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„Der Pöbel, der nicht in gebildeten Wendungen zu sprechen versteht“. Unterschiede zwischen der Kultur des Volkes und der Kultur der Eliten in den Viten der Heiligen Wiborada

„Der Pöbel, der nicht in gebildeten Wendungen zu sprechen versteht.“ Unterschiede zwischen der Kultur
des Volkes und der Kultur der Eliten in den Viten der Heiligen Wiborada
Karsten Uhl
1. Einleitung
Da Heiligenviten ihre hagiographischen Ideale vor dem Hinterg nd ihrer zeitgenössischen Vorstellungswelt propagieren, bieten sie eine gute Grundlage, um Rückschlüsse auf die Kultur verschiedener gesellscha licher Gruppen des frühen Mittelalters zu ziehen. So geben die zwei erhaltenen Viten der sanktgallischen Heiligen Wiborada nicht nur lnfonnationen über das Leben Wiboradas, sonde sie spiegeln „als Zeitbild zugleich Ideen und Vorstellungen des 1 0 . und 1 1 . Jahrhunderts“ wider.‘ Ziel dieser Arbeit ist es, Aussagen über die Autoren, ihre Zeit und ihre Kultur sowie über ihre Auffassung von der Kultur anderer Gruppen zu treffen. Kultur verstehe ich dabei zunächst im weitesten Sinne als die passive und aktive Aneignung von Eigenscha en und Gewohnheiten.
Ich werde untersuchen, wie die Autoren, als Angehörige der geistlichen Elite, die Kultur anderer darstellen und inwiefe sie sich von ihr absetzen, um auf diese Weise zugleich Einblick in ihre Selbstsicht zu gewinnen. Dabei wird vor allem die Unterscheidung zwischen der Kultur des Volkes, der weltlichen Elite und der geistlichen Elite im Mittelpunkt stehen. „Volk“ meint hier zunächst lediglich Nicht-Elite, während die Eliten sich durch „die
‚ Eva IRBLICH, Die Vitae Sanctae Wiboradae. Ein Heiligen-Leben des I 0. Jahrhunderts als Zeitbild, in: Schri en des Vereins r Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 88, 1970, S. 1 -208, hier S. 195.
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privilegierte Position gegenüber anderen“ de nieren.1 Ein Blick auf die Rolle der Frauen in den Viten soll zeigen, inwiefe die zuvor untersuchten kulturellen Unterscheidungen auch für Frauen gelten bzw. in welchem Ausmaße diesen eine eigene Kultur zugeschrieben wurde.
Weitreichende Aussagen über die Volkskultur dieser Zeit können auf dieser schmalen Quellenbasis sicherlich nicht getroffen werden. Wichtiger ist es vielmehr, „Volkskultur“ nicht als vorgegebene, feste De nition zu betrachten, sonde den Inhalt und die Grenzen des Begri s „Volkskultur“ für jede Quelle neu zu bestimmen. So werde ich im folgenden diesen allgemeinen Begriff vom Verständnis der Viten aus untersuchen und bestimmte Aspekte herausarbeiten, deren Reichweite in weiteren Forschungen zu überprüfen wären. Dem Inhalt der Viten gemäß werden sich solche Fragen größtenteils Themen der Religiosität und ihrer Ausübung, also an eventuellen Unterschieden zwischen Kirchenglauben und Volksglauben, untersuchen lassen. Das Leben der Wiborada, die 926 den in
St. Gallen einfallenden Unga zum Opfer el, weil sie als Inkluse dem Kloster treu und in ihrer Zelle blieb, während sie die übrigen aufgrund einer Vision wa en konnte, spielt in diesem Rahmen eine untergeordnete Rolle. Von zentraler Bedeutung ist hingegen die Frage, was überhaupt von den kulturellen Eigenschaften der verschiedenen Bevölke ngsteile in den Viten erwähnt wird. Da erwartungsgemäß sehr wenig Explizites zu nden ist, konzentriere ich mich auf die Interpretation zunächst eher beiläu g erscheinender Äußerungen und Anprangerungen bestinunter M i ßstände. Diese Aussagen sind zudem geeignet, die Selbstsicht der Autoren und ihre Sicht anderer G ppen zu enthüllen. Die bisherige Wiboradaforschung berührt meine Fragestellung nur a Rande und dient mir daher vor allem als quellenkundlicher Hintergrund.3
2 Gerhard JARITZ, Gemeinsamkeit und Widerspruch. Spätmittelalterliche Volkskultur aus der Sicht von Eliten, in: Volkskultur des europäischen Spätmittelalters, hg. v. Peter Dinzelbacher u. Hans-Dieter Mück (Böblinger Forum I) Stuttgart 1987, S. 15-33, hier S.
16f.
‚ Benutzt wurde die jüngste Quellenedition: Vitae Sanctae Wiboradae. Die ältesten Lebensbeschreibungen der heiligen Wiborada. Einleitung, kritische Edition und Übersetzung besorgt von Walter BERSCHIN, St. Gallen 1983. Besonders stütze ich mich auf die Ergebnisse von Berschin und Irblich. Walter BERSCHIN u. Gereon BECHT, Sprachliches in den Vitae S. Wiboradae von Ekkehart I. (ca. 960/970) und Herimannus (ca. 1075) von St. Gallen, in: Archivum Latinitatis Medii Aevi 43, 1984, S. 5-26; Walter B E R S C H I N , D a s V e r f a s s e r p r o b l e m d e r V i t a S . W i b o r a d a e , i n : Z e i t s c h r i r Schweizerische Kirchengeschichte 66 (3-4), 19 , S. 250-277; DERS., Frauengestalten der deutschen Frühe: Lioba, Wiboradae, Mathilde, Hrotsvit, Theophanu, in: Philologische Untersuchungen, hg. v. Ai ed Ebenbauer, Wien 1 984, S. 30-40; IRBLICH (wie Anm. I ).
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2. Autoren und Adressaten
2.1. Die Autoren
Die ältere, nicht erhaltene Vita der Wiborada wurde zwischen 960 und 970, also keine nfzig Jahre nach dem Tod der Heiligen, von dem Dekan Ekkehart I. von St. Gallen im Au rag des Bischofs Ulrich von Augsburg verfaßt. Ekkehat1 1 . , der Anfang des zehnten Jahrhunderts geboren wurde, entstanunte einem bedeutenden Geschlecht aus der Gegend um St. Gallen.‘ Berschin bezeichnet ihn als den „wohl bekanntesten Sanktgallensec Autor[s] des X. Jahrhunderts“.5
I 047, als zur anstehenden Heiligsprechung Wiboradas eine überzeu­ gendere Vita benötigt wurde, besorgte der Mönch Ekkehart I V . , der ve utlich Ende des zehnten Jahrhunde s bei St. Gallen geboren wurde, eine wahrscheinlieb „nur leicht bearbeitete[n] Neuausgabe“.6 Der Verfasser mehrerer theologischer Gedichte zeichnete sich in seinem Hauptwerk Casus s. Galli als Gegner allzu strikter Refonnen und Anhänger strenger benediktinischer Ideale aus.7 Mit seinem Tod um I 060 und dem des seit l 034 amtierenden Abtes Norbert im Jahre 1072 fand im Kloster St. Gallen ein Generationswechsel statt, in dessen Folge um 1075 der neue Abt Ulrich II. dem Mönch Herimannus eine „grundlegende Neufassung“ der Vita Wiboradae in Au rag gab.1
Diese Arbeit des weithin unbekannten Autors hält Berschin „literarisch“ r „eine beachtliche Erscheinung“, Otto Prinz betont ihre „drastische und eigenwillige“ Sprache.9 Herimannus tritt wesentlich
‚ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) S. 4; Peter STOTZ, Ekkehard I. von St. Gallen, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 2, hg. v. Kurt Ruh u. a., Berlin. New York 2 1 980, Sp. 447-453, hier Sp. 447f.
‚ BERSCHIN, Das Verfasserproblem der Vita S. Wiborada (wie Anm. 3) S. 260.
‚ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) S. 14; Gereon BECHT, Sprachliches in der Vita S. Wiboradae (II). Dabei: Ein Walthariuszitat in derjüngeren Vita, in: Mittellateinisches Jahrbuch 24/25, 1989/90, S. 1-9, hier S. 7. Becht und Berschin folgend ist also auch die erhaltene Fassung Ekkehart I . und dem 10. Jahrhundet1 zuzuschreiben.
‚ Hans F. HAEFELE, Ekkehard IV. von St. Gallen, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 2 (wie Anm. 4) Sp. 455-465, hier Sp. 457. 461ff.
‚ BECHT (wie Anm. 6) S.7.
‚ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) S. 20; Olto PRINZ, Zur lexikalischen Auswer1ung der beiden ältesten Vitae Sanctae Wiboradae (eine Ergänzung), in· Deutsches Archiv fur
Erforschung des Mittelalters 42, 1986, S 206-212, hier S 210. Prinz meint, „daß die
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selbstbewußter als sein Vorgänger auf; er nennt sich selbst im Prologtitel, während Ekkehart I. erst in dem von Ekkehart IV. hinzuge gten Epilog als Verfasser benannt wird, und grei häufig durch Kommentare und fiktive Dialoge in die Handlung ein.’0
2.2. Sprachstil und Adressaten
In beiden Viten nden sich nur wenig explizite Hinweise darauf, wen sie geschrieben sind. In der älteren Vita ist an einer Stelle davon die Rede, daß die Aus hrungen über die Wunder der Heiligen im weiteren Verlauf der Lesw1g (lectio) der Veranschaulichung die Gläubigen ( deles) dienen.“ Somit scheint der Verfasser hauptsächlich von Hörern und nicht von Lese ausgegangen zu sein, deren vennutetem Wunsch nach Greifbarem, sprich Wundem, er entgegenkmmnen wollte. Da der Text zudem sprachlich eher einfach gehalten und mit bildha en Schilderungen angereiche ist,12 kann man durchaus annehmen, daß er zumindest nicht allein r Mönch und Geistlichkeit gedacht war.13 Ein weiterer Hinweis darauf, daß Ekkehart einen breiteren Adressatenkreis bemüht war, ist in der Verwendung der überdeutlichen Form o aculum crinali r Haarschmuck zu sehen. Obschon ornaculum des Zusatzes an sich nicht bedarf, tritt crinali zur Verdeutlichung hinzu, vermutlich weil „das Wo den Weg aus dem Bereich der Gelehrsamkeit hinaus nicht gefunden“ hat und somit den weniger Gebildeten nicht verständlich gewesen ist.’•
Die Überarbeitung durch Herimannus im el en Jahrhundert gründete in der Kritik des Klerus am schlechten Latein der älteren Vita.’1 So sieht Gereon
beiden Wiboradaviten sich dank stilistischer Ambitionen ihrer namentlich bekannten Verfasser über den Durchschnitt erheben“, ebd., S. 2 1 2 .
•• BECHT (wie Anm. 6) S. 7.
“ Bei der Quellenangabe benutze ich folgendes Schema: E(kkehart) oder H(erimannus), Buch (nur bei Herimannus), Kapitel, Seite. Hier: Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, XXXIV, S. 84.
“ Ebd., S. 8f.
“ Da Ekkehart ein versie er Autor war, scheint die einfache Sprache bewußt r eine breitere Zielg ppe gewählt. Ein Vergleich mit den stilistisch weit anspruchsvolleren, für die St. Galler Mönche verfaßten s. Ga spricht dagegen, daß Ekkehart als Hagiograph möglicherweise auch Rücksicht auf vermutete Bildungsmängel bei den Mönchen genommen haben könnte.
“ BERSCHIN u. BECHT, Sprachliches in den Vitae S. Wiboradae (wie Anm. 3) S. 16; Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, V, S. 36-38.
“ JRBLICH (wie Anm. I ) S. 34.
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Becht das Ziel dieser Schri in einer Hebung des ästhetischen, intellektuellen w1d theologischen Niveaus.’6 Herimannus selbst verkündet im Prolog, eine knappere, einfachere Version vorlegen zu wollen. Dies kann nach einem Vergleich der beiden Viten nur als Bescheidenheilstopos gelten.17 Insgesamt verwendet er au llig viele Zitate sowohl aus der Bibel als auch aus „klassischen Schulautoren“, wie Persius, Juvenal und Horaz, und geht davon aus, daß seine Leser mit diesen vertraut sind.18 Ein theologischer Exkurs über verschiedene Formen der Vision richtet sich ebenfalls eindeutig an theologisch gebildete Adressaten.’9 Einmal werden die Adressaten ausdrücklich als Hörer (audientes) erwähnt, zugleich wird an anderer Stelle von ihnen aber die Fähigkeit zu lesen erwartet.20
2.3. Volkstümliche Züge in den Wiboradaviten?
Aaron Gurjewitsch sieht die Hagiographie des Mittelalters als „volkstümlich“ an. Die große Bedeutung der Heiligen habe darin gelegen, dem einfachen Volk religiöse Werte zu vermitteln; der Heilige als Wundertäter habe beim Volk hohes Ansehen genossen. Obwohl vom Klerus verfaßt, weise die Hagiographie also „Züge des Volksschaffens“ auf. Konkret deutet Gurjewitsch sowohl die als Topos au retende Rachsucht als auch das ebenso typische Eintreten fiir die Schwachen als Zeichen r die Volkstümlichkeit der Heiligenviten.2′ Diese Frage ist aber dw-chaus strittig 21
“ BECHT (wie Anm. 6) S. 7.
“ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) H, Prolog, S. 1 1 2; vgl. IRBLICH (wie Anm. I ) s. 38.
“ BECHT (wie Anm. 6) S. 8. Zu Anspielungen auf Bibelstellen, die Herimannus als bekannt voraussetzt, vgl. Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) H, 1 ., VIII, S. 134; XVI, S. 156; XIX, S. 160; XXIII, S. 170; XXIV, S. 172.
“ Vgl. ebd., H, 1 ., XXI, S. 162ff.
20 Ebd., H, !., XVI, S. !54. Herimannus rät als Ergänzung zur /ectio seiner Vita, die einige Wunder ausspa11, diese in der älteren Version nachzuschlagen, ebd., H, 1 . , XXII, S. 170.
“ Aaron J. GURJEWITSCH, Mittelalterliche Volkskultur, München 1987, S. 73f., 79, 83f., 96. Graus, der die Viten als Erzeugnisse der geistlichen Hochkultur begreift, sieht die volkstümlichen Heiligen entsprechend nicht vom, vermutlich aber doch jiirs Volk geschaffen, Frantisek GRAUS, Sozialgeschichtliche Aspekte der Hagiographie der Merowinger- und Karolingerzeit. Die Viten der Heiligen des südalemannischen Raumes und die sogenannten Adelsheiligen, in: Mönchtum, Episkopat und Adel zur Gründungszeit des Klosters Reichenau, hg. v. Amo Borst (Vorträge und Forschungen 20) Sigmaringen 1974, S. 131-176, hier S. 176.
“ Vgl. Hans-Werner GOETZ, in diesem Band, S. 17.
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Jobannes Du nennt Wiborada „die weibliche Ratgeberin r Klerus, Adel und Volk St. Gallens und Alemanniens“.21 Diese Funktion hätte laut Irblich dem Inklusentum des Mittelalters insgesamt innegewohnt.2′ Die von Wiborada vollbrachten Heilungswunder hätten dadurch einen volkstümlichen Charakter, daß Krankheiten als Strafe Gottes angesehen worden seien und „im Volksglauben“ nur noch die Wunder der Heiligen eine Möglichkeit zur Rettung bedeutet hätten.25 Gerade die jüngere Vita zeigt fur Irblich volkstümliche Züge. So habe Herimannus Teufelserscheinungen26 als unterhaltendes Moment eingebaut. Die Bestrafung von Übeltäte , bei gleichzeitiger Belohnung der Frommen, nde „sich auch in der erbaulichen Volks- und Kindergeschichte aller Zeiten“.27 Auch das Wunder am zerbrochenen Badezuber deute auf den „Volksglauben“ hin, da dort Bad und Heilung eng verbunden seien.2s Überhaupt räumte Herimannus den Wundem größeren Raum ein, indem er dem Leben Wiboradas ein eigenes Wunderbuch
hinzuge gt hat, welches die Vita Ekkeharts um einige Wunder ergänzte.
Folgt man Gurjewitsch und Irblich29, drängt sich die Folgerung auf, besonders die jüngere Vita sei dem Geschmack des Volkes angeglichen worden und auch an dieses gerichtet gewesen. Dagegen spricht allerdings ihre sprachliche Form, die, wie oben festgestellt, den Adressaten einiges an Bildung abverlangte. So scheint mir eine Forschungsmethode, die auf eine solche Weise unre ektierte Zuordnungen vo immt, den Quellen nicht gerecht zu werden. Bevor „Volkstümlichkeit“ pauschal vorausgesetzt wird, gilt es, in der jeweils spezifischen Quelle Trennlinien zwischen den ver­ schiedenen Gruppen zu untersuchen. Eine Möglichkeit, jene Willkür zu umgehen, liegt darin, zunächst die Aussagen des Verfassers über das Volk und seine Kultur herauszuarbeiten.
“ Johannes DUFT, Die Reklusin Sankt Wiborada (t 926), in: Die Abtei St. Gallen, Bd. 2. Beiträge zur Kenntnis ihrer Persönlichkeiten. Ausgewählte Aufsätze in überarbeiteter Fassung von Johannes Duft, hg. v. Peter Ochsenbein u. E st Ziegler, Sigmaringen 1 9 9 1 , S. 175-187, hier S. 176.
“ IRBLICH (wie Anm. I) S. 73. Die Volkstümlichkeit der lnklusen war der Kirche insofe recht, als diese im Gegensatz Eremiten ins Klosterleben integriert werden konnten und so nicht die Gefahr der I lehre bestand, ebd., S. 120.
25 Ebd., S. 71. Zusätzlich Bedeutung gewonnen hätten die Heilungswunder durch den M gel an medizinischer Versorgung, ebd., S. 76.
“ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) H, 1., X, S. 138.
“ IRBLICH (wie Anm. I) S. 51, 56.
“ Ebd., S. 65; vgl. Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) H, 1 ., XX, S. 162.
“ IRBLICH (wie Anm. 1) S. 109f. behauptet, die Hagiographie habe sich der „Wundererwartung“ des Volkes angepaßt.
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Zum einen betrachte ich daher im folgenden, in welchem Zusammenhang in den Viten von „Volk“ die Rede ist, zum anderen, welche Rolle die Angehörigen der unteren sozialen Schichten darin spielen. Das Augenmerk ist darauf zu richten, inwieweit sich „Volk“ als soziale Abgrenzung im mode en Verständnis von dem unterscheidet, was „Volk“ die Hagiographen bedeutet.
3. Die „anderen“ und ihre Kultur aus der Sicht der Hagiographen
3.1. Das Volk
Die ältere Vita erwähnt den wachsenden Ruhm Wiboradas im Volk (inter populos).30 Da hier von Geschenken an die Heilige die Rede ist, die einen gewissen Wohlstand voraussetzen, beschränkt sich populus hier nicht auf die unteren, unvennögenden Schichten, sonde scheint eher die Gesamtheit der Bevölkerung zu bezeichnen. Auch Herimannus benutzt die Bezeichnung populus einmal im obigen Sinne für die gesamte Bevölkenmg,3‘ andernorts aber auch in einem engeren Sinne. So sei für „das Volk, das die Wahrheit nicht kennt“, ein Gottesurteil notwendig, um Wiborada von den gegen sie erhobenen Vorwürfen freizusprechen.32 Hier deutet sich eine Trennung in Volk und Nicht-Volk anhand des Bildungsgrades und der religiösen Erkenntnisfahigkeit an. Für die Unwissenden hielt der Hagiograph einfachere Beweise für die Heiligkeit der Wiborada, wie jenes Gottesurteil, für notwendig.33 Eine ähnliche, diesmal deutlich abwertende Bedeutung erhält vulgus, das Volk, das „nicht in gebildeten Wendungen sprechen versteht“H Emeut trennt Herimannus hier zwischen Gebildeten und Ungebildeten, eventuell zielt die Äußerung sogar auf die Gesamtheit der Laien. Kritik am Stra erständnis der plebs fidelium äußert der Autor, als diese eine noch nicht verurteilte Kindsmörderin auszupeitschen gedachte. Dadurch, daß er die Vorstellungen des Volkes mit denen des Heiden Julius
„‚ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, XVI, S. 54.
“ Ebd., H, 1., XXX, S. 186.
„poprllus ignarus ueri, ebd., H, 1 . , XI, S. 140f.
“ IRBLICH (wie Anm. I ) S. 55 vermutet in dem Gottesurteil, das nur von Herimannus, und nicht in der älteren Vita erwähnt wird, einen „geistigen Ausdruck seiner Zeit“.
uulgus urbanis nescius /oqui, Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) H, 1., XVI, S. 154f. Berschin übersetzt vulgus recht einseitig, aber doch den Kontext treffend mit „Pöbel“.
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Cäsar gleichsetzt, kritisiert der Mönch nicht nur das sich hier unchristlich verhaltende Volk, sonde beweist zudem durch sein Wissen um die Anschauungen des römischen Kaisers, daß er sich auch durch seinen Bildungsstand vom Volk abhebt.3l Ansonsten hat das Volk als unpersönliche, nicht genauer charakterisierte Massenansammlung Anteil an der Ein­ schließung und an der Beerdigung Wiboradas.36
Einige weitere kulturelle Ausprägungen werden in Episoden über Personen, die zweifels ei den unteren sozialen Schichten angehörten, von den Hagiographen beanstandet. So spricht Ekkehart von den „possenha en Schaustellungen der Gaukler“, die Wiborada verachtet habe und die der Frömmigkeit Schaden zu gen würden.3‘ Den Einfall der Unga in St. Gallen stellt er als Strafe Gottes die Sünden der Menschen dar, schreibt die Schuld allerdings der gesamten Bevölkerung zu 38 Beide Viten berichten von religiösen Nachlässigkeiten der Dienerscha des Klosters, die ihnen, nachdem die Sünder ihre Verfehlungen nach göttlichem Hinweis eingesehen hatten, allerdings vergeben wurden. So bestand das Vergehen eines Dieners darin, den religiösen Wert eines von Wiborada gesegneten Brotes z u verkennen und es zu verschenken. Die darauf folgende Krankheit konnte nur durch den Genuß eines weiteren geweihten Brotes beendet werden.39 Eine Dienerin ließ der Reinigung der zum Meßopfer benötigten Geräte nicht die entsprechende Sorgfalt zukommen, weshalb die Heilige, die aufgrund göttlicher O enbarung informiert war, sie schalt. Aber auch hier zeigte sich Wiborada milde und beließ es bei dieser Ermahnung.40 Nur bei Herimannus ist die Schilderung einer weitaus schwereren Sünde anzutre en, nämlich der Verleumdung Wiboradas durch eine ihrer Dienerinnen. Diese warf ihr, aufgestachelt vom Teufel, Inzest mit ihrem Bruder vor, und nur das oben
“ Ebd., H, 1., XXVI, S. 174ff.
“ copiosa multitudine; copiosa multitudine utriusque s us, ebd., H, 1., XIX, S. 160; XXXIX, S. 206.
“ nugaces ioculato m scurrilitates despiciens, ebd., E, TI, S. 32ff. Unter ioculatores sind sowohl Gaukler und Tierbändiger als auch Spielleute und Erzähler verstehen. Ludwig ZOEPF, Das Heiligen-Leben im 10. Jahrhundert, Hildesheim 1973 (Leipzig u. Berlin 1908) S. 236, 238 sieht die Hagiographie und die ioculatores sich gegenseitig beeinflussen; beide hätten sich „mit Rücksicht auf Volkstümlichkeit“ Motive aus dem
jeweils anderen Bereich angeeignet.
“ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, XX.IX, S. 76.
“ Ebd., E, XXII, S. 62ff.; H, 1., XXIII, S. 170ff. I LICH (wie Anm. I) S. 62 weist darauf hin, daß das Brot außerdem ein Symbol r den Leib Chlisti ist, wodurch das religiöse Vergehen noch deutlicher wird.
.. Vi e Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, XXIII, S. 64ff.; H, 1 ., XX1V, S. 1 72ff.
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e ähnte, nicht näher benannte Gottesurteil konnte dem Volk ihre Unschuld beweisen, während der Verleumderin göttliche Strafe widerfuhr und sie schließlich dem Wahnsinn verfiel.41
Insgesamt jedoch spielt das Volk beiden Viten eine untergeordnete Rolle, weshalb den einzelnen Stellen, die Aussagen über die unteren sozialen Schichten machen, auch besonderes Gewicht zukommt. Es verhält sich weitgehend passiv, entweder als Publikum in Massenansanunlungen oder als Empfänger von Almosen.“ Die Protagonisten der Viten, die hinter Wiborada ohnehin nur nebensächlich bleiben, rekrutieren sich hauptsächlich aus der Geistlichkeit oder dem Adel. Neben den genannten Sünde finden die Dienerinnen Wiboradas Erwähnung. So erscheint in beiden Viten eine jüngst verstorbene Dienerin der Heiligen in einer Vision, während nur in der
jüngeren Vita die Magd Kebina nach dem Tod Wiboradas selbst eine Offenbarung Gottes erfäht1 .’3 Dies macht deutlich, daß r Herimannus Angehörige der unteren sozialen Schichten, obwohl sie auch bei ihm eher unbedeutend bleiben, bei entsprechender Lebens hrung wichtige religiöse Funktionen erftillen können. Eine höhere soziale Position ist also ir ihn keine notwendige Voraussetzung ein gottgefälliges Leben. Überhaupt grenzt sich Herimannus als Angehöriger der geistlichen Elite weniger nach sozialen Kriterien von anderen ab, wichtiger sind ihm „richtige“ Religionsauslegung und Bildung.
3.2. Die weltliche Elite
Bereits der Name der Heiligen läßt Rückschlüsse auf die Kultur der Oberschicht zu: Beide Viten berichten davon, daß er der deutschen Sprache entspringe.“ Auch Angehörige der Oberschicht bedienten sich also volkssprachiger Namen und griffen keineswegs ausschließlich auf römische oder biblisch-christliche Namen zutück. Hinsichtlich dieses Aspekts kann man folglich von kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen der weltlichen Elite
“ Ebd., H. 1., Xlf., S. 140ff..
“ Ebd., E, IX, S. 44ff.; XVI, S. 54; XXIV. S. 66ff.; ähnlich in derjüngeren Vita, ebd., H, 1., IV, S. 128; XVIII, S. 158; XXV, S. 174. Nur bei Herimannus tritt Wiborada als Befreieein eines Sklaven auf, den sie zuvor von bösen Geistern befreit hatte und daraufhin geschenkt bekam, ebd., H, 1., X, S. 138.
“ E b d . , E , X X l l l , S . 6 4 ; H , 1 . , X X I V , S . 1 7 2 ; H , 2 . , X V , S . 2 2 8 ff.
“ teutonica lingua, theutonica locutione, ebd., E. I, S. 32; H, 1., 11. 126. IRBLICH (wie Anm. 1 ) S. 38 hält den Gedanken, der Name sei der Heiligen im nachhinein gegeben und als Frauen-Rat gedeutet worden, zwar für naheliegend, aber dennoch unbegründet, da seine Existenz schon ir 861 bestätigt ist.
111
und den unteren sozialen Schichten sprechen. Bei der Herkun Wiboradas spielte neben der sozialen Stellung der Elte deren vorbildliche ch stliche Haltung eine wesentliche Rolle. Herimannus billigt letzterer dabei deutlich Vorrang zu.•l
Entsprechend betonen beide Verfasser den Unterschied zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre. Obwohl die Elte Wiboradas als sehr religiös und vorbildlich beschrieben werden, bleiben sie doch den weltlichen Sitten verp ichtet.46 Wegen ihrer ve achlässigten religiösen P ichten läßt Ek eha sie sogar von ihrer Tochter ermahnen. In beiden Viten wird der anscheinend im Adel übliche Brauch geschildert, an kirchlichen Festtagen feine Kleider und Schmuck zu tragen. Besonders Herimannus stellt klar, daß hier ein falsches Verständnis von Feiertagen vorliege und Gott wenig Wert auf Prunk lege. Ebenso üblich scheint es Wiboradas soziale Schicht gewesen zu sein, nicht zu Fuß zur Kirche gehen zu müssen. Auch dieses lehnt die Heilige ab.“ Die durchschnittliche Kindheit einer Adligen sieht der Geistliche Ek ehart durch einige weitere unfromme Ein üsse bedroht. Er hebt nämlich – dem gängigen Heiligenideal folgend – besonders he or, daß Wiborada sich „ungehörige(n) Kinderspiele(n)“, „possenhaften Schau­ stellungen der Gaukler“48, „Ammenmärchen“ und „anzüglichen Liede “ versagte und sich so schon in frühester Jugend positiv von dem üblichen Verhalten absetzte. Sehr deutlich macht Herimannus den selbst emp ndenen Unterschied zwischen weltlicher und geistlicher Elite, indem er sich und die Seinen von den amatores secularium literarum abhebt. Diese würden den sechsten Wochentag als Tag der Venus bezeichnen.l0 An dieser Textstelle wird deutlich, daß sich die weltliche Elite von der geistlichen nicht (nur) durch die Sprachkenntnisse, sonde vor allem durch den Sprach­ gebrauch unterschied.
“ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, I, S. 32; H, 1., I , S. 124; BECHT (wie Anm. 6) S. 2 erläutert, daß Ekkeha nobilitas in einer „typisch christlichen Umdeutung“ nicht auf den sozialen Status, sonde auf die Religiosität bezieht. BERSCHIN, Frauengestalten der deutschen F he (wie Anm. 3) S. 34 vertritt die Meinung, die Vita lasse Wiboradas Herkunft absichtlich i m Dunkeln.
“ mundialium more, more secu/arium, Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, IV, S. 36; H, 1., V, S. 130.
“Ebd.,E,V,S.36 .;H, 1.,V,S. 130ff.
•• Die oi culatores selbst sind zwar eindeutig dem niederen Volk zuzurechnen, ihr Publikum dagegen rekrutierte sich auch aus der Oberschicht.
In die quem amatores secularium literarum diem ueneris appellant. Nos autem utres nouiliquorsi sexlamferiamuocamus.,ebd.,H,2.,X,S.222.
“ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, II, S. 32ff.
1 12
Die in beiden Fassungen geschilde e Episode von einer reichen Frau, die sich weigert, an einem den Frauen des Ortes zugedachten Fest Wiboradas teilzunehmen und gemeinsam das Brot zu brechen, bemängelt nicht nur die Arroganz der Wohlhabenden. Vielmehr ist dies auch als Kritik an der religiösen Ignoranz einer Angehörigen der Oberschicht zu werten, welche das von der Heiligen gereichte Brot nicht als Symbol des Leibes Jesu erkennt. Nach bekanntem Muster erleidet auch diese Sünderin eine Krankheit, von der sie erst ein von Wiborada geweihtes Brot erlöst.51
Wie in anderen Viten auch kommt in den Lebensbeschreibungen der Wiborada Kritik an einem weltlichen Herrscher vor.52 Die Anfeindungen treffen Burchard I., den Herzog von Schwaben, der in Stellvertretung König Heinrichs I. Rechte gegenüber den Reichskirchen wah ahm und auch in die Verhältnisse des Klosters St. Gallen eingriff. Eva lrblich deutet seine unglückliche Rolle in den Viten folglich als Rache der Mönche am Herzog.SJ Sein Au ritt beginnt damit, daß der heilige Gallus Wiborada in einer Vision erscheint und ihr sein Leid mit Burchard klagt, welcher Kirchenbesitz geraubt hätte. Dessen darauf folgender Besuch im Kloster wird von der Heiligen ge­ nutzt, ihn zu ermahnen, von der Kirche keine Gaben mehr zu pressen, wenn er sein Leben nicht gefahrden wolle. Er gelobt Besserung, ändert sein schändliches Verhalten aber nicht und kommt bei einem Feldzug in Italien am 28. oder 29. April 926 ums Leben, was die Viten als Strafe Gottes auslegen. Statt wie von ihm erbeten, seinen letzten Raub im Falle seines Ablebens dem Kloster zurückzugeben, begeht seine Ehefrau Reginlind einen Betrug an der Kirche, indem sie einen wertvollen Kelch zurückbehält und dem Kloster nur eine Nachahmung zukommen läßt.54 Somit wird die Raffgier des He ogs nach seinem Tod von seiner Ehefrau fortgesetzt.
Ekkehart konzentriert sich in seiner Kritik sehr stark auf die Person Burchards, den er Gallus als Tyrannen und nicht als Herzog ansehen läßt.55 Herimannus hingegen beleuchtet Burchards Handeln in einem ktiven Dialog, in dem dieser weltliche, also materielle Zwänge r sein Handeln verantwortlich macht. Der Hagiograph antwortet, ein „Freund dieser Welt“
51 Ebd., E, XVI, S. 54 ; H, 1 ., XVIII, S. 1 58ff.; I LICH (wie Anm. I) S. 62.
“ ZOEPF (wie Anm. 37) S. 163. I LICH (wie Anm. I) S. 136 bemerkt, es sei St. Gallener Tradition gewesen, an weltlichen Fürsten Kritik zu üben.
“ Ebd.
“ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, XXV-XXVIII, S. 68ff.; H, 1., XXX , S.
1 8 6ff.
“ rannus [..] burchardus non d xsedpraedatoret desolator [..], ebd., E, XXV, S. 70. 113

sei unvermeidlich ein „Feind Gottes“.�6 Somit geht es nunmehr weniger die Person des Herzogs, sonde wn das Typische, das er verkörpert. Herimannos gibt somit einmal mehr zu erkennen, daß neben dem materiellen Interessenkonflikt auch unvereinbare ideelle Unterschiede zwischen dem gottgefälligen Leben des Klerus und den Bräuchen und Verhaltensweisen der Weltlichen bestehen.
3.3. Die geistliche Elite
Die Darstellung von Wiboradas Leben als vollkommene Einheit aus vita activa, Fleiß und Wohlfahrt, und vita contemplativa, Fasten und Beten, ist Irblich „allgemeiner Ausdruck f r das christliche Tugendideal des 1 0 . Jahrhunderts“�7• Wiborada verkö ert Verzicht, Nächstenliebe, Bescheidenheit und Demut. Die Schilderung dieser positiven geistlichen Lebensweise füllt den Großteil beider Viten aus. Herimannus ergänzt die ältere Vorlage allerdings auch, um Kritik an Teilen des Klerus zu üben. So prangert er herrschende Übel in personi zierter Form an, eine in der Hagiographie durchaus gebräuchliche Methode.ss Obwohl die Hagiographen sich selbst der geistlichen Elite zurechnen, können sie sich in bestimmten Zusammenhängen doch von dem Verhalten anderer Geistlicher distanzieren. Angehörige der geistlichen Elite gehören zumindest r Herimannos dann zu den „anderen“, wenn sie sich von dem Heiligenideal entfe en, das die Autoren die eigenen und eigentlichen Werte repräsentiert und damit auch innerhalb der geistlichen Elite Di erenzierungen scha .
Schon im Prolog setzt der spätere Hagiograph sich von seinen Vorgängern ab. Er betont zwar, sie nicht kritisieren zu wollen, bemängelt aber doch den „Über uß der Worte“ und die „Einfalt verschiedener Schri steller“.�9 Im el en Jahrhundert scheint in St. Gallen ein Wandel in der monastischen Kultur eingetreten zu sein, man richtete sich „wieder stärker nach den alten Vorbilde “ als noch im zehnten. Es wurden häu ger seltene Worte benutzt, und „die Autoren der (Spät-)Antike wurden wieder intensiver studiert“.60 Ein weiterer Unterschied zwischen den Auffassungen und Prakti­ ken der beiden Jahrhunderte tritt in dem fiktiven Dialog des Autors mit dem
“ Si usi amicus esse huius saecu/i quid mihi tune tecum cum constituaris inimicus esse dei?, ebd., H, 1., XXX, S. 188.
“ IRBLICH (wie Anm. I) S. 185.
Ebd., S. 56.
“ interdum propter diuersomm simplicitatem scriptorum supe uitate uerbomm quasi quibusdamfoliis exuberantem, Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) H, Prolog, S. 1 12f. BERSCHIN u. BECHT, Sprachliches in den Vitae S. Wiboradae (wie Anm. 3) S. 25.
114
heiligen Adalrich zu Tage. Dieser berichtet, Gott habe Wiborada von einer übertriebenen Askese abgeraten. Irblich vennutet, daß sich hier die Kritik eines Hagiographen des el en Jahrhunderts an der extremen Askese und Welt ucht, wie sie im zehnten Jahrhundert praktizie wurde, zeige.61
Herimannus übergeht die Romreise Wiboradas. Ob allerdings Eva Irblichs Schlußfolgerung, er habe sie „wegen der ihm bekannten Mißstände“ absichtlich ausgelassen,62 zutri , läßt sich nicht weiter klären. Ohne ihn explizit zu kritisieren, setzt der Hagiograph auch den Bischof von Konstanz in Gegensatz zur Heiligen. Dieser bietet ihr Pferde und reichliches Essen an, was sie wie üblich verschmäht. Da Wiboradas Lebensweise als Vorbild dient, wird wohl auch ohne deutliche Worte die Auffassung des Bischofs zu ckgewiesen, der zufolge die Bibel Genuß durchaus zulasse.63 Yennutlieh ist hierin die Beschreibung einer verbreiteten Geisteshaltung im Klerus zu sehen, die Herimannus der Figur des Bischofs zuschreibt.
Klare Worte benutzt er, um die Geldgier der Rekluse Cilia anzuprange , die versucht, Wiborada in ein Zinsgeschä zu verwickeln.64 Hinter der Kritik an Geiz und Geldgier steht nach Irblich die Rechtsanschauung, daß es keinen Gewinn ohne Arbeit geben dürfe.6s ln dieser Episode stellt Herimannus außerdem den Widerstand der noch nicht eingeschlossenen Wiborada gegen die unfrommen Forderungen der älteren Rekluse als rechtens dar. Somit wird Ungehorsam nicht generell verurteilt; sittliches Verhalten wiegt hier schwerer als die gesellscha liche (oder klösterliche) Rangordnung. Mit dem Verhalten Cilias und ihrer späteren Entfe ung aus der Klause66 deutet Herimannus an, daß auch Unwürdige zu kirchlichen Würden kommen konnten. Es erschien ihm zulässig, zuzugeben, daß die Kirche selbst nicht frei von Irrtüme und Sündern war. Diese Kritik an einzelnen wird allerdings nicht zur Standeskritik ausgeweitet, sonde bleibt punktuell.
Bei Ekkehart finden sich noch keine Episoden, die Mißstände in der Geistlichkeit zur Sprache bringen. Folglich differenziert er im Unterschied zu seinem Nachfolger in seinen eigenen Reihen nicht zwischen Frommen und Unfrommen. Ekkeha legte dagegen großen Wert auf „feierliche Anreden“: So wird Wiboradas Bruder Hitto als senior und domnus betitelt, was darauf
“ IRBLICH (wie Anm. I) S. 60f.; Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) H, 1 ., XVI, S. 1 5 2 ff.
“ IRBLICH (wie Anm. I) S. 48.
“ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) H, 1 . , XIIJ, S. 144ff. Ebd., H, 1., XTVf., S. 146ff.
“ IRBLICH (wie Anm. I ) S. 56. „VitaeSanctaeWiboradae(wieAnm.3)H,1.,XV.S. 152.
115
schließen läßt, daß auch im Kloster Standesunterschiede von Bedeutung
waren.67
4. Frauen und Frauenbild
Unter die drei unterschiedenen Gruppen elen, wie gesehen, immer auch Frauen. Im folgenden versuche ich daher herauszuarbeiten, ob in den Viten das Bild von einer geschlechtsspezi schen Kultur der Frauen aus ndig zu machen ist. Zunächst wende ich mich der Rolle der Frau zu, deren Leben die Viten beschreiben. Johannes Duft sieht darin, daß die Viten der drei St. Gallener Heiligen Gallus, Ottmar und Wiborada von Herimannus in einem Band des Klosters zusammengestellt wurden, ein Zeichen „die Gleichberechtigung der mittelalterlichen Frau mit den Männem“.68 Aus die­ sem Tatbestand läßt sieb jedoch allenfalls eine Gleichberechtigung der heiligen Frauen mit den heiligen Männem ableiten.
Wiboradas Fähigkeit, die Psalmen zu le en und ihrem Bruder bei der Messe zu helfen, wird als Wunder gedeutet. Einerseits wird deutlich, daß sie des Lesens nicht mächtig war, weil Hitto ihr beim Erle en der Psalmen behilflich sein mußte. Dieser Analphabetismus scheint auch bei Frauen des Adels nichts Außergewöhnliches gewesen zu sein, denn er wird nicht weiter erläutert. Andererseits scheint die Hilfe einer Frau bei der Meßfeier unüblich gewesen zu sein, da die Anwesenden darüber staunten. Auch bemühten die Hagiographen den Heiligen Geist, um die eine Frau wohl außer­ ordentliche Begabung Wiboradas zu erklären.69 Später muß sich Wiborada die Fähigkeit zu lesen angeeignet haben, denn beide Viten berichten davon, wie sie über dem Psalter einschlief.70
Berschin betont, die Heilige habe sich auf „frauliche Weise“ in das Klosterleben einge h .71 Von den Mängeln dieses Ausdruckes abgesehen, ist ihm insoweit zuzustimmen, als Wiborada tatsächlich oft rollenspezi sche Aufgaben zu er llen hatte. Dies erstreckte sich vor allem auf P egedienste an Kranken und Schwachen, aber auch auf Handarbeit. So versorgte sie die Bibliothek des Klosters mit gewebten „Umschläge[n] zum Einbinden der
•• BERSCHIN u. BECHT, Sprachliches in den Vitae S. Wiboradae (wie Anm. 3) S. 13f.; Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, XXXII, S. 82; XLIII, S. 98.
“ DUFT (wie m. 23) S. 179.
“ Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, VI, S. 38ff.; H, 1., , S. 132ff.
11 BERSCHIN, Verena und Wiborada. Mythos, Geschichte und Kult im X. Jahrhundert, in: Freiburger Diözesan-Archiv 102, 1982, S. 5-15, hier S. 7.
„‚ Ebd., E, XXIX, S. 74; H, 1., XXXI, S. 190ff.
1 16
heiligen Bücher“.12 Da auch von den Webarbeiten einer anderen Frau die Rede ist, ist dies ein Hinweis auf eine typische Fonn der Frauenarbeit, die auch von Frauen der geistlichen Elite, wie Wiborada, ausgeübt wurde.71
Die übrigen in den Viten genannten Frauen sind zumeist Bedienstete, Reklusen, Verwandte oder Hilfesuchende. Bei Herimannus fällt auf, daß zwei Frauen, eine Magd und die Rekluse Cilia, Intrigen gegen Wiborada spinnen.74 Bei aller Beschränktheit der Aussagen bieten die Quellen somit zumindest sporadische Einblicke in das Frauenbild ihrer Autoren und in die Rolle der Frauen in der Gesellscha . Neben dem vorbildlichen Leben der Wiborada, das selbstverständlich nur von wenigen Frauen gelebt werden konnte, gibt es auch ein weltliches Ideal. Zum einen stellt dies die Mutter der Heiligen dar, zum anderen tritt es in der kurzen Erwähnung Blitdruds, der Schwester der Rekluse Rachild, hervor. Diese füh e als mater familias „ein lobenswertes Leben im Laienstand“.75
5. Fazit
Einiges in der Vita Ekkeha s deutet darauf hin, daß sie auch dem Volk vorgelesen werden sollte. Die Sprache ist besonders im Vergleich zu der jüngeren Vita einfach, und der Hinweis, die Aufzählung der Wunder sei den „Gläubigen“ zur Veranschaulichung zugedacht, legt dieselbe Ve utung nahe. Herimannus dagegen richtet sich eindeutig an gebildete Adressaten, die seine Zitate aus Bibel und antiken Autoren verstehen und seinen theologischen Gedanken folgen können. Mit dieser These stimmen auch seine teilweise abfälligen Bemerkungen über das ungebildete Volk überein. Christliches Verhalten stellt aber sein vorrangiges Kriterium dar. Unchristliche Denk-, Verhaltens- oder gar Lebensweisen rufen dann auch die he igste Kritik des Mönchs he or. Da auch Ekkehart auf dera ige Mißstände hinweist, stellt sich die Frage, wieweit das Christentum im Leben des Volkes bereits fest veranke war.
Herimannus‘ Kritik richtet sich allerdings nicht nur gegen die unteren sozialen Schichten, sonde ebenso gegen Teile der weltlichen Elite, die sich von Gaukle sowie von unsittlichen Liedern, Spielen und Märchen
“ In quo etiam monasterio reuerentissimis quibusdam patribus ad obuoluenda sacrorum librorum uo/umina propriis manibus decora solebat contexere linteamina. Vitae Sanctae Wiboradae (wie Anm. 3) E, VI, S. 38ff.
73 Auch Reginsind sei zu Hause Webarbeiten nachgegangen, ebd.. E, XLIV, S. IOOff.; H, 2., XI, S. 222.
“ Ebd., H, 1., XI, S. 140ff.; XV, S. 148ff.
“ materfamilias laudabilem uitam sec�tlanter d11cens, ebd., E, XLII, S. 96; vgl. H. 2., IX, S. 220. 117

beeinflußt zeigte. Aus Sicht der beiden Hagiographen liegt die kulturelle Trennlinie also vor allem zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre, was bei Herimannus besonders dadurch zum Ausd ck kommt, daß eine Dienerin eine O enbarung Gottes erfährt. Die soziale Trennung entspricht somit nicht einer moralisch-religiösen. Die Teilung der Weltlichen in Gebildete, Freie und Wohlhabende auf der einen und Ungebildete, Abhängige und Arme auf der anderen Seite bleibt zwar nicht unerwähnt, steht aber hinter religiösen Werten zuriick und bildet somit nur eine A der Binnendifferenzierung. Die Selbstsicht der Hagiographen weist ein christlich ge ihrtes Leben und eine religiöse Bildung als Ideal auf. Damit grenzen sie sich von allen anderen, die diesem Ideal nicht Folge leisten können, ab. Als wichtigstes Ergebnis dieser Arbeit ergibt sich also eine von den Quellen her begründete Trennungslinie, die vom religiösen Verhalten beschrieben wird.
Eine solche kulturelle Grenzziehung verdeut licht, daß es wenig ergiebig ist, eine als solche vorausgesetzte „Volkstümlichkeit“ in den Quellen zu suchen, da auf diese Weise nicht unbedingt Rückschlüsse über die unteren sozialen Schichten zu gewinnen sind. Solche von den Idealen der Hagiographen abweichenden, unreligiösen Züge sind nämlich auch in der weltlichen Elite oder sogar in Teilen der Geistlichkeit aufzufmden. So äußert sich der Hagiograph des el en Jahrhunderts insgesamt kritischer als sein Vorgänger und klagt weltliche Unsitten, wie die Geldgier der Zinsnehmerin, auch beim Klerus an, während Ekkehart solche Mißstände noch nicht erwähnt. Herimannus nimmt somit sogar innerhalb der Religiösen Abgrenzungen zwischen den christlich Frommen und den weltlich Verkommenen vor. Solche Beobachtungen zeigen, wie feingliedrig die Autoren sowohl innerhalb der eigenen als auch der Kultur der „anderen“ zu differenzieren vermochten. Besonders an der Einschätzung christlichen Verhaltens wird deutlich, wie einzelne Kriterien alle Gruppen durchdrungen haben und wie wenig sinnvoll folglich eine pauschale Gegenüberstellung von „Volk“ und „Elite“ ist.
118
Schluß betrachtung‘
Die einzigen Schri quellen, die ir die Erforschung der mittelalterlichen „Volkskultur“ zur Verfugung stehen, sind Texte der Bildungseliten. Der Versuch, aus diesen Zeugnissen einer herausgehobenen sozialen Gruppe möglichst konkrete Informationen über Be ndlichkeiten und Lebensformen anderer Gruppen (der „Nicht-Eliten“) herauszu ltem, verursacht e artungs­ gemäß große Schwierigkeiten, zumal die Selbstbezeichnungen und Selbstabgrenzungen in den Quellen nicht mit den mode en Konzepten übereinstimmen. Eine unre ektierte Übertragung mode er Begriffe wie „Volkskultur“ und „Elitekultur“ oder auch „Volksreligiosität“ und „Elitereligiosität“ auf ühmittelalterliche Strukturen bleibt daher problematisch, und es wird kaum gelingen, eindeutige, allgemeinverbindliche Grenzen zwischen einzelnen kulturellen Gruppen zu ziehen, doch lassen sich r jeden Einzelfall zumindest einige Anhaltspunkte r eine Wah ehmung unterschiedlicher Kulturebenen festmachen, die sich gelegentlich verdichten. Solchen „Abgrenzungen“ stehen jedoch einerseits Gemeinsamkeiten, andererseits feinere soziale Differenzierungen gegenüber: Ein „Austausch“ zwischen den Ebenen oder wenigstens eine Überschneidung der Vorstellungswelten wird daher gerade bei einem Phänomen wie der Heiligenverehrung – zwnindest andeutungsweise – in den Quellen ebenso grei ar wie eine “ B i nnendifferenzierung“ innerhalb der beiden großen Kulturebenen.
Um zu haltbaren inhaltlichen Aussagen zu gelangen, müssen bei der Analyse von Heiligenviten – wie in allen Beiträgen geschehen – nicht nur die allgemeine Intention der Hagiographie, sonde auch die zum Teil erheblich di erierenden Absichten ihrer jeweiligen Verfasserinnen oder Verfasser berücksichtigt werden, um eine „Verspiegelung“ der völlig anders gelagerten
‚ Die Schlußbetrachtung beruht auf einer Vorlage von Nicole Suhl und Ergänzungen aller Beiträgerinnen und Beiträger. Die Endredaktion wurde von den Herausgebe vorgenommen.
119
mittelalterlichen Sichtweise durch die mode e Ausgangs ge zu verhinde . Hinsichtlich der Erforschung volkstümlicher Elemente innerhalb der Viten sind außerdem die Intentionen zu bedenken, die aus kirchlich-monastischer Sicht hinter der Propagierung der H e i l igenverehrung steckten. D e r Heiligenkult war r Kirchen und Klöster nicht nur ein Phänomen des christlichen Glaubens, sonde auch ein „Statussymbol“ und dazu eine wichtige Einnahmequelle, da Heilige die Empfänger von Schenkungen waren. Hinzu kam die spezifische religiöse Situation im ühen Mittelalter im Hinblick auf den Übergang vom Heidentum zum Christentum: F ü r die Menschen jener Zeit gab es viele O e, die nach heidnischem Brauch „heilig“ waren, und auch andere „heidnische Überreste“, wie z. B. der Glaube an die Existenz von Menschen mit besonderen Fähigkeiten, hatten sich zum Teil noch erhalten. „Die Kirche mußte sich daher aus ideologischen und praktisch-materiellen G nden bemühen, die ‚Heiligkeit‘ und die Heiligen­ verehrung r sich zu monopolisieren.“2 Die Heiligenvita war Teil der Propagierung dieses Kults. Ein reines „Volksprodukt“ war sie zweifellos nicht: „Der hochkirchliche Einschlag ist unverkennbar; …und es ist absolut kein Zufall, daß eine große Zahl von Vitae auf direkte Bestellung von Bischöfen und Äbten geschrieben wurde.“1
Diese Einschätzung hat sich in vielen der hier behandelten Viten bestätigt: Nicht nur die Verfasserinnen und Verfasser der Viten hlten sich ihrem Kloster zugehörig, sonde sie schrieben meist auch die Mitmönche oder Nonnen als ihren Adressaten. Da die Heiligenviten allesamt von Angehörigen einer monastisch-klerikalen Bildungsschicht verfaßt wurden, spiegeln sie ein von monastisch-klerikalen Rahmenbindungen geprägtes Selbstbewußtsein dieser Eliten wider. Die Autoren lassen fast durchweg Abgrenzungen zwischen verschiedenen Gruppen und sozial-kulturelle Hier­ archisierungen erkennen, wenn dieses auch meist nicht absichtlich und explizit, sonde eher beiläufig geschieht und damit als unstrittig vorausgesetzt wird. Dabei blicken sie häufig auf „andere“ herab. Über deren Sicht, das Selbstverständnis des „Volkes“, lassen sich dementsprechend keine verläßlichen Aussagen treffen, doch können hagiographische Texte zumindest als Quelle ein „elitäres“ Verständnis von „Volksglauben“ und
‚ So Franti�ek GRAUS, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger. Studien zur Hagiographie der Merowingerzeit, Prag 1965, S. 440/441. Vgl. dazu u. a. auch Friedrich PRINZ, Hagiographie als Kultpropaganda. Die Rolle der Auftraggeber und Autoren hagiographischer Texte des Frühmittelalters, in: Zeitschrift f Kirchengeschichte
103, 1992, S. 175-194 und GOETZ, in diesem Heft S. 17. ‚ So GRAUS, Volk (wie Anm. 2) S. 443.
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„Volksreligiosität“ dienen. Die dabei zutagetretenden Abgrenzungen folgen selbstverständlich zeitgenössischen Kriterien. Sie sind nicht in allen Viten identisch und variieren teilweise sogar innerhalb eines Textes. Gerade deshalb scheint es wichtig zu sein, jede einzelne Quelle daraufhin zu untersuchen, welche Unterscheidungen zwischen sozialen Gruppen ihre Verfasserin oder ihr Verfasser vo immt. In den in diesem Band untersuchten Texten ließen sich vor allem Bildung, Amts nktion, Glaube und – gewissennaßen als Grundlage – monastisches oder kirchliches Selbst­ verständnis, aber auch die sittlich-religiösen Werte als die wesentlichsten Ab­ grenzungskriterien ennitteln. Mehrfach erscheint das Volk aus solcher Sicht als ungebildet und unwissend oder mit den wahren Praktiken christlichen Glaubens wenig vertraut, als nicht-christlich oder einfach als nicht­ klösterlich. Die „Abgrenzung“ verband sich daher leicht mit einer Kritik an den „anderen“ und geriet zu einer „Abwertung“. Das verlangte zugleich nach einer Selbsteinschätzung und Selbstzuordnung der Verfasser und Verfasserinnen, wobei die Eigenkennzeichnung zwar meist den Charakter eines Bescheidenheilstopos trägt, aber zumindest e eut die angelegten Abgrenzungskriterien klar erkennen läßt. Auf der anderen Seite konnte die o feine „Binnendifferenzierung“ aber auch quer durch die angenorrunene Unterscheidung von „Volk“ und „Eliten“ verlaufen und beispielsweise dem Kriterium „christlich – unchristlich“ folgen.
Mögen die Erkenntnisse aus einzelnen hagiographischen Texten vielleicht nicht überwältigend erscheinen, so darf man daher doch zuversichtlich sein, im Vergleich einer großen Zahl von Viten eines Zeitabschnitts – und an der Quantität von Viten mangelt es im f hen Mittelalter bekanntlich nicht – konkretere Strukturen zu erkennen. Die Ergebnisse der vorliegenden Beiträge erlauben es, die Frage, ob eine Unterscheidung von „Volks-“ und „Elitekultur(en)“ auch im frühen Mittelalter zulässig ist, vorsichtig zu bejahen. Die Antwort hängt allerdings von den jeweils herangezogenen Kriterien ab. Die Abgrenzung kann einerseits – als „Theorie“ – durchaus nach mode en Maßstäben vorgenorrunen werden, stößt dann allerdings bei der Verifizierung in den Quellen mit ihren zeitgenössischen Konzepten und Begrifflichkeilen auf Schwierigkeiten. Werden andererseits mittelalterliche Kriterien herangezogen, so stimmt das Ergebnis zwar nicht mehr unbedingt mit unserem Kulturverständnis überein, es zeigt aber zumindest, daß eine Abgrenzung zwischen gesellscha lichen Gruppen mit unterschiedlichen Denk- und Glaubensanschauungen von den Zeitgenossen wahrgenommen wurde.
121
Viele Fragen bleiben offen. Die hier an zufallig ausgewählten Viten getro enen Beobachtungen bedür en der Korrekturen und Ergänzungen durch einen “ ächendeckenden“ Vergleich. Ebenso könnte man im Vergleich der Aussagen einer größeren Zahl von Viten z . B . über die Askese der Heiligen zu Ergebnissen bezüglich der mittelalterlichen Vorstellungen über den tadellosen religiösen Lebenswandel der Christen insgesamt und der Klosterangehörigen im besonderen gelangen. Noch interessanter wäre es, solche Erkenntnisse mit eventuell in anderen Quellensorten vorhandenen Hinweisen auf die tatsächliche Lebensweise der Menschen außerhalb der Klöster zu vergleichen. Auch im Zusammenhang mit den in der Hagiographie immer wiederkehrenden Berichten über Heilungswunder läßt sich die Frage stellen, welche Absicht die Autoren mit solchen Schilderungen verfolgten. Hinsichtlich der Mentalität können die Wunderberichte aus heutiger Sicht sicherlich als Indiz da ir gelten, daß die Menschen des Mittelalters bei der Heilung von Krankheiten bei allem christlichen Vertrauen auf Gott auch immer noch auf „magische“ Krä e zurückgriffen. Bei den hier untersuchten Quellen ist allerdings nirgends der Eindruck entstanden, daß solche Anschau­ ungen ausschließlich a l s „volkstümlich“ zu begreifen sind, sie wurden vielmehr ebenso von den monastisch-klerikalen Verfasse der Viten geteilt. Die Ho ung, daß ein intensives Quellenstudium weitere Infonnationen über den Volksglauben im ühen Mittelalter ennöglicht, ist jedenfalls berechtigt, doch sollten die Beiträge dieses Bandes auch deutlich gemacht haben, wie behutsam bei einer Unterscheidung von „Volk“ und „Elite“ vorzugehen ist und daß diese stets auch an zeitgenössischen Vorstellungen zu messen ist. Dann zeigt sich nämlich, daß die mode en Begri e „Volk“ und „Elite“ allenfalls Hilfskonstrukte, Schablonen, bilden, die durchaus geeignet sind, die mittelalterliche Gesellscha von unseren Maßstäben her zu erklären, daß die zeitgenössische Wirklichkeit und vor allem die zeitgenössische W ehmung aber nicht nur weit differenzierter waren, sonde vor allem auch von anderen Kriterien ausgingen, die frühmittelalterliches „Elitebewußtsein“ konkreter und zeitgemäßer faßbar machen. Mit dem vorliegenden He sind dazu methodische Wege aufgezeigt und erste Einsichten gewonnen worden.
122
VOLKSKULTUR UND ELITEKULTUR IM FRÜHEN MITTELALTER:
DAS BEISPIEL DER HEILIGENVITEN
MEDIUM AEVUM QUOTIDIANUM
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ
36
GASTHERAUSGEBER DIESES HEFTES:
HANS-WERNER GOETZ UND FRIEDERIKE SAUERWEIN

VOLKSKULTUR UND ELITEKULTUR
..
IM FRUHEN MITTELALTER:
DAS BEISPIEL DER HEILIGENVITEN
Krems 1997
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG
DER KARL H. DITZE-STIFTUNG (HAMBURG)
UND DER KULTURABTEI LUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
T itelgraphik: Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Er·forschung der mate­ riellen Kultur des Mittelalters. Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich. – Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdt-ückliche Zustim­ mung jeglicher Nachd�uck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort………………………………………………………………………………………….. 7 Hans-We er Goetz: Volkskultur d Elitekultur hen Mittelalter:
EineForsch gsaufgabe dihreProblematik………………………………….. 9
Imke Lange: ‚Teste Deo, me nihil audisse modo saeculare de cantico.‘ „Volk“ und „Elite“ als kulturelle Systeme in
„De vita s. RadegWldis libri duo“………………………………………………….20
Nicole Suhl: Die „Vita Bertilae Abbatissae Calensis“ –
eine Quelle r mögliche Unterschiede in der Religiosität
von „Volk“ Wld „Elite“ im frühen Mittelalter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 39 Ulla Pille: Die Pilgerreise des Heiligen Willibald –
Ansätze eine Unterscheidung von Volks- und Elitekultur? … . .. .. …..59
Britta Graening: Vulgus et qui minus intel!egunt:
Die Vita Sualonis Ennanrichs von Ellwangen
als Zeugnis onastischen Elitedenkens? .. . .. . . . . …. . . …… … . …. . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Karsten Uhl: „Der Pöbel, der nicht in gebildeten Wendungen
zu sprechen versteht.“ Unterschiede zwischen der Kultur
des Volkes und der Kultur der Eliten in den Viten derHeiligenWiborada…………………………………………………………….. 103
Schlußbetrachtung……. …………………………………………………………………… ……. 119
Vorwort
Die Frage nach einer Volkskultur im fiühen Mittelalter liegt in der Konsequenz der Volkskulturforschung der letzten beiden Jahrzehnte, sie ist aber noch selten gestellt und alles andere als erschöpfend oder gar abschließend behandelt worden, ja tatsächlich ist die Sinnha igkeit einer solchen Frage erst zu überpriifen, sind zumindest auf das Frühmittelalter zugeschnittene, methodische Wege nden. Diesem Ziel diente ein im Sommersemester 1995 an der Universität Hrunburg durchgefühttes Hauptseminar, das im Sommersemester 1996 in einem Oberseminar weiterge wurde. Mögen Publikationen studen­ tischer Arbeiten auch auf sicherlich nicht immer unberechtigte Skepsis stoßen, so haben die hier abgedruckten, im Rahmen des Oberseminars noch ei al von allen Teilnehmerinnen und Teilnehme kritisch diskutierten Beiträge wohl nicht nur das r eine Verö entlichung erforderliche Niveau erreicht, sie betreten da ber hinaus Neuland, indem sie methodische Wege erschließen helfen und an ausgewählten Beispielen, die sich sämtlich auf die sich in Heiligenviten wider­ spiegelnden religiösen Vorstellungen konzentrieren, abtesten. Damit bieten sie einen fiuchtbaren exemplarischen Zugang zu wichtigen Aspekten der ttel­ alterlichen Volkskultur und Elitekultur. Dank gemeinsamer Fragestellungen und Diskussionen weisen die jeweils einzelnen Viten gewidmeten Beiträge zudem eine hinreichende methodische und thematische Geschlossenheit auf.
Herausgeber, Autoritmen und Autoren haben der Gesellscha „Medium Aevum Quotidianum“ und dem Herausgeber ilu-er gleichnamigen Zeitschri , Gerhard Jaritz, sehr da ir zu danken, daß sie dieses He einen solchen Ver­ such zur Verfugung gestellt haben. Das Thema selbst geht auf eine Anregung des ehemaligen Direktors des Instituts Realienkunde, Ha Kühne!, zurück, der das Konzept die erste, geplante Somme kademie des Mediävisten­ verbandes unter dem Titel „Die ambivalente Kultur des Mittelalters“ entworfen und den Herausgeber mit der Leitung einer Sektion Thema „Volkskultur und Elitekultur im Mittelalter“ betraut hatte. Daß das Vorhaben sich zunächst nicht wie geplant realisieren ließ, resultiette aus organisat01ischen und nanziellen Problemen, die durch den unerwarteten Tod Hany Kü els, der das
7
Projekt mit Energie und Engagement betrieben hatte, vollends verschär worden wären. Seinem Gedenken soll dieses He daher gewidmet sein.
Hans-Wemer Goetz (Hamburg)
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