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Die „Vita Bertilae Abbatissae Calensis“ – eine Quelle für mögliche Unterschiede in der Religiosität von „Volk“ und „Elite“ im frühen Mittelalter

Die „Vita Bertilae Abbatissae Calensis“ –
eine Quelle für mögliche Unterschiede in der Religiosität von „Volk“ und „Elite“ im frühen Mittelalter?
Nicole Suhl
Im Zuge der Christianisie ng des merowingischen Frankenreiches entstand eine große Zahl neuer Klöster und Bistümer.‘ Gleichzeitig wuchs aufgrund der nicht unterschätzenden kultischen Bedeutung der Heiligenverehrung auch die Nachfrage nach „neuen“ Heiligen, da jedes geistliche Zentrum bestrebt war, einen eigenen Kult zu propagieren.2 Mit dem stetigen Anwachsen der Zahl der Heil igenkulte ging eine rege Produktion hagiographischer Texte einher. Auch wenn sich die Hagiographen häu g auf Lobreden beschränkten und die weltlichen Beziehungen des Heiligen oft nur obe ächlich berührten,3 bieten die Heiligenviten zur Erforschung der Epoche eine breite Gnmdlage. Im Hinblick auf mögliche Anzeichen r das Vorhandensein einer Volkskultur sind hagiographische Texte der Merowingerzeit allerdings bisher kaum untersucht worden.
Im folgenden soll dennoch – oder gerade deshalb – der Versuch w1temommen werden, die aus dem 8. Jahrhundert stammende Vita Bertilae: der ersten Äbtissin des Klosters Chelles, unter dem Aspekt der Volkskultur
‚ Vgl. dazu Friedrich PRINZ, Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Baye am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jahrhundert), München/Wien 1965, insbesondere S. 152ff.
‚ Vgl. Frantisek GRAUS, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger. Studien zur Hagiographie der Merowingerzeit, Prag 1965, S. I 06-1 1 8 .
3 Zu den spezifischen Problemen im Zusammenhang mit der Erforschung von Heiligenviten vgl. WATTENBACH-LEVISON, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Bd. 1: Die Vorzeit. Von den Anfangen bis zur Herrschaft der Karolinger, bearbeitet v. Wilhelm Levison, Weimar 1952, S. 1 19f.
‚ Vita Bertilae Abbatissae Calensis, ed. Bruno KRUSCH und Wilhelm LEVISON, MGH SSrM 6, S. 95-109.
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analysieren. In diesem Rahmen wird es, der Thematik der Vita gemäß, um den begrenzten Bereich des Glaubens und der religiösen Vorstellungen gehen. Es soll gefragt werden, ob und inwiefe anband einer Heiligenvita Hinweise auf Unterschiede zwischen der Religiosität von Eliten und einem möglicherweise vorhandenen Volksglauben nachzuweisen sind, und welche Abgrenzungen evtl. zwischen „Volk“ und „Elite“ in der Vita selbst vorgenommen werden.
Vor dem Hintergrund der im Zusammenhang mit diesem Forschungsansatz immer wieder diskutierten Probleme der Begrifflichkeilen und Methoden soll „Volk“ hier im Sinne Peter Burkes‘ ex negativo als Begriff die nicht den Eliten Angehörigen verwendet werden. Allerdings bereitet auch diese Definition gewisse Schwierigkeiten, denn welche sozialen G ppen sich gegenüber anderen als Elite abhoben, ist durchaus nicht immer zu erkennen. Das gilt auch die Analyse der Vita Bertilae, die aus einer Zeit stammt, die allgemein noch von großer sozialer Flexibilität geprägt war.6
Gerhard J wa t davor, „Volk“ und „Elite“ überhaupt voneinander zu trennen, da schri liche Selbstzeugnisse von „Volkskultur“ so gut wie nicht zu finden und Informationen über das Volk daher nur aus Äußerungen der Elite zu erhalten seien.‘ Frantisek Graus läßt in der Merowingerzeit eine feste kulturelle Grenze zumindest gegenüber der Kirche gelten, da diese bereits eine A Bildungsmonopol besessen habe. Zwar dürfe man die Geistlichkeit auf keinen Fall als homogene Masse verstehen, doch sei gerade hinsichtlich der Klöster, welche die Mittelpunkte der Gelehrsamkeit bildeten und in denen ein großer Teil der Hagiographie entstand, eine getrennte Betrachtung am ehesten möglich, denn ihre Lebenswelt habe sich am deutlichsten von allem unterschieden, was außerhalb der Klostem1auem stattfand. Die eigentliche hochkirchliche Bildung und Liturgie seien schon längst völlig „volksfremd“ und die Scheidungswände auf diesem Gebiet daher „am deutlichsten und stärksten“ gewesen.8
‚ Vgl. Peter BURKE, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der ühen Neuzeit, München 1985, S. I I .
‚ Zu den sozialen Strukturen des Merowingerreichs vgl. Eugen EWIG, Gesellschaft, Verfassung und Institutionen des Merowingerreiches. Die merowingische Gallia, in: Handbuch der Europäischen Geschichte, Bd. I: Europa im Wandel von der Antike zum Mittelalter, hg. v. Theodor Schieffer, Stuttgatt 1 976, S. 4 1 9-427 sowie DERS., Die Merowinger und das Frankenreich, Stuttga11 1988, S. 82-87 und GRAUS, Volk (wie Anm. 2) S. 199-209.
1 Vgl. Gerhard JARITZ, Zwischen Augenblick und Ewigkeit. Einführung in die Alltagsgeschichte des Mittelalters, Wien/Köln 1989, S. 128ff.
‚ Zur Abgrenzung d�r Geistlichkeit von anderen Bevölkerungsschichten vgl. GRAUS,
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Bei der Betrachtung der Merowingerzeit läßt sich also die Abgrenzung der geistlichen Elite – trotz aller Vorbehalte in bezug auf die Heterogenität dieser Gruppe – noch am ehesten rechtfenigen. Dabei spielen zwangsläufig die allgemein häu g herangezogenen Kriterien der Schri lichkeit und Bildung zur Unterscheidung von „Volk“ und „Elite“ eine Rolle.9 So konnten sich die geistlichen Verfasser von Heiligenviten in Herkun , Bildungsstand sowie räumlicher und zeitlicher Nähe zum Gegenstand ihres Werkes inunens voneinander unterscheiden, sie setzten sich generell jedoch schon aufgrund ihrer Bildung und Schri lichkeit von der großen Masse der Bevölkerung ab.’0 Vor dem Hinterg nd, daß die Hagiographen also mehr oder weniger „volksfremd“ waren und der geistlichen Elite angehörten, soll bei der Analyse der Vita Bertilae im Hinblick auf „Volksreligiosität“ im zweiten Abschnitt dieses Beitrags – nach einer kurzen historischen und quellenkritischen Einordnung des Textes – zunächst die Identität, die Intention und die Zielgruppe des Autors der Heiligenvita im Mittelpunkt stehen.
Auch wenn man die Heiligenviten als Produkte der geistlichen Elite bezeichnen muß, halte ich eine Analyse dieser Texte in bezug auf Aussagen über das „Volk“ durchaus ir sinnvoll. Gerade in einer ir die Christianis ierung so frühen Epoche wie der Merowingerzeit “ können die
Volk (wie Anm. 2) S. 207-209.
‚ Vgl. z. B. Herbert GRUNDMANN, Litteratus – illitteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 40, I958, S. 1 -65, und Michel LAUWERS, „Religion populaire“, culture folklorique, mentalites. Notes pour une anthropologie culturelle du moyen äge, in: Revue d’histoire ecclesiastique 82, 1 987, S. 221-258. Herbert GRUNDMANN weist darauf hin, daß der Begriff litteratus bis zum 12. Jahrhundert nicht nur eine Aussage über die Schriftlichkeil einer Person, sondem auch über ihre gesellschaf iche Stellung beinhalten konnte. Der /itteratus war seiner Ansicht nach in der Regel dem Klerus zugehörig, während es sich beim i//iueratus um den Laien handelte. LAUWERS unterteilt die mittelalterliche Gesellschaft in die kirchliche
Elite, die schriftkundige Aristokratie und die schriftlose Masse.
•• Zur Verfasserfrage von Heiligenviten vgl. z. B. Dieter VON DER NAHMER, Die lateinische Heiligenvita. Eine Einführung in die lateinische Hagiographie, Darmstadt 1994, S. 170ff, und Friedrich PRINZ. Hagiographie als Kultpropaganda. Die Rolle der Auftraggeber und Autoren hagiographischer Texte des F hmittelalters, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 103, 1992, S. 175-194.
“ Zum Stand der Missionierung im Merowinge eich vgl. z.B. GRAUS, Volk (wie Anm. 2) S. 142-170, und Amold ANGENENDT, Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400 bis 900, Stuttga u.a. 1990, S. 169 ff. Die Christianisierung verlief zwar schnell und erfolgreich, aber auch oberflächlich. Viele heidnische Vorstellungen und Bräuche hielten sich daher neben oder – vor allem in späteren Jahrhundellen – in einer Symbiose mit den christlichen Glaubensformen.
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Äußerungen eines geistlichen Autors, wie des Verfassers der Vita Bertilae, über das zeitgenössische religiöse Leben von großem Interesse sein. So läßt sich fragen, ob er Unterscheidungen zwischen Klerike oder Kloster­ angehörigen einerseits und Laien andererseits vominunt und inwiefe evtl. vorhandene weltliche „Standesunterschiede“ r ihn eine Rolle spielen. Daher soll in einem dritten Abschnitt diskutiert werden, inwieweit in der Vita Bertilae überhaupt – explizit oder beiläufig – Unterscheidungen zwischen sozialen Gruppen vorkonunen. In bezug auf den Aspekt der „Volksreligiosität“ stellt sich schließlich die Frage, ob es in der Vita Hinweise auf das Vorhandensein von Glaubensformen gibt, die sich von der durch die geistliche Elite propagierten, o ziellen christlichen Lehre
unterschieden.
Inwieweit „Volkstümliches“ in Viten durchscheint, ist in der Forschung durchaus umstritten. Während Aaron Gurjewitsch dieses gleichsam voraussetzt,12 bescheinigt Frantisek Graus der Hagiographie der Merowingerzeit zwar eine im Vergleich mit anderen Schriften größere Aufgeschlossenheit gegenüber dem Volk, insgesamt enthalte sie jedoch lediglich – und eher selten – „volkstümliches Streugut“.13 Dagegen sieht Friedrich Prinz die Möglichkeit, die Funktion der Hagiographie, die er „kirchliche Zwecklite tur“ nennt, im Einzelfall näher zu bestimmen und über die Absicht der Autoren zu Aussagen über die Zielgruppe des Textes zu gelangen. Zum Beispiel könne aus der immer wiederkehrenden Kritik der Kleriker an Glaubensverweigerungen oder Zweifeln an Heiligen und Wundem darauf geschlossen werden, daß die Laienwelt ihr eigenes „Leben und Meinen“ hatte, das sich zumindest teilweise von demjenigen der kirchlich-monastischen Kreise unterschied. 14 Heinrich Fichtenau, der allerdings zum I0. Jahrhundert arbeitete, nennt die He1iligenverehrung und den Reliquienkult sogar das Zentrum des Volksglaubens. 5
Vor dem H intergrund solcher Diskussionen soll in den letzten beiden Abschnitten dieser Untersuchung überprüft werden, welche Rolle in der Vita
“ Vgl. Aaron J. GURJEWITSCH, Mittelalterliche Volkskultur, München 1987, S. 1 6-67. “ GRAUS, Volk (wie Anm. 2) S. 300-302.
“ Vgl. Friedrich P NZ, Der Heilige und seine Lebenswelt Überlegungen zum gesellscha s- und kulturgeschichtlichen Aussagewert von Viten und Wundererzählungen, in: Friedrich Prinz, Mönchtum, Kultur und Gesellscha : Beiträge zum Mittelalter. Zum sechzigsten Geburtstag des Autors Friedrich Prinz, hg. v. Alfred Haverkamp und Alfred Heit, München 1989, S. 251-268.
“ Vgl. Heinrich FICHTENAU, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existen : im einstigen Karolingen·eich, Stuttgart 1984, S. 399-436, hier S. 434.
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Bertilae dem Volk im Zusammenhang mit dem Heiligenkult eingeräumt wird:
Gibt es Indizien da r, daß die Heiligenerzählung im Volk „lebte“ und von ihm weitergetragen wurde, und wie sind insbesondere die Wunderberichte in bezug auf „Volksglauben“ und „Volksreligiosität“ zu verstehen? Auch bei dieser Fragestellung ist allerdings der vorher zu erörte de Aspekt der Intention des Verfassers der Vita Bertilae auf keinen Fall außer acht zu lassen.
1. Die Heilige Bertila und die Entstehung ihrer Vita
Die Vita Bertilae Abbatissae Calensis16 illustriert das Leben der Nonne Bertila aus dem Kloster Jouarre im heutigen Nordfrankreich, die aufgrund ihres außergewöhnlich frommen und asketischen Lebenswandels zur Äbtissin des Klosters Chelles aufstieg, als dieses in der zweiten Häl e des siebten Jahrhunde s gegründet wurde. Wie bei vielen Viten ist die Autorin bzw. der Autor der Vita Bertilae unbekannt, und auch über den Zeitpunkt der Abfassung besteht Unsicherheit. Wilhelm Levison vennutet, daß die Vita im achten Jahrhundert geschrieben wurde, wobei insbesondere die Vita Sanctae Balthildis,17 der Gründerio18des Klosters Chelles, und andere Quellen herangezogen worden seien. Der heute vorliegende Text muß wegen seiner grammatikalischen Besonderheiten eine in der Karolingerzeit überarbeitete Fassung sein. 19 Inwieweit diese Überarbeitung den Text auf eine Art verändert hat, die r meine Fragestellung ausschlaggebend ist, muß offenbleiben und erschwert die Inte retation der Quelle zusätzlich.
An konkreten Lebensdaten der ersten Äbtissin von Chelles ist die Vita Bertilae ann. Die Heilige sei in der Provinz Soissons geboren worden und stanune von vo ehmen Eltem ab.20 Von Bischof Dado, genannt Audoin,21 sei
16 Vita Bertilae (wie Anm. 4).
“ Vita Sanctae Balthildis, ed. Bnmo KRUSCH, MGH SSrM 2, S. 475-508.
“ Vgl. WATTENBACH-LEVISON (wie Anm. 3) S. 95- 1 0 1 . Diese Meinung teilen auch Jo Ann McNAMARA und John E. HALBORG, Sainted Women of the Dark Ages, Durha und London 1992, S. 279, und Waller BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Bd. 2: Merowingische Biographie. Italien, Spanien und die Inseln im frühen Mittelalter, Stuttgart 1988, S. 23.
19 Vgl. BERSCH!N (wie Anm. 18), S. 23f., der dieses anhand der Unterschiede bei der Deklination des Lateinischen in der merowingischen bzw. karolingischen Epoche belegt. ‚0VitaBertilae(wieAnm.4)S. I0I,1:nobilibusparenribusoriunda.
“ Der im Jahre 6 1 0 geborene, spätere Bischof von Rouen Audoin, bzw. Dado oder Ouen, gehörte einer bedeutenden, am neustrischen Königshof angesehenen Familie an. Zu seinen ve andtscha lichen Beziehungen vgl. Margarete WETDEMANN, Adelsfamilien im
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sie gefragt worden, ob sie Christus dienen wolle, was sie freudig bejahte. Nachdem die Elte zugestimmt hatten, sei sie als Nonne in das nahegelegene Kloster Joua e eingetreten.22 Als zeitliche Einordnung wird die Regentscha der Königin Balthild von Neustrien ihren Sohn Chlothar I I I . genannt,23 also2die Zeit vom Tod König Chlodwigs Il. im Jahr 657 bis ca. 664 oder 665. ‚ Balthild, die urspr nglich aus dem angelsächsischen Dienstpersonal des Königshofes stammte,25 zählte neben Bischof Audoin von Rouen auch Genesius, den späteren Bischof von Lyon, zu ihren Ratgebe . Als sie in der Nähe einer königlichen Villa in Chelles ein neues Frauenkloster g ndete,26
Clotharreich. Verwandtschaftliche Beziehungen der änkischen Aristokratie im 1 . Drittel des 7. Jahrhunderts, in: Francia 15, 1987, S. 829-851, hier S. 843-846, und Georg SCHEIBELREITER, Audoin von Rouen. Ein Versuch über den Charakter des 7 . Jahrhunderts, in: La Neustrie. Les pays au nord de Ia Loire de 650 a 850. Colloque historique inte ational, hg. v. Hartmut Atsma, Bd. I , Sigmaringen 1989, S. 195-216. Wie Audoin bekannten sich viele eng mit dem Königshof Verbundene zur Reform des ire­ keltischen Mönchs Columban, der Ende des 6. Jahrhunderts in das Frankenreich gekommen war, und verbreiteten seine Lehren auch im neustrischen Herrscherhaus. Zur Verbreitung der columbanischen Mönchsregel und ihrer Vetmischung mit der benediktinischen Regel im Frankenreich vgl. Pierre RlCHE. Die abendländischen Kirchen des 7. und 8. Jahrhunderts zwischen Missionserfolgen und Krisen, in: Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur, Bd. 4, Bischöfe, Mönche und Kaiser (642-1054), hg. v. Gilbert Dragon, Pierre Riche, Andre Vauchez, dt. Ausgabe hg. v. Egon Boshof, Freiburg 1994, S. 628-634, und WATTENBACH-LEV!SON (wie Anm. 3) S. 129-136.
“ Das Kloster Jouarre in Nordfrankreich wurde um 635 von dem Mönch Ado, einem Bruder des Audoin, als Männerkloster gegründet und bald danach in ein von Äbtissinnen geleitetes Doppelkloster umgewandelt. Siehe dazu: Jean GUEROUT, Jouarre, in: Lexikon des Mittelalters (im Folgenden abgekürzt: LMA), Bd. 5, München/Zürich 1991, Sp. 638. „VitaBertilae(wieAnm.4)S. 104,4.
“ Vgl. Eugen EWIG, Balthild, in: LMA, Bd. I, München/Zürich 1980, Sp. 139lf.
“ Zu Balthilds Biographie vgl. Vita Sanctae Balthildis (wie Anm. 17), den Kommentar dieser Vita in McNAMARA und HALBORG (wie Anm. 18) S. 264-268, Robert FOLZ, Les Saintes Reines du Moyen Äge en Occident (VIe-XIIle siecles), Brüssel 1992, S. 32- 43, und Jean-Pierre LAPORTE, La reine Bathilde ou l’ascension sociale d’une esclave, in: La femme au moyen äge, hg. v. Michel Rouche und Jean Heuclin, Paris 1990, S. 147-169. “ Vgl. Jean GUEROUT, Chelles, in: LMA. Bd. 2, Münche Zütich 1983, Sp. 1790f., sowie Eugen EWIG, Das Privileg des Bischofs Berthefrid von Amiens für Corbie von 664 und die Klosterpolitik der Königin Balthild, in: Francia I , 1973, S. 62- 1 1 4, der auf die besondere Stellung des Klosters Chelles als merowingisches Königskloster „strictissimo sensu“ hinweist, da es nicht nur vom Königshaus gefordert, sonde auch geg ndet wurde. P NZ, Frühes Mönchtum (wie Anm. I), S. l74f. und S. 274, vetmutet, daß Balthild aufgrund ihrer engen Verbindung zu Audoin in Chelles die benediktinisch­ columbanische Regel einführte. Ein Austausch zwischen dem Kloster und der Geistlichkeit im angeisächsischen Raum ist in der Vita Bertilae (wie Anm. 4) S. 106, 6
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war es Genesius, der der Königin die Nonne Bertila als erste Äbtissin e m p fa h l . 2 7
Das genaue Datum der Klostergründung – und damit der Berufung Bertilas zur Äbtissin – ist unbekannt. Es wird jedoch allgemein angenommen, daß der Zeitraum zwischen 658 und 660 in Frage kommt.28 Der Autor der Vita Bertilae weiß zu berichten, daß Bertila 46 Jahre bis zu ihrem Tod dem Konvent in Chelles vorstand.� Doch auch Bertilas Tod kann nur unge ihr, und zwar um 705 datiert werden.30
Insgesamt sind konkrete Daten über Bertilas Leben in ihrer Vita also nur spärlich vorhanden, der größte Teil des Textes ist der Schilderung des vorbildha en, asketischen Lebenswandels der Heiligen gewidmet. Und auch die Vita der Königin und Klostergründerio Balthild vetTät keine weiteren Details, außer der Tatsache, daß Bertila nach Balthilds Tod deren Kult propagie e, was mit der Funktion von Chelles als „Königskloster“ kohärent ist.3′
2. Verfasser, Intention und Adressatenkreis der Vita Bertilae Abbatissae Calensis
Als Entstehungsort der Vita Be ilae wird von der Forschung das Nonnenkloster Chelles, also der langjährige Wirkungsort der Heiligen,
belegt.
“ Vita Be11ilae (wie Anm. 4) S. 104f., 4. Genesius war Abt der Palastkapelle sowie Balthilds Kaplan und wurde um 658 Bischof von Lyon. Als solcher nahm er auch politischen Einfluß. Siehe dazu: Gerhard BAADER, Genesius, in: Lexikon r Theologie und Kirche, hg. v. Josef Höfer und Karl Rahner (im Folgenden abgekürzt LThK), Bd. 4, Freiburg 1 960, Sp. 67 1 .
“ McNAMARA und HALBORG (wie Anm. 1 8) S. 279 weisen darauf hin, daß Chelles mit Sicherheit spätestens um 660 geg1iindet wurde, als der Hl. Eligius starb und Balthild dessen Reliquien dem Konvent überließ. Balthild selbst muß 664 oder 665 in das Kloster Chelles eingetreten sein. Vgl. EWIG, Balthild, in: LMA, Bd. I , Sp. 1 39 1 . Zu Einzelheiten und unterschiedlichen Deutungen von Balthilds Rücktritt vgl. Eugen EWIG, Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1952-1973), hg. v. Ha11mut Atsma, in: Beihe e der Francia 2, 1979, S. 579, McNAMARA und HALBORG (wie Anm. 18) S. 267, LAPORTE (wie Anm. 25) S. 157f. und Johannes FISCHER, Der Hausmeier Ebroin, Wilkau-Haßlau 1954, S. 98-104.
,.Vita Be1iilae (wie Anm. 4) S. 108, 7.
.. Vgl. Alfons Maria ZIMME ANN, Bertila, in: LThK, Bd. 2, Sp. 269; McNAMARA und HALBORG (wie Anm. 1 8) S. 279 vermuten ebenfalls, daß Bertila zwischen 692 und 708 starb.
“ Vita Sanctae Balthildis (wie Anm. 17) S. 502, 15.
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angenommen. Der Text könnte hier von einer Nonne oder einem Kleriker verfaßt worden sein. Als mögliche Zielgruppe konunt mit großer Wahrscheinlichkeit ein ähnlicher Personenkre is, nämlich ebenfalls Klosterangehörige, in Betracht. Hierfur sprechen die zahlreichen Referenzen an die heiligen Regeln Benedikts sowie die Betonung des asketischen und gottes irchtigen Lebenswandels in der Vita. Der Verfasser beabsichtigte offensichtlich, seinen Adressaten die eher abstrakten Klosterregeln am
Beispiel der Bertila zu veranschaulichen.32
Für die Möglichkeit, daß die Vita Bertilae in erster Linie an die Mitglieder der Klostergemeinscha von Chelles gerichtet war,n lassen sich ebe alls Indizien finden. Nach der Schilderung der Askese, welcher sich Bertila noch kurz vor ihrem Tode unterzog, heißt es: Haec itaque atque huiusmodi plurima gerens admiranda, sicut ipsi plenius meministis et vidistis, quia proferre per nos, ut dignum est, non pofest sermo pauperculus, melius vobis ea vester dietat e ctus.34 Der Autor wendet sich hier in direkter Ansprache an seine Adressaten, die ja die bewunde swe en Taten der Äbtissin selbst gesehen hätten. Da er über Bertilas Eifrigkeit bei Nachtwachen und beim Fasten berichtet, kommen hauptsächlich Klosterangehörige als Zeugen in Frage.
Daß die Propagierung des asketischen, frommen Lebenswandels eine wichtige Intention der Vita Be ilae darstellt, läßt sich ebenfalls anhand des Vitentextes belegen. In der Einleitung spricht der Autor von einem guten Beispiel,15 und im Schlußkapitel bezeichnet er die Belehrung der Gläubigen als seine Zielsetzung und verbindet dieses mit der Aufforderung, Be ila nachzueife . 36
In diesen Passagen konunt eine pädagogische Intention zum Ausdruck, die in der Forschung als allgemein verbreitetes Element innerhalb der Hagiographie anerkannt wird.37 Allerdings schränkt der Autor die von ihm
“ Vgl. McNAMARA und HALBORG (wie Anm. 18) S. 280. Bezüglich der Anonymität
der Verfasserio oder des Verfassers der Vita beschränke ich mich bei ihrer oder seiner
Nennung im weiteren Text der Einfachheit halber auf die maskuline Fotm.
“ Ebd. S. 280.
“ VitaBertilae (wie Anm. 4) S. 108, 8.
“ Vita Be ilae (wie Anm. 4) S. 101, 1: dum bonae conversationis exemplum ceteris lribuit.
“ Ebd. S. I 09, 9: Igilur in hac vila sanctae memoriae Deifamulae Bertilae, quoniam pro aedijicatione delium pauca de p/uribus gesta hic scribere nobis complacuil, habet qui volueril sollicite considerare vel imilari. quasi in praeclaro speculo quae/ibet exempla virtutum, humi/itatempraecpi ue, quae est mater virtutum.(..).
“ Hinsichtlich der Gemeinsamkeit dieser pädagogischen Intention in hagiographischen
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beabsichtigte vorbildha e W i rkung seiner Vita nicht explizit auf Klosterangehörige ein: H e ißt es in 8der Einleitung noch mehrdeutig, Be ila könnte ein Beispiel fur andere sein,339so spricht er im Schlußkapitel allgemein von der Belehrung der Gläubigen. Hier wird zumindest sprachlich keine Eingrenzw1g a u f Klosterangehörige vorgenorr en. I m Einleitungssatz scheint der Autor von der mündlichen Überlieferung auszugehen, wenn er sagt, daß die Völker das religiöse Leben der Bertila loben werden. Allerdings könnte es sich hierbei auch um einen Topos handeln. Der H inweis, den der Vetfasser an anderer Stelle auf seine einfache Sprache gibt, mit der er die Liebe Bertilas nicht ausdrücken könne:1 dür e ebenfalls lediglich ein Bescheidenheilstopos sein.
Ob mit der Vita der heiligen Bertila tatsächlich nur Klosterangehörige erreicht werden sollten oder auch eine Propagierung des Kults außerhalb der Kloste lauem vorgesehen war, bleibt letztlich ebenso spekulativ wie die Frage nach der Identität der Vet sserin oder des Verfassers. Von der Nahmer vermutet, daß die frühen Viten nicht zum liturgischen Gebrauch bestimmt waren, die Verwendung dieser Texte geistliche Zwecke jedoch im Laufe der Zeit zunalun. Dabei muß allerdings unterschieden werden, ob eine solche Vita in eine Predigt ein oß und so breitere Bevölkerungsschichten ansprechen konnte oder ob hagiographische Texte in Klöste verlesen wurden, was einer Ausgrenzung anderer Personen gleichkommt.•‘ Außerdem muß auch hier das Problem der Schri lichkeit und der Kenntnis des Lateinischen bedacht werden, die weithin auf Geistliche, Mönche und N01men beschränkt blieb, während die Bevölke ng in der Merowingerzeit – auch die romanische – dieser Sprache immer mehr entwuchs. Die lateinischen Textformen der Heiligenviten waren also zur Übe ittlung an das Volk ungeeignet, wobei andererseits dennoch nicht bezweifelt werden kann, daß die Inhalte der Texte, auf welchem Wege auch immer, zur geistlichen Belehrung eingesetzt wurden ‚3
Texten äußert sich u.a. Regis BOYER, An attempt to define the typology of medieval hagiography, in: Hagiography and Medieval Literature, hg. v. Hans Bekker-Nielsen, Odense 1981, S. 27-36. Vgl. zur Intention hagiographischer Texte außerdem: Thomas J. HEFFERNAN, Sacred Biography. Saints and Their Biographers in the Middle Ages, New York/Oxford 1988, S. 1 8-22.
„VitaBertilae(wieAnm.4)S. I01,I:ceteri.
“ Ebd. S. 1 09, 9: pro aed icationefidelium.
•o Ebd. S. I 0 I, I : tanto est voce crebrior etpopuforum ore laudabilior. „Ebd.S. 108,8:nonporestsermopaupercllllls.
“ VON DER NAHMER (wie Anm. 10) S. 1 76.
„Ebd. S. 177.
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Hier klingt eine weitere Funktion hagiographischer Texte an, die auch bei der Vita Bertilae zum Ausdruck kommt, nämlich die Absicht der „Kultpropaganda“. Nicht umsonst betont ihr Verfasser die Glaubwürdigkeit seines Berichts durch die Anrufung von Augenzeugen… Seine Be rchtung, man könne an der Wahrha igkeit des Berichteten zweifeln, wenn man es nicht selbst gesehen hätte, kommt wenig später nochmals zum Ausdruck.“ Als eine endgültige Rechtfertigung für die Verehrung der Be ila erscheinen die Schlußbemerkungen des Autors, die erste Äbtissin von Chelles habe zweifellos das ewige Leben erlangt.’6 Neben der pädagogischen Intention wird zur Entstehung der Vita also auch die Absicht beigetragen haben, speziell den Kult der heiligen Bertila von Chelles zu propagieren, was von der Forschung ebenfalls als ein typisches Charakteristikum dieser Textgattung angesehen wird.’7
Die Identität der Verfasserirr oder des Verfassers der Vita Bertilae bleibt Jetztlieh ungewiß, wenn auch einiges dafür spricht, daß es sich um eine Nonne, einen Mönch oder eine andere der Geistlichkeit nahestehende Person h a n d e l t e . A l s A d r e s s a t e n k o m m e n v e r mu t l i c h i n e r s t e r L i n i e Klosterangehörige i n Frage. Allerdings scheint das Interesse an d e r Propagierung des frommen Lebenswandels und des Kults der heiligen Be ila, das in der Vita zu erkennen ist, nicht unbedingt auf die Klostermauem begrenzt zu sein.
Für die Frage, inwiefe die Vita Bertilae als Quelle zur Erforschung von Volksreligiosität dienen kann, ergibt sich also nicht nur die Schwierig­ keit, daß der Text nicht von einem Angehörigen des Volkes verfaßt wurde,
Vita Bertilae (wie Anm. 4) S. 108, 8. Vgl. auch die Ausführungen von Felix TH EMANN, Der historische Diskurs bei Gregor von Tours. Topoi und Wirklichkeit, Sem/Frank rt am Main 1974, S. 25f., m Problem der Glaubwürdigkeit am Beispiel Gregors von Tours.
•• Vita Bertilae (wie Anm. 4) S. I08, 8: et a nobis es/ indicibile et omnibus incredibile, nisi qui hoc praesentaliter viderunt.
•• Ebd. S. 109, 9.
“ GRAUS, Volk (wie Anm. 2) S. 71, nennt die Hagiographie „echte Tendenz- und Propagandaliteratur, die sie bewußt und betont sein will“ und weist an anderer Stelle, DERS., Hagiographie und Dämonenglauben. Zu ihren Funktionen in der Merowingerzeit, in: Santi e demoni nell’alto medioevo occidentale. Secoli V – XI (Settimane di studio del Centro Italiano di Studi suii’Aito Medioevo), Spoleto 1989, Bd. I, S. 93-120, hier S. 93f., auf die „ausgeprägte Eigengesetzlichkeit“ der Hagiographie hin, die durch die spezielle Fixierung des Textes auf einen Heiligen und seine Kirche oder sein Kloster entsteht. Von „Kultpropaganda“ als Intention der Hagiographie spricht schließlich auch PRINZ, Hagiographie als Kultpropaganda (wie Anm. 10) S. 1 75-194.
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sonde daß auch als primärer Adressat der Vita nicht das Volk intendiert war. Bei der Analyse des Textes in bezug auf Volksglauben ist daher größte Vorsicht geboten, was die Vita jedoch nicht von vomherein als Quelle dieses Forschungsgebiet wertlos macht. Gerade unter Betücksichtigung der Funktion von Viten als Inst ment der möglichst großen Verbreitung eines bestirrunten Heiligenkults besteht die Möglichkeit, daß die Vita Bertilae im Zusammenhang mit religiösen Kulten auch die Bedürfnisse des Volkes ansprach.
3. Die Abgrenzungen zwischen „Volk“ und „Elite“ innerhalb der Vita Bertilae
Bei der Frage nach „Volks-“ und „Elitekultur“ sind die vom Verfasser möglicherweise selbst vorgenonunenen Unterscheidungen im Hinblick auf das Vorhandensein verschiedener sozialer Gruppen und ihrer jeweiligen Religiosität besonders interessant, da „Volk“ und „Elite“ in jeder Kultur und Epoche und eventuell auch von jedem seine Gesellscha subjektiv wahrnehmenden Zeitgenossen unterschiedlich begriffen werden müssen.
Eine erste Abgrenzung scheint der Hagiograph der heiligen ‚ Be ila bereits mit dem Hinweis aufderen vo ehme Herkun vorzunehmen: 8 Nicht nur das Werk an sich ist von einem litteratus verfaßt, sonde auch die Protagonistin war bereits von Geburt an Angehörige der sozialen Oberschicht und damit einer weltlichen Elite. Später, als Nonne und Äbtissin, wurde sie Glied der geistlichen Elite. Diese „Kombination“ war anscheinend der NormalfalL Graus stellt in seiner Untersuchung merowingischer Hagiographie fest, daß nur die wenigsten Heiligen dieser Epoche nach Auskw1ft ihrer Viten niedriger oder sogar unfreier Herkun waren: “ . . . ein volkstümliches Bewußtsein der merowingischen Hagiographen ist in dieser Hinsicht überhaupt nicht spürbar“.’9 Wenngleich die Angaben der Viten häu g sehr allgemein gehalten seien (wie auch im Falle der Vita Bettilae), so konstatiert doch die überwiegende Zahl der Autoren eine gehobene oder sogar „adlige“ Herkun ihrer Heiligen. Nach Graus verfolgten die Hagiographen dabei einen literarischen Doppelzweck, indem sie ihre Heiligen erhöhten d gleichzeitig seine Verdienste steigerten, denn wenn jemand seine vo ehme Verwandtscha um Christi willen aufgab, war sein Verdienst größer, als wenn er aus A 1Ut ins Kloster ge üchtet wäre.50 Eine
“ Vita Betiilae (wie Anm. 4) S. I0I , I : nobilibusparenribus oriunda. “ G US, Volk (wie Anm. 2) S. 283.
Ebd. S. 361-363.
49
Äußerung in der Vita Bertilae bestätigt diese Deutung: Außer durch ihr ehrenvolles Verhalten habe Bertila keinerlei Stolz auf ihre Herkun zur Schau gestellt, sonde sie, die von Freien absta nte, machte sich freiwillig zur Sklavin.51
Was Bertilas tatsächliche Herkun angeht/2 so stammte sie, trotz der Schwierigkeit, die Begri e nobiles und liber sozial exakt zu verorten/3 jedenfalls nicht aus einer niedrigen Schicht. Damit läßt sich anhand der Vita Bertilae auch die These stützen, die Erwähnung der vo ehmen Herkun eines Heiligen stelle eine zusätzliche Betonung seiner Frömmigkeit dar: Je angenehmer man sich Bertilas weltliches Leben vorstellen konnte, um so vorbildlicher war der Verzicht darauf. Hierbei ndet zwar eine klare
“ Vita Be ilae (wie Anm. 4) S. 102, 2: ut salva mo m honestate nihi/ de ingenuitatis natione superbiret, ibique. quam origo nativitatis liberam genuit, famulam voluntas addixit.
“ GRAUS, Volk (wie Anm. 2) S. 367-370, nennt die Viten r die Bestimmung der tatsächlichen Herkunft der Heiligen wertlos. Da die meisten Heiligen der Merowingerzeit Bischöfe oder Äbte waren, traf die Angabe über ihre vo ehme Abstammung bei vielen von ihnen jedoch vermutlich sogar zu. Zum Topos der vo ehmen Herkunft in Heiligenviten vgl. auch Frantisek GRAUS, Sozialgeschichtliche Aspekte der Hagiographie der Merowinger- und Karolingerzeit. Die Viten der Heiligen des südalemannischen Raumes und die sogenannten Adelsheiligen, in: Mönchtum, Episkopat und Adel zur Gründungszeit des Klosters Reichenau, hg. v. Amo Borst, Sigmaringen
1974,S. 131-176,hierbesondersS. 159f.
53 EWIG, Die Merowinger (wie Anm. 6) S. 84, will die /iberi im Frankenreich zwar nicht als „verkappte Adlige“ verstanden wissen, allerdings sprächen viele Indizien r das Vorhandensein von Adelsgeschlechte innerhalb des undifferenzierten Freienstandes. Aufjeden Fall sei mit der Zeit neben dem fränkischen Uradel ein zahlenmäßig stärkerer und durch einen dreifachen Wergeldsatz herausgehobener Dienstadel entstanden. Eine ähnliche Darstellung ist auch zu finden bei Heinrich BRUNNER, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I, Berlin 1961 (Nachdruck von 1906), S. 341 und S. 349, während GRAUS, Volk (wie Anm. 2) S. 204, zwar ebenfalls die Herausbildung einer „Gruppe von Leuten, die faktisch eine Sonderstellung hatte“ konstatiert, allerdings vor der Verwendung des Begriffs „Adel“ r diese Oberschicht wa t, weil ansonsten die Verwischung der Unterschiede zu dem in spätkarolingischer Zeit entstehenden eigentlichen Adel drohe. Zur Diskussion um den frühmittelalterlichen Adelsbegriff vgl. auch Heike GRAHN-HOEK, Die fränkische Oberschicht im 6. Jh. Studien zu ihrer rechtlichen und politischen Stellung (Vorträge und Forschungen Sonderband 2 1), Sigmaringen 1976, sowie dagegen Thomas ZOTZ, Adel, Oberschicht, Freie. Zur Terminologie der frühmittelalterlichen Sozialgeschichte, in: Zeitschri für die Geschichte des Oberrheins 125, 1977, S. 3-20, Franz IRSIGLER, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 27, 1977, S. 279-84, und Klaus SCHREINER, Adel oder Oberschicht? Bemerkungen zur sozialen Schichtung der fränkischen Gesellschaft im 6. ., in: Vierte ahrschrift r Sozial- und Wirtschafts­ geschichte 68, I981, S. 225-231 .
50

Abgrenzung der Heiligen vom Volk statt, doch wird der freiwillige Verzicht auf Wohlstand auch das Volk sehr beeindruckend gewesen sein. Es wäre durchaus denkbar, daß eine solche Wirkung vom Autor selbst auch intendiert war.
Gleichzeitig scheint hier jedoch noch ein weiterer Aspekt wichtig zu sein: Wenn der mittelalterliche Autor es r nötig hielt, Bertilas Abkehr von weltlicher Vo ehmheit herauszustreichen, dann verrät er damit bezüglich seiner eigenen Person ein großes Maß an Standesemp nden. Wie sonst ist seine akzentuierte Abgrenzung zwischen freier Herkun und fre i w i l l iger Dienerscha zu verstehen?
Weiterhin ist zu fragen, wo in der Vita explizit Angehörige des Volkes angesprochen werden. I n diesem Zusammenhang gibt es an zwei Stellen einen Hinweis auf Bertilas Wohltätigkeit gegenüber Armen.54 Auch wenn der Hinweis auf anne Menschen hier sehr allgemein gehalten ist, so belegt er immerhin das Vorhandensein sozialer Unterschiede und das Verantwortungsgefühl der Geistlichkeit im Zusammenhang mit der A enfursorge . 55
Wenn der Autor der Vita Bertilae die Übe ahme der Regentschaft durch die Königin Balthild anspricht und von der Zustiimnung der geistlichen und weltlichen Führungsschicht sowie des Volkes berichtet,56 so nitmnt er damit eine Dreiteilung der Bevölkerung vor, die unsere Fragestellung interessant ist. Der Hagiograph zählte nämlich alle diejenigen zum Volk, die weder der weltlichen noch der geistlichen Führungsschicht angehörten.
Ob die tatsächliche Meinung der Bevölkerung wiedergegeben wird, wenn in der Vita von der Zustimmung fur die Regentin Balthild die Rede ist, bleibt fraglich. Vielmehr kommt hier offenbar die insgesamt positive Haltung des Autors gegenüber Balthild zum Ausdruck. Immerhin benutzte er unter anderem die Vita Balthildis als Vorlage, die im Gegensatz zu anderen
,.. Vita Bertilae (wie Anm. 4) S. 106, 6: arque ad cursum ve/ orationem semper essen/ paratae hospitwnque er pauperum curam gererelll dilectionis sllldio er proximi amore. . . und …etiam et eius munijicentia Iargo cunctipauperes erperegrini consolabantur.
“ Zur zentralen Rolle der frühmittelalterlichen Geistlichkeit in der Sozialfürsorge vgl. Egon BOSHOF, Armenftirsorge im Friihmittelalter: Xenodochium, matricula, hospitale paupe m, in: Vierteljahrschri für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 7 1 , 1984, S. 153-
174.
“ Vita Be ilae (wie Anm. 4) S. 104, 4: …er optima coniunx ipsius domna Baltechi/d regina cum parvulo lio rege Ch/othario inreprehensibiliter regnum gube abat Franeorum et ab omnibus ponti cibus vel proceribus cunctoque populo regni sui, eius meritis compellentibus, miro diligebatur a ectu.
51
Quellen ein positives Bild der Regentin zeichnet.57
Bemerkenswe im Hinblick auf das Problem der Abgrenzung sozialer G ppen voneinander ist noch ein weiterer Aspekt in der Vita Bertilae, der sich ebenfalls auf die Königin Balthild bezieht. In der Vita Balthildis wird erwähnt, daß Balthild vor ihrem Aufstieg zur neustrischen Königin als Sklavin aus Angelsachsen nach Europa kam.5s Die Vita Bertilae geht auf diesen Teil der Biographie der Königin nicht ein, wobei die Gründe hier r natürlich Spekulation bleiben müssen. Ob es dem Verfasser wirklich darum ging, die nied ge Herkun der Königin zu verschweigen (wobei natürlich nicht geklärt ist, ob Balthild auch in ihrer angelsächsischen Heimat aus den niederen Schichten stammte),’9 läßt sich nicht beweisen. Dennoch scheint mir dieser Punkt erwähnenswert, gerade wenn man bedenkt, daß Bertilas vo ehme Herkun betont wird. Vielleicht kommt hier das spezi sche Verständnis des Hagiographen ir die sozialen Hierarchien seiner Zeit zum Ausdruck. Auch wenn weltliche Standesunterschiede im Kloster keine Rolle mehr spielen sollten, empfand es der Verfasser der Vita Bertilae möglicherweise als problematisch, daß die Klostergründerio von Chelles und ehemalige Königin in jungen Jahren Sklavin und damit niedrigerer Herkunft
als ihre Äbtissin war. Hier r spricht auch, daß der Autor auf den würdigen, einer Königin zustehenden Empfang hinweist, den man Balthild bereitete, als sie sich dem Gebot Bertilas unterwarf.60
4. Das Volk als Mittler der Heiligenerzählung?
Daß der Ruhm Bertilas auch mündlich weitergetragen werden sollte, klingt bereits im ersten Satz der Vita an.61 Einen Hinweis darauf, daß Bertilas Geschichte tatsächlich weitererzählt wurde, und dieses sogar schon zu ihren Lebzeiten, gibt der Autor an einer anderen Stelle. Durch viele Erzählungen der Gläubigen sei die Kunde über Bertila zu Balthild gelangt, was schließlich dazu hrte, daß die Regentin die Nonne aus Jouane zur ersten Äbtissin ihres neu geg ndeten Klosters Chelles emannte.62 Die G l äubigen, die solche
“ Vgl. z. B. The life of Bishop Wilfrid by Eddius Stephanus, hg. und übersetzt von Bertram COLGRAVE, Cambridge 1927, S. 14, wo ein ausgesprochen negatives Bild Balthilds gezeichnet wird.
“ Vita Sanctae Balthildis (wie Anm. 17) S. 483, 2.
“ Vgl. hierzu z.B. LAPORTE (wie Anm. 25) S. 148 und S. 169.
60 Vita Be ilae (wie Anm. 4) S. 107, 7: Cum magna igitur veneratione, sicut dignum erat et meritum, ab ea ve/ omni congregatione puel/arum suscepta.
“ Ebd. S. 101, I .
., Ebd. S. I 04, 4: Cuinque de multsi multa audiret, istius sanctae puel/ae Bertilaefelici
52

Kunde über Bertila verbreiteten, könnten auch Menschen aus dem Volk gewesen sein, zu Lebzeiten der Nonne hat sich ihr vorbildlicher Lebenswandel jedoch wohl in erster Linie Angehörigen des Klosters offenbart, so daß diese auch ihr Lob aus dem Kloster heraustrugen. Die Gläubigen, die Bertilas Ruhm verbreiteten, stammten also zunächst hauptsächlich aus dem Kreis der Kleriker und Klosterangehörigen. Wenn solche Be chte über die Nonne dann zu der Königin Balthild gelangten, so d en es ebenfalls kaum Menschen aus dem Volk gewesen sein, die direkten Kontakt zur Regentin hatten, sandem eher hohe Geistliche wie Genesius, der im weiteren Verlauf des Textes dann auch als Bertilas Fürsprecher genannt wird.63 Wieweit die Geschichte Bertilas zumindest teilweise auch durch Angehörige des Volkes weitergetragen wurde, läßt sich also nicht endgültig klären. Allenfalls könnte man vennuten, daß der Verfasser auf die breite Bewunderung für Bet1ila auch außerhalb der Klerikerkreise hinweisen wollte, indem er sehr allgemein von den Erzählungen der „Gläubigen“ über die Nonne spricht. Das ist besonders dann anzunehmen, wenn, wie oben vennutet, eine Propagierung des Kults auch außerhalb des Klosters im Volk intendie war.
Erst recht entzieht es sich unserer Kenntnis, ob einzelne Berichte unmittelbar im Volk entstanden sind, obwohl von der Nahmer an einer solchen Möglichkeit keinen Zweifel hegt: „Denn es ist doch wohl undenkbar, daß Menschen, die mit Gebrechen eine Stätte der Heiligenverehrung besucht hatten und nun geheilt oder auch nicht geheilt zurückkehrten, nicht erzählt haben von dem, was sie gehöt1 und erfahren hatten. “
5. Wunder als Hinweis auf Volksreligiosität?
Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß Erzählungen über das Wirken der
Heiligen Be ila im Volk umliefen, und der Autor der Vita äuße sich gerade in bezug auf die Wunde ätigkeit in diesem Sinne: … in sepulchro, in quo loco gratia Domini ad salutem generis hunzani plura per cere dignatur miracula. lbi et orationes delium poscentibus eius intercessionem cotidie exaudiuntur. et egrotantium in rmitates variae curantur.6j Nun muß man Wunder, die laut Auskun hagiographischer Texte von den Heiligen zu
fama percurrente, pe enil per relationem delium notilia usque ad aures regales domnae Baltechi/dis gloriosae.
“ Vita Bertilae (wie Anm. 4) S. 105, 4.
“ VON DER NAHMER. S. l 76
“ Vita Bertilae (wie Anm. 4) S. 109, 8.
53

Lebzeiten oder an ihren Gräbe vollbracht wurden, sehr di fferenziert betrachten. Beim Vergleich einer großen Anzahl von Viten lassen sich allerdings auch hier Gemeinsamkeiten erkennen. Graus trennt die Wunder zunächst in zwei Gruppen: „1. in die nachgeahmten biblischen Wunder; 2. in Wunder, die auf außerbiblische Berichte und Topoi zurückgehen. Das biblische Wunder beherrscht in breitestem Ausmaß die christliche Legende, an ihrer Spitze die verschiedenen Heilungswunder der Bibel, denn die Heilung von Kranken war ja in den Evangelien ausd cklich verheißen worden.“66
Die Heilung von Krankheiten war also ein durchaus geistliches Motiv, wobei hier aber zumindest eine wechselseitige Beein ussung zwischen of zieller christlicher Lehre und Vorstellungen, die nicht ausschließlich im Christentum beheimatet waren, anzunehmen ist. Krankheiten gelten in vielen Kulturkreisen als Strafe. Daher suchte man sie mittels magischer Krä e zu heilen: „Aus der Antike waren zahlreiche Zauberpraktiken und magische Sprüche bekannt, mit denen man Krankheiten bannen konnte, und Heilungszauber war natürlich auch den Gennanen vertraut. Darum wetterten auch Bußbücher, Synoden und kirchliche Schri steller gegen die heidnischen Konkurrenten der Heiligen, die sogar manchmal mit Satans Hilfe Erfolg haben konnten. Allzu großen Erfolg hatten aber diese Mahnungen nicht, und selbst die daue de Wiederholung von Verboten heidnischer Zaubersprüche nutzte wenig, wie das Weiterleben dieser Sprüche bis in die Neuzeit hinein beweist.“67 Wenn Bertilas Hagiograph also die Heilkra herausstreicht, die vom Grab der Heiligen ausging, so mag dahinter auch die Absicht gestanden haben, den Glauben an nichtchristliche Heilungswunder durch Heilige zu verdrängen.“ Ex negativo könnte man sogar vennuten, daß es das Vertrauen auf die H e ilkra von als heidnisch angeprangerter Magie im Umfeld von Chelles möglicherweise noch gab.69
Wenn man von der Nahmers Annahme hinzunimmt, daß Menschen aus dem Volk, die wirklich mit der Ho ung auf Heilung eines Gebrechens zum Grab Bertilas oder eines anderen Heiligen pilgerten, im nachhinein sicher über i Erfahrungen berichteten, so könnte hier von einer Interaktion zwischen Volk und geistlicher Elite bei der Entstehung des Heiligenkults
G US, Volk (wie Anm. 2) S. 79.
“ Ebd. S. 81.
“ Von der Absicht hagiographischer Texte, durch extensive Wunderberichte der christlichen Kultorte die traditionelle weltliche, medizinisch-praktische Alltagsmagie zu ersetzen, spricht auch.P NZ, Der Heilige (wie Anm. 14) S. 256.
.. Vgl. dazu auch Anm. I I .
54
gesprochen werden: Berichte von Heilungen, die im Volk kursierten, wurden vom Hagiographen aufgenommen und verschri licht Diese Lebens­ beschreibung mit dem Bericht über H e ilungswunder konnte z. B. über Predigten wieder ins Volk gelangen und von ihm weitergetragen werden.
Während der Bericht über die Heilungen am Grab der Bertila in der Vita noch sehr knapp und stereotyp gehalten ist, wird ein weiteres, schon zu Lebzeiten durch die Heilige gewirktes Wunder ausfuhrlieber geschildert.70 Hierbei geht es um eine Totenerweckung, die Bertila an einer ihrer Schweste vollbracht haben soll. Bertila hatte mit dieser Nonne Streit gehabt, und nach deren plötzlichem Tod ängstigte sie sich, daß es nun nicht mehr zur Vergebung dieser Zwistigkeit kommen konnte. Als Be ila der Toten die rechte Hand auf die Brust gelegt und ihre Seele durch Jesus Christus beschworen habe, noch nicht zu entschwinden, sei das Leben in den Körper zurückgekeh . Die sterbende Nonne habe Bertila wegen des Streits vergeben und dann ihren endgültigen Frieden ge nden. Der Autor sieht dadurch das Bibelzitat bewiesen, daß denjenigen, die glaubten, alles möglich
Auch bei diesem Wunder ist eine gewisse Doppeldeutigkeit zu erkennen, da die Totenerweckung sowohl biblische Vorbilder als auch ihren Platz im Aberglauben hat. In vielen Kulturen gibt es das Element der Totenbefragung,72 also die Vorstellung, daß man mit einem Toten – meist an dessen Grab – reden könne, und das damit zusanunenhängende Element der Totenbeschwörung,73 wobei Tote durch Zauber herbeigeholt werden, um die
Zukun zu verraten oder Hilfe zu gewähren. Die Totenerweckung ist dann nichts anderes als eine Totenbeschwörung, die jedoch davon ausgeht, daß der Tote schlafe.7′ Doch das Motiv der Totene eckung ist auch mehrfach in der Bibel zu nden.75 Laut Graus waren solche Wunder in der Hagiographie besonders beliebt, weil nach alter und verbreiteter Ansicht der Antichrist zwar viel zu vollbringen vermochte, Tote jedoch nicht zum Leben erwecken
70 Vita Berti1ae (wie Anm. 4) S. 103f., 3.
“ Ebd. S. 104: Omnia possibilia sunl credenti. Vgl. dazu das Markus-Evange1ium, Kap. 9,22 , und das Matthäus-Evange1ium, Kap. 17,19ff.
72 Vgl. Paul GEIGER, Totenbefragung, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. v. Hanns Bächto1d-Stäubli, Bd. 8, Berlin ew York 1987, Sp. I 053f.
“ Ygl. ebd., Sp. 1 054f.
7‘ Ygl. Paul GEIGER, Totenerweckung, in: ebd., Sp. 1059, der diverse Beispiele r das Motiv der Totenerweckung nennt.
“ Ygl. z. B. die Erweckung des Lazarus, Johannes-Evangelium, Kap. 11, oder die E eckung eines jungen Mädchens, Markus-Evange1ium, Kap. 5,39ff und Matthäus­ Evangelium, Kap. 9,18ff.
55
•1 se1.7
konnte, da ihm keine Macht über die Seelen zugesprochen wurde. Die Hagiographen hätten sich dabei meist eng ihre kanonischen Vorbilder gehalten . 76
Auch hier scheint die Verflechtung von Volksglauben und kirchlicher Lehre entscheidend zu sein, wobei man den Ursprung des Motivs wiederum nicht ergründen kann. Wichtig ist jedoch, daß die Hagiographen im Volk vermutlich auf uchtbaren Boden stießen, wenn sie die besonderen Fähigkeiten eines Heiligen durch ein solches Wunder illustrierten. Schließlich wird die Bevölkerung, die das Motiv der Erweckung von Toten aus Märchen und Sagen kannte, es nicht r unmöglich gehalten haben, daß eine von Gott auserwählte Nonne über ähnliche Fähigkeiten ver gte. So konnte es zu Verschmelzungen der kanonischen Lehre mit im Volk bereits vorhandenen
Motiven konunen, was zur Veranschaulichung der christlichen Lehre und zur Propagierung eines speziellen Heiligenkultes, wie desjenigen der heiligen Bertila, beitrug.
6. Zusammenfassung
Die Vita Bertilae Abbatissae Calensis muß als ein Produkt der geistlichen Elite bezeichnet werden. Sie ist vermutlich von einer oder einem Geistlichen im Kloster Chelles verfaßt worden, und ihre Protagonistin hat ein ausgesprochen „volksfremdes“ Leben ge hrt, indem sie zunächst in einem vo ehmen Hause aufwuchs und den größten Teil ihres Lebens in der abgeschiedenen Welt zweier Klöster verbrachte. Dennoch konnte gezeigt werden, daß solche Quellen der geistlichen Elite durchaus Aussagen über die Abgrenzungen enthalten, die ihre Verfasser z . B . gegenüber dem Volk vo ahmen. Interessant die Wah ehmung einer hierarchisch gestuften Gesellscha sordnung seitens des Autors der Vita Bertilae wäre es, in einem weiteren Schritt das in diesem Text positiv gezeichnete Bild der Königin Balthild, die tatsächlich nicht ganz unumst tten war, näher zu beleuchten.77 Wichtig ist hierbei die Art und Weise, wie der Verfasser das Problem löst, daß Balthild sich im Kloster der Äbtissin Bertila unterwir , ohne gegen die
“ GRAUS, Volk (wie Anm. 2) S. 84f.
“ Vgl. auch Susanne WITTERN, Frauen zwischen asketischem Ideal und weltlichem Leben . Zur Darstellung des christlichen Handeins der merowingischen Königinnen Radegunde und Balthilde i n hagiograph ischen Lebensbeschreibungen des 6 . und 7. Jahrhunderts, in: Frauen in der Geschichte. VII. Interdisziplinäre Studien zur Geschichte der Frauen im Frühmittelalter. Methoden – Probleme – Ergebnisse, hg. v. Wemer Affeldt und Annette Kuhn, Düsseldorf I986, S. 272-294.
56
weltliche Rangordnung zu verstoßen: Das Verhältnis der beiden Frauen wird vermutlich auch aus diesem Grund als besonders freundscha lich beschrieben. Indem sie sich laut Auskun des Verfassers viel berieten, erscheinen alle Entscheidungen so, als wären sie zwar von Bertila gefallt, aber von Balthild, die immerhin die Gründeein des Klosters war, doch zumindest sanktioniert worden.n
Ein weiter hrender Vergleich einer größeren Anzahl von Viten, insbesondere derselben Region und Epoche, im Hinblick auf beiläu g eingeflochtene Au eilungen der Gesellscha , wie sie der Verfasser der Vita Bertilae im Zusanunenhang mit der Regentscha Balthilds vo immt,79 könnte auch hinsichtlich der gewählten Begrifflichkeilen und der Wah ehmungen individueller Gegebenheiten seitens der Verfasser aufschlußreich sein.
Die Frage, inwiefe Heiligenerzählungen auch im Volk lebten bzw. von volkstümlichen Motiven gespeist wurden, ist zumindest anhand der hier untersuchten Quelle nur schwer zu beantworten, da religiöse Vorstellungen der niederen Schichten in ihr nicht explizit zum Ausdruck kommen. Ausgehend von der Annahme, daß die Vita Bertilae auch zur Kultpropaganda außerhalb der Klostennaue diente, scheint es hinsichtlich der Wunderberichte jedoch zumindest möglich, eine gegenseitige Beeinflussung zwischen der offiziellen kirchlichen Lehre und dem „Volksglauben“ zu vermuten. Die Menschen fanden in Viten wie dieser Bilder und Motive, die sie z.T. bereits aus ihnen vertrauten Zusammenhängen kannten, und die Heiligen konnten zu Mittle zwischen ihnen und der abstrakten christlichen Gottheit werden. Man gewinnt den Eindruck, daß volkstümliche und christliche Elemente, etwa des Wunderglaubens, hier bereits in einer kawn mehr trennbaren Einheit verschmolzen sind.
Dennoch muß festgehalten werden, daß die Vita Bertilae in weiten Textpassagen eher „volks emd“ wirkt. Das Volk tritt – wenn überhaupt – nur beiläu g in Erscheinung. Den größten Teil des Textes nehmen wiederholte Beschreibungen der außergewöhnlich frommen und asketischen Lebensweise der Heiligen ein. Für diese Passagen der E ählung sind wohl in erster Linie Nonnen und Mönchen als Adressaten anzunehmen, denen die benediktinisch­ columbanische Klosterregel nahegebracht werden sollte. Dementsprechend hält Graus solche Exemplum-Motive allgemein r literarische Topoi: „Schon
“ PRINZ, Frühes Mönchtum (wie Anm. I ) S. 175, ve1mutet. daß Balthild in Chelles die Stellung einer „Laienäbtissin“ einnahm.
79 Vita Bertilae (wie Anm. 4) S. 104, 4.
Zur Mittlerfunktion vgl. u.a. Heinrich FICHTENAU (wie Anm. I S) S. 436.
57
bei den heiligen Asketen ist jedoch das Exemplwn mehr literarisch gedacht als echt emp nden, denn die Verfasser der Asketen-Vitae sind sich der Besonderheit ihrer Helden wohl bewußt, betonen sie sogar konsequent und sind von der pra ischen Unmöglichkeit überzeugt, daß alle Christen Asketen sein können. Der heilige Mönch kann höchstens Mönchen als Vorbild dienen. . . „. &I Auch hinter der insistierenden Beschreibung von Bertilas Askese könnte man also eine Abgrenzung der Geistlichkeit vom Volk vennuten.
Auch wenn der Nachweis volkstümlicher Elemente im einzelnen schwierig ist, so zeigen die Interaktionen bei der Legendenbildung, das Gesellscha sbild des Autors sowie seine Selbsteinschätzung jedoch zumindest, daß hier Unterschiede gemacht und gesehen wurden, die, trotz aller Überschneidungen, Di erenzen zwischen den Kulturebenen bzw. die Heterogenität des Volkes und der (geistlichen) Eliten wahrscheinlich machen.
“ G US, Volk (wie.Anm. 2) S. 447.
58
VOLKSKULTUR UND ELITEKULTUR IM FRÜHEN MITTELALTER:
DAS BEISPIEL DER HEILIGENVITEN
MEDIUM AEVUM QUOTIDIANUM
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ
36
GASTHERAUSGEBER DIESES HEFTES:
HANS-WERNER GOETZ UND FRIEDERIKE SAUERWEIN

VOLKSKULTUR UND ELITEKULTUR
..
IM FRUHEN MITTELALTER:
DAS BEISPIEL DER HEILIGENVITEN
Krems 1997
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG
DER KARL H. DITZE-STIFTUNG (HAMBURG)
UND DER KULTURABTEI LUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
T itelgraphik: Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Er·forschung der mate­ riellen Kultur des Mittelalters. Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich. – Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdt-ückliche Zustim­ mung jeglicher Nachd�uck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort………………………………………………………………………………………….. 7 Hans-We er Goetz: Volkskultur d Elitekultur hen Mittelalter:
EineForsch gsaufgabe dihreProblematik………………………………….. 9
Imke Lange: ‚Teste Deo, me nihil audisse modo saeculare de cantico.‘ „Volk“ und „Elite“ als kulturelle Systeme in
„De vita s. RadegWldis libri duo“………………………………………………….20
Nicole Suhl: Die „Vita Bertilae Abbatissae Calensis“ –
eine Quelle r mögliche Unterschiede in der Religiosität
von „Volk“ Wld „Elite“ im frühen Mittelalter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 39 Ulla Pille: Die Pilgerreise des Heiligen Willibald –
Ansätze eine Unterscheidung von Volks- und Elitekultur? … . .. .. …..59
Britta Graening: Vulgus et qui minus intel!egunt:
Die Vita Sualonis Ennanrichs von Ellwangen
als Zeugnis onastischen Elitedenkens? .. . .. . . . . …. . . …… … . …. . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Karsten Uhl: „Der Pöbel, der nicht in gebildeten Wendungen
zu sprechen versteht.“ Unterschiede zwischen der Kultur
des Volkes und der Kultur der Eliten in den Viten derHeiligenWiborada…………………………………………………………….. 103
Schlußbetrachtung……. …………………………………………………………………… ……. 119
Vorwort
Die Frage nach einer Volkskultur im fiühen Mittelalter liegt in der Konsequenz der Volkskulturforschung der letzten beiden Jahrzehnte, sie ist aber noch selten gestellt und alles andere als erschöpfend oder gar abschließend behandelt worden, ja tatsächlich ist die Sinnha igkeit einer solchen Frage erst zu überpriifen, sind zumindest auf das Frühmittelalter zugeschnittene, methodische Wege nden. Diesem Ziel diente ein im Sommersemester 1995 an der Universität Hrunburg durchgefühttes Hauptseminar, das im Sommersemester 1996 in einem Oberseminar weiterge wurde. Mögen Publikationen studen­ tischer Arbeiten auch auf sicherlich nicht immer unberechtigte Skepsis stoßen, so haben die hier abgedruckten, im Rahmen des Oberseminars noch ei al von allen Teilnehmerinnen und Teilnehme kritisch diskutierten Beiträge wohl nicht nur das r eine Verö entlichung erforderliche Niveau erreicht, sie betreten da ber hinaus Neuland, indem sie methodische Wege erschließen helfen und an ausgewählten Beispielen, die sich sämtlich auf die sich in Heiligenviten wider­ spiegelnden religiösen Vorstellungen konzentrieren, abtesten. Damit bieten sie einen fiuchtbaren exemplarischen Zugang zu wichtigen Aspekten der ttel­ alterlichen Volkskultur und Elitekultur. Dank gemeinsamer Fragestellungen und Diskussionen weisen die jeweils einzelnen Viten gewidmeten Beiträge zudem eine hinreichende methodische und thematische Geschlossenheit auf.
Herausgeber, Autoritmen und Autoren haben der Gesellscha „Medium Aevum Quotidianum“ und dem Herausgeber ilu-er gleichnamigen Zeitschri , Gerhard Jaritz, sehr da ir zu danken, daß sie dieses He einen solchen Ver­ such zur Verfugung gestellt haben. Das Thema selbst geht auf eine Anregung des ehemaligen Direktors des Instituts Realienkunde, Ha Kühne!, zurück, der das Konzept die erste, geplante Somme kademie des Mediävisten­ verbandes unter dem Titel „Die ambivalente Kultur des Mittelalters“ entworfen und den Herausgeber mit der Leitung einer Sektion Thema „Volkskultur und Elitekultur im Mittelalter“ betraut hatte. Daß das Vorhaben sich zunächst nicht wie geplant realisieren ließ, resultiette aus organisat01ischen und nanziellen Problemen, die durch den unerwarteten Tod Hany Kü els, der das
7
Projekt mit Energie und Engagement betrieben hatte, vollends verschär worden wären. Seinem Gedenken soll dieses He daher gewidmet sein.
Hans-Wemer Goetz (Hamburg)
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