Die Chronistische Erzählung über den Fürsten Oleg und das skandinavische Epos
ana Tschekova
Die altrussische Chronik „Powjest wremennych Iet“ („Erzählung über die vergangeneu Jahre“) des 12. Jahrhunderts, bekrumt als Nestorchronik, ist eine wertvolle und interessante Quelle über das epische Verständnis der altrussischen Geschichte. Der Titel der Chronik lautet: „Das ist eine Überlieferung über die vergangeneo Jahre, darüber, wo das russische Land ange ngen und wer als erster in Kiew regiert hat, tmd wie die russische Staatlichkeil entstanden ist.“ (Powjest wremennych Iet, 1 926, I ).
In den ältesten Erzählungen der Chronik werden historische Erei isse des 9. tmd 10. Jahrhunderts re ektiert – aus der Zeit der Entstehung des altrussischen Staates und der Regierungsjahre dessen erster (realhistorischer und legendärer) Herrscher Rjurik, Sineus, Truvor, Askold, Dir, Oleg, Igor und Olga.
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung1 ist die Geschichte der Kiewer Rus in den Abschnitten der Chronik zu den Jahren 907 bis 912, welche über den Feldzug des Fürsten Oleg nach Konstantinopel und dessen Untergang berichten.
Kurz Fabel: Fürst Oleg organisie einen siegreichen Feldzug nach Konstantinopel. Nachdem es ihm nicht gelungen ist, in die Stadt über das Meer einzudringen, weil die Schutzketten, die die Bucht umzingeln, das unmöglich machen, erreicht er die Stadt über den Landweg. Er läßt seine Schi e über Rollen fahren. Der russische Fürst feie seinen Sieg, indem er seinen Schild an den Toren von Konstantinopel aufl1än . Die besonderen Eigenscha en, insbesondere die militärischen Fähigkeiten des Fürsten, rufen die Bewunderung
1 Überarbeitete Fassung eines Vortrags am „Jntemational Medieval Congress“, University of Leeds, 8-11 Juli 1996.
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der Byzantiner hervor, und unter ihnen entsteht der Glaube, daß nicht Oleg, sondern der heilige Dimitar selbst gegen sie gekämp hätte. Wieder in Kiew angekommen, erinnert sich Oleg an die düstere Prophezeihtmg der Wahrsager, daß er durch sein Lieblingspferd untergehen werde. Doch das Pferd stirbt eines natürlichen Todes. Oleg feie , als ihm das zu Ke1mtnis kommt, tmd glaubt, das Schicksal besiegt zu haben. Um sich des Geschehenen vergewisse , geht er zwn Ort, wo die Überreste des Pferdes noch unbegraben liegen, tmd tritt in Mißachtung den Schädel des Fferdes mit seinem Fuß. Aus dessen Höhle kriecht eine Schlange heraus, beißt , und er stirbt. Die Wahrsagung ging in E u ng.
Die Korrelation „Mythos-Epos-Geschichte“ wird durch
Schlüsselbilder lilld -begri e dargestellt:
1 ) Das Paradi a des Kulturhelden.
2) Das mythopoetische Modell des Weges.
3) Wahrsagung, Prophezeiung, Omen. Epische Selbstüberschätzung. 4) Der Untergang des epischen Helden.
folgende
Diese Ke e erweisen sich als typolo sch gemeinsam eine Reihe von mündlichen und schri lichen Werken, die zu lillterschiedlichen Ethnostraditionen gehören. Ich stütze mich hier besonders a die mit der chronikalischen Erzählung über Oleg verwandten Überliefenmgen: die skandinavische Saga über den norwegischen Wikinger Orwar Odd – war-Odds Saga (Boer, 1892, 3-96), die englische Sage aus der Grafscha Kent über den Baron Robert Schurland – „Grey Dolphin“, geschrieben von Richard Haris Bareh (1788-1845) – (lngoldsby, 1 922, 48-70), die russische Billina (episches Lied) über die Reise von Wassilii Buslaev nach Jerusalem (Byliny, 1 988, 458-60, Variante von K. Danilov vom Jalrre 1 8 1 8), das serbische Märchen vom Tod des türkischen Sultans, getötet durch sein Pferd (Suchomlinov, 1908, 269-272), lUld die bulgarische Überlieferung vom Tod des Reiters, der von einer Schlange vemrsacht wurde (Tschekova, 1994, 232, 251).
1 ) Das Paradi a des Kulturhelden
Fürst Oleg ist als Verkörperung des epischen Helden au ufassen. Er macht Kiew seiner Hauptstadt lUld wird zum Gründer der Kiewer Rus. Auf diese und Weise realisiert er eine der Haup onen des Paradi as des idealen Herrschers – die Gründung der Stadt-Hauptstadt lmd des neuen Königtums.
Der sie eiche Feldzug des Fürsten nach Konstantinopel, benarmt von der Slavia Orthodoxa mit dem mythopoetischen Namen „Zari ad“ (‚Stadt der Zaren‘, ‚Zar über alle Städte‘) und Olegs Beiname wescht (‚Weiser‘, ‚Kluger‘, ‚Zauberer‘)
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geben tms einen Gnmd für die Annalune, daß Oleg beide Ftmktionen, die des Fürsten-Kriegers tmd des Fürsten-Schamanen, vereint.
Er besitzt die Charakterzüge des heidnischen epischen Modells, es gibt aber auch Versuche, ihn in die Tradition des christlichen Modells des Heiligen Kriegers einzureihen, nämlich seine Exponenz als der Stadtverteidiger, Richter tmd Drachenkämpfer aufgrund des Vergleichs mit dem Hl. Dimitar und dem Hl. Georg. Die drei Elemente der trstlichen Gestalt, Krieger, Priester und Brautwerber, entsprechen den drei mythologischen Funktionen, die von G. Dumezil (Dumezil, 1958) r das indoeuropäische Pantheon abgeleitet wurden, die kriegerische, priesterliche tmd jene der Fruchtbarkeit.
Das Modell vom ‚Herrscher-Priester‘ ist durch ele Gestalten in den Sagen sowie in der Snorra-Edda, Njals Saga u. a. repräsentiert.
Adeliger Urspnmg, extraordinäre Eigenscha en und Ruhmreichtum, Zeichen der göttlichen AuserwähJtmg, auf sie stoßen wir in der Saga über den norwegischen Wikinger Orwar Odd. Eine Wa sagerin prophezeit dem zwölf
jährigen Odd, dem zukünftigen König von „Gardariki“ (die wikingische Benenntmg des altrussischen Staates), ein langes Leben, Ruhm und einen ungewöhnlichen Untergang (Boer, 1892, 7-10): „Du wirst 100 (300) Jahre leben tmd du wirst überall als eh ürdigst (mestr � maximus strenuissimus vir et praestantissimus) geachtet, so daß dein Ruhm sich über die ganze Welt verbreitet“ (übers. durch die Verf.).
Hohen sozialen Status und große physische Kraft besitzt auch der englische Held Robert Schurland. „Sir Robert de Shurland, Lord of Shurland and Minster, Baron of Sheppey in comitatu Kent, was … a very great man …, his strength was prodigious; his st would fell an ox, and his kick – oh! his kick was tremendous …“ (Ingoldsby, 1922, 53).
2) Das mythopoetische Modell des Weges
Im Kontext des chronikalen Narrativs kommt Oleg die Rolle des Demiurgen zu, indem er den Raum zwn Kosmos werden läßt. In einer späteren Fassung von „Powjest wremennych Iet“ erklärt Oleg: „Ich bin ein neuer Alexander von Mazedonien in der Ho ung die Welt erobe zu können“ (Letopisez XVII weka).
Odd ist in den skandina schen Sagas „Odd vidsf0rli“ genannt, d. h. el reisend. Konstantin Tiander ve ritt die Ansicht, daß der Beiname „Oddr hinn vidfurli“ viel älter ist als „Orwar-Odd“, d. h. „Odd mit dem Pfeil“ (Tiander, 1906, 263-64 u. a.) Die Richttmg der Feldzüge und der militärisch-politischen Ambitionen des in HalogaJand (Nordprovinz des alten Norwegens) geborenen
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Wikingers ist „Nord-Süd“. Durch viele Länder reisend, nach Jerusalem ähnlich wie der englische Baron Robert Schurland und der russische Bogatir Wassilii Buslaev gekommen, erreicht er iew (Hunaland) und wird zwn König des russischen Königtwns (Gardariki).
Die skandinavischen Sagas w1d die Sagen in der Chronik über Oleg haben eine gemeinsame Geo aphie. In den Sagas kommt o der „Ostweg“ vor, d. h. der Weg nach Konstantinopel über das ssische Land (Njals Saga); der Weg nach dem Osten, z Königtum der Festungen, d. h. zum skandinavisch russischen Reich mit seinen gut geschü ten Festungen Holmgardur owgorod) und Koengardur (Kiew), wtd nach Miklagardur, der großen Festung (Konstan tinopel). In der alt ssischen Chronik wird oft vom selben Weg gesprochen: „Und es gab einen Weg von den Warjagen zu den Griechen und von den Griechen über den Dnjepr … nach dem Meer der Warjagen. Und über dieses Meer kann man nach Rom kommen, von Rom über dieses Meer nach Zari ad (Konstantinopel), von Zari ad zwn Pontischen Meer, in das der Fluß Dnjepr mündet“ (Powjest wremennych Iet, 1926, 7).
Der russische Fürst Oleg hat einige Berührungsptmkte mit dem no egischen Wikinger, dem Seemann Orwar Odd, dem englischen Baron Robert Shurland und dem Reisenden Wassilij Buslaev, dessen militä sche Aktionen vorwiegend über das Meer gingen. Der Ort des Todes von Oleg, Odd tmd Schurland spricht fur die These der zyklusähnlichen Defmierung des Paradi as des Weges, daß nämlich – nach einem Feldzug oder langer Abwesenheit- der epische Held ins Heimatland zurückkommt und dort stirbt. „Oleg ging nach Nowgorod und von dort über das Meer, und ihn hat dann eine Schlange gebissen, und er starb“ (Novgorodskaja pervaja Letopis‘). Der Kiewer Fürst kommt nach Nowgorod zurück, d. h. dort, wo seine Macht ihren Ursprung hatte, wo seine Kindheit und seine Jugend verlaufen waren. Nachl1er geht Oleg, der Russe-Wikinger, über das Meer und stirbt dort, wo die Wanderung der Wikinger u. a. ins russische Land angefangen hatte tmd woher seine Vo ahren Rjurik, Sineus und Truvor- und wahrscheirtlich er selbst gekommen waren.
Nach einem Leben voller Abenteuer besucht Odd wieder seinen Gebu sort Berurjodr, und hier fmdet er seinen Tod. „Du wirst nicht so weit über die breiten Fjorde fahren noch über die Erde reisen, daß du nicht, wenn auch das Meer in Strömen dich benetzt, doch in Berurjodr verbrannt werden wirst. Eine glänzende Natter aus Faxis altem Schädel wird dich unten am Fuße stechen.“ (Boer, 1892, 9, 101, Anhang li). Der epische Zyklus wird geschlossen; der Anfang wird zugleich ein Ende.
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3) Wahrsagung, Prophezeitmg, Omen. Epische Selbstüberschätzung
Unter diesem Aspekt sind die skandinavische Saga und die englische Sage am stärksten verwandt, in denen der Tod des Helden jeweils von einer Wahrsagerin („velva“) und von einer gespenstischen alten Frau mit rotem Mantel („ugly old woman in a red cloak“) prophezeit wird (lngoldsby, 65, 67-68).
Auch in den anderen Texten, ausgenommen der russischen Chronik und dem serbischen Märchen über den Sultan, wird die Rolle des Mediators Wahrsagers von einer Frau übernommen, als Hexe, Greisin, Mädchen. Das korrespondiert mit der in den Sagas bezeugten Ehrenrolle weiblicher Seherinnen in der heidnischen altskandinavischen Gesellscha .
Im skandinavischen Epos spielen die unterschiedlichen Prophezeiungen, Ermahnungen, Intuitionen, Visionen, suelle Täuschungen, Träume, Vorzeichen w1d Zeichen des unüberwindlichen Schicksals eine erhebliche Rolle im Sujet (Snorra- Edda /König Gyl s Täuschung/, Njals Saga u. a.).
Die Weissagung vom Tod steht in den chronikalen Episoden über Oleg sowie in allen vergleichbaren Texten in direkter oder mittelbarer Beziehung mit einigen beständigen, emotionellen tmd psychischen Wesensmerkmalen der epischen Gestalten. Diese können mit folgenden Begri en umschrieben werden: z. B. als „epische Überheblichkeit“, „epische Selbstsicherheit“, „episches Eigen lob“ u. a. Die Prophezeiung vom Untergang und der Untergang selbst sind als Folge des übermäßigen Eigenlobs im Moment der Überschätzung der eigenen ä e und Möglichkeiten, als Folge der Mißachtung der Autoritäten sowie der Geringschätzung der Wall ager durch Oleg, Odd, Schurland interpretierbar. Die Situation, bei der die eigenwilligen Worte des epischen Helden die verhän isvolle Gefahr heraufbeschwören, ist im Epos ziemlich konstant. Der Schicksalsschlag bleibt nicht aus. In dem Moment, in dem Oleg, Orwar, Schurland oder der Sultan über das Schicksal triumphieren, sind sie am meisten verletzbar.
Als Oleg vom Tod des Pferdes erfahrt, von dem er weiß, daß es die Ursache seines Endes sein wird , macht er sich über die Prophezeiung lustig w1d wir den Wahrsage Böswilligheil vor. Seine Ironie entwickelt sich zu schändlichem Verhalten den Überresten seines ehemaligen Kampfgefahrten gegenüber: „… und er spottete (über das Pferd) und sagte: Soll ich etwa d ch diesen Schädel untergehen? Und er stieß mit dem Fuß darauf; und es ist eine Schlange herausgekrochen und hat ihn Fuß gebissen. Davon ist er krartk geworden und ist gestorben.“ (Powjest wremennych Iet, 1926, 39). Vergleichbar ist der Tod von Odd (Boer, 1892, 94-96) und Schurland. So heißt es in der Saga: „Ich vermute, daß die Ho nung von der Erfüllung der Prophezeiung, von dieser jämmerlichen Wahrsagerin gemacht, schon zunichte geworden ist… Was ist das?,
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sagte Odd, Was liegt hier? Ist es nicht ein Pferdeschädel? Odd stieß mit der Lanze stark auf den Schädel; indem dieser Seite sank, so kroch plötzlich die dort versteckte Natter heraus, i an und biß am Fuß über der Sohle.“ ln der Sage aus der Grafscha Kent wird gesagt: „In utter contempt of his own weakness, yet with a tremor that deprived, his redoubtable kick of half its wonted force, he sp ed the relic with his foot… „Grammon!“… At that moment a loud „Ha! ha! ha!“ was distinctly heard by the whole train to issue from its bleaked and toothless jaws; it sank beneath the ood in a horse laugh! Meanwhile Sir Robert de Shurland feit an odd sort of sensation in his right foot. .. He plucked o his boot;- a horse· s tooth was sticking in his great toe!“ (Ingoldsby, 1 922, 68).
Ähnlich stößt der Bogatir aus Nowgord Wassilij Buslaev, „der weder Träumen noch Vorzeichen Glauben schenkt“, den Schädel-Wahrsager. Der Verstoß gegen das auf dem Stein geschriebene Verbot zu seinem Tod (Byliny, 1988, 460).
4) Der Untergang des epischen Helden
Die Reue sowie das Eigenlob werden einer beständigen „emotionellen Reaktion“ im Verhalten der epischen Helden. Er bereut das auf seinen Befehl hin erfolgte Töten des Pferdes und seine Mißachtung den Wahrsage gegenüber, als die Prophezeitmg in Er llung geht. In der Chronik aus Archangelogorod heißt es: „Als Oleg von der Zarenstadt Lande kam, stieß er auf einen Fferdeschädel … Er nahm den Kopf des Pferdes in seine Hände und küßte die trockenen Knochen, weil sein Pferd ihn erba t hatte.“ (Archangelogorodskaja letopis). „Es tut ihm leid um die Wahrsager, die er ohne Schuld Tode verurteilt hatte.“ (Letopisez XVII weka). der Sterbestunde wird sich Orwar Odd der Erfullung der Wahrsagung bewußt und zieht eine Bilanz: „Viel werden verständige Männer von meinen Reisen zu erzählen haben – diese Reise wird die letzte sein. Geht alle eilend hinunter dem Schi e und lebt wohl; ich werde hier zurückbleiben… ich konune nicht mehr dal1in.“ (Boer, 1 892, 1 13, Anl1ang 11).
Der Untergang der Gestalten erhält eigenartige Dimensionen. Die Bestra ng des Helden steht in funktionalem Zusammenl1ang mit der Semantik seines epischen Wesens. Der russische Fürst Oleg, der norwegische Wikinger Odd, der Baron aus Kent Robert Schurland und der türkische Sultan sterben durch ihr eigenes Pferd, aus dessen Schädel eine Schlange hervorkriecht, bzw. der Schädel selbst verursacht den Tod. Unter dem Aspekt des Funktional Semantischen ist das Pferd am engsten mit dem Wesen des Kriegers und des Schamanen verknüp (Propp, 1 986, 1 7 1 -73, 1 79, Negelein, 378).
Die besondere mythologische Relation zwischen dem Pferd und dessen Besitzer ist in allen mit dem Text der Chronik vergleichbaren Überliefenmgen
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unterstrichen: in der chronikalen Episode von Jahre 912 wird gesagt: „Du Fürst‘ Durch das Pferd, das du ge hast und reitest, wirst du auch sterben“ (Powjest wremetmych Iet, 1926, 38); in der Saga: „Es steht im Pferdestall ein Pferd mit grauer Farbe, mit langer Mähne, und der Schädel dieses Pferdes wird die Ursache deines Todes sein“; in der englische Sage: „Make much of your steed, Robert Shurland1 . • • He has saved your life, Robert Shurland, for the nonce; but he shall yet be the means ofyour losing it, for all that!“ (Ingoldsby, 1922, 66)
Die konkrete Ursache für den Tod von Oleg ist die Schlange, aus dem Schädel des toten Pferdes herausgekrochen. Die Schlange ist fast immer in der bio aphischen Zeit des epischen Helden präsent. Dieser hat o seinen Ursprung von einem Drachen (d. h. Mensch-Drache) und/oder tötet einen Drachen (d. h. er ist Drachenkämpfer). Als ein Symbol der Herrschermacht und des Köni eichs ist die Schlange (Drache, Erdwurm und ähnliche chthonische Wesen) in den ältesten indoeuropäischen Kulturen zu nden (Propp, 1986, 246, 274-76). Die Schlange ist im Edda-Epos sowie in der Chronik auch das Synonym von Bedrohung des Lebens, von Unheil und Tod. Sie verkörpert das Spiel des blinden Zufalls, ist Vorzeichen, Vergeltung Lmd Bestra ng r die Sünden.
Die Schlüsselkomponenten des „Mythos“ von Oleg – Pferd, Schlange, Schädel, Stein – formieren die Kosmogonie der rstlichen Institution in ihrer ganzen Widersprüchlichkeil und Kompliziertheit der kausalen Beziehungen. Sie haben ihre Parallelen im skandinavischen Epos, in den Sagas, in „Lieder-Edda“ und „Snorra-Edda“. Die Sagen über Fürst Oleg in der Chronik spiegeln den Prozeß der Mythologisierung und Folklorisierung der realgeschichtlichen Person des altrussischen Herrschers wider. Der mytheepische Ansatz stellt die Hauptdominante im Genre dar.
Das Motiv ist die Genrekategorie in der Folklore. Der Meinung von Wesselovski nach ist es ein genealogisch beständiges Format (Poetika, J982, 627). Die Motive in der Chronik sind Orientienmgspunkte nicht nur in bezug auf die Genretypologie, sonde auch auf die Genesis der Folkloretexte über Oleg.
Es lassen sich zwar viele Parallelen zu Epen anderer slawischer und nichtslawischer ethnischer Gruppen ziehen, aber die Ergebnisse der semantischen Analyse bezeugen vor allem eine Verwandtscha der Erzählung über Oleg in der Chronik mit nordeuropäischen Epos-Texten [der ältesten Volksüberliefenmg über Fürsten Oleg, den skandinavischen Sagas über Orwar Odd, der englischen Sage über Robert Schurland, den deutschen Überlieferungen von Kriegern und Jäge (Schwartz, 1862, 52 u. a.), getötet durch Pferd oder Wildschwein, den dänischen Sagen, in denen das Pferd durch einen Erd oder einen Drachen ersetzt wurde (Tiander, 1906, 235-45), den russischen Billinen über Wassilii Buslaev und Ilja Muromez]. Sie alle belegen die ve andt-
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scha liehe Nähe zwischen den Sagen über Oleg und der nordeuropäischen (skandinavischen und nordrussischen) Epos- Tradition.
Besonderes lnteresse verdient unserer Ansicht nach die stark ausgeprägte Sujetgemeinsamkeit der altrussischen Chronik und der Saga überO arOdd, die über Variationen des Reisesujets hinausgeht. Nicht auszuschließen ist die Beein ussung der Sagen über Feldzug und Untergang des FürstenOleg durch sie, da diese in der mündlichen Überlieferung bekannt gewesen sein dür en.
Die Frage nach der Verwandtscha zwischen den Sagen unserer Chronik und der norwegischen Saga ist in der Wissenscha nicht neu. Darüber schrieben Torfeus, Karamzin, Kunik, Boer, Tiander, Schaclunatov, Ljaschtschenko, Srender-Petersen, Rydyevskaja,Pritsak u. a. Ich schließe mich der Meinung des holländischen Wissenscha lers Boer an, daß die beiden auf eine gemeinsame skandinavische Folklorequelle zurückzufuhren sind, nämlich auf die Sage über den Wikinger Orwar Odd (Boer, 1892, Bd. VITI). Dem dänischen Historiker Torfeus wurde eine Variante der Örwar-Odds Saga bekannt, die viel näher der russischen Chronik, entsprechend dem ältesten skandinavischen Narrativ, steht (Torfaei, 1711, 266, 274; Stender-Petersen, 1934, 187). Die Überlegungen der russischen Forscherin auf dem Gebiet des skandinavischen Epos, Rydzevskaja, daß der Fürst-Warjag Oleg, der (in der ältesten Redaktion) ins Heimatland ruhmreich zurückkommt und dort von einer Schlange getötet wird, dem Wikinger
OrwarOdd sehr ähnlich ist, erscheinen mir überzeugend (Rydzevskaja, 1978, 198). Diese Version, von Schaclunatov sehr glaubwürdig rekonstruiert, soll der ältesten Kiewer Fassung zu undeliegen (Schachmatov, 1908, 333-335, 478). Rydzevskaja akzeptiert die textalogische Rekonstruierung von Schachmatov, jedoch unter Vorbehalt. Vorbehalt könnte aber auf der Ebene der von mir vorgenommenen semantischen Analyse übe den werden. Die von Schaclunatov rekonstruierte Sage steht Einklang mit der immanenten Logik des Folklorenarrativs. Darin spiegelt sich ein immer wiederkehrendes Zyklusmodell in der Folklore: die Rückkehr des Helden am Ende seines Lebensweges zu seinem Geburtsort, von wo er früher ausgezogen ist. Dies bestätigt die These von der Existenz einer mündlichen Form der ältesten chronikalen Version und gibt Anlaß, der Textologie von Schaclunatov mehr Vertrauen zu schenken.
Also haben die chro ale Überlieferung über FürstenOleg und die Saga eine gemeinsame skandinavische Folklorequelle, und zwar die Sage über den WikingerOrwarOdd, dessen historischerPrototypus im neunten Jahrhundert in Halogaland gelebt hat. Die Gemeinsamkeiten Entwicklungsniveau Skandinaviens in der Epoche der Wikinger und des Kiewer Rußland machen die freie Übertragung des Sujets sehr möglich. Diese Rolle übe ehmen die Warjagen in Rußland. Zuerst in den nördlichen Gebieten des Landes bekannt (wovon die
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chronikalischen Versionen, die den Tod, bzw. den Grabhügel Olegs mit Nowgorod tmd Ladoga verbinden, ein Zeu is ablegen), verbreitet es sich allmählich in Südrichtung, wobei darin Kiew w1d Zarenstadt Eingang nden tmd o die Funktion von Nowgorod tmd Ladoga übe ehmen.
Die englische Sage über den Baron Robert Schurland aus der Grafschaft Kent stellt einen besonders wichtigen Beweis den nördlichen (skandinavischen) Urspnmg der erwähnten chronikalen Version dar. Obwohl die Sage in einer späteren Zeit aufgeschrieben rde, steht sie olme Zweifel in Verbindtmg mit der älteren skandinavischen Quelle und ist als ihre nordwestliche Variante anzusehen. Nicht auszuschließen ist die Vennittltmg durch die altisländische Folklore. A. Ljaschtschenko erkJärt die Gemeinsamkeit im Sujet über Schurland und Odd durch reale politische Kontakte im zehnten tmd elften Jalu·hundert zwischen der Grafscha Kent tmd No egen bzw. Dänemark (Ljaschtschenko, 1924, 276). Das Eindringen des Sujets in lsland ist zusätzlich auf nd der regelmäßigen Kontakte der skandinavischen Einsiedler zu England sehr wahrscheinlich. Der Chronist erwälmt schon Anfang der „Powest wremennych Iet“ die ethnische Verwandtscha der Warjagen mit den „Angeln“: „Diese Warjagen narmten sich Russen, so wie die anderen sich swii, andere urmani, angli, andere goti nennen.“ (Powjest wremennych Iet, 1926, 19).
Das Aufge hrte gibt uns Anlaß dazu, die nächste Etappe in der Entwickltmg der skandinavischen Legende zu markieren, nämlich deren Lokalisienmg im nordwest- tmd mitteleuropäischen FolkloreareaL Die Verbreittmg der skandinavischen Sage in den englischen, dänischen und deutschen Siedltmgsgebieten (Sagen von Kriege und Wildjägern) karm als eine natürliche Folge der diese Periode typischen skandinavischen Expansion betrachtet werden.
Die Verbreittmg der Sagen vom Norden nach dem Süden (die südslawischen Versionen – das serbische Märchen, die bulga sche Legende über den Tod des Reiters durch eine Schlange), d. h. die Fixienmg älullicher Überliefenmgen, folgt dem Weg „von den Warjagen den G echen“, dem Weg vom skandinavischen Norden nach Konstantinopel. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Ähnlichkeit zwischen den südlichen und den nördlichen Versionen typologischer Natur.
Nördliche Lokalisienmg weisen wie die Folkloreversionen auch die Chroniken auf, die in textelogischer Hinsicht der skandinavischen Saga am nächsten stehen, so die „Erste Chronik aus Novgorod“ und die „Chronik aus Archangelogorod“. Fast in allen chronikalen Abschri en sowie in der Saga besucht der epische Held den Ort, wo die Überreste seines Pferdes sind. Die „Chronik aus Archangelogorod“ sowie die Saga ihren die Tatsache auf, daß
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Oleg sein Pferd töten be ehlt, während in den anderen chronikalen Versionen das Pferd ein natürliches Ende ndet. Nur in dieser Abschri kommt dreimal der Ausdruck aus der Saga in bezug auf das Pferd, „trockener Knochen“, vor. Geo aphisch gesehen, ist es logisch ehmen, daß der Verfasser der Chronik aus Archangelogorod in engerer Beziehung zum nördlichen Epos, dem skandinavischen und nordrussischen, steht. Er könnte auf diese und Weise Information aus einer örtlichen mündlichen Quelle (der Sage über Oleg oder einer Variante der Saga über Orwar Odd) oder aus einer schri lichen (einer anderen nördl ichen Abschri der Chronik) geschöp haben, wo die Ähnlichkeiten zwischen den Versionen von Oleg und Orwar Odd noch deutlicher au reten.
Eine bestimmte nördliche Orientierung des Sujetmodells wird unübersichtlich. Es ist sehr schwer, eine endgültige Erklärung der komplizierten Ein üsse zwischen der fiiihen russischen Folkloretradition und der nördlichen (skandinavischen) zu geben, weil die Älmlichkeiten auch eine gegenseitige Beein ussung nicht ausschließen. Eine solche Bedingtheit ist im Kontext der kompakten skandinavischen Expansion in Europa sowie auf und der aufge hrten Parallele zwischen der russischen Chronik und den Sagas, der nordeuropäischen Folklore und dem Edda-Epos, sehr wohl möglich. Die skandinavische ethnokulturelle Tradition hat an der Formierung der russischen in einer bestimmten histo schen Periode teil. Die Warjagen sind eine ethnische Komponente der altrussischen Gesellscha . Die russische Fürstendynastie ist höchstwahrscheinlich skandinavischen Urspnmgs. Die Warjagen nehmen insgesamt aktiv am politischen Leben Rußlands im Mittelalter teil, sowie der Bildung dessen früher Staatlichkeit.
Das russische Land, ein Feld politischer tmd kultureller Einflüsse zwischen dem Norden (Skandinavien) und dem Süden (Byzanz und der slawische Süden), läßt nicht nur Folkloremuster entstehen, sonde übernimmt solche vom Norden und vom Süden. Hier ist noch auf den oßen Ein uß der Bibeltradition nicht nur auf die schri lichen Denkmäler der Kiewer Rus, sondern auch auf die Folklore hinzuweisen. Die Sagen über die ersten russischen Herrscher werden in Überlappungspunkten dieser Tendenzen gescha en. Die Untersuchung der semiotischen Aspekte der Folkloregeschichtsschreibung in den altrussischen Chroniken Au assung über die Einheit der mittelalterlichen russischen Kultur.
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MEDIUM AEVUM QUOTIDIANUM
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KREMS 1997
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARJTZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTORABTEILUNG DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titel aphik Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellscha Erforschung der materiellen Kultur des Mittelalters, Kö ermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich. Für den Inhalt verantwortlich zeiclmen die Autoren, ohne deren ausdrückliche Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist.- Druck: KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort………………………………………………………………………………………………. 4 Iliana Tschekova, Die chronistische Erzählung
überdenFürstenOlegunddasskandinavischeEpos………………………….. 5 Ryszard Grzesik, Dynastische Machtbegri e
in den ostmitteleuropäischen Chroniken des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Gerhard Jaritz, „Transeuntes ad alium Ordinem.“
The position ofCistercians and Carthusians in the Middle Ages . . . . . . . . . . . . 32
Kyril Petkov, Die ‚Orientalisienmg‘ des Balkans
in der deutschen Vorstellung des 15. und 16. Jahrhunde s.
Eine Untersuchtmg spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Wal e ungsmusterinDeutschland……………………………………………. 40
Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Vorwort
Wir freuen uns, Ihnen mit diesem He verschiedene Beiträge vorlegen zu können, die von Mitgliede und Freunden von Medium Aevum Quotidianum verfaßt wurden. Sie repräsentieren in der Me Forschw1gsergebnisse von osteuropäischen Kollegen aus Bulgarien und Polen, die dadurch einem inte ationalen Fachpublikum zugänglich gemacht werden sollen. Unsere Gesellscha versucht somit neuerlich, ihrem Ziel einer Brücken mktion zwi schen östlicher lmd westlicher Geschichtswissenscha gerecht werden.
Die Planungen die nächsten Hefte von Medium Aevum Quotidianum sind bereits abgeschlossen. Wir können Ihnen mitteilen, daß im September 1997 mit dem Erscheinen von Sonderband VI rechnen ist, der eine Arbeit von James Palmitessa (New York-Kalamazoo/Mich.) beinhalten wird, welche sich einer systematischen Analyse der Prager Bürgerinventare des 16. und 17. Jaltrhunderts widmet. Als letztes He des heurigen Jallres wollen wir die Ergebnisse einer Round Tabte-Diskussion präsentieren, die beim Inte ational Medieval Congress in Leeds im Juli des heurigen Jahres sta nden und sich mit „History of Eve day Life: the Variety of Approaches“ auseinandersetzen wird. Das erste He des Jahres 1998 soll g arische Forschungen mittelalterlichen E g beinhalten, während die darau olgende Publikation einer internationalen Gruppe von Archäologen Gelegenheit geben wird, sich mit Möglichkeiten ihres Beitrages einer Alltagsgeschichte des Mittelalters zu beschä igen.
Gerhard Jaritz
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