Generic selectors
Exact matches only
Search in title
Search in content
Post Type Selectors
Search in posts
Search in pages
wsarticle
wsjournal
Filter by Categories
Allgemein
MAQ
MAQ-Sonderband
MEMO
MEMO_quer
MEMO-Sonderband

Die Pilgerreise des Heiligen Willibald – Ansätze für eine Unterscheidung von Volks- und Elitekultur?

Die Pilgerreise des Heiligen Willibald – Ansätze r eine Unterscheidung von Volks- und Elitenkultur?
Ulla Pille
Reisen waren im .flühen Mittelalter nichts Ungewöhnliches: „The general consensus is that all sorts of people travelled, men and women, clergy and laity, rich and poor, literate and illiterate, ill and healthy, old and young“.‘ Mit der Entwicklung der großen Weltreligionen gewannen insbesondere Reisen zu Pilgerzwecken an Bedeutung. Für die Zeit des Mittelalters geben hiervon Chroniken, Lebensbeschreibungen, Mirakelberichte und Heiligen­
viten Zeugnis.2
Wenngleich in der Forschung zur Pilgerreise im frühen Mittelalter3 die Meinung vorherrscht, daß alle Menschen zu Pilgerzwecken reisten bzw. reisen konnten, bleibt im Einzelfall doch näher zu überprüfen, ob und wieweit Unterschiede zwischen verschiedenen gesellscha lichen Gmppen erkennbar sind. Im thematischen Zusammenhang dieses Heftes gilt es in erster Linie zu untersuchen, inwiefem die Auswet1ung von Pilgerberichten generell Ansätze zur Unterscheidung verschiedener Kulturebenen, insbesondere von Volks­ und Elitekultur, im frühen Mittelalter bieten kann. Der vorliegende Beitrag sucht diese Fragen anhand der Vita Willibaldi‘ zu klären, die den ‚Bericht‘ des angelsächsischen Benediktinennönchs und späteren ersten Bischofs von
1 Linda Kay DAYIDSON, Pilgrimage in the Middle Ages: a research guide, New Vork­ London 1993, S 66.
2 Ygl. Norbert OHLER, Pilgerleben im Mittelalter. Zwischen Andacht und Abenteuer, Freiburg i.Br. 1 994, S. I0.
3 Aufdie Darstellung des Forschungsberichtes wurde im Hinblick aufden Umfang dieser Arbeit verzichtet Eine ausfuhrliehe und recht aktuelle Bibliographie ndet sich beispielsweise bei DAY1DSON (wie Anm. l ) in den jeweiligen Kapiteln.
4 Hugeburc, Vita Willibaldi, lat.-dt. ed. Andreas BAUCH, Quellen zur Geschichte der Diözese Eichstätt 1: Biographien der Gründungszeit (Eichstätter Studien n.F. 1 9 ) Regensburg 1984, S. 22-87.
59
Eichstätt, Willibald, über seine Pilgerfahrt nach Je salem in den Jahren 723 bis 729 überliefert.
Das einleitende Zitat Linda Kay Davidsons weist unmittelbar auf die Haup roblematik der Untersuchung hin: Es gilt, Kriterien zur Unterscheidung der verschiedenen Kulturebenen z u bestinunen, wobei zwischen zeitgenössischen und mode en Kriterien differenzie werden muß. Zuvor sind außerdem die die Fragestellung zentralen Begriffe Kultur,
Volk und Elite soweit zu definieren, daß sie die Untersuchung ve endbar werden, ohne daß die somit geschaffenen Arbeitsdefinitionen allgemeine Gültigkeit beanspruchen wollen.
Ein erster Hinweis auf die Existenz verschiedener Kulturebenen ergibt sich aus Fragen nach der Verfasserin, der Intention und den Adressaten der Vita. Als Abgrenzungskriterium bietet sich hierbei das Kriterium der Bildung an. Fe er ist der Aussagewert der Quelle auf das Kriterium des materiellen Reichtums sowie das der Religiosität zu prüfen. Folgende Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: Wer reiste, wie wurde gereist, und welche Voraussetzungen das Reisen, in diesem Falle d i e P i l gerreise nach Jerusalem, mußten gegeben sein? Ist durch die Tatsache der fe en Pilgerreise per se die Zugehörigkeit zu einer Elitekultur festgelegt? Des weiteren ist zu untersuchen, aus welchen Motiven die Reise unte ommen wurde: Zeigt die Motivation Ansatzpunkte fur eine einer bestinunten Kulturebene eigenen Religiosität? Ist die A der Reise, ihre Unterbrechung an bestimmten Orten etc. Ausdruck einer diesem Kulturkreis eigenen und nur in ihm praktizierten Glaubensauffassung? Da Bereiche, in denen unterschiedliche Kulturebenen gemeinsame Ausprägungen aufweisen, nicht auszuschließen sind und es folglich schwierig sein wird, einzelne kulturelle Gruppen deutlich voneinander abzugrenzen, ist bei der Untersuchung zur Unterscheidung von Elite- und Volkskultur im frühen Mittelalter sehr behutsam vorzugehen.
I. Begriffsde nitionen: Kultur – Volk – Elite
Bei der Unterscheidung von Volks- und Elitekultur(en) ist ein weiter Volksbegriff, der ‚Volk‘ als die Gesamtheit aller in einer Gesellscha lebenden Menschen faßt, wenig hilfre ich. Vielmehr kommt es auf Di erenzierungen innerhalb dieser Gesamtheit an. Dabei ist zu prüfen, ob voneinander abgrenzbare gesellscha liche Gruppen zugleich Träger einer eigenen ‚ Kultur‘ waren und wieweit sie eigene Merkmale aufweisen, welche über ein bestimmt�s Zusammengehörigkeitsge hl gruppenbildend wie auch
60
g ppenstabilisierend wirken können.s Im Hinblick auf die in der folgenden Untersuchung wichtigen Gesichtspunkte werden, in Anlehnung an Peter Burke, als Träger der Kulturschichten Personenkreise benannt, die, um die eigene Kultur auszudrücken bzw. zu verkörpem, bestimmte Sinngehalte, Einstellungen und Werte sowie symbolische Fennen kollektiv verwenden,6 u.a. auch, um sich gegenüber den anderen bewußt abzugrenzen. Die Faktoren, welche die Abgrenzungsbewegung dieser Gruppen bedingen, sind sicherlich vielfältig. Sie können beispielsweise sozialer oder mentaler Art sowie in jeder Gruppe unterschiedlich gewichtet sein.‘ Personen, die sich bewußt über andere erheben, können als elitär und als Vertreter von Elite ltur bezeichnet werden. Kennzeichen solcher Eliten ist in erster Linie die privilegie e Position innerhalb der Gesellschaft aufg nd verschiedener Merkmale.8 Es ist zu übe rüfen, ob derartige Abgrenzungen einer Elite- von einer Volkskultur auch in der Vita Willibaldi auszwnachen sind.
2. Die Vita Willibaldi9
2.1 Quellenkritik
Die Vita Willibaldi ist vermutlich wn das Jahr 780, also noch zu Lebzeiten des Heiligen, entstanden.’0 Verfasserin ist die aus Südengland stammende und
s Die einer Gruppe eigenen Merkmale reichen bis zu bewußt ausgewählten „kulturellen Ausdruckscodes“, welche die systemstabilisierende Funktion weiter unterstützen. Vgl. Gerhard JARITZ, Gemeinsamkeit und Widerspruch: Spätmittelalterliche Volkskultur aus der Sicht von Eliten, in: Volkskultur des europäischen Spätmittelalters, hg.v. Peter Dinzelbacher I H.-D. Rück (Böblinger Forum I) Stuttgart 1987, S. 1 5-33, hier S. 18.
6 Peter BURKE, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981 (London 1978), S. II.
7 Als einen solchen Faktor könnte man beispielsweise das Interesse an der Wahrung einer bestimmten Lebensweise verstehen. Ein spätmittelalterliches Beispiel fur die vermutlich zwangsläufig mit diesem Interesse verbundene Konfliktha igkeit gibt Gerhard JARITZ, Zwischen Augenblick und Ewigkeit. Einfuhrung in die Alltagsgeschichte des Mittelalters, Wien-Köln 1989, S. 131f..
8 Nach Gerhard JARITZ (wie m.7) S. 129 ist von ,,’Ausgewählten‘ […]. von einer ‚Auslese‘, von sozial, intellektuell oder politisch hervorgehobenen und Spitzenpositionen
einnehmenden Minderheiten einer Gesellscha “ zu sprechen.
9 lm Zentrum der folgenden Aus hrungen steht Hugeburcs Lebensbeschreibung des heiligen Willibald. Unterstützend wird die von der gleichen Verfasserin geschriebene Vita des Bruders, Wynnebald, hinzugezogen. Die quellenkritischen Ausfuhrungen zu den beiden Viten überschneiden sich dabei stellenweise.
10Es ist davon auszugehen, daß sie 779/781 verfaßt wurde, die Vita Wynnebaldi 782/785. Diese und die folgenden, falls nicht eigens gekennzeichneten Informationen zur
61
mit den beiden Brüde Willibald und Wynnebald entfe t verwandte Nonne Hugeburc,“ deren Identität verschlüsselt in einem Kryptogramm festgehalten ist.’2 Kurz nach 761 war Hugeburc in das Missionsgebiet ihrer angelsächsischen Stammesgenossen, das spätere B istum Eichstätt, gekommen. Zum Zeitpunkt der Entstehung der Heiligenberichte lebte sie im Doppelkloster von Heidenheim.13 Von ihrer Äbtissin Walburga, der Schwester Willibalds und Wynnebalds, insbesondere wegen ihrer in Südengland erfolgten klassischen literarischen Ausbildung geschätzt,14 wurde Hugeburc mit der Abfassung der Heiligenviten betraut. Überliefert sind die Texte in verschiedenen mittelalterlichen Handschri en, von denen jedoch nur zwei von textkritischem Wert sind. Die ältere der beiden Handschri en liegt der Ausgabe von Oswald Holder-Egger in MGH SS XV zugrunde, auf welche sich die die vorliegende Arbeit herangezogene lateinisch-deutsche Ausgabe von Andreas Bauch stützt.u
Überlieferung stammen aus BAUCH (wie Anm.4) S. 1 3 – 2 1 (Willibald), S . 1 2 5 – 1 3 3 (Wynnebald), sowie aus RudolfSCHIEFFER, Hugeburc von Heidenheim, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg.v. W. Stammler u. K. Langosch, 2. völlig neubearb. Aufl. , hg.v. K. Ruh u.a., Band 4, Berlin 1983, S. 221 -222.
11 Hugeburc, ca. 730/740 vermutlich in Wessex geboren, erhielt ihre Ausbildung in einem englischen Frauenkloster. Weil sie eine „besondere Liebe fur literarische Tätigkeit“ au ies, wurde Hugeburc mehr als andere Nonnen in die klassische Bildung eingefuhrt. BAUCH (wie Anm.4) S. 13, sowie SCHIEFFER (wie Anm.10) S. 221-222 und Gisela BRINKER­ GABLE Deutsche Literatur von Frauen, I. Band, Vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 1988, S. 68-70.
12 Vermutlich aus übersteigert anmutender Bescheidenheit verwendete Bugebure einen möglicherweise von ihr entwickelten, da ansonsten nicht weiter geläufigen Geheimcode. Erst 193 1 gelang es Bemhard Bischo , diesen zu entschlüsseln. BAUCH (wie Anm.4) S. 88, Anm.2.
13 Es handelt sich hier um eines der Urklöster des Frankenlandes, das 752 von den Brüde Willibald und Wynnebald gegründet wurde. Zu der näheren Geschichte und insbesondere der Gründung des Bistums siehe die Einzelbeiträge in: Der hl. Willibald – Klosterbischof oder Bistumsgründer? hg.v. Harald Dickerhof I E st Reiter I Stefan Wein rter (Eichstätter Studien n.F. 30) Regensburg 1990.
14 Resultat dieser Ausbildung scheint die schwere Verständlichkeit der Quelle zu sein, da Hugeburcs Viten eine „sehr gezierte[…) und schwulstige[…) Schreibart“ au eisen, welche „sogar in unglaublichem Maße barbarisch, aber [wenigstens, Anm. d. Verf. ) gelehrt barbarisch“ ist. Wilhelm WATTENBACH, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, in zwei Bänden, I . Band, 6. umgearb. Autl., Berlin 1893, S. 137. Zu den funf charakteristischen Merkmalen der sprachlichen Form Hugeburcs siehe BAUCH (wie Anm.4) S. 18-20, des weiteren die detaillie e sprachliche Untersuchung bei Eva GOTTSCHALLER, Bugebure von Heidenheim. Philologische Untersuchungen zu den Heiligenbiographien einer Nonne des achten Jahrhunde s (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 12) München 1973.
11 Zum einen ist dies s die jüngste der ins Deutsche übersetzten Ausgaben, zum anderen handelt es sich um die dem heutigen Sprachgebrauch am nächsten liegende Übersetzung.
62
Die von Hugeburc verfaßten Hagiographien zeugen von einer großen Originalität. Im Falle des Willibaldlebens stützt sich die Nonne ihren eigenen Worten zufolge zu einem großen Teil auf das „Diktat aus seinem [Willibalds] Munde“ (87,22).16 So erzählte Willibald Hugeburc am Abend des 23. Juni 778 von seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land, ein Wechselgespräch, welches die Vita Willibaldi nach und nach entstehen ließ. Ve ehmlicher Zweck der Vita war es, die Erinnerung an den Heiligen wachzuhalten und so zu seiner Verehrung beizutragen.17 Über die Korrektheit des „historischen Ke s“ der Pilgerberichterstattung zu spekulieren, ist somit nicht sehr vielversprechend, lassen sich doch sinnvollerweise eher Aussagen treffen, die in den weiten Bereich der Mentalitätsgeschichte fallen.18 So liegt der hohe Quellenwe der
Pilgerliteratur insbesondere in dem Einblick in die religiöse Bewußtseinslage der Pilger19 bzw. in diesem speziellen Fall in die Bewußtseinslage der Hagiograph in.
In der Vita Willibaldi berichtet Hugeburc in einer A Rahmenerzählung über die Kindheit Willibalds und über seine missionarische Tätigkeit in Eichstätt. Dazwischen liegt der aus hrliche Bericht der Pilgerfahrt nach Jerusalem. Demnach wurde Willibald um 700 in Wessex geboren. Wegen einer schweren Erkrankung des Kindes verp ichteten sich die Elte , den Sohn dem Kloster zu übergeben, und so verbrachte Willibald seine Kindheit und Jugend im südenglischen Kloster Waldheim, wo er eine „antik-klassische und biblisch-theologische Ausbildung“20 erhielt. Im Jahre 720 pilgette Willibald u.a. in Begleitung seines ein Jahr jüngeren Bruders
Des weiteren zeichnet sie sich durch einen besonders aus hrliehen Anmerkungsapparat aus.
16 Quellenzitate werden zum leichteren Verständnis direkt im Text in runden Klammern angegeben, wobei die erste Ziffer des Klammerausdrucks die Seiten- und die zweite die Zeilennumerierung in der Edition von HOLDER-EOGER in MGH SS XV, 1887, S. 86- 1 1 7 wiedergeben.
17 Hugeburc schreibt: Sed qui me, indignam tamen, de illorum genealogii stirpe aliunde propagatam, jorte de ex/remis ramorum cauliculis, me jore noveram, de lanlis lalisque virorum beatudinibus venerabileque vitae eorum, non so/um in actibus, sed et m itineribus variis multifariisque miracu/orum magnitudinibus perjecte pro ciscemium aliquid
memoriae dignum lectoris legendi manibus inponere me libet (87,29-33).
18 Frantisek GRAUS, Hagiographische Schri en als Quellen der „prophanen“ Geschichte, in: Fonti medioevali e problematica storiographica. Atti del Congresso intemazionale tenuto in occasione del 90° anniversario della fondazione dell’Istituto Storico Italiano, Band I , Rom 1 976, S. 375-396, hier S. 376, 383f..
19 Vgl. Herben DO ER, Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher
Palästinapilger (4.-7. Jahrhundert), Stuttgart-New York 1979, S. 30.
20 BAUCH (wie Anm4) S. 16.
63
Wynnebald und seines Vaters,2′ der unterwegs starb, nach Rom. Von dort brach der Mönch 723 zu einer siebenjährigen Pilgerreise in den Orient auf. Er durchquerte Palästina insgesamt dreimal und kam viermal nach Jerusalem. Nach anschließendem zweijährigen Aufenthalt in Konstantinopel verlebte Willibald ein Jahrzehnt im Benediktinerkloster Monte Cassino. 740 berief ihn Bonifatius in die thüringische M i ssion.22 Vierzigjäh rig wurde Willibald zunächst zum Priester geweiht, ein Jahr darauf zum ersten Bischof von Eichstätt. 787 starb er, was aber in der Vita aufgrund ihres
Entstehungsdatums nicht mehr erwähnt wird.23
2.2 Stellung der Vita Willibaldi innerhalb der lateinischen Hagiographie
In der Einleitung wurde auf verschiedene Aspekte bezüglich der Auswertung der Hagiographie im Hinblick auf eine Unterscheidung von Elite- und Volkskultur hingewiesen.2′ Auch wenn die dort dargelegten Probleme generell auf die Vita Willibaldi zutreffen, so weist diese doch einige untypische Eigenheiten auf: Das Leben des Heiligen ist hier lediglich in einer knappen Rahmenhandlung geschildert, und auch Wunder spielen keine Rolle. Im Mittelpunkt steht dagegen die ausfuhrliehe Schilderung der Pilge eise.
Die Eigenart der Willibaldvita findet sich kawn in der Tatsache begründet, daß die Verfasse n mit den typischen Merkmalen der Hagiographie nicht vertraut war.21 Vielmehr ist vennutlich die Art der
21 Hugeburc nennt den Vater nicht mit Namen, erst in späteren Quellen (vermutlich aus dem 1 0 . Jahrhunde ) wird er als Richard, König von England, bezeichnet. Zur Zweifelha igkeit dieser Annahme von der königlichen Abstammung Willibalds vgl. Franz IDINGSFELDER, Die Regesten der Bischöfe von Eichstätt, I . Lieferung, Innsbruck
1915, S. lf
Der aus dem südenglischen Wessex stammende und schon seit den 730er Jahren missionarisch (u.a. in Franken, Thüringen und Bayern) tätige Bonifatius hatte auf seiner dritten Romreise (737/8) zunächst u.a. Wynnebald und kurz darauf auch Willibald r die Unterstützung seiner Missionsarbeit gewinnen können. Theodor SCHIEFFER, Winfried­ Bonifatius und die christliche Grundlegung Europas, Freiburg 1954, hier S. 172 und Albert HAUCK, Kirchengeschichte Deutschlands, Teil I , Leipzig 1 922, hier S. 463tf
Vgl. u.a Odilo ENGELS, Die Vita Willibalds und die Anfange des Bistums Eichstätt, in: Dickerhof(wie Anm. 1 3) S. 1 7 1 – 198, hier S. 172.
24 Dazu siehe GOETZ, in diesem He S. l l .
21 Es wird allgemein angenommen, daß Hugeburc die Viten der Brüder nach angel­ sächsischem hagiographischem Muster, welches ihr v.a. durch die Vita Bonifatii des Willibald von Mainz bekannt war, verfaßt hat Vgl. SCHIEFFER (wie Anm.IO) S. 222. Das Leben Wynnebalds weist zudem die ir die Heiligenvita des 8. Jahrhunderts typischen Züge deutlich auf Zu Hugeburcs Stellung speziell in der angelsächsischen Hagiographie siehe GOTTSCHALLER (wie Anm. l4) S. 16-21.
64
Entstehung, nämlich die mündliche Berichterstattung über die Pilgerreise ins Heilige Land, die eigentliche Ursache r die ungewöhnliche Gestaltung der Vita Willibaldi.
Es empfiehlt sich daher, auch bei unserer Fragestellung die Pilgerreise in den Mittelpunkt zu stellen, ohne jedoch auch weitere, über den Reisebericht hinausgehende Ausfuhrungen in der Vita Willibaldi sowie zusätzliche Infonnationen aus der Vita Wynnebalds unberücksichtigt zu lassen.
3. Ansätze zur Unterscheidung zwischen Elite- und Volkskultur in den Viten Hugeburcs, insbesondere in der Schilderung der Jerusalem­ pilgerfahrt des Willibald
Im folgenden wird möglichen Hinweisen auf eine in der Vita nachweisbare Abgrenzung zwischen Elite- und Volkskultur nachgegangen. Zunächst werden explizite ‚Gegenüberstellungen‘ von verschiedenen Personengruppen aufgezeigt, worin eine zeitgenössische Unterscheidung gesehen werden kann. Im Anschluß werden die drei möglichen, aus mode er Sicht bestimmten Abgrenzungskriterien Bildung, Reichtum und Religiosität in ihrer Problematik vorgestellt und auf ihre Anwendbarkeit anband der vorliegenden Quelle überprü .
3.1 Explizite Abgrenzungen in der Vita Wynnebalds
In der Vita Wynnebaldi finden sich fur das ‚Volk‘ die Begriffe populus sowie plebs.26 In beiden Fällen scheint das ‚Volk‘ hier zwar nicht in eindeutig pejorativem Sinne genannt, doch wird durch den Kontext deutlich, daß die Autorin weder sich noch die Adressaten als zu diesem dazugehörig ansieht. Dem Volk wird indirekt eine andere Kultur, nämlich die eigene, entgegengesetzt.
Konkretere Gegenüberstellungen lassen sich an anderer Stelle der Vita Wynnebalds nden. Im Zusammenhang mit dessen Wirken in Mainz in den Jahren 747 bis 75 1 schilde die Nonne, daß der spätere Abt von Heidenheim in seiner seelsorgerischen Tätigkeit allen gerecht wurde, nämlich sowohl den
. . . , sed semper eonstans et fide robustus in Domino non desierat doeendo plebem ab erratiea paganomm pravitate persuadendo educere. Et sie Ionge lateque per populos sacra seminando non parvum Domino populum adquesivit, … (112,8-10). Tune onmis plebscummagnohonoreambulantesportabamsone/um Wynnebaldum… (116,5/6).
65
nobiles et ignobiles ( 1 1 0 , 2 8 ) unter den Franken als auch den vir[i] ac femina[e] (110,29).27 Solche Unterscheidungen werden noch bedeutsamer, weil Wynnebald die Konsequenzen der Evangeliumsverkündigung darin lagen, daß er, je nach intellektueller Fähigkeit der Angehörigen der beiden Gruppen, ‚unterschiedlich aufbereitete Glaubensverkündigung‘ bot: aliis diversa dapium dogma et euangelici nectaris melli ua pandebat mysteria, aliis, qui arcana Dei ista per ingenium percipere non poterant, sicutfragilis et carnalibus lac et leniora ciborum, id est plana et communia conpositionum verba dicebat.. . ( 1 1 0,30-32). Auch wenn man diese Gruppen nicht zwangsläufig mit den zuvor genannten gleichsetzen darf, erscheint es doch unzweifelha , daß Wynnebald bzw. Hugeburc deutliche Unterschiede nach den intellektuellen Fähigkeiten, die christlichen Lehren gänzlich verstehen zu können, und damit im weiteren Sinne nach dem Kriterium der Bildung
machte.
Bei der Unterscheidung nach dem Kriterium Religiosität ist die in der Quelle vorgenonunene Gegenüberstellung von Laien und Klerike (laici – clerici 1 1 1 ,45/ 1 1 2 , 1 ) interessant. Jedoch spricht gegen eine einfache Einteilung nach der Zugehörigkeit zur Geistlichkeit die ebenfalls von Hugeburc im Kontext der Erhebung Wynnebalds vorgenonunene Differenzierung der beteiligten Männer: quarum alter sacerdotale dignitate presbiter et alter clericus ( 1 1 6,8). Anscheinend ist somit auch aus zeitgenössischem Verständnis heraus von einer in sich differenzierten Geistlichkeit auszugehen.
Zusanunenfassend kann festgehalten werden, daß Hugeburc sehr wohl eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Kulturebenen vomirrunt. Obwohl sich in der Vita nur wenige explizite Äußerungen finden, die noch dazu kein einheitliches Bild darbieten, können die Abgrenzungskriterien doch hauptsächlich den Bereichen Bildung und Religiosität zugeordnet werden. I n w i e f e d i e s e a u s z e i t s p e z i f i s c h e m V e r s t ä n d n i s u n d B e g r i f fs g e b r a u c h vorgenonunenen Differenzierungen durch implizite Hinweise aus der Quelle ergänzt werden können, soll im folgenden anband der Kriterien Bildung, Reichtum und Religiosität abgeklärt werden.
3.2 Bildung: Schriftlichkeit und Latinität
Mit dem Rückgang der Schriftlichkeil beim Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter nahm in der Bevölkerung die Fähigkeit des Schreibens zunehmend ab, und es bildete sich „eine orale [. . . ] Kultur mit den typischen
27 Durch die parallele Darstellung deutet sich hier eine nachgeordnete Rolle von Frauen an_ 66

Gesetzen mündlicher Tradition“ heraus.21 Da auch Vertreter der Aristokratie in größerem Umfang erst wieder ab dem 12. Jahrhundert begannen, lesen und schreiben zu le en, konzentrierte sich im Frühmittelalter das „Bildungsmonopol“29 zunehmend beim Klerus, von welchem neben Lese­ und Schreibfähigkeit auch Lateinkenntnisse die Amtsausübung gefordert wurden.>0 Unbeschadet eines maßvollen Fortlebens der Laienbildung des Adels darf man annehmen, daß die Schri lichkeit im frühen Mittelalter Kennzeichen einer Minderheit, einer Elite war, die der großen Masse des nichtschreibkundigen VolkesJI gegenüber stand. Dieses Kriterium könnte dazu verleiten, generell zwischen Angehörigen des Kirchenstandes und Laien zu unterscheiden, doch dürfen D i fferenzierungen sowohl innerhalb der Geistlichkeit als auch bei den Laien nicht ve achlässigt werden. So konnte z.B. ein Dor riester mit den „höheren Rängen“ der Geistlichkeit weitaus weniger Gemeinsamkeiten aufweisen als mit den Angehörigen seiner Pfarrgemeinde. n
28 Amold ANGENENDT, Das Frühmittelalter: die abendländische Christenheit von 400 bis 900, Stuttgart-Berlin-Köln 1 990, S. I 52. Damit einher geht, insbesondere ab Mitte des 8. Jahrhunderts, die allmähliche Verdrängung des Lateinischen als eines einheitlichen Sprachmediums: ,,l’unite latine se rompt, et Ia communication ecrite perd brusquement une vaste part de surface sociale.“ Vgl. Michel BANNIARD, Viva voce. Communication ecrite et communication orale du IVe au IXe siecle du Occident latin, Paris 1 992, S. 490.
Das Bildungsideal hatte im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter allerdings einen grundlegenden Wandel erfahren, derart, daß es – aufgrund fehlender Notwendigkeit – auch gar nicht als erstrebenswert galt, schreiben lernen. Michel LAUWERS, „Religion populaire“, culture folklorique, mentalites. Notes pour une anthropologie culturelle du moyen äge, in: Revue d’histoire ecclesiastique 82, 1987, S. 221-257, S. 226 untergliede zwar noch fur den vorkarolingischen Zeitraum in drei Kategorien: „l’elite des clercs […], l’elite des aristocrates Jettres […] et enfin, Ia masse illettree“, doch konstatiert er r den folgenden Zeitraum „un declin de Ia culture (au sens de ’savoir‘) l ique“. War Bildungsmedium bis zur Wiederaufnahme der Schreibkultur in Adelskreisen im 1 2 . Jahrhundert das Latein gewesen, s o gewannen nun d i e einheimischen Sprachen an Bedeutung. Auf den damit einhergehenden Wandel der Bedeutungsinhalte des Begriffspaares lilteratuslillitteratus macht Herben GRUNDMANN, Litteratus – illiteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: Archiv fur Kulturgeschichte 40, 1 958, S. 1-65 aufmerksam. Zu einer verbreiteten Laienbildung vgl. jedoch Rosamond McKITTE CK, The Carolingians and the Written Word, Cambridge 1989, insbes. S. 2 1 1 -270.
30 Waren diese Kenntnisse nicht vorhanden, konnte es vorkommen, daß ein vermeintlicher Priester in nomine patria et filia tau e, wie eine Beschwerde des Missionars Bonifatius bezeugt. Ku REINDEL, Bayern im Mittelalter, München 1970, S. 67.
31 Nach Peter DINZELBAC R, Volkskultur und Hochkultur im Spätmittelalter, in: Volksultur (wie Anm.S), S. 1-14, hier S. I I, ist das klarste unterscheidende Merkmal der ‚Volkskultur‘, daß ihr die Verschri lichung fast gänzlich fehle.
32 Ebd. S. 7. Vgl. auch LAUWERS (wie Anm.29) S. 227.
67
Zu dem schon erwähnten Problem, daß schri liche Quellen fast ausschließlich von Angehörigen der gebildeten Geistlichkeit verfaßt und Informationen über andere Kulturen somit lediglich aus Sicht der Elite(n) zu erfahren sind, kommt erschwerend hinzu, daß die Texte durchgängig in lateinischer Sprache verfaßt sind, also in einer Sprache, welche innerhalb großer Teile der Bevölkerung selbst in den romanischen Sprachgebieten inm1er weniger verstanden wurde, da sich die Diskrepanz zwischen dem gesprochenen Vulgärlatein und dem geschriebenen Hochlatein (der Eliten) im Laufe des F hmittelalters kontinuierlich vergrößerte.)) Die ‚germanische‘ Bevölkerung, wie wir sie in der Willibaldvita vorfinden, war ohne entsprechende B i ldung ohnehin von der Kenntnis des Lateinischen ausgeschlossen. Die Latinität kann somit als ein mit der Bildung eng verknüp es Kriteriwn r die Zugehörigkeit zu einer Elite gelten. Weiterreichende Bedeutung erhält dieses Merkmal dadurch, daß die die lateinische Sprache behe schende Elite über eine weit größere Mobilität bzw. Überregionalität ver gte34 und ihr außerdem der Zugang zur
Wissenscha gegeben war, von welcher das ‚gemeine Volk‘ in der Regel ausgeschlossen war.3s Es bleibt zu prüfen, wieweit sich solche Unterschiede in der Willibaldvita niederschlagen.
3.2.1 Widmung bzw. Adressaten der Vita
Die im Prolog erfolgte Widmung an den Leserkreis ist fur die Beschreibung des Selbstverständnisses der Verfasserin sowie der ihr nahestehenden Kultur in dieser Hinsicht höchst aufschlußreich, da sie sowohl über das Kriterium der Bildung als auch über das der Religiosität konkrete Aussagen beinhaltet. Schon die Nennung des Adressatenkreises als die Leser, welchen die Autorin
33 Nachdem sich das Lateinische durch die fortschreitende Christianisie ng als die vorherrschende Sprache im Westen gefestigt hatte, erfuhr es bald v.a. in den abgelegeneren Provinzen regional unterschiedliche Fortentwicklungen. So entwickelten sich aus dem gesprochenen Vulgärlatein, welches sich vo Schri latein deutlich unterschied, im Verlauf des 6. bis 8. Jahrhunderts die romanischen ‚Nationalsprachen‘ Französisch, Italienisch, Spanisch und Rätoromanisch. ANGENENDT (wie An .28) S. 1 5 1 .
34 Das Latein wurde in elitären Kreisen ‚überall‘ verstanden. Lateinkenntnisse konnten somit überregionale Aktivitäten erleichtern. DINZELBAC R (wie Anm. J l ) S 5, I I .
3s Eventuell jedoch boten die Predigten der Kleriker eine Möglichkeit, dem Volk – wenn auch sicherlich in sehr eingeschränktem Maße – vermeintliche Wissenscha zugänglich zu machen. Vgl. E st ENGLISCH, Deutsche Predigten als Vermittler zwischen Gelehrtenkultur und Volkskultur, in: Volkskultur (wie Anm.5) S. 1 4 7 – 1 58, hier S. 147/8. Wenngleich Englisch sich mit seinen Beispielen auf das 14. und 1 5 Jahrhundert bezieht, scheinen seine grundsätzlichen Ausfuhrungen über den Austausch zwischen den beiden Kulturen – so es sie gegeben hat – auch fur das Frühmittelalter zuzutreffen.
68
„etwas Denkwürdiges in die Hand […] zur Lektüre legen“ möchte (87,30),36 verrät ein wichtiges Merkmal der Adressaten: Da die Viten r die Lektüre bestimmt waren, wurde bereits auf diesem Wege ein großer Teil der zeitgenössischen Bevölkerung ausgeklammert bzw. konnte nur über die Vermittlung durch die Schriftkundigen erreicht werden. Zudem präzisiert die Autorin explizit die Zielgruppe ihres Werkes, indem sie die Lebensbeschreibung der beiden Brüder „allen Prieste , Diakonen und allen Edlen, die z Leitung der Kirche gehörten“/7 widmet. Kurz darauf bezeichnet sie die Priester und Diakone noch einmal als Adressaten und fügt hinzu, die Vita sei ebenfalls an die Äbte und „die Edlen aus dem Volke“ gerichtet: Venerandis immoque in Christo carissimis omnibus sacerdota/is infule honore ditatis presbiteris preclareque indolis diaconibus et nillilaminus abba sive omnibus popularie condicionis proceribus .. . (86,20- 22). In der näheren Beschreibung zeigt sich, daß sich die genannten Personen gemäß Verfasseein sowohl im Bereich der Bildung als auch in dem der Religiosität von den übrigen ‚Volksangehörigen‘ abheben: Über die bloße Attribuierung der Schri lichkeit hinaus zeichnen sie sich z.T. durch das „emsige[…] Studiwn der Wissenscha en“ (86,24) aus, ein Merkmal, welches wiederum nur r einen kleineren Teil der ühmittelalterlichen Bevölke ng zutreffen konnte. Ein anderer Teil der Angesprochenen ragt aufgrund seiner besonderen Position innerhalb der kirchlichen Organisation hervor: Sie bekleiden ein „ehrenvolles Amt im priesterlichen Gewande“ (86,20) bzw. haben an der „Leitung der Kirche“ teil (86,17). In diesem Kontext ist auch die Nennung von Angehörigen der weltlichen Füh ngsschicht (86, 1711 8 und 2l/22) zu verstehen, denn in der damaligen Missionskirche arbeiteten ‚Adel‘ und Geistlichkeit eng zusammen.31 Von ihrem sittlichen Lebenswandel her zeichnen sich die Adressaten durch ihre „keusche Enthaltsamkeit“ (86,23) aus, welche, da sie der Verfasseein als besonders erwähnenswert galt, nicht die ’normale‘ Lebensweise bedeuten konnte. Die Widmung zeigt deutlich, daß sich die Nonne an Angehörige einer ausgewählten, durch Bildung und
36 memoriae dignum lectoris legendi manibus inponere me libet (87,33).
37 omnibus presbiteris seu Diaconibus et omnibus aecc/esiastici regiminis proceribus (86, 16- 1 8).
38 O mals berief der Adel des Landes die Missionare, deren Gründungen er mit Schenkungen ausstattete. BAUCH (wie Anm.4) S. 88, Anm. l . Vgl. u.a. Heinz LÖ , Pirmin, Willibrord und Bonifatius. Ihre Bedeutung fur die Missionsgeschichte ihrer Zeit, in: Heinzgünther Frohnes u.a. (Hg.), Kirchengeschichte als Missionsgeschichte, Bd.2.1, Die Kirche des früheren Mittelalters, hg. v. Knut Schäferdiek, München 1 978, S. 1 92-226, hier bes. S. 216 . Fe er Friedrich P Z, Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellscha in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jahrhundert), München-Wien 1965, hier bes. S. 23 1 .
69
besondere Stellung bzw. Haltung in Kirche und Religiosität von dem Rest der Bevölkerung abgegrenzten, ‚elitären‘ Kultur wendet.
Problematisch zu bewerten ist in den anfangliehen Aus hrungen der Vita allerdings die Stellung der Autorirr selbst, und zwar besonders im Hinblick auf ihre Zuordnung zur Kultur ihrer Adressaten. Die Verfasserirr betont nämlich ausdrucklieh ihre angebliche Unzulänglichkeit hinsichtlich der Abfassung der Vita. Mit der Selbsteinschätzung Hugeburcs als ego
indigna Saxonica de gente istic venientium novissima et non so/um annis, sed
et etiam moribus, et de il/ um comparatione contribulum meorum quasi omuncula (86,27-29) grenzt sie sich scheinbar aus der anvisierten Kultur aus. Mag hierin lediglich ein allgemein unter Hagiographen üblicher Bescheidenheitstopos gesehen werden, so ist die Begründung, mit der Hugeburc sich so tief einstu , aufschlußreich: Viele Adressaten seien ihr überlegen non so/um virili sexui, sed et etiam dignitate divinae condicionis ministerio. . . (87,26/27). Der zusätzliche Verweis auffemineafragilique sexus inbecillitate corruptibilia (86,32/33) macht jedoch deutlich, daß die Nonne ihre vem1eintliche Unwürdigkeit gegenüber dem Adressatenkreis in erster Linie aus ihrem Geschlecht ableitet. Damit liegt sie möglicherweise ganz im ‚Trend der Zeit‘, denn Frauen im Frühmittelalter, und nicht nur da, waren sicherlich dem Mann untergeordnet. 39 Aus zeitgenössischer Sicht, insbesondere aus der Eigenperspektive der Autorin, scheint Hugeburc somit nicht ohne weiteres der gleichen elitären Kultur der Adressaten zuzuordnen zu sein. Aus heutiger Sicht hingegen bleibt festzuhalten, daß auch Hugeburc sich durch die in ihrer Widmung e ähnten, Elite indizierenden Merkmale auszeichnet. Zwar ist sie ‚lediglich‘ Nonne, doch verfugt auch sie über eine Ausbildung, insbesondere, wie sich in der Quelle vielfach zeigt, in theologischer wie in literarischer Hinsicht. Denmach läßt sich die
39 Zum Topos des ’schwachen Geschlechts‘ vgl. Hans-Werner GOETZ, Frauen im frühen Mittelalter. Frauenbild und Frauenleben im Frankenreich, Weimar-Köln-Wien 1995, S. 331 u. S. 352 .. Man könnte einen Bruch nach Geschlechtszugehörigkeit innerhalb der Elitekultur vermuten. Eine tiefergehende Untersuchung dieser Frage konnte im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht erfolgen. Interessant wäre aber sicherlich zu untersuchen, ob und an welcher Stelle Frauen im Frühmittelalter bei der Unterscheidung von einer Elite- oder Volkskultur au reten.
40 Gedacht sei hier an das Bemühen Hugeburcs um einen sprachlich ausgefeilten Stil (vgl. GOTTSCHALLER (wie Anm . l 4), insbes. S. 82ff u. S. 1 0 1 ) sowie an das wiederholte Zitieren von biblischen Psalmen in den Viten, was typisch ist für den „biblischen Hinterg ndstil“ ihrer Zeit. Vgl. Walter BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd.1, Von der Passio Perpetuae den Dialogi Gregors des Großen (Quellen und Untersuchungen zur lateinsichen Philologie des Mittelalters 8) Stuttgart 1986, S. 71-74.
70
Verfasserin, im Gegensatz zu ihrem dargelegten Selbstverständnis, derselben Elitekultur wie ihre Adressaten zuordnen.
3.2.2 W libald und seine Bildung
Auch Willibald selbst zeichnet sich durch einen o ensichtlich hohen Bildungsgrad aus. Aufgrund eines Gelübdes im Alter von nf Jahren von seinen Elte ins Kloster gegeben,“ wurde der Junge schon früh „in das Studium der heiligen Wissenscha en einge h und darin unterrichtet“ (89,16/17). Wie eifrig er sich dabei Bildung aneignete, zeigt sich darin, daß Willibald selbst bei schwerer körperlicher Beeinträchtigung nicht au örte, das „Studium frommer Lesung, gemäß dem Wort der Wahrheit“ fortzusetzen (92, 14/15).
An anderer Stelle der Vita wird deutlich, daß Bildung aus zeitgenössischer Sicht jedoch auch anders verstanden werden konnte: In seiner Zeit als Bischof von Eichstätt vennittelte Willibald „allen Scharen der ihm Untergebenen“ (106,2) Bildung eher im Sinne christlicher Lehre von Sitte und Moral, denn Ergebnis seiner unermüdlichen Arbeit sind Menschen, welche „von Kindheit an gebildet, mit Feinsinn unterrichtet, zur männlichen Vollreife ihrer guten Anlagen gelangten“ (de infantia eruditi, eliganter edocti
106,10111). Mit der Kategorisierung anhand des Merkmals Bildung ausschließlich im ersteren Sinne, d.h. im Sinne literarisch-wissenscha licher Kenntnisse, gelangt somit ein nicht-zeitgenössisches Kriterium zur Anwendung, da nach frühmittelalterlichem Verständnis unter B i ldung offenbar zugleich sittliche Erziehung verstanden wurde. Nichtsdestotrotz scheint die Zuordnung Willibalds zur E litekultur nach dem mode en Kriterium Bildung auch vor dem Hintergrund zeitgenössischer Verhältnisse nicht abwegig.
41 Als Willibald drei Jahre alt war, „brachten [die Eltern ihren schwer erkrankten Sohn . . .] vor dem heiligen Kreuz des Herrn und Erlösers dar“ (88,32) und versprachen, „falls die frühere Gesundheit des Kindes wiederhergestellt werde, ihm sogleich fur den Eintritt in den heiligen Dienst die Tonsur erteilen zu lassen und ihn der Zucht des monastischen Lebens und den Weisungen des göttlichen Gesetzes im Kriegsdienste Christi zu unterstellen“ (88,38-40). Die Kindesoblation fand seit Benedikt weite Verbreitung. Willibald war somit unter den angelsächsischen Missionaren und Kirchenreforme kein Einzelfall. Vgl. ANGENENDT (wie Amn.28) S. 408.
71
3.3 Reichtum
In der Forschung zur Volks- und Elitekultur wird die Frage nach dem materiellen Status der jeweiligen Kulturträger kaum diskutiert. Diese geringe Berücksichtigung des Besitzes an Zahlungsmitteln und/oder Liegenscha en bei der Untersuchung von verschiedenen Kulturen wird auf verschiedene Gründe zurückzu hren sein. Wenngleich die materielle Situation auch in ttelalterlichen Verhältnissen sicherlich von großer Bedeutung war, so wird sie im Sinne von luxuriösem Reichtum – einem aus heutiger Sicht heraus sicherlich bedeutenden Aspekt – vennutlich jedoch überbewertet. Da allerdings in der zugrundeliegenden Quelle Hinweise auf finanzielle Belange gegeben und Indizien für die Erfassung unterschiedlicher Kulturen rar sind, soll dieses Kriterium, trotz seines begrenzten Aussagewe es, auf eine mögliche Unterscheidung von Volks- und Elitekultur hin untersucht werden. Dabei darfjedoch nicht von vomherein eine Entsprechung von Reichtum und Elite auf der einen und Volk und Annut auf der anderen Seite unterstellt werden.
Eine weite Pilgerreise wie im vorliegenden Falle nach Jerusalem scheint das Vorhandensein materieller Güter vorauszusetzen. Anhand der vorliegenden Quelle ist dieses jedoch zu überp fen. Festzuhalten ist zunächst einmal die materielle Situation zu Beginn der Reise. Bereits die Oblation Willibalds im Kindesalter setzt aufgrund der mit ihr verbundenen Schenkung einen größeren Besitz der Familie voraus. Als die beiden Brüder die Pilgerreise nach Rom antraten, geschah das bezeichnenderweise auch, um dem „vergänglichen irdischen Reichtum“ (89,31/32) zu entsagen. Zudem versuchten sie, auch ihren Vater „von den t gerischen Glücksgüte des vergänglichen Lebens abzubringen“ (90,9). Da über die nanzielle Situation der Familie außer der Angabe, daß der Vater einen Herrenhof besaß,’2 nichts Näheres bekannt ist, muß wohl oder übel der Schluß genügen, daß derjenige, welcher nichts besitzt, auch nichts au ugeben hat, so daß von einer eher soliden materiellen Grundlage ausgegangen werden kann. Beiläu g erwähnte Nachrichten in der Vita bestätigen diese Annahme. So brachen Willibald und seine Begleiter’3 „wohl ausgerüstet“ (91,3) auf, wobei sie „Vorräte und die
42 BAUCH (wie Anm.4) S. 16.
43 Wer genau mit ihm reiste, läßt sich nicht rekonstruieren. Unter den Begleite in den Orient befanden sich vermutlich auch einige seiner Landsleute, da gerade in der angelsächsischen Kirche das Pilgerwesen stark ausgeprägt war. Gisela SCHIOL, Zur
Spiritualität des Pilgerns im f hen Mittelalter, in: Spiritualität des Pilgerns: Kontinuität und Wandel, hg.v. Klaus Herbers I Robe Plötz (Jakobus-Studien 5) Tübingen 1 993, S. 25-38, hier S. 37.
72
den Lebensunterhalt erforderlichen Geldmittel“ (91,3) mit sich en.’• Des weiteren belegen verschiedene Aussagen im Verlauf der Palästinareisen eine ausreichende materielle Basis des pilge den Willibald. So verfugten er und seine Begleiter über „schöne[…] Gewänder[…]“ (94,34), und der Umstand, daß die Zöllner in Tyrus „ihr gesamtes Gepäck“ ( 10 I , 1 1 ) durchsuchten, verweist ebenfalls auf eine nicht unbedingt ännliche Ausstattung der Pilger. In gleichem Zusammenhang deutet die Anekdote des Balsam-Schmuggelns finanzielle Liquidität an.’s Hinzu kommt, daß der Besitz solcher Devotionalien46 als ein Zeichen von Luxus gewertet werden kann.
Andererseits ist vorhandener Reichtum an der Art der Reise und der Transportmittel nicht ebenso eindeutig abzulesen. Über die Nennung der Schi ah en hinaus wird die Art der Fortbewegung während der Pilgerreise zu Land selten näher bezeichnet, und wenn, bleibt sie mit den Formulierungen pergebant, ambulabant und ibant auf das Wande beschränkt.47 Daß Willibald Teile seiner Pilgerscha zu Fuß verrichtete, wird man hingegen kaum als Zeichen für Ammt werten dürfen, da er und seine Begleiter „als Büßer“ (lustrandi 1 0 5 , 1 4 ) unterwegs waren und gerade körperliche Mühsal ein bedeutender Bestandteil der Pilgerreise war.’8 Die Art der Fortbewegung kann in diesem Fall daher nicht als ein Unterscheidungs­ kriterium im Hinblick auf Stand und Reichtum gewertet werden, da hier die Motive der Pilgerfahtt dominieren.
44 Finanzielle Engpässe oder dergleichen werden von der Autorin nicht einmal andeutungs­ weise erwähnt. Das Gleiche tri fur die unterwegs immer wieder anfallenden Geldleistungen zu. Dabei werden von der Vielzahl der laufenden Reisekosten r Waren und Dienstleistungen, welche Norben O ER (wie Anm.2) S. 68, auflistet, in der Vita Willibaldi nur einige genannt, wie beispielsweise die Fahrgelder (91, 17).
•s Bugebure schilden detaillien, mit welcher R nesse der spätere Heilige die Bewohner von Tyrus täuschte. So präpariene Willibald eigens einen Kürbis, in welchem er in Jerusalem gekau en Balsam versteckt hatte, mit stärker riechendem Steinöl (I 0 I, 16). Hierin zeigt sich, daß selbst nach dem langen Zeitraum von über SO Jahren zwischen Reise und Bericht Willibalds hämische Freude darüber noch sehr lebendig war. Vgl. BAUCH (wieAnm.4) S. 71, Anm.l92.
46 Vgl. DAVIDSON (wie Anm.l) S. 64.
47 Zum Au reten der Verben der Bewegung vgl. GOTTSCHALLER (wie Anm. J4) S. 92- 94. Außerdem DAVIDSON (wie Anm. l ) S. 60.
48 Um die „spiritual satisfaction“ zu vergröße , bemühten sich viele Pilger geradezu, die Reise so anstrengend und entbehrlich wie möglich zu gestalten, da die Strapazen der Pilgerreise ihrem erfolgreichen Ausgang dienlich zu sein schienen. Vgl. Surinder M. BHARDWAJ I Gisben NSCHEDE (Hg.), Pilgrimage in World Religions (Geographia Religionum. Interdisziplinäre Schri enreihe zur Religionsgeographie 4) Berlin 1988, S. l4f
73
Insgesamt ist bezüglich des Reichtums festzustellen, daß er zwar im gegebenen Fall o nsichtlich vorhanden war, sich aber nicht erkennen läßt, ob dieser Sachverhalt generell eine zwingend notwendige Voraussetzung zum Fe pilge bedeutete. Im Falle Willibalds kann eine Unterscheidung von
Elite- und Volkskultur anband des Kriteriums Reichtum somit nicht vorgenommen werden.
3.4 Religiosität
Im Bereich der Religiosität unterscheidet die traditionelle Forschung in der Regel zwischen einem „nicht in der christlichen Lehre manifestierten“ Volksglauben bzw. der Volksfrönunigkeit49 und dem offiziellen (Kirchen-) Glauben. Mit dieser Differenzierung wird dem Volk unterstellt, es sei trotz fortgeschrittener Christianisierung noch stärker dem heidnischen Glauben verha et und setze entsprechende Praktiken und Bräuche in seinen Glaubenskulten fort.so Der vermeintlichen Elite hingegen wird eine der offiziellen kirchlichen Lehrmeinung nahestehende Religiosität zugeschrieben.s‘ Tatsächlich finden sich in zahlreichen Quellen, v.a. in jenen, die seitens der Amtskirche Kritik an der ‚volkstümlichen‘ Glaubensausübung äuße ,52 Hinweise auf unterschiedliche Glaubensauffassungen. Wenngleich die Existenz unterschiedlicher Glaubensvorstellungen somit belegt scheint, ist bei dieser Unterscheidung zwischen Amtsglaube (Eiitekultur) und Volksreligiosität (Volkskultur) in zweifacher Hinsicht Zurückhaltung geboten: Zum einen treten hier wiederum ‚Schnittmengen‘ mü denjenigen Ve rete der ‚Elite‘ auf, welche den Volksglauben, so er existie hat, teilten und an seinen Kulthandlungen teilnahmen. Zum anderen kann eine gemeinsame mittelalterliche Mentalität in generellen Gemeinsamkeiten der
49 J TZ, Augenblick (wie Anm.7) S. 134.
so So stellt Kurt REfNDEL (wie Anm.30) S. 67 fur die bayerischen frühmittelalterlichen Verhältnisse trotz der Christianisierung in der Römerzeit „Mischformen von heidnischem und christlichem Glaubensgut“ fest.
SI Aufdie Problematik auch dieser Unterscheidung weist Roger CHARTIER, Volkskultur und Gelehrtenkultur. Überprüfung einer Zweiteilung und einer Periodisierung, in: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachtheorie, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht I Ursula Link-Heer, Frankfurt a.M. 1985, S. 376-388, hier S. 377, hin, indem er feststellt, mit der genannten Definition von Volksreligiosität ,jene De nition der Volksreligion akzeptiert [zu] haben, welche die der Vertreter der Kirche war“.
s2 Vgl. JARITZ, Augenblick (wie Anm.7) S. 1 35. Für spätere Verhältnisse war beispielsweise die Predigt ein Medium fur das Äußern von Kritik. Vgl. ENGLISCH (wie Anm 35) S. 1 55-157.
74
Religiosität von Volk und Elite wie etwa einem gemeinsamen Wunderglauben und einem gemeinsam betriebenen Heiligenkult festgestellt werden.53 Das schließt Differenzen innerhalb der christlichen Bevölkerung jedoch keineswegs aus.
Es bleibt zu untersuchen, ob sich Willibalds Religiosität, wie sie sich in der Pilgerreise nach Jerusalem ausdtückt, von der des ‚allgemeinen Volkes‘ unterscheidet und so bezüglich dieses Kriteriums von unterschiedlichen Kulturebenen ausgegangen werden kann.
3.4.1 Motivationfür die Jerusalempilgerreise
Willibalds Motive r die Pilgen·eise sind verschiedener Art, wobei er seiner Biegraphin gegenüber einen Grund besonders in den Vordergrund stellt: Schon als Jugendlicher im Kloster Waldheim habe er überlegt, „wie der Gedanke verdienstlich und wirksam gemacht werden könne, alle Hinfalligkeit dieser Welt zu verachten und zu verlassen; und zwar nicht bloß den vergänglichen irdischen Reichtum, sonde um auch die Heimat, die Elte und die Verwandten zu verlassen, den Boden der Pilgerscha zu betreten und bekannte Länder in der Fremde aufzusuchen“ (89,30-33). Hier ndet sich deutlich die Vorstellung der peregrinatio als einer asketischen Heimatlosigkeit,54 wobei jedoch als Veranlassung r diesen Zustand nicht – wie allgemein verbreitet – der Wunsch nach Siche ng des Seelenheils55 direkt genannt ist, sonde vielleicht auch ein Hauch von ‚Abenteuerlust‘ in der Fonnulierung Hugeburcs mitklingt Obwohl dieses sicherlich kein allein bei Willibald auftretendes Phänomen ist, mutet es, insbesondere im Hinblick auf die Überredung des Vaters durch die Btüder,56 aus heutiger Sicht recht ‚unheilig‘ an. Da es den beiden Söhnen aber letztlich gelingt, den Vater umzusti en, und Hugeburc selbst anläßlich seines unterwegs eintretenden Todes keinerlei Formen des Bereuens seitens Willibalds oder Wynnebalds erwähnt, muß das PilgeiTeisen an sich in seiner heiligen Absicht gegenüber dem aus heutiger Sicht rein ‚menschlichen‘ Vergnügen der ‚Abenteuerlust‘
53DINZELBAC R(wie m.3!) S. 5f
54 Vgl. Klaus RBERS I Robert PLÖTZ, Einfuhrung: Spiritualität des Pilgerns im christlichen Westen, in: dies. (wie Anm.43) S. 7-24, hier S. 12ff, sowie speziell zur Motivation Willibalds Andreas KRAUS, Der heilige Willibald von Eichstätt: Person, Zeit, Werk, in: Dickerhof(wie Anm.13) S. 9-28, insbes. S IOf.
55 RBERS I PLÖTZ (wie Anm.54) S. 14.
56 Ihr Vater lehnte zunächst die Pilgerreise ab, weil es .,ehrlos und herzlos [sei], bei der Schwachheit und Gebrechlichkeit der Gattin und der unmündigen Kinder, diese zu Waisen zu machen und fremden Menschen zu überlassen“ (90, 1 5 ) .
75
höher zu bewerten sein.57 Dies korrespondiert auch mit der Intention Hugeburcs, die Heiligkeit Willibalds zu propagieren.
Mit dem Wunsch, „unbekannte Länder in der Fremde aufzusuchen“ (89,33), deutet sich möglicherweise schon die weite Pilgerreise ins Heilige Land an.51 Durch diese wollte Willibald eventuell zum einen dem Verlangen nachkommen, möglichst viele der allgemein von Pilge verehrten ‚heiligen Stätten‘ zu besuchen. Z anderen suchte er vermutlich den Erfolg der Pilgerreise durch möglichst große Strapazen zu steige .59 Wenngleich diese Aspekte nicht direkt in der Vita erwähnt werden, läßt die Tatsache, daß die Pilgerreise nach Je salem mit großer Aus hrlichkeit geschildert wird, doch indirekt auf ihre Bedeutung schließen.
In den wenigen Motiven, die Hugeburc nennt, unterscheiden sich Willibald und seine Intentionen kaum von den hinlänglich bekannten Griinden r Pilgerreisen. Eine der religiösen Elite eigene Motivation läßt sich somit nicht belegen.
3.4.2 Heiligenverehrung und Pilgerstätten
Der Bericht der Pilgen·eise Willibalds nach Jersualem zeugt an vielen Stellen von einem aktiv betriebenen Heiligenkult Die Schilderungen Hugeburcs wirken dabei alles andere als distanziert – auch das ein deutlicher H inweis auf die enge geistige Verbundenheit zwischen dem Heiligen und seiner Biographin. Eine den geschilderten Kulthandlungen konträre Glaubens­ anschauung kotmnt in der Vita nicht z Ausdruck. So berichtet Hugeburc von den Bewohne Catanias auf Sizilien, welche, um sich vor den Folgen des Ausbruchs des Vulkans Ätna zu schützen, den Leib der Heiligen Agatha60 hervorholten. Im Bericht wird uneingeschränkt und ohne jede Distanzie ng von solchem Glauben der Laienbevölkerung die Wirksamkeit der heiligen
51 Vgl. auch E R (wie Anm.2) S. 6l , welcher festhält, daß in der Tat im Frühmittelalter die Askese noch eine sehr bedeutende Rolle spielte, die erst zum Spätmittelalter durch ‚Abenteuerlust‘ und Wunsch nach Unterhaltung überlagert wurde. So auch Ludwig SC E, „Pilgerfahrt macht frei“ – Eine These zur Bedeutung des mittelalterlichen Pilgerwesens, in: Römische Qua alschri r christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 74 (1979) S. 16-31, bes. S. 27, 30.
58 Für den Raum Palästina stand Je salem als die Stadt der „Stätten des Leidens und der Auferstehung“ Jesu an erster Stelle, gefolgt von den weiteren Orten des Lebens Jesu. Vgl. DO ER(wieAnm.l9) S. 21.
59 Vgl. BHARDW I SCHEDE (wie Anm.48) S. 14: „The further the destination, the eater the success ofthe pilgrimage“.
Die heilige Agatha starb als Blutzeugin Mitte des 3. Jahrhunderts. Vgl. BAUCH (wie Anm.4) S. 9 1 , Anm.52.
76
Frau bestätigt: „Und sie [die Lava] korrunt zum Stehen“ (93,I I). Ebenso schildert die Nonne die wundersame Fruchtbarkeit einer Quelle bei Jericho, welche durch die Kra des Propheten Eliseus bewirkt, daß „alles, was jene Quelle benetzt, wächst und gedeiht zwn Wohl, wegen des Segens des Eliseus, des Propheten“ (97,8/9). Auch wird die wundersame Geschichte, wonach „Juden [, welche den Leichnam Marias…] in Beschlag nehmen“ wollten (98,1/2), durch Gottes Intervention daran gehindert worden seien,6′ ohne jeden Zweifel an ihrer Glaubha igkeit dargestellt. Damit scheint ein allgemein in der christlichen Bevölkerung vorzu ndender Heiligen- und Wunderglaube von Hugeburc und mögliche eise auch von Willibald geteilt zu werden. Deshalb läßt sich in diesem Bereich der religiösen Vorstellungen ebenfalls keine Trennung von Vertrete einer Elite- und Volkskultur erkennen .
Dieses Urteil wird darin bestärkt, daß Willibald und seine Gefährten über die bloße Wiedergabe von Wunder- und Heiligenberichten hinaus selbst aktiv an derartigen Geschehnissen teilnahmen. So badeten auch die Pilgerreisenden der Vita im Jordan, wo ansonsten insbesondere die Leute baden, welche Heilung von körperlichen Gebrechen zu erlangen erhoffen (96,2 1 -23).62 Auch deutet die detaillierte Schilderung des Besuches in der Grabeskirche Jesu darauf hin, daß Willibald sich an diesem ‚heiligen O ‚ so wie aU die anderen Menschen verhielt, welche „in das Grabmal eintreten, um zu beten“ (97,20). Ebensowenig findet sich in der Vita eine Distanzierung von dem anscheinend allgemein verbreiteten Glauben an einen bestimmten Akt der Sündentilgung, wonach „der Mensch, der dott [in der sog. Himmelfahrtskirche in Jerusalem] zwischen der Wand und den Säulen durchkriechen kann, […] frei von seinen Sünden“ ist (98,22/23).
Des weiteren pro tiett auch Willibald selbst von der ‚heilsamen Wunderkra Gottes‘. So schildert Hugeburc, daß nach plötzlich eingetretener zweimonatiger Blindheit Willibalds Augen geöffnet wurden und er das Sehvennögen wieder zurückerhalten habe (99, 1 6). Dieses Ereignis geschah in der Kreuzauffindungskirche in Jerusalem und wurde wahrscheinlich der Wunderkraft der Kreuzesreliquie zugeschrieben, denn die Art der
61 Statimque illi homines qui porrigeba111 adferetra et eam tollere co11abant, rctentis brachiis quasi glutinafi inherebant 111 jeretro et 11011 poterant se movere, antequam Dei t i a e t a p o s t o l o r u m p e l t l l o n e i t e r u m r e s o h t t i r e r a 1 1 t ( 9 8 , 2 – 4 ) .
Dies ist eine geläufige Praxis, nach welcher insbesondere Kranke oder sich sündig Fühlende Heilung suchen durch die Berührung von Heiligenreliquien (sowohl Körperreste als auch jedweder Gegenstand, mit welchem die ausgesuchte heilige Person jemals in Kontakt gewesen ist). Vgl beispielsweise O ER (wie Anm.2) S. 3 3 , 3 7 oder DAVIDSON (wie Anm I) S 58.
77
Schilderung läßt erkennen, daß sowohl Willibald als auch Hugeburc selbst an eine wundersame Heilung durch die Wirkung Gottes mittels der ‚heiligen Reliquie‘ des Kreuzes glaubten. Auch das wird man folglich als einen i n allen gesellscha lichen Personenkreisen verbreiteten Glauben ansehen dürfen,63 so daß auch aus dieser Stelle kaum ein Unterschied zu einer vem1eintlich volkstümlichen Religiosität bzw. Glaubenspraxis abgeleitet werden kann. Letztendlich bestätigt sich diese Haltung über die Pilgerreise hinaus, denn auch im Rahmen der bayerischen Mission Willibalds wurde die Reliquienverehrung in das kirchliche Leben des neuen Bistums eingebunden. 64
4. Fazit
Die Unterscheidung einer Elite- und Volkskultur anhand des Pilgerberichtes des heiligen Willibald hat sich in vielerlei Hinsicht als problematisch e iesen. Grundlegende Schwierigkeiten bereitet dabei das Verhältnis zwischen zeitgenössischen und mode en Kriterien der Abgrenzung. Die Untersuchung hat gezeigt, daß aus zeitgenössischer Sicht zwar eine wie auch immer im einzelnen geartete Abgrenzung durchscheint, diese jedoch – zumindest, was die hierzu herangezogenen Kriterien betri – nicht stringent angewandt wurde.
Deutlich wird diese Problematik insbesondere am Merkmal der Bildung: Da den Quellen eindeutig zu entnehmen ist, daß sowohl Verfasserin als auch Adressaten der Vita aufgrund ihres hohen B i ldungsstands einer Minderheit in der frühmittelalterlichen Gesellscha zuzuordnen sind, die sich als ‚elitäre‘ Gruppe abhob, scheint es zulässig, das Merkmal Bildung auch in seinem heutigen Verständnis für die Abgrenzung einer Elite vom übrigen Volk heranzuziehen. Es bleibt jedoch nicht auf das mode e Verständnis literarisch-wissenscha licher Fähigkeiten beschränkt, sonde beinhaltet in einem spezi sch mittelalterlichen Sinn auch christliche Erziehung und sittliches Verhalten.
Hinsichtlich der Religiosität hingegen läßt die Untersuchung der in der Jerusalempilgerreise Willibalds ausgedrückten Glaubensauffassungen kawn Unterschiede verschiedener Kulturebenen erkennen. Auch die Untersuchung
63 Vgl. beispielsweise SCHIOL (wie m.43) S. 35.
64 per vitreos Baguariomm campos cum aecclesiis atque presbiteris sanctorumque reliquiis dignas Domino delibat dona ( I 06,17/18).
78
der materiellen Belange in der Vita konnte keine stichhaltigen Hinweise auf eine in der Quelle anhand des Kriteriums Reichtum vorgenommene Abgrenzung einer Elite vom Volk geben, wenngleich sich in der Willibaldvita durchaus Hinweise nden, die einen Wohlstand des pilge den Heiligen gleichsam voraussetzen.
Vor diesem H i ntergrund sind d i e wenigen I n fonnationen über bestimmte kulturelle Differenzierungen der Gesellscha , die die Untersuchung der Willibaldvita gibt, zu beurteilen. Geht man von der nicht unproblematischen Annahme einer Trennung von Volks- und Elitekultur aus, so sind die im Pilgerbericht Willibalds vorzu ndenen Phänomene eher der Elite- als der Volkskultur zuzuordnen. Für die mögliche Existenz einer vom ‚übrigen Volk‘ abgegrenzten Elitekultur ergeben sich jedoch lediglich punktuelle Hinweise; als Details stehen sie meist so isoliert nebeneinander, daß man sich in der Beweis hrung unweigerlich auf sehr dünnes Eis begeben muß. Scheint somit eine Verallgemeinerung der getroffenen Aussagen nicht legitim, so wäre doch zu überlegen, ob nicht ein breiter angelegtes Quellen ndament65 die ersten Ansätze r eine Unterscheidung von Elite- und Volkskultur, wie sie sich aus der Untersuchung der Pilgerreise Willibalds ergeben haben, in ihrer Tendenz stützen und möglicherweise weiter strukturieren könnte.
65 Hier böte sich sowohl die Einbeziehung der Rompilgerreise wie auch eine Untersuchung der Bonifatiusbriefe an.
79
VOLKSKULTUR UND ELITEKULTUR IM FRÜHEN MITTELALTER:
DAS BEISPIEL DER HEILIGENVITEN
MEDIUM AEVUM QUOTIDIANUM
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ
36
GASTHERAUSGEBER DIESES HEFTES:
HANS-WERNER GOETZ UND FRIEDERIKE SAUERWEIN

VOLKSKULTUR UND ELITEKULTUR
..
IM FRUHEN MITTELALTER:
DAS BEISPIEL DER HEILIGENVITEN
Krems 1997
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG
DER KARL H. DITZE-STIFTUNG (HAMBURG)
UND DER KULTURABTEI LUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
T itelgraphik: Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Er·forschung der mate­ riellen Kultur des Mittelalters. Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich. – Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdt-ückliche Zustim­ mung jeglicher Nachd�uck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort………………………………………………………………………………………….. 7 Hans-We er Goetz: Volkskultur d Elitekultur hen Mittelalter:
EineForsch gsaufgabe dihreProblematik………………………………….. 9
Imke Lange: ‚Teste Deo, me nihil audisse modo saeculare de cantico.‘ „Volk“ und „Elite“ als kulturelle Systeme in
„De vita s. RadegWldis libri duo“………………………………………………….20
Nicole Suhl: Die „Vita Bertilae Abbatissae Calensis“ –
eine Quelle r mögliche Unterschiede in der Religiosität
von „Volk“ Wld „Elite“ im frühen Mittelalter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 39 Ulla Pille: Die Pilgerreise des Heiligen Willibald –
Ansätze eine Unterscheidung von Volks- und Elitekultur? … . .. .. …..59
Britta Graening: Vulgus et qui minus intel!egunt:
Die Vita Sualonis Ennanrichs von Ellwangen
als Zeugnis onastischen Elitedenkens? .. . .. . . . . …. . . …… … . …. . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Karsten Uhl: „Der Pöbel, der nicht in gebildeten Wendungen
zu sprechen versteht.“ Unterschiede zwischen der Kultur
des Volkes und der Kultur der Eliten in den Viten derHeiligenWiborada…………………………………………………………….. 103
Schlußbetrachtung……. …………………………………………………………………… ……. 119
Vorwort
Die Frage nach einer Volkskultur im fiühen Mittelalter liegt in der Konsequenz der Volkskulturforschung der letzten beiden Jahrzehnte, sie ist aber noch selten gestellt und alles andere als erschöpfend oder gar abschließend behandelt worden, ja tatsächlich ist die Sinnha igkeit einer solchen Frage erst zu überpriifen, sind zumindest auf das Frühmittelalter zugeschnittene, methodische Wege nden. Diesem Ziel diente ein im Sommersemester 1995 an der Universität Hrunburg durchgefühttes Hauptseminar, das im Sommersemester 1996 in einem Oberseminar weiterge wurde. Mögen Publikationen studen­ tischer Arbeiten auch auf sicherlich nicht immer unberechtigte Skepsis stoßen, so haben die hier abgedruckten, im Rahmen des Oberseminars noch ei al von allen Teilnehmerinnen und Teilnehme kritisch diskutierten Beiträge wohl nicht nur das r eine Verö entlichung erforderliche Niveau erreicht, sie betreten da ber hinaus Neuland, indem sie methodische Wege erschließen helfen und an ausgewählten Beispielen, die sich sämtlich auf die sich in Heiligenviten wider­ spiegelnden religiösen Vorstellungen konzentrieren, abtesten. Damit bieten sie einen fiuchtbaren exemplarischen Zugang zu wichtigen Aspekten der ttel­ alterlichen Volkskultur und Elitekultur. Dank gemeinsamer Fragestellungen und Diskussionen weisen die jeweils einzelnen Viten gewidmeten Beiträge zudem eine hinreichende methodische und thematische Geschlossenheit auf.
Herausgeber, Autoritmen und Autoren haben der Gesellscha „Medium Aevum Quotidianum“ und dem Herausgeber ilu-er gleichnamigen Zeitschri , Gerhard Jaritz, sehr da ir zu danken, daß sie dieses He einen solchen Ver­ such zur Verfugung gestellt haben. Das Thema selbst geht auf eine Anregung des ehemaligen Direktors des Instituts Realienkunde, Ha Kühne!, zurück, der das Konzept die erste, geplante Somme kademie des Mediävisten­ verbandes unter dem Titel „Die ambivalente Kultur des Mittelalters“ entworfen und den Herausgeber mit der Leitung einer Sektion Thema „Volkskultur und Elitekultur im Mittelalter“ betraut hatte. Daß das Vorhaben sich zunächst nicht wie geplant realisieren ließ, resultiette aus organisat01ischen und nanziellen Problemen, die durch den unerwarteten Tod Hany Kü els, der das
7
Projekt mit Energie und Engagement betrieben hatte, vollends verschär worden wären. Seinem Gedenken soll dieses He daher gewidmet sein.
Hans-Wemer Goetz (Hamburg)
8

/* function WSArticle_content_before() { $t_abstract_german = get_field( 'abstract' ); $t_abstract_english = get_field( 'abstract_english' ); $wsa_language = WSA_get_language(); if ( $wsa_language == "de" ) { if ( $t_abstract_german ) { $t_abstract1 = '

' . WSA_translate_string( 'Abstract' ) . '

' . $t_abstract_german; } if ( $t_abstract_english ) { $t_abstract2 = '

' . WSA_translate_string( 'Abstract (englisch)' ) . '

' . $t_abstract_english; } } else { if ( $t_abstract_english ) { $t_abstract1 = '

' . WSA_translate_string( 'Abstract' ) . '

' . $t_abstract_english; } if ( $t_abstract_german ) { $t_abstract2 = '

' . WSA_translate_string( 'Abstract (deutsch)' ) . '

' . $t_abstract_german; } } $beforecontent = ''; echo $beforecontent; } ?> */