nicht ohne Grund ist der Löwe im
Tierepos der gerechte, weise, gute König.
Der in frühchristlicher Zeit entstandene, einflußreiche „Physiologus“
schrieb dem Löwen deshalb auch entsprechende Eigenschaften zu:39 er sei
nur sehr schwer zu erjagen, weil er mit dem Schwanz seine Spuren tilge; er
habe selbst beim Schlafen die Augen offen; er blase den drei Tage alten,
von der Löwin totgeborenen Jungen ins Antlitz und erwecke sie dadurch
(zusammen mit seinem Brüllen) zum Leben; er werde nicht zornig; er sei
barmherzig; er verzichte häufig auf tägliche Nahrungsaufnahme; er könne
durch seine schreckliche Stimme andere Lebewesen bannen. Die ersten
drei genannten Eigenschaften bezog der Physiologus auch auf Christus,
der die Spuren seiner Gottheit in der Menschwerdung versteckte, mit offenen
Augen (als Zeichen der wachenden Gottheit) begraben wurde und am
dritten Tage auferweckt wurde. Freilich gaben die anderen Eigenschaften
die Möglichkeit, den erschrecklichen Löwen mit dem Teufel in Verbindung
zu bringen40; doch ist auf diese Ambivalenz, die häufig der Tiersymbolik
zukommt, hier nicht weiter einzugehen, sondern das (positive) Bild des
Löwen für die gerechte Herrschaft des weisen Königs zugrunde zu legen.
So läßt sich der Gedanke von Erler aufgreifen und das Bild des Löwen
38 Dazu vgl. Jutta Seibert (Hrsg.), Lexikon christlicher Kunst, Freiburg i.Br. 1980,
208 f.
39 Vgl. Franz Unterkircher, Tiere, Glaube, Aberglaube. Graz 1986, 62 ff.
40 Vgl. dazu nur P. Bloch, Löwe. In: Lexikon der christlichen Ikonographie IIL RomFreiburg
i. Br.-Basel-Wien 1971, Sp.112 ff.
21
auch für den Richter heranziehen. Ist doch der Richter der vom König
als dem Träger der Rechtshoheit durch den Bann eingesetzte Herr des
Verfahrens, weshalb auch ihm das Bild des Löwen zukommt41.
2. 2. Doch läßt sich diese Interpretation der Vorschrift der Soester Gerichtsordnung
nach dem unter 1 . 5. Gesagten nicht (mehr) aufrechterhalten.
Den Charakter als Symbol (als Zeichen) kann man danach diesem
Bild erst in späterer Zeit zuerkennen. Konsequent muß deshalb gefragt
werden: Sollte das Bild des Löwen mehr oder gar etwas anderes sein als
nur symbolhaftes Zeichen? Vielleicht die Stellung des Richters als dieses
vom König eingesetzten Machtträgers sinnlich wahrnehmbar machen? Dies
würde bedeuten, daß der Richter (wie der König auch) löwengestaltig hätte
auftreten müssen, um wirklicher Richter (bzw. König) sein zu können!
Denn nur dann wäre die rechtliche Macht und Hoheit auch sinnlich wahrnehmbar
gewesen, wie (auch) an der Gestalt des Löwen, zumindest wie sie
vorgestellt wurde. Richter und König wären löwengestaltig gewesen, weil
in dieser Gestalt – lange Haare und Bart, majestätsvolles Haupt, kraftvolle
Stimme, durchdringender Blick, mächtige Gestalt! – die Rechtsmacht (im
Sinne von: die Idee der Rechtsmacht) selbst ihren Ausdruck gefunden hätte
(und die anderen im vollsten Sinne des Wortes gebannt hätte).
Diese Vorstellung ist auf den ersten Blick absurd! Und doch läßt
sich zeigen, daß sie wirklich gelebt und auch sinnlich zum Ausdruck gebracht
wurde. Dabei möchte ich nur auf Heinrich den Löwen hinweisen, der
nicht ohne Grund das Bild des Löwen auf seine Münzen prägen, sich ein
Löwendenkmal schaffen ließ und für den auch sonst der so verstandene
König der Tiere eine „zutiefst persönliche Wesensbestimmung“ bedeutete42.
Wichtiger in unserem Zusammenhang ist mir allerdings der Kupferstich,
den Albrecht Dürer 1 498/99 geschaffen hat und der herkömmlich als
„Sol iustitiae“ betitelt wird: Christus sitzt als apokalyptischer Richter über
die Welt mit Schwert und Waage in den Händen und mit gekreuzten Beinen
auf einem Löwen43. Erwin Panofsky hat nachgewiesen, daß der Künstler
damit eine Stelle in dem 1489/1499 in Nürnberg (nach)gedruckten „Reper-
41 Dazu vor allem Vital Huhn, Löwe und Hund als Symbole des Rechts. In: Mainfränkisches
Jahrbuch für Geschichte und Kunst 7 (1955) 1 ff.
42 Vgl. dazu Manfred Zips, Zur Löwensymbolik. In: Festschrift für Otto Höfler. Wien
1968, 507 ff. (517).
43 Siehe Abb. 69 bei Wolfgang Schild, Gott als Richter. In: Pleister – Schild, Recht
und Gerechtigkeit 49.
22
torium morale“ des 1362 verstorbenen Petrus Berchorius (Pierre Bersuire)
illustrieren wollte44. Interessant ist nun die Beschreibung des richtenden
Christus bei Berchorius, der auf alte Vorstellungen des Sonnengottes (genauer
und eigentlich: der göttlichen Sonne, wie sie im Jahreskreis ihr Planetenhaus
im Tierkreis des Löwen, also im hochsommerliehen August, findet)
zurückgreift. „Im Sommer, wenn [er, d. h. der männlich gedachte
Sol, der nur im Deutschen als „die“ Sonne weiblichen Geschlechtes ist] im
Löwen steht, macht [er] durch [seine] Glut die Pflanzen welken, die im
Frühling geblüht haben. So wird Christus in jener Glut des Gerichts als
grimmiger und löwenhafter Mensch erscheinen; er wird die Sünder verdorren
und das Glück der Menschen vernichten, das sie auf der Welt genossen
haben.“45 Christus wird von Berchorius und – ihn illustrierend!
– von Dürer als llichter als „homo ferus et leoninus“ aufgefaßt, also als
„löwenhafter Mensch“, wie ihn Dürer an anderer Stelle beschreibt46• Bezeichnend
ist die Parallelität des Gesichtsausdruckes von Christus und dem
Löwen: beide blicken grimmig und voller Strenge! – so wie der Gott des
Alten Testaments, der ebenfalls in dieser Weise vorgestellt wurde47. Beide
stellen in der Mähnenhaftigkeit – ein Strahlenkranz um das Haupt Christi
– die Sonne dar: Hatte doch der Löwe wegen seiner Kraft, seiner goldgelben
Farbe und der strahlenartigen Mähne, die sein Haupt umgibt, auch
wegen seiner oben genannten Eigenschaft – nie die Augen zu schließen notwendigen
Bezug zur Sonne und zum Licht48.
Offensichtlich ist- so denke ich! – auch die Parallelität dieser Vorstellung
zur Soester Vorschrift. Der richtende Christus ist selbst der grimmige
Löwe49, der die Sünder bestraft, dem keine Missetat verborgen bleibt (weshalb
er die Augen stets geöffnet hält wie der Löwe), der deshalb alles sieht
44 Vgl. Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln 1978, 287 ff.
45 Abgedruckt bei Panofsky, Sinn 289.
46 Vgl. Panofsky, Sinn 290.
47 Bloch, Löwe, Sp.112; Wacke, Plaudereien 122. – Zum Gott des Alten Testamentes
als Richter siehe Schild, Gott 50 ff.
48 Vgl. Wacke, Plaudereien 121; Zips, Löwensymbolik 507.
49 Zu dieser Vorstellung des strafenden Weltenrichters siehe Schild, Gott 58 ff.; ders.,
Bemerkungen zur Ikonologie des Jüngsten Gerichts. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie
und Rechtlichen Volkskunde 10 (1988) 163 ff. – Dazu vgl. auch Reinhard
Schwarz, Die spätmittelalterli religiöser Mentalität. In: Geschichte und Wissenschaft im Unterricht 32 (1981) 526 ff.
23
und weiß. Selbstverständlich ist Christus der weise und gerechte Richter
wie sein alttestamentlicher Typus Salomon, der deshalb nicht ohne Grund
auf dem Löwenthron sitzt! Auch der Soester Richter muß wie der apokalyptische
Richter dasitzen und schauen; und- wie Wolf-Herbert Deus herausgestellt
hat!50 – an das Jüngste Gericht denken, wozu ihn diese Vorschrift
ausdrücklich verpflichtet. Auch der Soester Richter muß löwengestaltig
sitzen; in der leiblichen Gestalt das Bild der Rechtsmacht sinnlich wahrnehmbar
darstellen.
2. 3. Um diese These überhaupt auch nur verstehen (geschweige denn: akzeptieren)
zu können, ist es erforderlich, diesen Leib als solchen (und unterschieden
vom Körper) zu begreifen51, eine Differenz, die im lateinischen
„corpus“ noch nicht gedacht wurde. Für uns heute ist der Körper bestimmend
für Realität geworden: ein reales Ding in Raum und Zeit, den
der Mensch hat; und der Objekt ist (z. B. der Kosmetik, Bekleidung, des
sportlichen Trainings) wie alle anderen Objekte auch; in sich sinnlos- weil
getrennt gedacht vom Geist (der körperlos ist) -, daher auch nur Objekt
unserer Praxis und Technik, auch der Wissenschaft und Theorie; handhabbar,
veränderbar, gestaltbar, um-konstruierbar, beherrschbar! Verwendbar
für alles, daher auch als Träger von Zeichen (also von Sinn, Geist), die
ihm aufgeklebt werden können als Symbole, die deshalb eben nur mehr
Zeichen ( d. h. Un-Wirkliches, Konstrukt, Setzung, Beliebigkeit) sind: die
einzige Wirklichkeit ist die Realität der Objekte52. Daneben kennt die
Philosophie/ Anthropologie, daneben kennen wir alle als Handelnde und
Leidende/Empfindende ( d. h. in der Praxis und Selbstrefl.exion!) einen
„Leib“ , der wir selbst sind (im Unterschied zum Körper, den wir haben);
also einen Leib, den das Subjekt sich angeeignet hat und haben muß, in
dem und mit dem es sich handelnd verwirklicht; sowohl aktiv im Tätigsein
als auch passiv im Erleiden und Schmerzempfinden; auch als selbstbewußte
Freiheit, die sich immer nur leiblich verwirklichen kann. Dieser Leib deckt
sich nicht immer mit dem Körper, also dem Stück F leisch plus Blut plus
Knochen innerhalb der Grenze der Haut; sondern als Leib erleben wir
auch z. B. künstliche Glieder, von falschen Zähnen angefangen bis hir1 zu
dem berühmten Holzbein, in dem mancher noch Schmerzen empfindet,
50 Deus, Richter 20.
51 Dazu (mit weiteren Nachweisen) vgl. Schild, Leib.
52 Im übrigen auch für die Geschichtswissenschaft selbst: diese realen Objekte (Körper)
sind die „Quellen“, die interpretiert werden müssen, was subjektive Theorie erfordert.
24
weshalb man von „Phantomglied“ spricht53, das aber imr im Verhältnis
zum „Körper“ Phantom, sondern echter (wirklicher) Leib ist. Auch Kleider
werden oft als Leib betrachtet und gelebt, ebenso das Auto oder die
Wohnung oder vertraute Werkzeuge, zumindest in bestimmten Situationen
und Stimmungen, eben in Handlungsvollzügen {d. h. in Praxis), weshalb
die wissenschaftliche Theorie in ihrem Streben nach allgemeiner und gegenständlicher
Gesetzmäßigkeit sich so schwer mit diesem Leib tut. Noch
mehr, wenn selbst mehrere Körper in einem Auf-einander-Bezogensein als
ein Leib {als Wir-Leib) gelebt werden, wie es Jean-Paul Sartre so eindrucksvoll
für das Fußballspiel dargestellt hat 54• Oder wie es Klaus Theweleit für
die “ Sozialleiber“ der faschistischen Freikorps aufgezeigt hat 55; begründet
und verbunden mit einer psychoanalytischen Theorie, wonach die Wahrnehmung
von „Körpern“ nicht „natürlich“ (im Sinne von „angeboren“)
sei, sondern von der Ausbildung des Realitätsprinzips – wie es der modernen
Wissenschaft als dem Verhältnis von Subjekt und Objekt zugrunde
liegt! – abhänge, wie sie im Leben eines Menschen mit dem Erwachsenwerden
geschieht, aber nicht geschehen muß; durch bestimmte Erlebnisse
der Kleinkindzeit bzw. durch das Fehlen bestimmter Erlebnisse könne
die Ausbildung dieses Realitätsprinzips verhindert, zumindest geschwächt
werden, weshalb Phantasien eines allumfassenden Ich (auch als Weltleib)
bestimmend sein können, verbunden mit Wunsch-Vorstellungen nach leiblicher
Verschmelzung (und Vernichtung entgegenstehender Körper)! Jedenfalls
wird auch damit deutlich, wie sehr dieser „Leib“ als daseiende
Subjektivität und Verwirklichung der Freiheit praktisch bestimmt ist; und
damit immer auch sozialbezogen und geschichtlich ist. Deshalb eröffnet
ein solcher Leibbegriff {ein solches Leibverständnis) den Zugang zur Geschichte,
nämlich gerade des geschichtlichen Handelns; nicht nur im Sinne
irgendeiner Mentalitätsgeschichte, sondern als immer schon leibliche Verwirklichung
der Handelnden. So habe ich z. B. versucht, das Quälen und
Entehren des Missetäters auf das zugrundeliegende Leibverständnis hin
zu befragen und so – über Michel Foucault hinaus! – eine leibliche Geschichte
des Strafrechts in Sicht zu bringen56. Die These war dabei (und
ist es hier in bezug auf den Richter), daß die damals so Handelnden noch
53 Dazu und für das Folgende vgl. die Nachweise bei Schild, Leib.
54 Siehe Jean Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft. Reinbek 1967, 478 ff.
55 Siehe Klaus Theweleit, Männerphantasien. Frankfurt/Main 1977.
56 Schild, Leib.
25
gar keinen in dieser Weise äußerlich gedachten Körper kannten (und deshalb
auch so keinen solchen mißhandeln konnten). Oder – im Hinblick
auf Theweleit gesagt! – daß sie noch nicht das moderne Realitätsprinzip
ausgebildet hatten, sondern in einer Wirklichkeit lebten und handelten,
die sie nicht mit den sinnlich (vor allem durch das Auge) wahrnehmbaren,
bloß äußeren (in-sich-sinnlosen) Körpern, Dingen, Sachverhalten gleichsetzten,
sondern sie als Sinnhaftes immer schon unmittelbar leiblich (oder
leibhaftig) mit allen Sinnen (nicht nur und auch nicht primär mit dem
Auge) wahrnahmen und als wirklich auch lebten; weshalb sie auch keine
Körper hatten, sondern immer (nur) leiblich waren57 . Was anderes sollen
die heute so häufig zu lesenden Hinweise der Historiker bedeuten, daß die
mittelalterlichen Menschen an die „Realität der Begriffe“ (und Ideen) geglaubt,
Realität und Phantasien, Wachsein und Träumen usw. vermischt
hätten, vergleichbar den Kindern, die ebenfalls noch nicht das moderne
Realitätsprinzip entwickelt haben? Vergleichbar den Menschen mit sogenannter
„Ich-Schwäche“ (bis hin in den Bereich der Geisteskrankheiten,
weshalb man den früheren Menschen so gerne „Massenwahn“ zuschreiben
kann)?
Aber dies ist ein weites Feld, das hier nicht näher untersucht werden
kann. Deshalb zurück zu meiner These: der Richter mußte – nach der
Soester Vorschrift! – leiblich das Bild der Rechtsmacht – als Löwengestaltigkeit!
– und so die Idee der Rechtsmacht (des mächtigen Rechts) sinnlich
wahrnehmbar darstellen!
2. 4. Erneut ließe sich von daher eine geschichtsphilosophische Spekulation
begründen, die den unter 1 . 5. erörterten Gesichtspunkt der Sinnlichkeit
des Rechts mit dieser Leiblichkeit in eine (tiefere) Beziehung setzt. Dabei
liegt die Verbindung nahe (und ist etwa in der These von dem Zusammenhang
von Kraft und Recht bekannt58); die obengenannten Beispiele des
Zweikampfes oder des Gottesurteils können doch nur vom Leib her begriffen
werden! Die Konsequenz liegt nun nahe, daß das ursprüngliche Recht –
verstanden und gelebt als wirkliches Rechtsverhältnis! – auch als leibliches
Phänomen vorgestellt und erfahren wurde. Man denke nur an die Lebens-
57 Vg!. Peter Czerwinski, Heroen haben kein Unbewußtes. In: Gerd Jüttemann (Hrsg.),
Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Weinberg 1986, 239 ff.; ders., Der Glanz der
Abstraktion. Frankfurt/Main 1989.
58 Vgl. vor allem Hans Fehr, Kraft und Recht. In: Festschrift für Justus Hedemann.
Jena 1938, 3 ff.
26
kraft der Sippen, die die Ordnung des Zusammenlebens in fortwährender
Dynamik bestimmte: zu begreifen als leibliches In-Besitz-Nehmen der zur
Verfügung stehenden Ressourcen; weshalb auch die Tötung eines Sippenmitgliedes
eine leibliche Schwächung bedeutete und durch die Schwächung
der Tätersippe vergolten werden mußte (soferne nicht dieser Ausgleich
durch leiblichen Zuwachs – z. B. Einsippung des Täters, Hingabe von
Vieh – herbeigeführt werden konnte )59. Die einzelnen Sippen traten wohl
überhaupt als leibliche Einheit auf; Herbert Fischer weist zu Recht auf den
Mannring und den Schulterschluß hin60. Deutlich wird diese Leibgestalt
noch später in dem Ablegen des Eides mit Eideshelfern, die als ein Leib mit
sieben, vierundzwanzig usw. Händen noch in den Bilderhandschriften des
Sachsenspiegels dargestellt wurden. Doch kann man sich m. E. das Verfahren
im Thing selbst als „Rechtsleib“ vorstellen: als durch traditionelle
Handlungsgestalten, durch Handlungsmuster, Gebärdenbilder usw. geordnetes
Aufstellen der Sippen. Vielleicht zog man Verbindungen zum Leib
des Ahns als des Ordnungsstifters, an dessen Grab man Gericht abhielt.
In dem Nach-Vollzug seiner ordnungsstiftenden Tat sollte die rechtliche,
das Leben ordnende Kraft freigesetzt und wirklich werden. Von daher
ließe sich z. B. die Schöffenbank als Leibphänomen begreifen; auch deren
vorgeschriebene Sitzhaltung, ebenso die Handlung der Urteilsschelte, die
ein Glied dieses Gerichtsleibes ersetzen sollte.
Doch zeigt die Konzentration der Soester Vorschrift auf den Richter
bereits eine spätere Entwicklungsstufe der Leibvorstellung 51 • Die Macht
liegt schon im Haupt, das die Glieder (und Körperteile) lenkt und beherrscht.
Bald war es doch eine Sippe, der die maßgebende Kraft zuerkannt
wurde: als Herrschaft der Königssippe. Deren Herrschaft (als
„Königsheil“, d. h. wirksame und wirkende Kraft) wurde vom Leib des
Königs – zuletzt dem Ahn! – her gedacht und nur als leiblich erfahrbare
als wirklich (an)erkannt. Ernst H. Kantorowicz hat diese Vorstellung
des „Königsleibes“ (schlecht zu übersetzen mit „Körper des Königs“ )
überzeugend aufgearbeitet62; Verbindungen zur Vorstellung der Kirche als
59 Vgl. dazu Wolfgang Schild, Das Strafrecht als Phänomen der Geistesgeschichte.
In: Justiz in alter Zeit. Führer des Mittelalterlichen Kriminalmuseums Rothenburg
o. d. T. 1989, 7 tr.
60 Vgl. Fischer, Offene Kreuzhaltung 10 f.
61 Dazu siehe Schild, Leib.
62 Siehe Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. München 1990.
27
„corpus Christi“ liegen nahe. Nur von dieser leiblichen Macht läßt sich
auch der Gerichtsbann verstehen: Der Richter erhielt Anteil an dieser
Kraft und mußte sie deshalb auch leiblich zum sinnlichen Ausdruck bringen.
So hat Hanns Bächtold-Stäubli in seiner ursprünglichen Interpretation
ein wesentliches Moment herausgestellt: die Sitzhaltung des Richters
sollte den Angeklagten bannen63; aber nicht (nur) durch die gekreuzten
Beine und nicht (nur) den Angeklagten, sondern die Verfahrensbeteiligten
alle und auch den Umstand (vor allem und primär) durch das Sitzen als
griesgrimmiger Löwe. Dabei ist sicherlich der unmittelbare Bezug auf den
bei Dürer dargestellten apokalyptischen Christus (als löwenhaften Menschen)
bereits aufgegeben; maßgebend ist bereits die Stellung des Richters
als des Trägers der Rechtsmacht (wie sie selbstverständlich auch dem
göttlichen Richter, aber auch Salomon zukam)64. Diese Sitzhaltung stellte
deshalb für alle sinnlich wahrnehmbar die Rechtsmacht dar, die Gewähr
dafür bot, daß in dem Verfahren auch ein Recht gefunden wurde, das
verwirklicht werden würde, dem also die Kraft des Rechts (Rechtskraft)
zukommen würde. Als griesgrimmiger Löwe beherrschte der Richter das
Verfahren, hielt durch seinen Blick die Emotionen und die Aggressivität
der Parteien und des Umstandes nieder; war deshalb wirkliches Bild der
Friedens-Macht, die auch die Kraft hatte, gegen Friedensbrecher vorzugehen.
Deshalb konnte (und mußte) der Richter ruhig dasitzen (und die
Beine kreuzen) : Denn auf diese Weise wurde seine Herrschaft offensichtlich!
Er saß der Verhandlung im wirklichen Wortsinne vor: Er war das
Haupt des Verfahrens, das alle Beteiligten in Besitz hatte und so lenken
konnte. Der Richter war selbst der Rechtsleib (das leibliche Haupt) des
Verfahrens; weshalb er durch Hegungshandlungen den Gerichtskreis abstecken
und so leiblich in Besitz nehmen mußte (und zugleich unrechtliehe
Kräfte bannen konnte), aber auch z. B. die Macht hatte, gegen die nieder_
zureißende Burg des Friedensbrechers den ersten Schlag zu führen65 . Sein
Leib – als Bild der Rechtsmacht! – erfüllte den gesamten Ort des Gerichts
und das Verfahren selbst.
Deutlich ist freilich dabei die Konzentration auf den Richter als dem
63 Vgl. Bächtold-Stäubli, Beine kreuzen oder verschränken 54.
64 Zur Wechselbeziehung der Vorstellungen des göttlichen und des irdischen Richters
vgl. Schild, Gott 70 ff.; ders., Bemerkungen zu Ikonologie 190 ff.
65 Zu dieser Bestimmung des Sachsenspiegels vgl. Schild, Gerichtsbarkeit 76.
28
leiblichen Herrn des Geschehens. Die Soester Vorschrift weist ihm – allein
schon durch die Parallelität zu dem Jüngsten Richter Christus! – eine
aktive Stellung zu; zumindest der Urteilsvorschlag wird (wohl) von ihm
erwartet, auch wenn das Urteil dann selbst von den Schöffen gefa.llt worden
sein sollte. Jedenfalls zeigt seine dominierende Sitzhaltung, daß er
alles, was sich unter seinem Sitz befindet, beherrscht; was Erler richtig erkannt
hat66. Schon stehen dem Richter Untertanen (Rechtsunterworfene)
gegenüber, die – gegenüber der leiblichen Macht des Richters/Königs! –
zunehmend auf bloße Körperlichkeit reduziert werden, die sich nur mehr
vor Gericht bewegen können, deren Bewegungen aber von der Rechtsmacht
interpretiert (und so mit rechtlichem Sinn erfüllt) werden, wodurch das
Recht immer theoretischer, vergeistigter, wissenschaftlich wird, zugleich
aber auch gesetzt (und nicht mehr einfach nur als wirklich wahrgenommen)
wird. Nicht mehr wird das konkrete Rechtsverhältnis im Ur-Teil
Gottes wirklich (und damit sinnlich wahrnehmbar). Sinnlich wahrnehmbar
wird nun nur (und soll dies auch nur werden) die Idee des Rechts als
mächtig, als von der Macht gesetzt und durchgesetzt: Also schon ging es
um Staat und staatliches Recht! Schon deutet die Sitzhaltung auf den Status
der Macht hin. Das Beinkreuzen ist von daher mit Leopold Schmidt
und Herbert Fischer wohl auch bereits Ausdruck der Distanz zum Volk!
Jedenfalls ist der Richter als Haupt des Verfahrens von Aktivität her gedacht.
Recht wird nicht mehr durch die Gnade des christlichen Glaubens
offenbar (wie im Gottesurteil), sondern muß von der Macht (zuletzt des
Staates) gefunden, gesetzt und durchgesetzt werden67. Mag auch diese
Macht noch lange als gottbegnadet vorgestellt werden! Dabei ist das Bild
des Löwen gut geeignet, diese Ablösung von der Vorstellung des Gottesurteils
zum Ausdruck und eine neue Dimension eines Naturrechts in Sicht
zu bringen; ist er doch im Rahmen der Schöpfungsordnung und damit als
solcher (von Natur aus) der Herrscher der Tiere.
Von daher ließe sich die unter 1 . 5. skizzierte Entwicklung zum Symbol
der Justitia als Prozeß der Ent-Leiblichung darstellen; und damit
als Vergeistigung, Verwissenschaftlichung, Versprachlichung, Theoretisierung.
Recht wird so zu einem (nur) sinnhaften Gehalt, der als Zeichen
dem sinn-entleerten Körper angeheftet werden kann; wie der sprachliche
66 Vgl. Erler, Hochsitz 169 ff. – Im übrigen nimmt Huhn, Löwe und Hund 60 einen
sprachlichen Zusammenhang von „Iee“ ( = „Gerichtshügel“ ) und „lewe“ an.
67 Vgl. Schild, Rechtstag 138 ff.
29
Sinn dem Stück Pergament oder Papier, auf das er als Inhalt einer Halsgerichtsordnung
geschrieben wird; wie umgekehrt die Behandlung (oder
Mißhandlung) der Körper rechtlichen Sinn erhalten kann, z. B. als Abschreckungsmaßnahme68.
Zuletzt bleibt nur das Symbol der Gerechtigkeit:
als Zeichen, die an einen Körper angeheftet werden, verstanden nur als die
Attribute; Schwert und Waage werden primär, die Gestalt der Justitia
selbst – als Jungfrau!69 – tritt in den Hintergrund. Auch der Löwe kann
so zum Attribut der Justitia werden; Kurt Rathe bringt dafür Beispiele70.
Zuletzt verliert auch der Richter im Verfahren – wie der Staat selbst! –
seine Leiblichkeit. Bestimmend wird die normative Ordnung (die durch die
Macht gesetzt und durchgesetzt wird) , das Sollen, das zugleich die Macht
legitimiert; wie auch das Symbol der Justitia auf den Gerichtsgebäuden,
die eigentlich nur mehr Rechtsfabriken geworden sind, in denen Juristen
arbeiten. Justitia wird zum Arbeitsethos der wissenschaftlich ausgebildeten
Richter.
3 . VoR-BILD UND LEGITIMATIONSZEICHEN
Zum Abschluß soll noch kurz auf einen (möglichen) Einwand dieser spekulativen
Interpretation eingegangen werden, nämlich: Dies alles möge
ja interessant sein, eine schöne Geschichtserzählung, überdies für Tierfreunde;
aber hier gehe es doch um die Soester Gerichtsordnung aus der
Zeit von 1500, d. h. der Neuzeit; und damit bereits aus einem Weltbild,
das die Leiblichkeit schon abgestreift habe zugunsten der Arbeitsstruktur
der bürgerlichen Gesellschaft; was sich jedenfalls darin zeige, daß bereits
auf den griesgrimrnigen Löwen als ein Symbol der Macht (und nicht unmittelbar
auf den Leib des Richters) verwiesen werde!
Ein solcher Einwand hätte zunächst einmal recht, was den Löwen betrifft.
Er steht bereits für ein älteres leibliches Rechtsverständnis, ist in der
Tat wohl nur (mehr) Symbol! Aber immerhin ist er noch ein leib-bezogenes
Symbol: ein sinnlich wahrnehmbares Bild von leibhafter Macht und Majestät
(und nicht schon eine Tugendfigur mit Attributen ihrer Tätigkeit)!
Immer noch ist dieses Bild des Richters – gemessen an der Zeit um 1500!
– zu alt!
68 Dazu siehe Schild, Leib.
69 Dazu siehe Schild, Spekulationen.
70 Siehe Kurt Rathe, Der Richter auf dem Fabeltier. In: Festschrift für Julius Schlosser.
Leipzig 1927, 187 ff. (201, Anm. 32, 204 ff.).
30
Diese Einsicht führt zu meiner (letzten) These. Auch für die Zeit um
1500 galt wohl: das Recht in seinem Konkret-Werden (Wirklich-Werden)
im Urteil, das die Kraft des Rechtes haben sollte, brauchte (und braucht
wohl bis heute) das Herausgehobenwerden aus dem Alltag und dem gerade
herrschenden Zeitgeist; es braucht( e) einen eigenen spezifischen Raum und
eine eigene spezifische Zeit!71 Und zwar den Rückbezug auf die Vergangenheit!
72 Immer ging (und geht) es um vergangenes Recht. Selbst jedes
Gesetz ist als positiviertes bereits Geschichte; wieviele heute noch geltende
Rechtsvorschriften stammen von Toten? So wie früher das gute alte
Recht der Ahnen oder des Schöpfergottes, die deshalb auch die besten
Richter waren 73 . Immer ging es darum, diese altwürdige, verklärte, heilige
Ordnung der Alten wieder in Kraft zu setzen: immer also um eine
Reformation! Deshalb – so meine ich! – hat Erler recht, wenn er meint,
daß diese Soester Gerichtsordnung einen alten Rechtsbrauch vorschreibe,
den man nicht mehr verstanden habe74. Gerade in diesem Unverstandensein
liegt aber m. E. das Wesentliche: ein mythischer Schleier von „alt
und gut“ , der verklärt und legitimiert; der deshalb auch als Theater des
Rechts wirken kann, verbunden mit Phantasie, Faszination, Unterhaltung,
Belehrung, Berichterstattung als Literaturgattung! Rechtsprechung war
und ist immer Tribunal/Szene/Theater; selbst in den heutigen Urteilsfabriken
treten gesetzespositivistisch-wissenschaftlich ausgebildete Richter
in Talaren auf und sollen sich nach einer (weiblichen) Tugendgestalt richten!
Stets steht Rechtsprechung daher an der Schwelle zur Komödie: Das
Alte kann lächerlich wirken und so dysfunktional werden, was dann in
der Konsequenz zur Reform führt und führen muß, damit ein besseres,
dem Zeitverständnis angepaßteres Theater (etwa: eine Arbeitssitzung am
runden Tisch) möglich sein kann.
Freilich bedeutet dies, daß die Bilder aus der Rechtsgeschichte nicht
als Quellen der Zeit aufgefaßt werden können, aus der sie stammen; wie
Talare nicht die Kleidung der heutigen Menschen sind! Sie verweisen auf
die Vergangenheit. Aber auch dafür sind sie keine verläßlichen Quellen.
Denn sie beruhen oft auf Unverständnis früherer Weltbilder, verzerren des-
71 Vgl. dazu Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren. Neuwied 1969.
72 Dazu vgl. Wolfgang Schild, Nutzen und Wert von Rechtsarchäologie und Rechtsikonologie
für die mittelalterli 73 Vgl. dazu Schild, Gerichtsbarkeit 72.
74 Erler, Hochsitz 178.
31
halb die Vergangenheit, blähen sie auf. Nur deshalb finden sich m. E. so
häufig Hinweise auf magische Handlungen (auch für das Beinkreuzen des
Richters) : Ein anderes Weltbild mit einer anderen Leiblichkeit, das in sich
geschlossen und selbstverständlich war, wurde nicht mehr verstanden von
dem neuen Zeitgeist, deshalb zur Magie gemacht und zeremoniell nachgespielt!
Der Richter mußte also weiterhin nach dem Vorbild der Soester
Vorschrift die Beine kreuzen: verständlich nun nur mehr als Überrest vergangeuer
Zauberei! Auf den griesgrimmigen Löwen konnte man bei der
Staatlichkeit um 1500 bereits verzichten: Aber es verlieh dem Richter romantische
nostalgische Züge, zudem den Hauch der guten alten Zeit mit ihrer
legitimatorischen Kraft, verbunden mit einem leisen Lächeln über diese
Vorschrift, wie Bächtold-Stäubli gesehen hat: „Vieles, das nicht mehr verstanden
wurde, ist in Scherz umgewandelt auf uns gekommen.“75 Ob diese
Vorschrift der Soester Gerichtsordnung deshalb bis heute so oft genannt
und behandelt wird?
75 Bächtold-Stäubli, Beine kreuzen oder verschränken 54.
32
Krems 1992
MEDIUM
AEVUM
QUOTIDIAN UM
27
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramer
Satz und Korrektur: Birgit Kar! und Gundi Tarcsay
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der materiellen
Kultur des Mittelalters. Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich. – Für den
Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche Zustimmung jeglicher
Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: KOPITU Ges. m . b. H.,
Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7
STEPHAN J. TRAMER, Zum neuen ‚Gesicht‘ von „Medium
Aevum Quotidian um“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
WOLFGANG SCHILD, Der griesgrimmige Löwe als Vor-Bild
des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1
VERENA WINIWARTER, Landwirtschaftliche Kalender im
frühen Mittelalter. Überlegungen zum Fortleben antiken
Bildungsgutes und zu seinen Funktionszusammenhängen . . . . . . . . . 33
JÜRG ZULLIGER, Bernhard von Clairvaux als Redner . . . . . . . . . . . . . 56
KATHARINA SIMON-MUSCHEID, Konfliktkonstellationen im
Handwerk des 14. bis 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
KOMMUNIKATION ZWISCHEN ÜRIENT UND ÜKZIDENT.
ALLTAG UND SACHKULTUR
Kurzfassungen der Kongreßreferate
RALPH-JOHANNES LILIE, Die Handelsbeziehungen zwischen
Byzanz, den italienischen Seestädten und der Levante
vom 10. Jahrhundert bis zum Ausgang der Kreuzzüge . . . . . . . . . . . 110
TELEMACHOS LOUNGHIS, Die byzantinischen Gesandten
als Vermittler materieller Kultur vom 4. bis ins 1 1 . Jahrhundert
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
SOPHIA MENACHE, The Transmission of News in the Period
of the Grusades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 6
NoRMAN A . DANIEL (t), Impediments to the Transmission
of the Cultural Influence of Islam to Western Europe in the
Middle Ages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
ULRICH REBSTOCK, Angewandtes Rechnen in der islamischen
Welt und dessen Einflüsse auf das Abendland . . . . . . . . . . . . . 122
5
DAVID A . KING, Astronomical Instruments between East
and West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
ANDREW M. WATSON, The Imperfect Transmission of
Arab Agricultural Innovations into Christian Europe . . . . . . . . . . . . 131
WOLFGANG VON STROMER, Die Vorgeschichte der l‘:fürnberger
Nadelwaldsaat von 1368 – iberisch-islamische Uberlieferung
antiker Forstkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
ULRICH HAARMANN, Waffen und Gesellschaft im spätmittelalterlichen
Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
TAXIARCHIS G. KoLIAS, Wechselseitige Einflüsse zwischen
Orient und Okzident im Bereich des Kriegswesens . . . . . . . . . . . . . . . 139
YEDIDA K . STILLMAN, The Medieval Islamic Vestimentary
System: Evolution and Consolidation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
FRIEDRUN R. HAU, Die Chirurgie und ihre Instrumente in
Orient und Okzident vom 10. bis 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 143
PETER DILG, Materia medica und therapeutische Praxis
um 1500. Zum Einfluß der arabischen Heilkunde auf den
europäischen Arzneischatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 7
PETER HEINE, Rezeption der arabischen Kochkunst und
Getränke in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
HERBERT HUNGER, Griechische Buchproduktion in Italien
im 15. Jahrhundert. Voraussetzungen und Anfänge . . . . . . . . . . . . . . 152
KLAUS-PETER ATSCHKE, Westliche Bergleute auf dem
Balkan und im Agäisraum im 14. und 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . 155
Rezensionen:
Stavroula Leontsini, Die Prostitution im frühen Byzanz
(Nikolaj Serikoff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Dorothee Rippmann, Bauern und Städter (Albert Müller) 162
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Vorwort
Das vorliegende Heft von Medium Aevum Quotidianumfolgt einerseits etablierten
Traditionen, andererseits wird versucht, in manchen Bereichen
neue Maßstäbe zu setzen und Veränderungen zu initüeren. Der wohl augenfälligste
Wandel ist das neue ‚Gesicht‘ der Zeitschrift, welches wir schon
seit längerer Zeit zu verwirklichen gewünscht hatten. Einer glücklichen
Verbindung zu dem für die Basler Denkmalpflege tätigen Graphiker Stephan
J. Tram er haben wir es zu verdanken, daß eine unserer Ansicht nach
sehr gelungene Visualisierung der Anliegen der Gesellschaft und damit
auch der Zeitschrift Medium Aevum Quotidianum entstanden ist. Wir
danken Herrn Tramer auch, daß er sich bereit erklärt hat, uns einige Gedanken
zur Entstehung der Titelgraphik zu überlassen (S . 9 f.).
Ein größerer Teil des vorliegenden Heftes ist den Kurzfassungen der
Referate gewidmet, welche anläßtich des von Medium Aevum Quotidianum
gemeinsam mit dem Institut für Realienkunde des Mittelalters und der
frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten
Kongresses „Kommunikation zwischen Orient und Okzident. Alltag
uns Sachkultur“ (Krems, 6. bis 9. Oktober 1992) gehalten werden. Wir
danken den Referenten für Ihre Bereitschaft, uns Abstracts zur Verfügung
zu stellen.
Die vier, den Kurzfassungen der Referate vorausgehenden Beiträge
sollen im besonderen zeigen, in welche unterschiedlichen Richtungen alltagsgeschichtliche
Forschung zu sehen und zu gehen hat, wenn sie versuchen
will, breite, interdisziplinäre Ansätze zu verwirklichen. Wenn auch
keiner der Aufsätze dem folgt, was wir vielleicht eine typische alltagsgeschichtliche
Problematik nennen würden, so zeigen sie dennoch beispielhaft
und in signifikanter Weise, wie vielschichtig Fragestellungen sein können,
welche zumindest indirekt für die Erforschung von Alltag und Sachkultur
des Mittelalters relevant sein können. Sie vermitteln, auf welch differenzierte
Weise an diese Fragen herangegangen werden kann, und damit auch
die Verschiedenartigkeit der Methoden, deren Anwendung in jedem Fall
zu wichtigen neuen Erkenntnissen zu führen imstande ist.
Die Mitglieder unserer Gesellschaft werden vielleicht mit einiger Überraschung
den Erhalt des Heftes 26 von Medium Aevum Quotidianum zur
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Kenntnis genommen haben, eines Bandes, den wir bis dato auch noch
nicht in unseren Vorausschauen angekündigt hatten. Der schnelle Entschluß,
dieses Heft in unserer Reihe aufzunehmen, ergab sich einerseits
daraus, daß von Manfred Thaller, dem Herausgeber der Halbgrauen Reihe
zur Historischen Fachinformatik, ein diesbezügliches Angebot vorlag. Andererseits
zeigt gerade die jüngere Entwicklung mancher Tendenzen in der
Mediävistik, daß dem Bild als Quelle und seiner adäquaten Analyse in vieler
Richtung immer stärkere Bedeutung zugemessen wird. Gleichzeitig ist
die Weiterentwicklung von Methoden der digitalen Bildverarbeitung und
ihre verstärkte Anwendung in den historischen Wissenschaften – nicht nur
in der Kunstgeschichte – ein international an vielen Orten zu erkennendes
Phänomen, an dem gerade auch eine Alltagsgeschichte des Mittelalters,
welche der Interpretation von bildlieber Überlieferung starkes Augenmerk
zuwendet, nicht vorübergehen kann. Wir hielten es deshalb für legitim,
den Band aufzunehmen, auch wenn er sich nur peripher mit konkreter
Anwendung der neuen Methoden auf alltagsgeschichtliche Analyse auseinandersetzt.
Auf Grund dieses Einschubes hat sich der bereits angekündigte Erscheinungstermin
des Sonderbandes 2 von Medium Aevum Quotidianum
etwas verschoben. „The Politics of Cruelty in the Ancient and Medieval
World“ wird daher voraussichtlich erst im Laufe des Novembers erscheinen
und zum Versand gelangen.
Gerhard Jaritz
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Zum neuen ‚Gesicht‘ von
„Medium Aevum Quotidianum“
STEPHAN J . TRAMER, BASEL
Ich bin vom Herausgeber gebeten worden, einige Gedanken zu meinem
Entwurf des neuen Titelblattes der Zeitschrift „Medium Aevum Quotidianum“
zu äußern. Ich ging davon aus, bloß eine ungefähre Ahnung darüber
zu haben, was die Realienkunde des Mittelalters genau bedeuten könnte.
Wie soll ich ihr also ein passendes ‚Gesicht‘ zuweisen?
Da ich zeitweilig in der Bauforschung der Basler Denkmalpflege tätig
bin, stellte ich mir vor, daß die Realienkunde dort beginnt, wo unsere
Hausforschung etwa aufhört. Es sind Verknüpfungen von Fakten und deren
Interpretationsversuche. Wo aber hört die strenge Wissenschaft auf
und wo beginnen die subjektiven, zeitbedingten Fahrlässigkeiten der phantasiereichen
Modifikationsprozesse? Wir untersuchen alte Häuser und ihre
Einzelteile, wie Gebälksysteme, die Wachstumsschübe und ihre jeweiligen
Mauercharaktere. Wir analysieren und sortieren. Was wir immer besser
zu kennen glauben, sind aber oft zu vereinbarten Begriffiichkeiten kompostierte
Ablagerungen, Rückstände längst vergangener sozioökonomischer
und kultureller Verhältnisse, deren Geschmack – wortwörtlich – verduftet
ist.
Und sind es nicht gerade die Düfte, welche in uns die wirkungsreichsten
Erinnerungsschocks auszulösen vermögen? Plötzlich werden lang
zurückliegende Realitäten wieder unverschämt gegenwärtig. Der Duft eines
Misthaufens, unverändert durch alle Epochen hindurch sich treu bleibend,
verbindet mich mit allen Düften aller Misthaufen der Geschichte.
Und was dem Misthaufen bekannterweise vorausgeht, ist das Essen. So
stelle ich mir die Realienkunde vor, daß ich mich in die alltäglichen Befindlichkeiten
der Menschen, die vor uns gelebt haben, einarbeite. Die
Notwendigkeit zu essen verbindet mich mit allen Geschlechtern. Nur, war
das früher nicht oft mehr Mühe als Genuß? Mit der gewohnten Addition
von netten Versatzstücken aus dem Folklorealbum des Mittelalters kann
ich das nicht ausdrücken. Ich möchte aber diesen Duft des Mittelalters
optisch und gefühlsmäßig zugleich zur Darstellung bringen.
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Da finde ich in vielen Unterlagen die Abbildung eines uralten Holztellers,
oder zumindest das Bild von dem, was von ihm übriggeblieben ist.
Den Rest hat die Zeit schon selber aufgegessen. Der Teller drückt für mich
aus, was wir trotz aller minutiöser Bauuntersuchung nie entdecken können:
den Odem des alltäglichen Lebens, das sich zwischen den von uns auf Millimeterpapier
verzeichneten Gemäuern abgespielt hat. Der Teller wird zum
Zeichen dafür, wie die Realienkunde, wie ich sie hier verstehe, versucht,
über die Grenzen der Verfügbarkeiten der rein materiellen Archäologie
hinauszugehen und in die in der Zeit verborgenen Alltäglichkeiten der Geschichte
einzudringen. Was kann ich nun mit diesem Teller anfangen? Ich
wende das Photo um neunzig Grad und merke plötzlich, daß die Bruchkante
dieses Holzobjektes dem Profil eines Menschen auffallend ähnlich
ist.
Da stöbere ich wieder in einem Berg von Unterlagen, um Augen zu finden,
die für diesen ‚Kopf‘ passen würden. Die romanischen Figuren haben
doch manchmal diesen wie auf Unendlich eingestellten Drillbohrerblick.
Da finde ich die Umzeichnungen von auf mittelalterlichen Pilzkacheln reliefartig
abgebildeten Köpfen. Das sind genau die Augen, die den rechten
Blick aus der Tiefe der Geschichte aufzuweisen schienen. Das linke Auge
klebe ich in den Teller, das andere dorthin, wo der verlorene Tellerteil zu
ergänzen wäre. Diese Rekonstruktion bewerkstellige ich mit dem Kreis,
der Metaphorik der wissenschaftlichen Arbeit sozusagen. Jetzt blickt der
Teller seitwärts und direkt auf mich. Dieser Widerspruch könnte auch
passend sein. Das einfache Schwarz-Weiß-Schema deutet auf die Abstraktionsarbeit
hin, die laufend getan werden muß, um nicht in anekdotische
Geschichtsforschung zu verfallen. Nun füge ich längs der senkrechten Mittelachse
des Blattes eine Schrift hinzu, die einfach und klar sein soll. Das
Wort „Quotidian um“ greift zudem formal mit seinen beiden „0“ dem Kreis
voraus. So ist das ‚Alltägliche‘ des Mittelalters auch typographisch verankert.
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