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DIE ORDNUNG UND IHR ANDERES?
EINIGE ANMERKUNGEN ZUM CROSS DRESSING
AM BEISPIEL DER HEILIGEN KÜMMERNIS
Elisa Heinrich (Wien)
Ausgangspunkt dieser Arbeit war mein Interesse an der Figur der Heiligen
Kümmernis oder Wilgefortis, die sich durch die häufige Darstellung mit einem
Bart auszeichnet und deren Legende besagt, Gott habe ihr diesen wachsen lassen,
um sie vor der Heirat mit einem Mann und damit vor dem Verlust ihrer
Jungfräulichkeit zu bewahren1. Im vorliegenden Beitrag soll versucht werden,
anhand unterschiedlicher theoretischer Ansätze zur Inszenierung und Repräsentation
von Geschlecht und Körper im Mittelalter die Bedeutung von Cross-Dressing-
Darstellungen in Heiligenlegenden herauszuarbeiten und die Frage zu stellen,
ob diese sich als Versuch von Normüberschreitung lesen lassen, in denen
Geschlecht als performativ formuliert werden kann, oder ob dabei letztlich gegebene
Binaritäten perpetuiert werden.
Zunächst führen diese Überlegungen in eine Diskussion rund um die in
der feministischen Wissenschaft der Achtziger Jahre obligate Trennung von
„sex“ (biologisches Geschlecht) und „gender“ (soziokulturelles Geschlecht) und
deren Kritik vor allem durch Judith Butler zu Anfang der Neunziger Jahre. Was
vor der Beschäftigung mit diversen poststrukturalistischen Theorien, die zunehmend
die Frage nach der Autonomie des Subjekts und der „Natur“ als vordiskursive
Basis eines kulturellen Überbaus problematisierten, als selbstverständlich
galt und gerade die Konstruiertheit weiblicher Rollenzuschreibungen herausarbeiten
sollte, wurde in den Neunzigern plötzlich in Frage gestellt. Mit Judith
Butlers „Gender Trouble“ und Thomas Laqueurs „Auf den Leib geschrieben“,
das 1992 erstmals in deutscher Übersetzung erschien, wurde biologisches
Geschlecht als ebenso durch kulturelle Praxen reguliert begriffen wie das so genannte
soziale Geschlecht2. Butler zufolge werden die Körper durch eben diese
regulierende Macht nicht nur diszipliniert und beherrscht, sondern durch sie erst
1 Vgl. Valerie R. Hotchkiss, Clothes Make the Man. Female Cross Dressing in Medieval Europe.
New York-London 1996, 23.
2 Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike
bis Freud. München 1996; Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/
Main 2003.
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hergestellt3. „Die Geschlechtsidentität darf nicht nur als kulturelle Zuschreibung
von Bedeutung an ein vorgegebenes anatomisches Geschlecht gedacht werden
[…]. Vielmehr muss dieser Begriff auch jenen Produktionsapparat bezeichnen,
durch den die Geschlechter (sexes) selbst gestiftet werden.“4 Zum anderen führten
diese Überlegungen zu einer radikalen Historisierung von Körper und Geschlecht,
genauer des Zwei-Geschlechter-Modells, mit dessen Hilfe Laqueur die
These formulierte, dass „vor dem 17. Jahrhundert […] der Sexus noch eine soziologische
und keine ontologische Kategorie“5 gewesen sei, und damit eine
historische Entwicklung von einem one-sex-model zu einem two-sex-model
postulierte. Über Tausende von Jahren hätten in der Vorstellung der Menschen
Frauen über dieselben – nur nach innen gestülpten – Genitalien verfügt wie
Männer6.
Beide AutorInnen wurden und werden auch innerhalb der Mediävistik
heftig diskutiert. Während zum einen Laqueurs Bestreben honoriert wird, die
Historizität wissenschaftsgeschichtlicher Kategorien in Erinnerung gerufen zu
haben7, wird er andererseits etwa von Brigitte Spreitzer dahingehend kritisiert,
„die im Theoretischen verworfene Trennung von ‚sex‘ und ‚gender‘ fortwährend
auf die Ebene der Historie [zu transponieren], um ein Entwicklungsmodell zu
statuieren, demzufolge das Gewicht von der einen Kategorie, ‚gender‘, auf die
andere, ‚sex‘, verlagert worden sei.“8 Sie fordert deshalb sich anstatt mit der
Frage nach der historischen Entstehung der Geschlechterdifferenzierung mit den
diskursiven Praktiken zu beschäftigen, welche „Frau“ und „Mann“ als Kategorien
hervorbringen und als binäre Oppositionen hierarchisch organisieren9. Sowohl
Bennewitz-Behr als auch Spreitzer weisen auf die Wichtigkeit hin, die Behauptung
weiblicher Inferiorität im Blick zu behalten, ändern sich doch lediglich
die Mittel der Beweisführung, nicht aber die Intention des Postulats selbst10. Unter
dieser Prämisse wird die stärkere Betonung der Biologie in neuzeitlichen
Diskursen über die Minderwertigkeit der Frau nachvollziehbar, muss doch diese
3 Vgl. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt/
Main 1997, 21.
4 Butler, Das Unbehagen der Geschlechter 24.
5 Laqueur, Auf den Leib geschrieben 21.
6 Vgl. ebd. 16.
7 Vgl. Ingrid Bennewitz-Behr, Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht in der Literatur
des Mittelalters, in: dies. (Hg.), Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung
nach Butler und Laqueur. Hamburg 2002, 3.
8 Brigitte Spreitzer, Störfälle. Zur Konstruktion, Destruktion und Rekonstruktion von Geschlechterdifferenz(
en) im Mittelalter, in: Ingrid Bennewitz-Behr und Helmut Tervooren
(Hg.), Manlîchiu Wîp, Wîplîch Man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘
in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 1999, 250.
9 Vgl. ebd. 250 f.
10 Vgl. Bennewitz-Behr, Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht 5; Spreitzer, Störfälle
251.
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umso mehr „rational“ erklärbar sein, je mehr die Metaphysik und Gott als unbewegter
Beweger an Relevanz verlieren11.
Es wird nun nicht nur Laqueurs theoretische Vorgangsweise in Zweifel
gezogen, sondern auch die Richtigkeit seiner Ergebnisse. So zeichnet sich
Spreitzer und Bennewitz-Behr zufolge die mittelalterliche Geschlechterdifferenzierung
zwar gegenüber der neuzeitlichen als flexibler und fließender und oftmals
nur graduell auftretend aus – dies lasse sich etwa aus der Rezeption des
zweiten Schöpfungsberichts, in dem der weibliche aus dem männlichen Körper
erzeugt wird, erklären – das Denken in Dichotomien würde jedoch keineswegs
aufgegeben12. Als m. E. wichtige These – gerade im Hinblick auf die unten beschriebenen
Formen des Cross Dressing – formuliert Spreitzer dann in Anlehnung
an Joan Caddens Quellenstudien13, dass die „wissenschaftliche“ Suche
mittelalterlicher Naturphilosophen nach Übergangszonen zwischen den Geschlechtern
– im Sinne von „weiblichen“ Männern und „männlichen“ Frauen –
„keineswegs über die Logik der Geschlechterbinarität hinaus [reichen würde]:
Es geht um den Versuch, Abweichungen von der Norm i n n e r h a l b dieser
Norm zu klassifizieren und zu begründen.“14 Von Spreitzer wird diese These jedoch
selbst eingeschränkt, indem sie festhält, dass die Aufrechterhaltung des binären
Geschlechtermodells in mittelalterlichen Texten sehr wohl auf eine performative
Umsetzung angewiesen ist, die immer wieder eingefordert werden
muss15. Auch wenn sich daher diese These nicht absolut setzen lässt, machen
derartige Überlegungen doch wieder den Blick frei für die oben erwähnten
Praktiken der Herstellung von Geschlecht, anstatt der idealisierten Vorstellung
anzuhängen, das Mittelalter habe keine geschlechtlich klar verorteten Identitäten
gekannt.
* * *
Die Heilige Kümmernis16 (Abb. 117 und 218) gehört zunächst in eine nach Zahlen19
nicht zu unterschätzende Gruppe von weiblichen Heiligenfiguren, deren
11 Vgl. Spreitzer, Störfälle 251.
12 Vgl. Bennewitz-Behr, Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht 5; Spreitzer, Störfälle
253.
13 Joan Cadden, Meanings of Sex Difference in the Middle Ages: Medicine, Science, and Culture.
Cambridge 1993.
14 Spreitzer, Störfälle 253 (Hervorhebung durch die Autorin).
15 Vgl. ebd. 255 f.
16 Die Legende besagt, die heilige Kümmernis sei als portugiesische christliche Königstochter
von einem heidnischen Prinzen verehrt worden. Sie habe daraufhin Gott gebeten, sie zu
verunstalten, der ihr einen Bart wachsen ließ, um dem Verehrer nicht mehr zu gefallen. In
unterschiedlichen Versionen der Legende wird sie von ihrem Vater entweder verstoßen
oder gekreuzigt. Sterbend predigt sie vom Kreuz und kann viele Menschen, unter diesen
auch ihr Vater, bekehren. Einem armen Spielmann, der oft zu ihren Füßen abgebildet ist,
wirft sie einen goldenen oder silbernen Schuh zu. – Zur Hl. Kümmernis vgl. z. B. auch Lexikon
zur christlichen Ikonographie 7. Rom u. a. 1974, Sp. 353 ff.; Joseph M. Ritz, Sankt
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Status mit einer Art von Veränderung der Geschlechterrepräsentation in Verbindung
steht. Meist versuchen die Frauen durch einen Geschlechtswechsel einer
unerwünschten Heirat oder sexuellen Übergriffen durch einen Verehrer zu entgehen;
des öfteren ist dies gekoppelt mit der Verteidigung des eigenen christlichen
Glaubens, welcher von der Umgebung nicht anerkannt wird20.
Abb. 1: Hl. Kümmernis und Spielmann Stítnik (Slowakei).
Kümmernis und Volto Santo. Düsseldorf 1933; Leopold Kretzenbacher, Sankt Kümmernis
in Innerösterreich, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 44 (1953) 128-
159; Regine Schweizer-Vüllers, Die Heilige am Kreuz. Studien zum weiblichen Gottesbild
im späten Mittelalter und in der Barockzeit. Frankfurt/Main 1997; Britta-Juliane Kruse, Die
bärtige Heilige. Wilgefortis als Identifikationsfigur für Eheverweigerinnen und Helferin der
Ehefrauen, in: Ulricke Gaebel und Erika Karschoke (Hg.), Böse Frauen–gute Frauen. Darstellungskonventionen
in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Trier
2001, 155-194; Ilse E. Friesen, The Female Crucifix: Images of St. Wilgefortis since the
Middle Ages. Waterloo 2001.
17 Heilige Kümmernis und Spielmann, Wandmalerei, erste Hälfte 15. Jh. Stítnik (Slowakei),
Evangelische Kirche. Siehe http://www.imareal.oeaw.ac.at/realonline/ (Zugriff 30. Juni
2005), Bildnummer 012488; Photo: Institut für Realienkunde (Krems).
18 Hl. Kümmernis (Detail), Wandmalerei, 1400/30. Altenburg (Südtirol), Kuratiekirche St.
Vigilius; siehe http://www.imareal.oeaw.ac.at/realonline/ (Zugriff 30. Juni 2005), Bildnummer
002870; Photo: Institut für Realienkunde (Krems).
19 Valerie Hotchkiss spricht von über dreißig Legenden mit diesem Thema und listet die Namen
von 34 Heiligen auf. Vgl. Hotchkiss, Clothes Make the Man 13 bzw. 131-141.
20 Vgl. ebd. 22.
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Während sich die meisten heiligen Frauen dieser Gruppe als Mönche oder
Einsiedler „verkleiden“ und damit als ihre Weiblichkeit verbergend geschildert
werden – Valerie Hotchkiss verwendet die Ausdrücke „disguised saints“ und
„holy transvestites“21 –, findet bei der Heiligen Kümmernis eine körperliche
Verwandlung statt, was sie m. E. aus dieser Gruppe auch wieder zum Teil ausschließt
(der Begriff Transgender-Heilige wäre in ihrem Fall passender), sie zumindest
aber besonders hervorhebt.
Abb. 2: Hl. Kümmernis, Altenburg (Südtirol).
Auffällig ist, dass das Cross Dressing in den meisten Fällen von Frauen in
Richtung männlicher Repräsentation vollzogen wird22. Heiligkeit wird für diese
Frauen erst durch das Verleugnen ihres Frauseins und den Versuch, sich durch
die Identifizierung mit Männern einer als männlich konnotierten Tugendhaftig-
21 Ebd. 13 bzw. 16.
22 Über einige seltene literarische Überlieferungen männlichen Cross Dressings und dessen
spezifische Bedeutung siehe Ruth Weichselbaum, Er wart gemerket unde erkant/Durch seine
unvrowliche site. Männliches Cross-Dressing in der mittelhochdeutschen Literatur, in:
Bennewitz-Behr und Tervooren: Manlîchiu Wîp, Wîplîch Man 326-341.
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keit anzunähern, möglich:23 „[…] for early believers, to be Christian was to be
male or malelike.“24 Dies zeigt, dass es sich bei Cross Dressing dieser Art nicht
um eine Emanzipation von Geschlechtszuschreibungen handelt oder die Autoren
der Legenden gar die Dekonstruktion des binären Geschlechtersystems verfolgen
würden. Die Legenden geben vielmehr Auskunft über einen Diskurs, in dem
Frauen – mit Körperlichkeit und Sexualität gleichgesetzt – als eine Abweichung
vom ungeschlechtlichen, mit sexuellem Verzicht gleichgesetzten Mann konstruiert
wurden:25 „Geschlecht hat und ist nur die Frau, ‚Mann‘ ist der Terminus
für Ratio, Transzendenz des Leibes, Gottesebenbildlichkeit.“26 So fungiert die
Maskulinisierung von Frauen als Metapher sowohl für die Transzendierung von
Körperlichkeit als auch für die Annäherung an das Göttliche und ist gerade deshalb
nur in die Richtung von Frau zu Mann überhaupt denkbar27.
Die Hagiographen tendierten natürlich dazu, „weibliche Sünden als etwas
Fleischliches oder Geschlechtliches, aus dem Leib der Frau Aufsteigendes
darzustellen, männliche Sünde dagegen als Folge einer Versuchung von außen –
meist durch die provozierend dargebotene Leiblichkeit der Frauen.“28 So trifft es
auch für die Legenda Aurea zu, dass es als größte Leistung von Frauen galt bei
der Verteidigung ihrer Jungfräulichkeit zu sterben29. So wird jede Art selbst gewählter
Schmerzen und Martern, mit denen der Akt der Transzendenz häufig
verbunden ist, sowie der selbst gewählte Verzicht auf Sexualität bzw. ihre Rolle
als sexuelles Objekt glorifiziert – vom Abschneiden der Haare bis zum Ausmergeln
des Körpers30. Auch das Wachsen des Bartes im Fall der Heiligen
Kümmernis wird als Entstellung weiblicher Schönheit interpretiert31.
Was als Zustimmung der Hagiographen zum Cross Dressing gewertet
werden kann, sieht Spreitzer als Lob an die Märtyrerinnenhaltung der Frauen,
die sich durch ihre Fähigkeit Leid und Unrecht zu ertragen ihren Mannesnamen
erst verdienen:32 „Mit dieser Handlungsführung schaffen die Verfasser ein
ambivalentes Spannungsfeld zwischen der offenen Bewunderung der moralischen
Progression vom nichtigen Frausein zu gottgefälliger Männlichkeit einerseits
und indirekter Verurteilung des im Geschlechtswandel implizierten Anspruchs
auf die Partizipation an der Macht […].“
23 Vgl. Hotchkiss, Cothes Make the Man 13, 17.
24 Ebd. 16.
25 Vgl. ebd. 22 und Spreitzer, Störfälle 258 f.
26 Spreitzer, Störfälle 257.
27 Vgl. ebd. – Vgl. dazu auch Caroline Walker Bynum, Der weibliche Körper und religiöse
Praxis im Spätmittelalter, in: dies., Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper
im Glauben des Mittelalters. Frankfurt/Main 1996, 148-225, die anhand vieler Beispiele
von Reliquienkult und anderen rituellen Praktiken die wichtige Rolle des Körpers und seines
Kontextes zum Glauben aufzeigt.
28 Bynum, Der weibliche Körper 167.
29 Vgl. ebd.
30 Vgl. Hotchkiss, Clothes Make the Man 22, 24.
31 Vgl. ebd. 23.
32 Vgl. Spreitzer, Störfälle 258.
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Wie lassen sich nun Phänomene wie das Cross Dressing in der mittelalterlichen
Literatur und Kunst mit Hilfe der theoretischen Überlegungen zu Körper
und Geschlecht am Anfang dieses Beitrags untersuchen? Wichtig scheint
zunächst das Verhältnis von in Texten bzw. Bildern Überliefertem und der ‚realen’
Lebenswelt des Mittelalters zu problematisieren. Besonders für die schriftliche
Überlieferung ist dabei Folgendes festzuhalten: „Ein Großteil der mediävistischen
feministischen Arbeiten orientiert sich allerdings zwangsläufig an der
verhältnismäßig großen Menge literarischer Quellen […], da abgesehen von intellektuellen
Debatten andere Schriftquellen […] nur selten zu finden sind. Die
Schwierigkeiten der Übertragung literarischer körperlicher Stereotype zu
Keuschheit, Virginität und Frömmigkeit auch und gerade in hagiographischen
Schriften auf das Alltagsleben oder tatsächliche Wahrnehmungsmuster der Zeit
sind erheblich, zumal die meisten Texte von Männern verfasst wurden.“33 Für
die bildende Kunst müsse es, wie jüngst von Silke Büttner formuliert, durch die
radikale Historisierung der Kategorie Geschlecht zu einer Neubewertung der gesellschaftlichen
Position der Kunst kommen und speziell das Verhältnis zwischen
künstlerischer Produktion und ‚Lebensrealität’ sei zu überdenken34. Mit
Michel Foucault fordert sie, „die Kunst [müsse] als eine der Praktiken angesehen
werden, die das Erleben und Verständnis gesellschaftlich-kultureller Kategorien
wie Geschlecht und Ethnie mit hervorbringt.“35 Diese These erscheint
zentral für die Frage nach der Bedeutung von Cross-Dressing-Darstellungen –
auch und gerade für die RezipientInnen der Bildquellen. Hier wird es nämlich
möglich, Darstellungen wie die der Hl. Kümmernis als eine Visualisierungspraxis
zu lesen, mit Hilfe derer nicht einfach ideologisch manipuliert werden kann,
sondern welche die Materialität und Bedeutung der Körper erst herstellt und
formt, und somit das Selbstverständnis der Individuen mitbestimmt36. Innerhalb
einer solchen Überlegung werden auch die Kategorien „sex“ und „gender“ obsolet,
wird hier doch der Versuch gemacht zu denken, der Körper weise keine
vorgegebene Bedeutung auf; statt dessen werde unsere Wahrnehmung auch darauf,
was männlich und weiblich ist, erst durch verschiedene diskursive Prozesse
hervorgebracht37. Auch wenn daher die Hl. Kümmernis als „vermännlichte“
Frau rezipiert wurde und sich ihre körperliche Veränderung innerhalb klar abgesteckter
Grenzen abspielt und die Zweigeschlechterdichotomie nicht überschreitet,
lässt sich hier doch mehr aufspüren als bloß die von Valerie Hotchkiss
erwähnte Entstellung weiblicher Schönheit. Denn wenn „Weiblichkeit“ abgestreift
und „Männlichkeit“ angeeignet werden kann, wird jedenfalls die Perfor-
33 Maren Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen
2000, 129.
34 Vgl. Silke Büttner, Irritationen. Überlegungen zur Erforschung von Differenzierungspraktiken
in der mittelalterlichen Kunst, in: Karl Brunner, Andrea Griesebner und Daniela Hammer-
Tugendhat, Verkörperte Differenzen. Wien 2004, 212.
35 Ebd.
36 Vgl. ebd.
37 Vgl. Bennewitz-Behr, Zur Konstruktion von Körper und Geschlecht 6.
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mativität von Geschlecht betont und die Transgression von Norm zumindest als
Denkraum eröffnet38, auch wenn dabei nicht vergessen werden sollte, zu wessen
Erhöhung – der des Mannes – dieser Akt unter anderem beitragen sollte.
Aus diesen Überlegungen ist meiner Meinung nach zu folgern, dass unterschiedliche
Leseweisen verschiedener Darstellungen auszuloten und auch solche
abseits hegemonialer Rezeptionen zu berücksichtigen sind. Es ist also genauso
unbefriedigend, sich mit einer Misogynie in mittelalterlichen Darstellungen39
einfach abzufinden wie Darstellungen von Cross Dressing vorbehaltlos als veruneindeutigte
Geschlechterverhältnisse zu lesen. Reflexionen in beide Richtungen
sind wünschenswert.
38 Vgl. Spreitzer, Störfälle 261.
39 Vgl. Christa Grössinger, Picturing Women in Late Medieval and Renaissance Art. Manchester
1997, passim.
M E D I U M A E V U M
Q U O T I D I A N U M
51
KREMS 2005
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramèr
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, 3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. –
Druck: Grafisches Zentrum an der Technischen Universität Wien, Wiedner
Hauptstraße 8-10, 1040 Wien.
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort …………………………………………………………………………………………………. 5
Adrian Andrei Rusu, On the Medieval Battle Knives from Transylvania ………. 7
Helmut Hundsbichler, Tanta mansuetudo in bestia.
Unerwartete mediävistische Begegnungen mit Tieren ………………………. 26
Elisa Heinrich, Die Ordnung und ihr Anderes?
Einige Anmerkungen zum Cross Dressing
am Beispiel der Heiligen Kümmernis …………………………………………… 40
Besprechungen …………………………………………………………………………………….. 48
5
VORWORT
Das vorliegende Heft von Medium Aevum Quotidianum soll neuerlich die Verschiedenheit
von Fragestellungen und Ansätzen vermitteln, die in einer Geschichte
von Alltag und materieller Kultur des Mittelalters von Wichtigkeit erscheinen.
Dabei geht es vor allem auch um trans- und interdisziplinäre Aspekte,
welche regelmäßig zu berücksichtigen sind und ohne die eine moderne Forschung
nicht auskommen kann. Dies gilt für Untersuchungen zu spätmittelalterlichen
‚Kampfmessern‘ genauso wie für die Auseinandersetzung mit dem Einsatz,
der Funktion und den symbolischen Werten von Tieren zu den unterschiedlichsten
Anlässen und in verschiedensten Diskursen, besonders auch dann
und dort, wann und wo man dieselben vielleicht nicht erwarten würde. Ebenfalls
trifft dies für jede theoriegeleitete Einzeluntersuchung zur Gender-Problematik
zu, wie am bekannten Beispiel von spätmittelalterlichen Cross-Dressing-Darstellungen
der Heiligen Kümmernis wieder einmal gut vorgestellt werden kann.
Die nächsten Hefte und Sonderbände unserer Reihe werden auch auf derartige
Forschungsdesiderata und -prinzipien Bezug nehmen. Dies gilt vor allem
für einen Sonderband, zu dem der erwähnte Beitrag von Helmut Hundsbichler in
diesem Heft über die Rolle von Tieren in Kontexten, in welchen man sie nicht
erwartet, gleichsam als ‚Vorhut‘ angesehen werden kann. Dieser Sonderband
wird sich mit „Tierwelten – Animal Worlds“ auseinandersetzen, sich den verschiedensten
Möglichkeiten des Zugangs zur mittelalterlichen Beziehung von
Mensch und Tier widmen und sich vor allem auf entsprechende Vernetzungen
beziehen. Die Beiträge des Bandes werden unter anderem erste Ergebnisse des
internationalen Forschungsprojektes MAD („Medieval Animal Database“) beinhalten,
sowie überarbeitete Vorträge und Diskussionsbeiträge, die an den heurigen
Internationalen Mittelalter-Kongressen von Kalamazoo (Sektion „Animal
Networks“) und Leeds (Sektion „Representing and ‘Transforming’ Medieval
Fauna“ und Round Table-Diskussion „A Digital Net of Medieval Animals?“)
angeboten wurden.
Ein weiterer Sonderband wird sich an Hand eines niederösterreichischen
städtischen Beispiels mit der Rolle, Aussagekraft und den Analysemöglichkeiten
von spätmittelalterlicher Rechnungsbuchüberlieferung für die Geschichte von
Alltag und materieller Kultur beschäftigen.
Schließlich wird ein dritter Sonderband die bereits mehrmals angekündigte
neue Auswahl-Bibliographie zu „Alltag und materieller Kultur des Mittelalters“
enthalten und nun entweder Ende 2005 oder Anfang 2006 zum Erscheinen
kommen.
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Darüber hinaus wird Heft 52 noch heuer vor allem wieder neue, internationale
Beiträge aus der Forschungspraxis der Mitglieder von Medium Aevum
Quotidianum anbieten können.
Gerhard Jaritz