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Dynastische Machtbegriffe in den ostmitteleuropäischen Chroniken des Mittelalters

Dynastische Machtbegriffe in den ostmitteleuropäischen
Chroniken des Mittelalters
Rys::ard Grzesik
Die mittelalterliche Herrschennacht entstand als Ergebnis eines Staatsbildtmgsprozesses,
der im frühen Mittelalter in verschiedenen Teilen Europas stattfand ‚·
Die Herrscher der stärksten Stämme breiteten ihre Macht auf tmtergeordnete
Gebiete aus. Dieser Prozeß wurde von Gerard Labuda als innere Eroberung
bezeiclmeP. Daneben schuf dieser Prozeß einen überstanunischen Verwalttmgsapparat,
der von einem Herrscher abhänt.rig war] Bereits in der Stammeszeit tritt
t Von der zahlreichen polnischen Literatur s. z.B. G. Labuda, Organizacje paristwowe Slowian
zachodnich w okresie ksztaltowania sit; paristwa polskiego (od VI do polowy X wieku) [Die
westslawischen Staatsorganisationen in der Zeit der Gestaltung des polnischen Staates]. In:
Poclljtki panstwa polskiego. Ksi.,:ga Tysi:jclecia, hg. K. Tymieniecki u. a., Poznan 1962, Bd.
1, 44-47; ders., Polska piastowska X wieku w systemie paristw i narod6w europejskich
wczesnego sredniowiecza (Das piastische Polen des I 0. Jahrhunderts im frühmittelalterlichen
Staats- und Nationensystem]. In: Polska Mieszka I. W tysi:jclecie smierci tw6rcy paristwa i
Kosciola polskiego 25 V 992 – 25 V 1992, hg. J. M. Piskorski, Poznari 1993, 17-28; M.
Sczaniecki, Powszechna historia panstwa i prawa (Allgemeine Staats- und Rechtsgeschichte],
5. Aufl., Warszawa 1985, 71-72.
2 G. Labuda, Organizacje 45: podb6j wewntytrzny.
3 J. Bardach, B. Le!lnodorski, M. Pietrzak, Historia paristwa i prawa polskiego [Geschichte des
polnischen Staates und Rechtes], 4. Aufl., Warszawa 1985, 25; Kultura Polski sredniowiecznej
X-Xlll w. [Die Kultur des mittelalterlichen Polen im 10.-13. Jahrhundert], hg. J.
Dowiat, Warszawa 1985, 139 ff. (T. Lalik); K. Modzelewski, Chlopi w monarchii
wczesnopiastowskiej [Die Bauern in der frühpiastischen Monarchie], Wroclaw-WarszawaKrak6w
!987, 128 tf; T. Wasilewski, Poland’s Administrative Structure in Early Piast Times.
Castra Ruled by Comites as Centres of Provinces and Territorial Administration. In: Acta
Poloniae Historica 44, 1981, 5-31; A Bogucki, 0 strukturze administracyjnej Polski XI i XII
wieku [Über die Verwaltungsstruktur Polens im II. und 12. Jahrhundert]. Tn: Czasopismo
Prawno-Historyczne 44, 1992, Hf 1-2, 1-24.
17
jedoch ein Problem der Machtsukzession auf. Sie war streng mit dem allgemeinen
Begriff der Macht verbunden. Zahlreiche Quellen, die die germanischen Stätnme
betreffen berichten uns daß die Macht sakraJen Charakter hatte4• Nur eine
sakrale, ’numinoses Kraft ermöglichte eine erfolgreiche Machtausübung. Ein
Herzog oder König war keine einfache Person wie andere Mitglieder des
Stanunes. Nach seiner Wahl zur Rangstufe wurde er ein Vermittler zwischen der
Erde und dem Himmel, zwischen der Welt der Menschen und der der Götter. Nur
dank Sakralisierung konnte er ein Garant des Wohlstandes fur seine Untertanen
sein. Jacek Banaszk.iewicz betonte, daß die Rolle eines Herrschers in drei
Kategorien interpretiert werden kann, die, nach George Durnezil, typisch fur die
indogermanische Denkweise waren6. Diese Kategorien entsprechen drei
gesellschaftlichen Funktionen, die die uralte Berufsgliederung widerspiegelten.
Der Herrscher verband in seiner Person alle diese Kategorien. Als homo sacer
naJun er an einem Götterkult teil, oder, in der christianisierten Version, genoß er
die Obhut Gottes. Er stand auf derselben Stufe wie die Bischöfe, was auch die
liturgischen Texte der Königssalbtmg betonten7. Zu dieser Funktion gehörte auch,
4 F. Graus, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merovinger. Studien zur Hagiographie
der Merovingerzeit, Prag 1965; B. Zientara, Swit narod6w europejslcich [Der Beginn der
europäischen Nationen], Warszawa 1985, 96-97; B. Lapis, Rex utilis. I wladc6w gerrnariskich we wczesnym sredniowieczu (od polowy V do pocZljtku VIII wieku)
[Rex utilis. Kriterien der Bewertung der germanischen Herrscher im Frühmittelalter (von der
Mitte des 5. bis zum Anfang des 8. Jahrhunderts)], Poznari 1986, 126-128; Aaron J.
Gu􀃕ewitsch, Stumme Zeugen des Mittelalters. Weltbild und Kultur der einfachen Menschen.
Weimar-Köln-Wien 1997, 81 ff. (Analyse der skandinavischen Sagen); T.H. Orlowski,
PocZljtki rytu sakry kr61ewskiej w Europie. Na marginesie dw6ch publikacji [Die Anfange des
Königssalbungsritus. Anmerkungen zu den letzten zwei Veröffentlichungen]. In: Studia
Zr6dloznawcze 34, 1993, bes. 78-79; Z. Dalewslci, Ceremonia inauguracji wladcy w Polsee
Xl-Xlll wieku [Die Herrscherinaugurationszeremonie im Polen des 11. bis 13. Jahrhunderts).
In: Imagines potestatis. Rytualy, symbole i konteksty fabulame wladzy zwierzchniej. Polska XXV
w. (z przyldadem czeskim i ruskim), hg. J. Banaszkiewicz, Warszawa 1994, 12-13.
s Man kann hier eine Parallele zu dem Begriff der Heiligkeit beobachten Der Heilige als
numinosum wird schon von oben zur Heiligkeit prädestiniert. Vgl. R. Otto, Das Heilige. Über
das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917.
6 J. Banaszkiewicz, Podanie o Pia5cie i Popielu. Studium por6wnawcze nad wczesnosredniowiecznymi
tradycjami dynastycznyrni [Eine Legende über Piast und Popiel.
Vergleichende Untersuchung über fiühmittelalterliche dynastische Traditionen], Warszawa
1986, 19-23.
1 B. Kürbis, Polsk.ie Laudes regiae w Kronice Anonima Galla [Polnische Laudes regiae in der
Chronik des Gallus Anonymus]. In: Cultus et cognitio. Studia z dziej6w sredniowiecznej
kultury, hg. S. K. Kuczyrisk.i, Warszawa 1976, 300-302; D. TfeStik, Kosmova Kronika. Studie
k poeatküm ceskeho dejepisectvi a politickeho my8leni [Die Chronik des Kosmas. Studien über
die Anfange der böhmischen Geschichtsschreibung und des politischen Denkens], Praha 1968,
48. Besonders sichtbar ist die Sakri.tizierung der Herrscherpersönlichkeit in der ungarischen
18
nach Dumezil, die Rechtssetzung. Die zweite Funktion ist mit der Militärtätigkeit
zu verbinden. Der Herrscher erscheint hier als der Schützer der Bevölkenmg vor
Feinden, aber auch als der glückliche Heerführer auf fremden Gebieten. Jene
Funktion enthält das deutsche Wort ‚Herzog‘, oder polnisch ‚wojewoda‘, obwohl
in Polen (und in anderen slawischen Sprachen) dieses Wort später das höchste
mittelalterliche Amt bezeichnete8. Im damaligen Modell der Wirtschaft
bedeuteten Raubfeldzüge einen großen, obwohl nicht den einzigen Anteil am
städtischen Zufluß von Konsumgütem9• Wir gehen somit zur dritten Funktion
über: zur Funktion der Gütererwerbung. Laut Jacek Banaszkiewicz war sie die
wichtigste Rolle des Herrschers, deshalb waren Reichtum und Gastfreundschaft
des Herrschers streng miteinander verbunden. Der gute Herzog oder König
kümmerte sich irruner um den Wohlstand der Untertanen, er organisierte für sie
reiche Gastmahle, bewirtete freigiebig Gäste, Witwen und WaisenJO
Tradition, wo zwei heilige Könige und eine Mehrheit von heiligen Herzögen und Prinzessinnen
vorhanden sind. Darüber s. R. Folz, Les saints rois du Moyen Age en Occident (Vle-XIHe
siecles), Bruxelles 1984, 76-84, 101-107. G. Klaniczay bemerkte, daß in Ostmitteleuropa ein
peripheres Modell der Machtsakrifizierung herrschte, nach dem die Herrscherheiligsprechung
den politischen Zielen der Staats- und Dynastiestärkung diente. Im 13. Jahrhundert sakrifizierten
sogar die heiligen Herrscher die ganze Dynastie. G. Klaniczay, The Uses of
Supernatural Power, New Jersey 1990, 87-90; ders., Königliche und dynastische Heiligkeit in
Ungarn. In: Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter, hg. J. Petersohn, Sigmaringen
1994, 343-361 . Die Entwicklung der Doktrin der Königssakrifizierung besprach G. L. Seidler,
Przedmarksowska mysl polityczna [Vormarxistisches politisches Denken), 3. Aufl., Krak6w
1985, 249 ff.
s D. Ti’eStik, op. cit., 160-16 1 . Der hl. Wenzel, Schutzpatron von Böhmen, wird in einem
Hymnus als wivoda bezeichnet: Apostrophe Svaty Vaclave, vevodo eeske zeme [der hl. Wenzel,
Herzog des böhmischen Landes]; Text bei Z. Ticha, Cesta stacii ceske literatury [Der Weg der
älteren böhmischen Literatur], Praha 1984, 34. Der comes palatinus war ein Vertreter des
Herrschers, besonders hinsichtlich des Oberbefehls. Über die semantische Bedeutung der
lateinischen Terminologie vgl. K. Modzelewski, Comites, principes, nobiles. Struktura klasy
panujljcej w swietle terrninologii Anonima Galla. In: Cultus et cognitio 403 ff. und englische,
ausfuhrliebere Fassung: Comites, Principes, Nobiles. The Structure of the Ruling Class as
Reflected in the Terminology Used by Gallus Anonymus. In: The Polish Nobility in the Middle
Ages. Anthologies, hg. A. Gljsiorowski, Wroclaw-Warszawa-Krak6w 1984, 177 ff.; sowie
die in Anmerkung 3 zitierten Werke von T. Wasilewski und A. Bogucki. Man muß an dieser
Stelle bemerken, daß dem lateinischen Terminus comes das slawische Wort zupan, pan
entsprach.
9 H. Lüwmiar\ski, Zagadnienia gospodarcze wczesnofeudalnego par\stwa polskiego
(Wirtschaftsprobleme des fiiihfeudalen polnischen Staates]. In: PocZljtki panstwa polskiego,
Bd. 2, Poznan 1962, 19.
1o In verschiedenen Quellen treffen wir topische Darstellungen der Gastfreundschaft eines
Herrschers. In Ungarn dienten sie zur Bildung des hagiographischen Bildes, wie Geysas
Charakteristik in den Legenden des hl. Stefan; Geysa war misericors autem et libera/is in
alienos … : Legenda sancti Stephani regis maior et minor, atque Legenda ab Hartvico episcopo
19
Wenn der Herrscher so ungewölmliche Vorrechte tmd Funktionen haben
mußte, stellte sich die Frage, von welchen Kreisen er gewählt werden konnte und
wer das Recht hatte, ihm nachzufolgen. Zuerst, in der Stammeszeit, wurde der
Herrscher vom Kreis der besonders verdienten Stammesmitglieder auf einer
allgemeinen Tagsatzung gewählt11. Im Laufe der Zeit jedoch begrenzte sich die
Zahl der Wählbaren wie auch der Wählenden. Jeder Herrscher, der Kinder oder
nahe Familie hatte, wollte seinen Nachfolger im engen Familienkreis suchen. So
sind die Dynastien entstanden, die schnell das Herrschaftsrecht in ihren Händen
vereinigten12. Die Dynastie war also, „unter dem genealogischen Gesichtsspunkt,
ein Kreis der Verwandten der herrschenden Familie, hauptsächlich
väterlicherseits; tmter dem rechtlichen Gesichtspunkt, eine öffentlich-rechtliche
Institution, die ausschließlich Subjektrecht hatte, die höchste Macht im Lande
auszuüben“n Eine einfache Konsequenz dessen war die Patrimonisierung des
Staates, der als privater Besitz der Dynastie bezeichnet wurde14• Dallin war es nur
ein Schritt, den Staat mit der Dynastie zu identifizierenu
Eine solche neue Institution wie Dynastie brauchte jedoch eine
ideologische Begründtmg. Dazu diente u. a. die Geschichtsschreibung, die an den
Höfen verfaßt wurde. Die damalige Pragmatik identifizierte die Staatsgeschichte
conscripta, hg. E. Bartoniek. In: Scriptores rerum Hungaricarum (in der Folge SRH), Bd. 2,
Budapest 1938, 379, V. 2 (Legenda maior), 403, V. 6-7 (Legende von Hartwik). Die
Gastfreundschaft von Boleslaw Chrobry (dem Tapferen) während der Gnesener Tagung wird
von Gallus Anonymus betont.
11 G. Labuda, Organizacje, bes. 45; J. Bardach, Historia paßstwa i prawa Polski [Geschichte
des polnischen Staates und Rechtes], 2. Aufl., Bd. I, Warszawa 1964, 72-73; G. L. Seidler,
Przedmarksowska 245; M. Sczaniecki, Powszechna historia 91.
12 Was natürlich mit der Rolle des damaligen Geschlechts verbunden war. G. Labuda, Kroniki
genealogiczne jako zr6dla do dziej6w rozbicia i zjednoczenia monarchii w Polsee
sredniowiecznej [Genealogische Chroniken als Quelle zur Geschichte der Monarchiezersplitterung
und -vereinigung im mittelalterlichen Polen]. In: Studia Zr6dloznawcze 22,
1977, 41; Kultura Polski sredniowiecznej 124; B. Lapis, Rex utilis 18. M. Sczaniecki, op.
cit., 134-135 beschrieb die Entstehung der dynastischen Macht und des Primogeniturprinzips
im fränkischen Staat.
13 H. Lowrniaßski, Dynastia Piast6w [Die Piasten-Dynastie]. In: PocZljtki paßstwa polskiego
144.
14 J. Bardach, op.cit., 122-123; M. Sczaniecki, op.cit., 91-92; J. Bardach, B. Le5nodorski, M.
Pietrzak, op. cit., 26-27. Die Patrimonisierung des Staates bedeutet, daß das öffentliche Recht
untrennbar vom privaten Recht des Herrscherhauses blieb, weshalb Staatsgliederungen nach
dem Tode des Herrschers möglich waren. Die gesamte Geschichte Polens von der Mitte des
10. Jahrhunderts bis zum Testament von Boleslaw Ill. Schiefmund (Krzywousty) war geprägt
vom Kampfzwischen zwei Tendenzen: Integration und Desintegration.
15 B. Zientara, Swit 152-162.
20
mit der Geschichte der Dynastie. Die Verfasser konzentrierten sich auf die
Beschreibung der Taten der Herrscher. Berülunte Anfange der Dynastie verliehen
dem ganzen Staat Pracht16_ In den Texten können wir auch einige Sätze finden,
die die Herrschaft der gesamten Dynastie beweisen.
Alles, was oben beschrieben wurde, ist einem westeuropäischen Leser sehr
gut bekannt. Er kann jedoch die Frage stellen, wie das Problem des dynastischen
Machtbegriff es im dritten großen Teil des mittelalterlichen Westeuropa aussah: in
Ostmitteleuropa, das wir auch als Europa Slavica bezeichnen könnenl7_ Es
umfaßte die Gebiete der späteren slawischen Staaten Böhmen, Polen sowie
Ungarn (das von den ugrofinnischen Ungarn gegründet, aber in bedeutenden
Teilen von slawischer Bevölkerung bewohnt wurde18), und das südslawische
Kroatien und den dukljanischen Staat (dalmatinisches Serbien). Ich analysiere
hier nicht jene slawischen Gebiete, die sich im Einflußgebiet des östlichen
Christentums befanden, das heißt Bulgarien, Raska (kontinentales Serbien) und
Rus’19. Die Zeugnisse der byzantinischen und dann auch der karolingischen
16 B. Kürbis, Wi􀂁i najstarszego dziejopisarstwa polskiego z paristwem [Die Verbindung der
ältesten polnischen Geschichtsschreibung mit dem Staat]. In: PocZSin, Zagreh 1 950, Kap. 39. Die wahrscheinlich um die Mitte des 14. Jahrhunderts
geschriebene sogenannte Slawische Interpolation der aus dem Ende des 1 3. Jahrhunderts
stanunenden Großpolnischen Chronik bringt uns die Erklärung der Worte ksi!Pz und pan
(anläßlich der Namensinterpretation von Pannonien): … Pan enim iuxta grecam et Slauomm
interpretacionem dicitur totum habens. EI iuxta hoc dicitur Pan in Slauonico maior dominus,
licet alio nomine iuxta diversitatem lingwantm S!auonicamm dicatur Gospodzyn, Xandz
autem maior est quam Pan veluti princeps el superior Rex. Omnes autem domini pan
appella111ur: Kronika Wielkopolska. Chronica Poloniae Maioris, hg. B. Kürbis. ln: Monumenta
Poloniae Historica [in der Folge: MPH], Nova Series [in der Folge: NS], Bd. 8, Warszawa
1970, 4. Dieselbe Situation ergibt sich fiir das damalige Böhmen, wo der Begriffpan alle Ritter
bezeichnete, und das Diminutiv panoS:l zur Bezeichnung der Knappen verwendet wurde: A.
Bogucki, Czeskie nazwy rycerstwa w XIV i XV wieku [Böhmische Ritterschaftsbegriffe im
22
Jahrhunderten stoßen wir in den Quellen auf einzelne Herrscher, die ihre Macht
im Kreis ihrer Familie weitergaben. Diese Macht war bereits stark genug, um
sogar die Königssalbung verliehen zu bekommen, wie es die Beispiele des
Boleslaw des Tapferen (Chrobry) in Polen, des hl. Stefan in Ungarn, oder, nach
der legendären Überlieferung, des Tomislav in Kroatien zeigen. Natürlich war
keiner von ilmen ein (legendärer oder wirldicher) Dynastiebegründer, ihre
Königsweihe zeigt aber, daß ihre Macht schon derart begründet wurde. Keiner
von ihnen war ein Usurpator, sie waren legale Nachfolger ihrer Väter. Das
vermittelt, daß die Dynastie ihre begründete Stellung schon in der
Staatsorganisation einnahm. Europa Slavica brauchte also, wie andere Teile
Westeuropas, die literarische Legitimierung der Existenz der Dynastie. Wir
finden die Versuche in den ersten Chroniken, die auf diesem Gebiet geschrieben
wurden. Sie stammen fast aus derselben Zeit, dem Ende des 1 1. oder der ersten
Hälfte des 1 2 . Jahrhunderts: die Chronik des Gallus Anonymus in Polenn, des
Kosmas von Prag in Böhmen13, die verlorene, aber aufgrund der späteren
Geschichtsschreibung rekonstruierbaren Gesta Ungarorum in Ungam24 und die
serbisch-kroatische Duldjaner Chronik, die aus dem 12. oder Anfang des 13.
Jahrhunderts stammt (sog. Ljetopis Popo Duklj“anina)ls.
AJie oben genannten Chroniken beginnen mit der Beschreibung der Staatsund
Dynastieanfänge. Gallus erzählt uns zum Beispiel vom Dynastiewechsel in
Gniezno/Gnesen, der die Anfänge Polens bildet. In Gnesen herrschte ein Herzog
Popiel, der die Kopfschur seiner Knaben vorbereitete. Er lud viele Gäste zum
Gastmahl ein. Zwei geheinmisvolle Gäste, die auf Gottes Ratschluß in Gnesen
erschienen waren, wurden jedoch nicht eingeladen, sondern sogar aus der Stadt
vertrieben. Sie gingen zum Haus eines armen Pflügers namens Piast, der in der
14. und 1 5 . Jahrhundert]. In: Czasopismo Prawno-Historyczne 40, 1 988, H. I, 33-57. Vgl.
auch oben Anm. 8.
ll Galli Anonymi Cronicae et Gesta ducum sive principum Polonorum, hg. K. Maleczyriski,
MPH NS 2, Krak6w 1 952 (weiter: Gallus).
lJ Cosmae Pragensis Chronica Boemorum, hg. B. Bretholz, MGH SRG NS, I, 1923. lch
verwende die deutsche Übersetzung: Des Dekans Cosmas Chronik von Böhmen, übersetzt v.
G. Grandaur, 3 . Aufl., Leipzig 1939 (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, Bd. 65).
14 B. H6man, A szent Läsz16-kori Gesta Ungarorum [Die Gesta Ungarorum aus der Zeit des
Hl. Ladislaus], Budapest 1925; C.A. Macartney, The Medieval Narrative Sources, Cambridge
1953.
ls Ljetopis popa Dukljanina, hg. V. Mosin, Zagreb 1950 (mit der kroatischen Übersetzung,
wahrscheinlich aus dem 14. Jahrhundert, der sogenannten Kroatischen Redaktion – red. H.).
Über die Chronik und ihren Verfasser vgl. Historia Krölestwa Slowian czyli Latopis Popa
Duklanina [Die Geschichte des Slawenkönigtums oder die Annalen des Duklaner Priesters],
hg. J. Lciny, Warszawa 1988 (Einleitung); E. Pericic, Sclavorum Regnum Grgura barskog.
Ljetopis popa Dukljan.ina [Sclavorum Regnum des Gregor von Bar], Zagreb 1 99 1 .
23
Vorburg wohnte und auch ein Gastmahl für seinen Sohn vorbereitete. Er lud die
Wanderer ein und gab ihnen alles, was er für das Mahl gesammelt hatte, ein
bißeben Bier und ein Ferkel. Ns die Gäste aßen und tranken, vennehrte sich das
Fleisch und Bier, das gleichzeitig vom Tisch des Herzogs zu verschwinden
begann. Schließlich lud Piast den Herzog Popiel und seine Gäste auch in sein
Haus ein. Das war das Vorzeichen der späteren Auswahl von Siemowit, Piasts
Sohn, zum Herrschef26. Jacek Banaszkiewicz betonte, daß diese Geschichte
beweisen will, daß die alte Dynastie nicht mehr ihre dritte Funktion ausüben
konnte. Die neue Dynastie wurde zum Garanten des Wohlstandes und Glücks der
Bevölkerung 27.
Es ist bekannt, daß die Gallus-Chronik im Ganzen der Begründung der
dynastischen Ideologie gewidmet ist28. Roman Michalowsky29 fand dort eine
Sarrunlung von besonderen Tugenden, die den Herrscher aus der PiastenDynastie
zu charakterisieren hatte. Es waren: Gastfreundschaft, Freigiebigkeit,
Prophezeiungsakt der späteren Herrlichkeit der Dynastie tmd Verwandtschaft mit
den Sacrum-Trägem. Dazu gehörte auch ein Wendepunkt im Leben des
Herrschers (Kopfschur oder Cluistianisierung oder Königsweihe oder
Ritterschlag). Dies beweist, daß die Dynastie als Ganzes auch eine sakrale
Protektion genoß. Nur unter der Herrschaft der Dynastie erlebt Polen Glück und
Wohlstand. Eine Rebellion gegen domini naturales bedeutet Niederlage und
Zerstörung des LandesJ0•
Fast dieselben Elemente finden wir in der Chronik des Kosmas von Prag.
Hier haben wir jedoch den Versuch einer Darstellung von der ältesten Geschichte
Böhmens seit seinem Ursprung, also von dem Abbruch des Turms von Babel.
Wir lesen über die ersten Tschechen, die am Anfang ohne Staatsorganisation
lebten. Wenn sie wollten, baten sie den Besten unter ihnen, namens Krok, um
Rat. Krok hatte drei Töchter, Kazi, Tetka und Libuse, welche die Gabe der
Weissagung besaß. Wie ihr Vater hatte auch sie Gerichtsmacht Einst rebellierten
die Männer gegen ihre Macht. Darauf prophezeite sie ihnen, daß sie einen Herzog
26 Gallus, I 1-2, S. 9-1 1 .
21 J. Banaszkiewicz, Podanie 45-46.
2s Z.B. B. Kürbis, Slawisch. In: Na progach 4 1 9.
29 R. Michalowski, Restauratio Poloniae w ideologii dynastycznej Galla Anonirna [Restauratio
Poloniae in der dynastischen Ideologie des Gallus Anonymus]. In: Przeghjd Historyczny 76,
1 985, Hf. 3, 457-480.
Jo Gallus schrieb I 19, S. 43-44: Hec autem dixisse de Polonie destmccione Sl![ficial et eis, qui
dominis naluralibus .fidem non servavenmt, ad correccionem pro.ficiat. Denselben Begriff
verwendeten die Breslauer, die gegen Sieciech rebellierten: .. . dominorumque naturalium
hereditatem ordine prepostero distorquere. Il 16, S. 8 1 .
24
haben werden. Sie stellte das Wesen der Herzogsmacht vor, das ist Gewalt und
Unfreiheit, denen die Tschechen sich freiwillig unterordneten. Der Name des
ersten Herzogs, Pfemysl (= Industriosus), bedeutet, daß er die neuen Rechte
gegen die Freiheit ausdenkt. … . . und seine Nachkommenschaft wird fur ewige
Zeiten in diesem Land und darüber hinaus herrschen“J1. Premysl ist, wie Piast, ein
Pflüger, der auf dem Feld arbeiteP2• Er bewirtet die Tagsatzungsboten mit seinem
Mahl und verordnet auch die Primogenitur als Erbfolgeprinzip im Rahmen der
Dynastie. Hier stoßen wir, wie bei Gallus, auf das Motiv der Gastfreundschaft,
die Prophezeiung des zukünftigen Schicksals und Verwandtschaft mit dem
Sacrom-Träger (hier: die Ehe Pfemysls mit Libuse, die ein Wendepunkt im Leben
des späteren Herrschers wäre). Im Vergleich mit Gallus ist hier die Rolle der
Dynastie stärker betont. Seine Nachkommen werden in Zukunft regieren, jedoch
nur die ältesten Söhne33• Diese Verordnung ist stark mit der inneren Lage
Böhmens in der Zeit der Chronikabfassung verbunden, als die jüngeren Herzöge,
die ihre Fürstentümer in Mähren hatten, regelmäßig gegen die Obermacht des
Frager Herrschers auftraten34.
Dieselbe Situation war in Ungarn, das keine Primogenitur bis zum Anfang
des 13. Jahrhunderts kannte3s. Die Lage der Dynastie war dort deshalb
schwieriger. Man wußte, daß der Staatsgründer, fiir den man im I I . Jal1rhundert
den hl. Stefan hielt, ohne Nachkommen starb und gegen die Thronfolge seines
Vetters Vazul war. Stefan enterbte ihn in grausamer Weise Lmd vertrieb auch
seine drei Söhne. Zwei der Vertriebenen, Endre (Andreas) und Beta wurden nach
31 Kosmas 1 5, S. 1 7.
32 Kosmas I 7, S. 19 schrieb, daß bäuerliche Schuhe auf der Prager Burg aufbewahrt wurden,
damit sie die Pfemysliden an ihre Herkunft erinnern. Es ist interessant, daß auch in Kärnten der
Herzog in bäuerlicher Tracht inthronisiert wurde; vgl. B. Grafenauer, Ustolicevanje koroskih
vojvod in driava karanisleih Slovencev [Die Inthronisierung der Kärntner Woiwoden und der
Staat der Kärntenslawen], Ljubljana 1952; J. Banaszkiewicz, Podanie 42, Anm. 8.
3J Ebd., I 6, S. 1 8 – Motiv des Haselnußbaums.
34 Pfehled dcjin Ceskoslovenska [Überblick der tschechoslowakischen Geschichte], Bd. I, I ,
hg. J . Pu…S, M . Kropiläk, Praha 1980, 1 3 3 .
3S Wir hören über das Thronfolgeprinzip in den teilweise bis in unsere Zeit aufbewahrten
Rechten Kolomans (Anfang des 12. Jahrhunderts), aber das Wort benutzte zuerst Papst
Honorius Ill., der in seiner Bulle von 1 2 1 7 König Andreas Il. als erstgeborenen Sohn
erwähnte. ln der Realität war Andreas ein jüngerer Sohn von Beta HI., der früher ständig mit
seinem älteren Bruder um die Macht kämpfte. Vgl. l. Tringli, Primogenitura. In: Korai magyar
törteneti Iexikon, hg. Gy. Krist6, Budapest 1 994, 1257-1258. Nach hundert Jahren war dieses
Prinzip schon lebendig: Anonymi Descriptio Europae Orientalis „Imperium Constantinopolitanum,
Albania, Serbia, Bulgaria, Ruthenia, Ungaria, Polonia, Bohemia“ anno MCCCVIII
exarata, hg. 0. G6rka, Cracoviae 1 9 1 6, Kap. 1 1 0, S. 50, V. 1 4- 1 5 : … primogenilus regis
debet regnum habere et post patrem regnare.
25
dem Bürgerkrieg Könige. Bela gründete die jüngere Linie der Arpaden, die in
schwierigen Kämpfen mit Andreas‘ Sohn, Salomon, ihre Macht festigte36. Der
Verrasser der verlorenen Gesta Ungarorum stand vor der schwierigen Aufgabe,
die Legalität der herrschenden Linie zu beweisen. Deshalb erschien unter seiner
Hand eine boshafte Königin Gisela, die die Ehefrau Stefans war. Sie ließ ohne
der Zustimmung des hl. Stefan Vazul blenden und in seine Ohren geschmolzenes
Blei gießen37•
Der Verrasser der Gesta Ungarorum selbst und seine Fortsetzer standen
aber vor einer noch schwierigeren Aufgabe. Sie mußten auch die Legitimität der
Nachkommen Belas beweisen. Die ümere Situation Ungarns, wo sich ständige
Brüderkriege um den Thron zwischen den Brüdern und Vettern abspielten,
erzwang von den Chronisten, die im 12. Jahrhundert die Gesta bearbeiteten,
immer neue Versuche der Legitimierung der Macht ihrer Brotherren. Deshalb
können wir, nach J6zsef Gerics, die ungarische mittelalterliche Geschichtsschreibung
als ständiges Spiel zwischen Legitimität und Machtäfhigkeit
(legitimas – idoneitas) bezeichnen38. Das Dynastiemitglied, das zur Machtausübung
geeigneter war, wurde König; so wie im Fall des W. Ladislaus, der über die
Hilfe Gottes verfugte. Er entwickelte auch den Hl.Stefan-Kult, der eine offizielle
Staatsideologie bildete. Als König war er freigiebig, seine Thronbesteigung
begleiteten wunderbare Zeichen. Er war ein wirklicher Nachfolger des hl. Stefan,
nicht nur dank seiner Verwandtschaft (obwohl nicht in erster Linie), aber auch
durch seine Tugenden, dank derer er nach hundert Jahren zum Altar erhoben
wurde.
In ungarischen Chroniken aus dem 1 3 . tmd 14. Jahrhundert, die die Spuren
der früheren Stufen der Geschichtsschreibung aufrechterhalten, treffen wir auch
J6 M. Wertner, Az Arpädok csalädi törtenete [Die Geschichte der Arpaden-Dynastie], Nagy
Becskerek 1892, 36-102, 1 1 1 – 1 1 6, 137-142.
37 P. Väczy, A Yazul-hagyomäny közepkori kUtfitnkben [Die Überlieferungen über Yazul in
unseren mittelalterlichen Quellen]. In: Leveltäri közlemenyek 18-19, 1940-41, 304-338; Gy.
Györffy, König Stephan der Heilige, Budapest 1988, 198-202; ders., King Saint Stephen of
Hungary, New Y ork 1 994, 168-171.
38 J. Gerics, Legkoräbbi Gesta-szerkeszteseink keletkezesrendjenek problemai [Die Probleme
der Aufstandsordnung der ältesten Redaktionen der Gesta], Budapest 1961, passim. Vgl. auch
ders., Textbezüge zwischen den ungarischen Chroniken und der Sankt-Ladislaus-Legende. ln:
Acta Historica Academiae Scientiarum Hungaricae 19, 1973, 273-303; L. Mezey, Athleta
Patriae. Szent Läszl6 legkoräbbi irodalmi äbräzoläsänak alakuläsa [Athleta Patriae. Die
Entwicklung des ältesten literarischen HJ.Ladislaus-Bildes). In: Athleta Patriae. Tanulmänyok
Szent Läsz16 törtenetehez, hg. L. Mezey, Budapest 1980, bes. 23.
26
auf einfache genealogische Listen, die die Verwandtschaftsverbände zeigen39.
Diese Listen, die oft nur Namen und Herrschaftszeit angaben, waren fur Ungarn
nicht typisch. Ähnliche entstanden auch in Polen. Wir sind jetzt fast sicher, daß
eine Liste die Basis fur die GaBus-Erzählung über Piasts Nachfolger waf“‚. Später
entstanden genealogische Chroniken, die die Zugehörigkeit der polnischen
Herzöge zu dem in der Zeit der Zersplitterung Polens immer umfangreicheren
Fürstenhaus zeigten41• In Ungarn hat sich im Pray-Kodes eine solche Liste aus der
Wende des 1 2. zum 1 3 . Jahrhundert erhalten42•
In dieser Zeit suchten die Ungarn, Polen und Tschechen nach den Wurzeln
ihrer Existenz in ihrem Heimatland. In der polnischen Geschichtsschreibtmg
dachte sich Meister Vinzent Kadlubek eine altertümliche Geschichte Polens aus.
In diesem fiktiven Fragment erzählt er nicht die Dynastiegeschichte. Seine Vision
der frühesten Vergangenheit bilden die Taten der Herrscher, die zu verschiedenen
J9 B . Homan, Szt. Läszlo-kori 65. Die Nachrichten von Kezas Chronik fur das Ende des I I .
und fiir das 12. Jahrhundert sind sehr sparsam. Wir lesen z.B. über Geysa I. und den hl.
Ladislaus: Post Solomonem vero autem regnavit Geicha annis tribus et mortuus est. Wacie,
quam fundasse dicitur, tumu/atur. Post Geicham vero regnavil Ladislaus XXX annis et tribus
mensibus. In Warod requiescit. lstius igitur temporibus in VII Casiris, in monte, qui Kyrioleis
dicitur, Bessi Hungaris infestissimi spoliata Hungaria fugientes conizmguntur er per eundem
Ladislaum regem ac Hungaros taliter superantur, ur nec wms ex ipsis fertur remansisse:
Simonis de Keza Gesta Hungarorum, hg. A. Domanovszky, SRH, Bd. I, 1937, Kap. 62-63, S.
182. Die Chroniken, die aus der verlorenen Komposition schöpfen, haben einen
umfangreicheren Inhalt.
40 H. lowmiariski, Dynastia 120; G. Labuda, Kroniki genealogiczne 43-44; J. Hertel,
lmiennictwo dynastii piastowskiej we WCZeSniejszym sredniowieczu [Die Namensgebung der
piastischen Dynastie im fiiiheren Mittelalter], Warszawa-Poznari-Toruri 1980, 30-5 1 . Dagegen
polemisiert J. Banaszkiewicz, Podanie 85; laut dessen ist die Liste des Gallus nur eine fiktive
Konfabulation, die vom indogermanischen Schema dreier Brüder ausgeht. Echt ist, seiner
Meinung nach, nur der Name von Piasts Vater, Chosciszko.
41 G. Labuda, Kroniki genealogiczne 4 1 -60. Auch die Dukljaner Chronik hat einen starken
genealogischen Charakter, deshalb wird sie oft als ‚Rodoslov‘, d.h. Genealogie, bezeichnet .
42 Pray-Kodex, Orszägos Szechenyi Könyvtär in Budapest, MN Cod. Lat. I , Miokrofilm 192,
433, folio IOr: Hec est uita regum ungarorum. Stephanus rex regnauit XLI/li annos. Petrus
rex VI. Aha rex lll. Andreas rex XII. Bela rex lll. Salomon rex XI. Geysa rex 11/. Ladizlaus
rex XVI. Colommanus rex XXII. Stephanus rex XII. Bela rex V!Jl/. Geysa rex XXI/li.
Stephamts rex XV. annos usque Bela rex XXV. Henricus rex Vllll. Andreas rex VI. Diese
Notiz wurde in der Zeit des Andreas 11. eingetragen, vielleicht im 6. Herrschaftsjahr dieses
Königs, also um 1 2 1 1 . Daneben gibt es eine Notiz (in der karolingischen Kodexschrift) über
die Weihe der Jungfrauenkirche XVlll Kai. Dec. = 14 XI 1228, wahrscheinlich in Diakovce,
ung. Deäki, bei Galanta in der heutigen Slowakei. Vielleicht wurde dort auch der Pray-Kodex
geschrieben. Siehe Annales Posonienses, hg. E. Madzsar, SRH I, 1 2 1 – 1 22; Vlastivedny
slovnik obci na Slovensku [Landeskundliches Lex.i.kor1 der Gemeinden in der Slowakei], Bd. I ,
Bratislava 1 977, 3 1 5.
27
Dynastien gehörten. Die Dynastie herrscht so lange, bis ihre Mitglieder reges
iusli sind. Die Gerechtigkeit ist die wichtigste Tugend des Fürsten43.
Die Ungarn erinnerten sich noch daran, daß sie aus dem Osten nach
Pannonien kamen. Sie mußten also nach ihren Vorfahren unter den Stämmen, die
vor ihnen Pannonien besaßen, suchen. Das war eine leichte Aufgabe fiir die
gebildeten Personen, die die frühmittelalterlichen Beschreibllllgen von Hunnen
und Attila kannten. Hunnischer König lllld Gottes Geisel war ein guter Ahn der
Arpaden-Dynastie. Wir finden die ersten Versuche der Verbindllllg der
ungarischen Geschichte mit der hunnischen im Text des anonymen Notars von
König Bela Ill. Er wiederholte einige Male, daß die Slawen, die damaligen
Einwohner Pannoniens, vor den Ungarn flüchteten, weil sie sich an Attila
erinnerten44.
Die zweite Stufe der Inkorporation Attilas in die llllgarische Geschichte
bildet, meiner Meinllllg nach, die llllgarisch-polnische Chronik, die wahrscheinlich
um 1230 am slawonischen Hof Kolomans geschrieben wurde4s. Attila
erschien in ihrem Text ohne jene Einfiihrung, als reicher und mächtiger Herrscher
des östlichen Ungarns. Er ordnete sich verschiedene Völker llllter, besaß auch
viele Reichtümer: Gold, prächtige Steine, Tiere lllld Pflanzen. Er war auch
glücklicher Heerführer, der ganz Europa durchzog. Er erlebte eine Vision, nach
welcher Gott ihm den Tod eines christlichen, kroatischen Königs zu rächen
befahl. Die spätere Königssalbung des hl. Stefan war eine Belohnllllg dafiir. Diese
Vision zeigt schon, daß Attila ein Ahne der Arpaden war. Er übte die Rolle des
Herrschers der dritten lllld zweiten Ftmktion aus, wenn wir das indogennanische
Schema zur Erforschllllg eines ugrofinnischen Volkes verwenden. Attila war auch
ein Staatsgründer, der Gesetze schuf, er teilte den ganzen Boden Pannoniens
unter seinen Scharen auf, was zur ersten Funktion gehörte. Hier sieht man einige
43 Magistri Vincentii dicti Kadlubek Chronica Polonorum, hg. M. Plezia, MPH NS I I, Kraköw
1994, lib. I, 6-29. Über den Verfasser: H. Zeissberg, Vincentius Kadlubek Bischofvon Krakau
… und seine Chronik Polens. In: Archiv fur Kunde österreichischer Geschichtsquellen 42,
1869, 3-2 1 1 ; 0. Balzer, Studium o Kadlubku [Studium über Kadlubek], in: ders., Pisma
posrniertne, Bd. 1-2, Lwöw 1934-35; Studia Zrödloznawcze 20, 1976 (Monografisches Heft);
Mistrz Wincenty (tzw. Kadlubek), Kronika polska, hg. B . Kürbis, Wroclaw-WarszawaKraköw
1992 (polnische Übersetzung mit umfangreichem Kommentar).
44 R. Grzesik, European Motifs in the Polish Medieval Historiography. In: Medium Aevum
Quotidianum 33, 1 995, 44.
4s !eh versuche diese Meinung in einer größeren Monografie nachzuprüfen, die noch im Druck
ist. Siehe auch R . Grzesik, Ksi!]z􀂖 w􀂖gierski zonaty z cörklj MScislawa halickiego. Przyczynek
do problemu czasu i rniejsca powstania Kroniki w􀄛giersko-polskiej [Der ungarische Herzog,
der mit der Tochter Mstislaws von Halic verheiratet wurde. Ein Beitrag zum Problem von
Entstehungszeit und -ort der ungarisch-polnischen Chronik]. In: Kwartalnik Historyczny 102,
1 995, Hf 3-4, 23-35.
28
Parallelen mit der Gestalt von Pfemysl, der, w1e wrr sehen, auch em
Staatsgründer waf46.
Die Verbindtmg der nächsten tmgarischen Herrscher mit Attila ist durch
Genealogie erklärt. Der Chronist kennt nur die einfache Genealogie, also das
Erbe von Vater an Solm. Nur im letzten Teil erlaubt er, daß die Brüder gekrönt
wurden, aber erst nach dem Tod des früheren mit der Zustimmung der anderen
Prätendenten47 Die Bedeutung dieser Erzählung ist klar im Licht der schon
charakterisierten inneren Situation Ungarns.
Auch die Genealogie half dem Autor der Hunnischen Chronik,
wahrscheinlich Sirnon von Keza, die Verbindungen zwischen Attila und Arpad zu
zeigen. Sein Werk bildet die dritte Stufe der Attilaeinnahrne in der ungarischen
Geschichte4s.
Die Südslawen hatten dieselben Probleme wie die Ungarn. Sie wußten, daß
ihre Heimat früher irgendwo anders lag. Der Priester von Duklja begarm deshalb
seine Chronik mit dem Bericht über das Ankommen der Goten (d.h. Slawen) nach
Dalmatien. Erste dalmatinische Herrscher sind brave und glückliche Heerfuhrer,
andere kümmern sich um Frieden und Wohlstand. Eine Staatsbildung ist hier klar
mit der Christianisierung verbunden. Svatopluk49, der den christlichen Glauben
annahm, schuf weltliche und kirchliche Verwaltung, er vergab auch die Namen
für die Teile seines Königreiches. Der Priester von Duklja nennt alle seine
Nachkommen, die natürlich zu einer Dynastie gehörten, obwohl nicht jeder
46 Chronica Hungaro-Polonica, hg. B. Karäcsonyi, Szeged 1969 (Acta Historica 26), Kap. 1-3,
S. 9-20.
47 Ebd. 20-2 1 ; Kap. 1 3 , S. 67-68. Die Aufzeichnung der Nachfolger ist sehr schematisch: Post
hec autem uxor eius peperit filium, cui imposuit nomen Columan . . . (S. 20), Post discessum
uero principis polonie de vngaria uxor regis Bele peperil filium, cui imposuit nomen Albertus
(S. 67}.
48 Wir tinden jedoch diese Genealogie nur in der Komposition aus dem 14. Jahrhundert:
Chronici Hungarici compositio saeculi XIV, hg. A. Domanovszky, SRH I, Kap. 26, S. 284-
285, welche die bessere Fassung des Urtextes sichert, wie Kezas Chronik, die in Realität nur
ein Excerpt ist. Die Diskussion über das Problem des Verfassers der Hunnenchronik stellte
letztens Gy. GyörflY vor: G. Györffy, Kronikäink es a magyar Östörtenet. Regi kerdesek – uj
valaszok [Unsere Chroniken und die ungarische Urgeschichte. Alte Fragen – neue Antworten],
Budapest 1 993. Dies ist ein Reprint des Buches von 1948 mit umfangreichem Kommentar, wo
Gy. Györffy auf seine These, daß Meister Akos Verfasser der Hunnenchronik war, verzichtet
und sich fur Kezas Autorschaft ausspricht.
49 Die Chronik verwechselt hier die dalmatinische und großmährische Tradition, Ceiii a
Jihoslovane v rninulosti. Od nejstarsich dob do roku 1 9 1 8 [Tschechen und Südslowenen in der
Vergangenheit. Von der ältesten Zeit bis zum Jahre 1918], hg. V. Zacek u.a., Praha 1975, 42
(L. Havlik); J LeSny, Historia 136, Anm. 56.
29
Herrscher Kinder hatte. Aus dem Text ergibt sich, daß nur die guten Taten des
Herrschers den Wohlstand für die Untertanen garantieren. Aber es ist auch
umgekehrt. Nur der Gehorsam der Untertanen dem Herrscher gegenüber kann
Wohlstand sichem50• Wir erwähnten schon bei Gallus, daß die Rebellion den
Angriff der Feinde brachte, die das Gebiet völlig zerstörten. Ein drastisches
Beispiel finden wir auch in der kroatischen Redaktion der Chronik von Duklja,
die wahrscheinlich im 14. Jahrhundert geschrieben wurde51, wo die Ermordung
von Zvonimir dargestellt wurde. Die Folgen des Aufstandes sind fur den
kroatischen Übersetzer der Chronik tragisch. Der ungarische König Bela tritt in
Kroatien als Rächer von Zvonirnir auf und besetzt das Land, das seine
Unabhängigkeit verlor. Dynastie scheint hier als Garant der Unabhängigkeit, was
in der Zeit der patrimoniellen Monarchien verständlich ist s2.
Dynastie spielte also im Licht der ostmitteleuropäischen Chroniken
verschiedenartige Rollen. Nur die Dynastiemitglieder hatten numinose, sakrale
Macht, die ihnen das Regieren ermöglichte. Die dynastische Herrschaft wurde
mehrmals von den Dynastie- und Staatsgründern definiert (Pfemysl bei Kosmas,
Attila in der ungarisch-polnischen Chronik, Svatopluk bei Dukljanin). Deutlich
wird in diesem Kontext die Identifizierung der Dynastie mit dem Staat. Nur die
dynastische Macht konnte der Bevölkerung Glück und Wohlstand sichern
(Gallus), ihre Existenz garantierte sogar die Staatsunabhängigkeit (Kroatische
Red. des Dukljanin). Die Dynastie kam zur Macht als Ergebnis einer sakralen
Intervention (Gallus, Kosmas, verlorene Gesta Ungarorum, ungarisch-polnische
Chronik), aber auch dank eigener Verdienste des Begründers (Gallus, Kadlubek,
ungarisch-polnische Chronik). Jederzeit genießt sie die sakrale Protektion, die
klar durch Visionen und wunderbare Interventionen gezeigt wird (Gallus,
ungarische Chroniken, Dukljanin). Dies betrifft besonders Herrscher, die
christliche Tugend aufzeigten, die also vom status sacer, den sie von Natur aus
besaßen, zum Zustand sanctitats übergingen. Wir beobachteten diesen Prozeß
besonders in der ungarischen Geschichtsschreibung (hl. Stefan, sein hl. Sohn
Emerich und sein Nachkorrune, der hl. Ladislaus), aber er ist auch in der
böhmischen (Kosmas), südslawischen (WhladirnirH, König von Duklja und
Zvonirnir) und späteren polnischen (Przemysl I. in der Chronicon Poloniae
5o Dukljanin, Kap. 9, S. 48-56.
s1 Vgl. oben, Anm. 25.
52 Dukljanin, Kap. 27-28, S. 66-68. Ich sehe in dieser Darstellung einen Versuch der
Sakrifizierung des Königs im Geist der „sakralen Könige“, die so typisch fur das benachbarte
Ungarn waren. Siehe oben, Anm. 7.
53 Dukljanin, Kap. 36, S. 78-85.
30
Maioris54) Geschichtsschreibung zu finden. Als Schlußfolge können wir also
hervorheben, daß das Bild der Dynastie sich in der ostmitteleuropäischen
Geschichtsschreibung kaum vom seihen Bild unterscheidet, das schon früher von
den Chronisten als „klassisch“ westeuropäisch geschaffen wurde.
54 Chron. Pol. Mai., Kap. 1 1 8, S. I 07-109. Siehe auch zahlreiche Legenden der heiligen
Herzoginnen aus dem 1 3 . Jahrhundert, die aus dem Gebiet Polens und Ungarns stammen und
dem Geist neuer (franziskanischer) Frömmigkeit zugeschrieben werden.
31
MEDIUM AEVUM
QUOTIDIANUM
37
KREMS 1997
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARJTZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KUL TORABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeiclmen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist.- Druck:
KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1 050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Iliana Tschekova, Die chronistische Erzählung
über den FürstenOleg und das skandinavische Epos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Ryszard Grzesik, Dynastische Machtbegriffe
in den ostmitteleuropäischen Chroniken des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Gerhard Jaritz, „Transeuntes ad alium Ordinem.“
The position of Cistercians and Carthusians in the Middle Ages . . . . . . . . . . . . 32
Kyril Petkov, Die ‚Orientalisienmg‘ des Balkans
in der deutschen Vorstellung des 15. und 16. Jahrhunderts.
Eine Untersuchtmg spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher
Walm1ehrnungsmuster in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Vorwort
Wir freuen uns, Ihnen mit diesem Heft verschiedene Beiträge vorlegen zu können,
die von Mitgliedern und Freunden von Medium Aevum Quotidianum verfaßt
wurden. Sie repräsentieren in der Mehrzahl Forschw1gsergebnisse von
osteuropäischen Kollegen aus Bulgarien und Polen, die dadurch einem
internationalen Fachpublikum zugänglich gemacht werden sollen. Unsere
Gesellschaft versucht somit neuerlich, ihrem Ziel einer Brückenfi.mktion zwischen
östlicher lmd westlicher Geschichtswissenschaft gerecht zu werden.
Die Planungen für die nächsten Hefte von Medium Aevum Quotidianum
sind bereits abgeschlossen. Wir können Ihnen mitteilen, daß im September 1997
mit dem Erscheinen von Sonderband VI zu rechnen ist, der eine Arbeit von James
Palmitessa (New York-Kalamazoo/Mich.) beinhalten wird, welche sich einer
systematischen Analyse der Prager Bürgerinventare des 16. und 17. Jaltrhunderts
widmet. Als letztes Heft des heurigen Jallres wollen wir die Ergebnisse einer
Round Tabte-Diskussion präsentieren, die beim International Medieval Congress
in Leeds im Juli des heurigen Jahres stattfinden und sich mit „History of Everyday
Life: the Variety of Approaches“ auseinandersetzen wird. Das erste Heft des
Jahres 1998 soll lffigarische Forschungen zur mittelalterlichen Ernältrung
beinhalten, während die darauffolgende Publikation einer internationalen Gruppe
von Archäologen Gelegenheit geben wird, sich mit Möglichkeiten ihres Beitrages
zu einer Alltagsgeschichte des Mittelalters zu beschäftigen.
Gerhard Jaritz
4

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