Extra muros
Systemimmanente grundherrschaftliche Probleme
im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen städtischen Ziegeleiwesen am Beispiel der Stadt Erding, Oberbayern
Matthias Johannes Bauer (Paderborn)
Einleitung
Städte benötigten seit jeher eine funktionierende, massenweise Versorgung mit Baumaterial. Während des Mittelalters wich hölzerner Baustoff steinernem, der Anteil hoch brennbaren und kurzlebigen Materials wie Holz und Stroh bzw. Schilf sank zugunsten des hinsichtlich Brandgefahr und Verrottung vorteiligen Natur- oder Ziegelsteines. Aus sozial- und sicherheitspolitischen Gründen lag es im Interesse einer Stadt als Zusammenschluss ihrer (Voll-)Bürger, kostengünsti- ges und technisch dem Zeitgeist entsprechendes Material zur Verfügung zu ha- ben – für Großprojekte an öffentlichen Gebäuden sowie bauliche Modernisie- rungen im gesamten Häuserbestand der Stadt. Mit der „Versteinerung“ der Städte entwickelte sich deshalb auch das mittelalterliche städtische Ziegeleiwe- sen, das durch den Standort extra muros (vor den Mauern) von Anfang an von systemimmanenten grundherrschaftlichen Problemen begleitet war. Bei Areal- vergrößerungen kamen diese Konflikte wiederholt auf und verlangten daher nach analogen Lösungsansätzen. Zur fallbeispielhaften Veranschaulichung die- ser Probleme soll die Geschichte des Ziegeleiwesens der heute oberbayerischen Stadt Erding als Untersuchungsobjekt dienen, wo bereits ab dem 14. Jahrhundert urkundlich eine Ziegelei erwähnt ist.
Der Ziegel: Baustoff ohne Kontinuität von der Antike ins Mittelalter
Nach dem Zusammenbruch des Römischen Imperiums mussten der Ziegel als Baustoff und die Kunst des Ziegelbrennens nördlich der Alpen erst „wiederent- deckt“ werden.1 Auch wenn Ziegel vereinzelt in den Bauwerken karolingischer Zeit und des 11. Jahrhunderts verwendet wurden, so kann von einer Kontinuität
1 Im Folgenden grundlegend nach Antje Sander-Berke, Baustoffversorgung spätmittelalter- licher Städte Norddeutschlands. Köln 1995, 11-46 und 171 f., sowie Gerhard Fouquet, Zie- gelei, Ziegler, in: Lexikon des Mittelalters, 9. Bd. Stuttgart und Weimar 1999 (= LexMA), Sp. 602 f.
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der Ziegelbauweise von der Antike bis ins Mittelalter nicht die Rede sein. Wie und warum der Ziegelstein in der Mitte des 12. Jahrhunderts wieder in Mode kam, ist in der Wissenschaft umstritten. Vermutlich übten häufige Kontakte nach Italien maßgeblichen Einfluss aus, denn südlich der Alpen war der Back- stein nie völlig außer Gebrauch; seit Beginn des 12. Jahrhunderts erlebte die Ziegelbauweise in Oberitalien sogar einen bemerkenswerten Aufschwung. Dort wurden Backsteine nicht nur für Bodenplatten, zum Dachdecken oder als Füll- material für so genanntes Schalenmauerwerk verwendet, sondern sogar für den Bau sakraler Gebäude genutzt. Sobald der Ziegelstein den Ruf erlangt hatte, nicht nur minderwertiger Ersatz für Naturstein, sondern dem Sakralbau durchaus angemessener Baustoff zu sein, setzte er sich gegenüber dem Naturstein vor al- lem im Kirchenbau und später bei der Anlage von Befestigungen durch.2 Für weltliche Bauten blieb Holz bis ins 13. Jahrhundert das dominierende Baumate- rial, das – für den Einzelnen! – technisch einfacher und ökonomisch günstiger zu beschaffen war. Erst im großen Stil und von einer Gemeinschaft wie einer Stadt organisiert war eine Ziegelproduktion technisch umzusetzen und die Er- richtung einer Ziegelei ökonomisch sinnvoll.
Die „Versteinerung“ mittelalterlicher Städte
Ziegel aus städtischen Produktionsstätten dienten den mittelalterlichen Städten ab dem 13. Jahrhundert vornehmlich zum Stadtmauerbau, ab dem 14. und 15. Jahrhundert vor allem zur flächendeckenden und schnell umzusetzenden Ein- dämmung des kollektiven Risikos einer Brandkatastrophe.3 Die Stadt stellte Zie- gel also für sich selbst aus ihrer Gemeinschaft heraus her – oder genauer: ließ Ziegelsteine für sich herstellen; welche Arbeitskräfte und politischen Mächte im Erdinger Fall daran beteiligt waren, wird unten noch zu zeigen sein. Vor dem Hintergrund dieser „Versteinerung“ der Städte waren spezialisierte Handwerker zur Leitung der städtischen Ziegeleien oft gesucht und umworben; diese (wan- dernden) Ziegelmeister erfuhren einen bisweilen bemerkenswerten gesellschaft- lichen Aufstieg, während das mittelalterliche Baugewerbe im Allgemeinen vor allem für die Gruppe nichtqualifizierter Handlanger und Tagelöhner, aber auch für die Gesellen meist ärmliche und niedrige Lebensstandards barg.4
Die Stadt war von ihrer Selbstversorgung mit Baustoffen abhängig. Um sich selbst preisgünstige und qualitativ hochwertige Baumaterialien mit gewisser Kontinuität zu beschaffen – damit trat das Rentabilitätsdenken und Geschäfte- machen in den Hintergrund –, war in der Regel die Kontrolle der niedrigen
2 Selbstverständlich gibt es regionale Abhängigkeiten: In Gegenden mit reichen Naturstein- vorkommen und wenig Lehmböden mag diese verallgemeinert formulierte Aussage zu relativieren sein.
3 Zu Brandkatastrophen mittelalterlicher Städte: H.-K. Junk, Brandkatastrophen, in: LexMA, 2. Bd., Sp. 564.
4 Zum mittelalterlichen Baugewerbe: J.-P. Sosson, Baugewerbe, in: LexMA, 1. Bd., Sp. 1623- 1627.
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Preise, des Produktionsvolumens und der Produktqualität durch den Magistrat im Sinne „regulativer Politik“5 mit der städtischen Ziegelproduktion verbunden.6
Erding und sein Ziegeleiwesen im 14. Jahrhundert
Bereits 1353 lässt sich ein „Ziegelstadel“ im Zusammenhang mit einer Erbtei- lung Heinrich des Maurers, Bürger der Stadt Erding, urkundlich nachweisen.7 Dieser älteste Beleg einer Ziegelei in naher Umgebung der um 1228 gegründe- ten8 Stadt Erding findet sich in einer Zeit tiefgreifenden baulichen und wirtschaftlichen Wandels. Das 14. Jahrhundert, in dem diese Ersterwähnung und vermutlich auch die Gründung der Ziegelei liegt, war für die Stadt eine Zeit ar- chitektonischer Neuerungen und räumlicher Erweiterungen. Durch die so ge- nannte „Neustadt“ (Haagervorstadt) war die Stadt bereits 1347 vor den Mauern vergrößert worden.9 Der alten romanischen Kirche in Erding folgte ab 1370 ein backsteinerner gotischer Nachfolgebau, die heutige Stadtpfarrkirche St. Jo- hann.10 Dieser Kirchenneubau sollte dem neuen Stilempfinden und Repräsentati- onswillen der Stadt gerecht werden. Der abseits stehende Glockenturm (eigent- lich der Erdinger Stadtturm), ebenfalls in Ziegelbauweise, wurde Ende des 14. Jahrhunderts auf altem Fundament aufgestockt.11 Die backsteinerne Stadtmauer, deren Reste heute noch zu sehen sind, wurde im Rahmen der rechtlichen Stadt- entwicklung wohl ab dem 14. Jahrhundert errichtet und setzte das städtische Be- festigungsrecht baulich in die Realität um.12
Das Befestigungsrecht mittelalterlicher Städte
Das Befestigungsrecht war altes königliches Regal, das – von den Fürsten in Anspruch genommen – bald auch den Bürgern der Städte überlassen worden
5 Zur regulativen Politik: Roland Czada u.a., Regulative Politik. Zähmungen von Markt und Technik (Grundwissen Politik 28) Opladen 2003, bes. 30.
6 Sander-Berke, Baustoffversorgung 11-46 und 171 f.
7 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (= BayHStA), Domkapitel Salzburg 176 (10. Februar 1353). 8 Hans und Karl Dachs, Stadt Erding. Das Werden einer Stadt. Erding 1961, 14-20.
9 BayHStA, Gerichtsurkunden Erding Nr. 14692.
10 Georg Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Bayern IV, München und Ober-
bayern. Darmstadt 1990, 256.
11 Organisationskomitee 750 Jahre Stadt Erding (Hg.), Stadt Erding. Chronik, Bilderbogen,
Dokumente, 2. Aufl. Erding 1980, 50; Dachs, Stadt Erding, 55.
12 Älteste schriftliche Erwähnung der Mauer: Stadtarchiv Erding (= StA ED), Urkunde 10 (17.
März 1494). S. Klaus Freiherr von Andrian-Werburg, Urkunden der Stadt- und Marktarchive des Landkreises Erding (Bayerische Archivinventare. Reihe Oberbayern, Heft 3) München 1963, 6, Nr. 10. Der erste Mauerring wurde um 1250 errichtet, im 15. Jahrhundert wurden Wehrgänge und Türme beigefügt; vgl. Cornelia Oelwein, Erding, in: Handbuch der Historischen Stätten, Bayern I: Altbayern und Schwaben, hg. von Hans- Michael Körner und Alois Schmid. Stuttgart 2006, 203 f.
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war.13 Wichtige städtische Verbrauchsabgaben wurden zur Finanzierung des Mauerbaus eingerichtet, Gegenleistungen der (zum Mauerbau verpflichteten) Bürger für den Schutz durch die Mauer dienten ihrem Bau, Unterhalt und ihrer Instandhaltung. Auch auswärtige Dörfer sind nachweislich für bestimmte Ab- schnitte der Mauer zuständig gewesen sein. Die Dorfbewohner waren im Gefah- renfall zur Flucht hinter die Mauer berechtigt oder erhielten wirtschaftliche Vor- rechte im Handelsmittelpunkt Stadt, wenn sie sich am Bau der Befestigungsan- lage beteiligten. Diese Leistungen und Gegenleistungen unterlagen einem Wan- del. Im 15. Jahrhundert ließen viele Räte derartige Pflichten mit Geld ablösen, was bedeutete, dass man einerseits die Armen/Arbeitslosen in der Stadt mit öf- fentlichen Geldern beschäftigen und andererseits die Stadtkassen für den teueren Mauerbau entlasten konnte. Die Befestigungskosten konnten in kleineren lan- desherrlichen Städten bis zu einem Drittel des städtischen Gesamtetats ausma- chen. Vor allem kleinere Städte gerieten in hohe Schulden. In Kriegszeiten ka- men zur kontinuierlichen Instandhaltung meist noch Reparatur- und Wiederauf- bauarbeiten hinzu. Wie das konkret aussehen konnte, wird unten noch am Bei- spiel Erdings im 30-jährigen Krieg gezeigt werden.
Bürgerliche Gerichtsfälle: Mit Zahlung von Ziegelsteinen bestraft
Mit dem steigenden Bedarf an Baumaterial und den damit verbundenen Belas- tungen der Stadtkassen ging auch einher, dass bürgerliche Gerichtsfälle ganz pragmatisch mit Zahlungen von Ziegelsteinen bestraft werden konnten.14 Ein solches Urteil ist für Erding beispielsweise aus dem Jahre 1494 bekannt.15 Der Erdinger Bürger Erhart Preninger, so heißt es in der Urkunde vom 17. März, schwor gegenüber Herzog Georg von Bayern Urfehde, nachdem er zum zweiten Mal wegen übler Nachrede „durch erdichte, vnwarhaftige vnd erlogne redt vnd wort“ in das herzogliche Gefängnis zu Erding gekommen war. Auf Intervention seiner Kinder und seines Bruders sowie seines hohen Alters wegen war Prenin- ger ohne Leibesstrafe unter der Auflage entlassen worden, der Stadt Erding 15.000 gebrannte Ziegelsteine zu ihrer Mauer zu geben. Außerdem musste er bis zum nächsten Pfingstfest alle seine Güter und Rechte zu Erding verkaufen und schließlich die Stadt für immer verlassen.
Ziegel aus städtischer Produktion:
Die mittelalterliche Stadt als Unternehmer
Erhart Preninger musste nach diesem Urteil also 15.000 Ziegelsteine beschaffen. Die Herstellung einer solchen Menge von Ziegeln war selbstverständlich nicht
13 Im Folgenden grundlegend nach Felicitas Schmieder, Die mittelalterliche Stadt. Darmstadt 2005, 134 f.
14 Dachs, Stadt Erding 21 f.
15 StA ED, Urkunde 10. Zitiert nach Andrian-Werburg, Urkunden 6, Nr. 10.
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von einem Handwerker als Einzelperson zu schultern. Zwar gab es singulär Handwerker, die auch Ziegel in kleinen Mengen anboten; erwähnt seien an die- ser Stelle die Töpfer, die Dachziegel in begrenzter Zahl für Ausbesserungsar- beiten herstellen konnten oder mussten. In der Frühphase des mittelalterlichen Ziegeleiwesens wurden nur temporär und fallweise Feldbrandöfen für einzelne Großbauprojekte errichtet und betrieben. Daher war die schnelle Produktion von Ersatzmaterial bei Schäden durch Sturm o. ä. kaum möglich.16 Aus der befriste- ten Ziegelherstellung solcher Projekte gingen bald kontinuierlich produzierende Ziegeleien hervor, die unter städtischer Regie standen und seit dem 13. Jahrhun- dert vor dem Hintergrund öffentlicher Großprojekte wie dem Stadtmauerbau schnell wachsende Bedeutung erlangten.17
Voraussetzung für diese Entwicklung war auf politischer Ebene die wach- sende Selbstständigkeit der Städte, auf wirtschaftlicher Ebene das Aufkommen der Geldwirtschaft und die zunehmende Spezialisierung des Handwerks.18 Antje Sander-Berke differenziert in ihrer grundlegenden Arbeit zur Baustoffversor- gung spätmittelalterlicher Städte Norddeutschlands (1995) verschiedene Mög- lichkeiten, wie städtische Ziegeleien im Mittelalter entstehen konnten, nämlich durch:
- Übernahme einer Ziegelei des Stadtherrn durch die Stadt (z.B. im Zusam- menhang mit dem Befestigungsrecht und den städtischen Emanzipations- bemühungen),
- Kauf eines Ziegelhauses von einem privaten (z.B. verschuldeten) Produ- zenten,
- Übernahme einer klösterlichen Ziegelei (die z.B. vorher durch die Stadt bereits gepachtet worden war),
- städtische Neugründung oder
- Neugründung durch ein Konsortium (z.B. aus Stadt, Kloster, Burgman-nen, Bürgern etc.).
Nicht immer lässt sich aber die Gründung bzw. Errichtung einer städtischen Ziegelei überhaupt genau datieren oder gar beschreiben – so auch im Fall des Erdinger Ziegeleiwesens. Anhaltspunkte, das Erdinger Ziegeleiwesen einer der aufgezählten Gründungsmöglichkeiten zuzuordnen (siehe unten), gibt lediglich die bereits angesprochene Urkunde der ersten schriftlichen Erwähnung einer Ziegelei in der Nähe der Stadt Erding.
In jener Urkunde vom 10. Februar 135319 nimmt Heinrich der Maurer, Bürger von Erding, mit seinem Bruder Friedrich und seiner Schwester Diemut aus Wasserburg eine Erbteilung vor. Heinrich, seine Frau Elisabeth und seine
16 Stefan Hesse, Dachziegel als Quelle kulturhistorischer Informationen, in: Walter Melzer (Hg.), Mittelalterarchäologie und Bauhandwerk. Beiträge des 8. Kolloquiums des Arbeitskreises zur archäologischen Erforschung des mittelalterlichen Handwerks (Soester Beiträge zur Archäologie, Bd. 6) Soest 2005, 223-231, hier 228.
- 17 Fouquet, Ziegelei, Sp. 602 f.
- 18 Grundlegend nach Sander-Berke, Baustoffversorgung 11-46 und 171 f.
- 19 BayHStA, Domkapitel 176 (10. Februar 1353).
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Nachkommen erhalten unter anderem „dan ziegelstadel vnd das werich vnd daz Leibgeding, daz gelegen ist in der Nevnstat, daz der herren von Salczpurch ai- gen ist“. Für die jeweiligen Güter wird im Falle der Veräußerung eine Art Vor- kaufsrecht durch die Geschwister vereinbart. In diesem Zusammenhang wird auch geklärt, wie die Güter den übrigen Erben im Todesfall eines der Ge- schwister zufielen. Dabei legt Heinrich für den Fall seines vorzeitigen Ablebens den Gegenwert des Ziegelstadels für seine Frau Elisabeth auf 15 Pfund Regens- burger Pfenninge fest.
Ziegelstadel im Südwesten und Greisslziegelei im Osten
Auf welchen Ziegelstadel bezieht sich Heinrich hier genau oder vielmehr: Wo lässt sich der genannte Betrieb exakt lokalisieren? In Frage kommen der heute als Erdinger Ortsteil eingemeindete Weiler „Ziegelstatt“, der knapp zwei Kilo- meter südwestlich der Altstadt an der Straße von Altenerding nach Moosinning liegt, und der so genannte Greisslziegelstadel im Schollbacher Feld,20 der etwa in gleicher Entfernung östlich der Altstadt auf dem Weg nach Dorfen liegt. Letzterer ist in einer Urkunde von 1490 genau lokalisiert, als von einem „Acker im Schallbach [Schollbach] beim alten Ziegelstadel“ die Rede ist, dessen Gren- zen unter anderem der „Emblinger Weg“ bilden.21 Das Dorf Emling liegt auf gleichem Wege gut fünf Kilometer von der Erdinger Altstadt entfernt.22
Weil die Greisslziegelgrube als der „alte“ Stadel bezeichnet wird, kann davon ausgegangen werden, dass es am Ende des 15. Jahrhunderts in der Nähe der Stadt Erding mindestens zwei Ziegeleien gegeben haben muss. Das Problem der genauen geographischen Verortung des in der Urkunde von 1353 – und ebenso eines 1440 beim Verkauf eines Ackers „im Feld bei dem Ziegelstadel“23 – erwähnten Ziegeleibetriebs ist nicht mit endgültiger Sicherheit zu klären. Die Forschung hat die geographisch nicht weiter zugeordneten Urkundennennungen eines „Ziegelstadels“ aus den Jahren 1353 und 1440 aus onomastischen Gründen plausibel mit jenem Weiler in Verbindung gebracht, der als Erdinger Ortsteil heute amtlich „Ziegelstatt“ heißt.24 Für die hier relevante Untersuchung abstrak-
20 Siehe Katasterauszüge mit Eintragung von „Greisselkeller“ und „Greiselziegelstadel“ von etwa 1930 im Archiv der Baustofffirma AUER, Erding. Der Greisslziegelstadel befand sich auf der Gemeindeflur der „Steuergemeinde Altenerding“, südlich von Schollbach und südwestlich von Ammersdorf. Der Greisslkeller ist ohne (!) den Greisslziegelstadel schon im Kataster von circa 1820 (Archiv Vermessungsamt Erding) „verhochdeutscht“ als „Kräuselkeller“ eingezeichnet. Dieser Keller war der Sommerkeller des Erdinger Greisslbräu, siehe StA ED, Erdinger Häuserchronik Nr. 152-288, handschr., Kopie von 1830, hier Nr. 208 (Greisslbräu). Der Greisslziegelstadel, der in der Urkunde von 1490 genannt und lokalisiert ist, scheint später zwischenzeitlich stillgelegt worden zu sein.
- 21 StA ED, Urkunde 9 (25. Juni 1490), zitiert nach Andrian-Werburg, Urkunden 4-6, Nr. 9.
- 22 Es dürfte mit dem „Emblinger Weg“ die Straße nach Emling gemeint sein, nicht der heuteim nördlichen Erdinger Ortsteil Langengeisling liegende Emlinger Weg.
- 23 StA ED, Urkunde 5 (28. Oktober 1440), zitiert nach Andrian-Werburg, Urkunden 2, Nr. 5.
24 So beispielsweise Wolfgang Schierl, Chronik von Altenerding. Erding 1988, 51 und 199.
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ter grundherrschaftlicher Probleme und Phänomene ist eine exakte räumliche Zuordnung der einzelnen Ziegeleien den Aussagen aus den Schriftquellen unter- geordnet. Archäologische Ergebnisse liegen zu keiner der beiden Ziegeleien vor.
Heinrich der Maurer, Bürger zu Erding
Heinrich bezeichnete sich im Rahmen der Erbteilung im Jahr 1353 als „Maurer“ und hatte Bürgerrechte der Stadt Erding, was einen Status als Maurermeister impliziert. Er konnte über den Ziegelstadel und das „werich“ frei verfügen und beides vererben. Dieses „werich“ war wohl die zugehörige (möglicherweise monopolistische) und/oder über die reine Tätigkeit als Ziegler/Maurer hinausge- hende Geschäftsausübung, zum Beispiel im Sinne eines städtischen Amtes. Das mittel- und frühneuhochdeutsche Nomen „werich“ (werg, werch, werck) ent- spricht neuhochdeutsch in etwa Arbeit, Verrichtung, Geschäft und dürfte hier deshalb eine Art (städtisches?) Amt bzw. einfach das Handwerk des Zieg- lers/Maurers bezeichnen.25 Ebenso frei verfügte er über das Leibgeding in der „Nevnstadt“ (Neustadt = Haagervorstadt), das wie der Ziegelstadel dem Dom- kapitel Salzburg bzw. der Salzburgischen Propstei Altenerding grundbar war.26
Heinrich bezeichnete sich nicht als Ziegelleger (was in etwa dem heutigen Maurerberuf entspräche), sondern als Maurer (im mittelalterlichen Verständnis), worunter in Verbindung mit dem vom Bürgerrecht abzuleitenden Meisterstatus eher ein Bauherr im modernen Sinne zu verstehen sein dürfte (quasi ein „Er- mauerer“). Dieser (mittelalterliche) Maurerberuf war nicht identisch mit dem des (mittelalterlichen) Ziegelmeisters; allem Anschein nach war Heinrich in Per- sonalunion beides, nämlich als Ziegler sein eigener Zulieferer von Baustoff, auf den er als Maurer angewiesen war. Zu dieser (zweifachen) Ansiedlung im Bau- gewerbe kommt sein Status als Bürger der Stadt Erding, dem auf Lebenszeit zum Lebensunterhalt ein Gut ausgegeben wurde. Dieses Gut war aber nicht der Stadt eigen, obwohl es sich auf deren vor den Mauern erweitertem Stadtgebiet befand.27 Wofür erhielt er dieses Leibgeding?
Das Baugewerbe, zu dem sowohl Maurer als auch Ziegler gehörten, und das Jacques Le Goff als „die erste und fast die einzige mittelalterliche Indust- rie“28 bezeichnet, zählte zu den Sektoren mit dem höchsten Anteil an
Siehe auch Claudia Baumann, Historisches Ortsnamenbuch von Bayern. Oberbayern, Bd.
3: Altlandkreis Erding. München 1989 (= HONB Erding), 218, Nr. 736.
25 Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 32. Aufl. Stuttgart 1992, 314 (Stichwort wërc, wërch); Christa Baufeld, Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch.
Tübingen 1996, 246 (Stichwort werk).
- 26 Schierl, Chronik 51. Siehe hierzu auch Susanne Herleth-Krentz und Gottfried Mayr, Erding(Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern, Heft 58) München 1997, 16 f., 68 f. und
130 f.; Dachs, Stadt Erding 13 und 19.
- 27 BayHStA, Gerichtsurkunden Erding Nr. 14692.
- 28 Zitiert nach Sosson, Baugewerbe, Sp. 1623.
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Beschäftigten an der Gesamtheit der in Zünften organisierten Arbeitskräfte.29 Alles weist darauf hin, dass der „Maurer“ Heinrich als Vollbürger und mögli- cherweise auch als Ratsmitglied eine Art Oberaufsicht über das (städtische) Zie- geleiwesen oder das gesamte Bauwesen der Stadt innehatte.30 Differenziert er vielleicht deshalb zwischen Ziegelstadel als Betrieb bzw. Gut und seinem damit verbundenen „werich“, weil er nicht völlig selbstständiger Unternehmer ist, sondern hinsichtlich seines Kompetenzbereichs als Ziegler/Maurer in irgendei- nem Verhältnis zu einem Feudal- oder Grundherren stand? Bezog er darum eine Zuwendung als eine Art Grundgehalt von der Salzburgischen Propstei Altener- ding aus einem Gut in der neuen Erdinger Vorstadt, gehörte aber gleichzeitig als Person zum Rechtsbezirk der Stadt? Welche Besitzverhältnisse herrschten für den Ziegelstadel vor den Toren Erdings und war Heinrich der Maurer mögli- cherweise das Bindeglied zwischen der Stadt Erding als Betreiber der Ziegelei und der Salzburgischen Propstei Altenerding als Grundherr? Gab es beim Zie- geleiwesen eine transterritoriale Zusammenarbeit der Kräfte diesseits und jen- seits der Erdinger Stadtmauer?
Extra muros: Die Standortwahl vor den Mauern als Kernproblem bei der Ziegeleigründung
Das Erdinger Umland – die „Ziegelstatt“ vielleicht noch mehr als das Schollba- cher Feld – war ein prädestinierter Standort für eine in Produktionsvolumen und räumlichem Umfang große Ziegelei vor den Mauern der Stadt. Die hier vorhan- denen Lehmvorkommen waren reich und der schier unbegrenzt zu gewinnende Torf des Erdinger Mooses bot eine kostenreduzierende Alternative zum teuren Holz als Brennmaterial zur Feuerung der Öfen. Um Transportkosten nicht nur bei der Materialbeschaffung, sondern auch bei der Lieferung der Fertigware niedrig halten zu können, war eine geringe Entfernung von der Ziegelei zur Stadt mit ihren Baustellen eine wichtige Voraussetzung. Dass eine solch große Produktionsanlage grundsätzlich nicht innerhalb der Stadtmauern zu errichten war, ist in Anbetracht der allgemeinen Raumnot, die durch die innere Urbanisie- rung und bauliche Verdichtung der Städte entstanden war, und aus Feuerschutz- gründen selbsterklärend. Die Lösung der Standortfrage war also nicht unprob- lematisch, denn die Auswahl der Örtlichkeit für eine Ziegelei hing von einem gewichtigen Faktor ab, der über die reine Versorgung mit den Rohstoffen Lehm
29 Sosson, Baugewerbe, Sp. 1624. Ein umfangreiches Fallbeispiel zu Bauführung, Baufinan- zierung und Baubetrieb im Mittelalter gibt Robert Büchner, Bauen zum Lobe Gottes und zum Heil der Seele. Der Neubau der St. Johanneskirche zu Lienz im 15. Jahrhundert (mit einer Edition des Rechnungsbuches 1467-1491) (Medium Aevum Quotidianum, Sonderband XVII) Krems 2006.
30 Im 14. Jahrhundert wird man wegen Personalunionen und Ämtervermischung noch nicht von einem selbstständigen Ziegelherrenamt sprechen können, so Sander-Berke, Baustoff- versorgung 22 f.
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und Brennmaterial und der Minimierung aller Wegstrecken hinausging: Die in Betracht kommenden Felder vor den Toren Erdings, sowohl an der Ziegelstatt als auch am Schollbach, gehörten – aufgrund der im Mittelalter typischen (grund-) herrschaftlichen Gemengelage – nicht der Stadt selbst. Der Boden, auf dem die Ziegelei errichtet werden sollte, war wie bereits angesprochen ur- sprünglich der Salzburgischen Propstei Altenerding grundbar und lag damit jen- seits der Kompetenz- und Einflussbereiche der Stadt und ihrer Obrigkeiten.31 Konkret heißt das: Alle nötigen Rohstoffe für eine städtische Ziegelproduktion lagen sprichwörtlich vor der Haustüre, aber in den Händen von wirtschaftlich (und politisch) anders orientierten Feudalherren. Es war ein grundherrschaftli- ches Politikum, wenn städtische Anlagen wie Ziegeleien einer sich emanzipie- renden Stadt auf Grund und Boden anderer Mächte lagen.
Dies alles spiegelt einen komplexen (grund-) herrschaftlichen Sachverhalt und die daraus resultierende symbiotische Struktur der mittelalterlichen Ziegelei wider. Der Erzbischof von Salzburg (i. e. das Domkapitel des Hochstifts Salz- burg) war als weltlicher Grundherr hier nicht einmal der eigene, sondern ein fremder Diözesanherr, denn der Raum Erding war Teil der Erzdiözese Freising. Modellhaft ausgedrückt: Der Grund und Boden der Ziegelstatt gehörte dem Hochstift Salzburg, die Menschen darauf gehörten seelsorgerisch zur Erzdiözese Freising und die darauf stehende Ziegelei sollte als Produktionsbetrieb ein Er- dinger „Unternehmen“ werden. Streng genommen müsste hierbei immer von einer städtischen, nicht stadteigenen Ziegelproduktion gesprochen werden, da der Betrieb in seiner Gänze (vor allem hinsichtlich der Rechtstitel über Grund und Boden) nicht der Stadt eigen, sondern ihr nur auf wirtschaftlicher und orga- nisatorischer Ebene zugeordnet war.32 Über den Ausgang der Verhandlungen zwischen der Stadt Erding und der Salzburgischen Propstei Altenerding – hier die Stadt, dort die Feudalherren – ist außer der zu schlussfolgernden, offensicht- lich diplomatischen Einigung nichts bekannt.
Für einen interherrschaftlichen Konsens sind die beiden Parteien auf wirt- schaftlicher Ebene zwar gleichwertige Verhandlungs- und Vertragspartner, doch unternehmerisch tätig wurde wohl ein ausführender Funktionär, der den Auftrag zur Überwachung der Ziegelproduktion delegiert bekam. Hier könnte Heinrich der Maurer wieder in die Untersuchung miteinbezogen werden, dem man dieses Amt oder diese Aufgabe – also daz werich – der Oberaufsicht hypothetisch zu- weisen könnte.
31 Vgl. Schierl, Chronik 51 und 199.
32 Zwischen städtischer und stadteigener Ziegelei unterscheidet schon Sander-Berke, Bau-
stoffversorgung 22.
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Abb.: Die Stadt Erding mit ihrem Burgfrieden war ein Ausschnitt aus der Gemeindeflur von Altenerding, in der die Ziegelstatt und der Greisslziegelstadel lagen.
Die Erdinger Ziegelproduktion: Ein Konsortiumsprojekt?
Wie könnte das Erdinger Ziegeleiwesen in das oben beschriebene Modell von Antje Sander-Berke eingepasst werden, wenn man die Aussagen der einzigen relevanten Urkunde aus dem 14. Jahrhundert auswertet? Es ist unwahrschein-
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lich, dass die Stadt eine bestehende Ziegelei vom Stadtherrn (hier: vom Herzog) übernommen hat, weil eine zweite Partei, die Salzburgische Propstei Altener- ding, in dem Kräftespiel eine wichtige Rolle als Grundherr spielt, aus deren Gütern der vermeintliche Aufsichtsleitende für sein „werich“ einen Unterhalt bezieht. Möglich wäre, dass der Ziegelstadel als vormals private Ziegelei in städtische Hand gekommen ist. Ob das zum Zeitpunkt Heinrichs Erbteilung 1353 bereits geschehen sein könnte, ließe sich in diesem Fall kaum noch klären; unklar bliebe, warum einerseits ein „werich“ und ein Leibgeding aus einer frem- den Grundherrschaft dann im Zusammenhang mit der Ziegelei eines Stadtbür- gers stünden, andererseits konnte Heinrich aber über den Ziegelstadel im Sinne eines Eigentums mit einem reellen Gegenwert für die Verbliebenen verfügen. Auch die dritte Möglichkeit, dass die Stadt eine Ziegelei von einem Kloster – oder hier von der Salzburgischen Propstei Altenerding – übernommen haben könnte, löst nicht die Frage, warum ein Stadtbürger aus diesen (dann ehemals) kirchlichen Besitzungen noch eine Zuwendung erhielt. Das fremdherrschaftliche Leibgeding wäre überhaupt ein Argument gegen die Theorie einer rein städti- schen Ziegelei.
Am plausibelsten ist meines Erachtens deshalb das Modell einer Grün- dung durch ein Konsortium aus der Stadt Erding und der Salzburgischen Props- tei Altenerding in Kooperation mit dem Bürger Heinrich. Einzelheiten bleiben gewiss im Dunklen, aber es ist auffällig, dass sich eine Person mit Bürgerrecht der Stadt und einem wie auch immer gearteten werich als Ziegler/Maurer cha- rakterisiert, gleichzeitig aber über jenes, nun bereits mehrfach angesprochene Leibgeding aus anderer, fremder Grundherrschaft Einnahmen bezieht. Über den Ziegelstadel verfügte Heinrich leibrechtlich, obwohl alles offensichtlich mit zwei politisch und wirtschaftlich unterschiedlich orientierten Kräften zu tun hat. Ob die Salzburgische Propstei Altenerding Grund und Boden sowie das Leibge- ding für die Umsetzung einer städtischen Ziegelei zu Verfügung gestellt hat, bleibt ebenso unklar wie die Frage, welche Gegenleistungen sie dafür erhielt. Einen bestimmten Anteil an der Produktion der Baustoffe oder andere Einnah- men aus einer Art Pacht vielleicht, möglicherweise das angesprochene Flucht- recht für die Bewohner des Dorfes. Mussten sich die Altenerdinger am Mauer- bau persönlich beteiligen oder wurde das über Gegenleistungen wie das Leibge- ding abgegolten? War Heinrich als ausführender Ziegler/Maurer das Bindeglied zwischen den beiden Grundherrschaften? Welche Rolle spielte er in diesem (grund-) herrschaftlichen Konsortium?
Eine Wiederholung:
Grundherrschaftliche Probleme bei der Ziegeleierweiterung
Von einem vergleichbaren Phänomen solcher transterritorialer Zusammenarbeit aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, als sich die grundherrschaftlichen Probleme bei einer umfassenden Erweiterung des Ziegeleigeländes bzw. der Lehmgründe wiederholten, erzählen uns die Quellen mehr. Die Stadt Erding
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wurde bei den Plünderungen und Brandschatzungen der Jahre 1632, 34 und 48 mehrfach nahezu total zerstört.33 Zeitgenössische Berichte schildern die Aus- maße als verheerend.34 Der Wiederaufbau war kostengünstig mit dem Baustoff aus der Erdinger Ziegelproduktion voran zu treiben: Auf einer Länge von 120 Metern musste die Mauer 16 Meter hoch von Grund auf neu aufgebaut und auf einer Länge von 900 Metern grundlegend repariert werden.35
Als schließlich der eigene Lehmgrund im Zusammenhang mit der zweiten Zerstörung 1634 knapp wurde, veranlasste der Stadtbauverwalter den Ziegler, auf Nachbarsgrund zu graben und dort Lehm zu werfen.36 Dieser Boden war je- doch dem Kloster Attl am Inn grundbar, dessen Abt Maurus von Attl sich beim Bürgermeister sofort über diese Eigenmächtigkeiten beklagte. Dieser Streit en- dete am 3. November 1638 nach längerem Briefwechsel mit einem Landtausch und den Worten des Attler Hofschreibers Abraham Prupper: Wir haben nun er- wogen, daß von seiten der Stadt zur Wiedererpauung der zweimal in Schwedi- schen Kriegseinfällen eingeäscherten Stadt Ärding dießorts bequemlicher Erden zum Ziegelbrennen hochbenöte…37 Mit dem Kloster Attl kam nun der dritte be- nachbarte Grundherr ins Mächtespiel um die Erdinger Ziegelstatt, von dem die Schriftquellen sprechen.
In diesem, dem obigen ähnlichen Sachverhalt zeigt sich erneut eine Kompatibilität mehrerer Grundherrschaften mit unterschiedlichen Interessensla- gen und wirtschaftlichem Selbstverständnis: Um die Ziegelversorgung einer Stadt (weiterhin) zu gewährleisten, musste immer dann eine transterritoriale Zu- sammenarbeit erreicht werden, wenn für eine städtische Ziegelei Boden zur Gründung oder Erweiterung des Produktionsgeländes benötigt wurde. Weil die Ziegelei, gebunden an Rohstoffvorkommen, immer vor den Toren der Stadt und damit der beanspruchte Boden außerhalb der Stadtgrenzen lag, musste er sys- temimmanent fast zwangsläufig fremder Grundherrschaft gehören.
Der Ziegel als Kontinuitätsträger: 600 Jahre Betrieb an der Ziegelstatt
Die geschilderten grundherrschaftlichen Probleme, die im Zentrum dieses Auf- satzes stehen, bestanden also nicht nur am Anfang des städtischen Ziegeleiwe- sens. Sie lösten sich erst mit dem vollständigen Übergang der Ziegeleien in den
33 Grundlegend nach Dachs, Stadt Erding 31 f, 79 f.
34 Ausführlich zusammengestellt bei Felix Fischer, Geschichte der Gemeinde Altenerding, 4
Bde., masch. 1911-15 (Stadtarchiv Erding), Bd. 1, 4-16. Die überlieferten Schriftstücke stammen aus dem Schriftverkehr zwischen der Stadt Erding und den feindlichen schwedischen Besatzern einerseits und der kurfürstlichen Verwaltung andererseits. Die Intention der Schreiben war sicherlich, möglichst hohe Hilfs- und Entschädigungs- leistungen seitens des Landesherrn zu erhalten. Diese zeitgenössischen Schilderungen über die Ausmaße der Zerstörungen sind vor diesem Hintergrund m. E. zu relativieren.
- 35 Staatsarchiv Landshut, Repert. 82, fasc. 19, Nr. 325, Saal 17.
- 36 Im Folgenden nach Schierl, Chronik 51 und 199.
- 37 Zitiert nach ebenda, 51.
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(Grund-) Besitz der Stadt Erding, der im Falle der Ziegelstatt spätestens 1748/52,38 vermutlich aber zwischen 1638 und 1681,39 vollzogen war. Im Zuge der makropolitischen und grundherrschaftlichen Veränderungen im Zusammen- hang mit den Reformen Montgelas’ zu Beginn des 19. Jahrhunderts bot der Stadtmagistrat dann im Jahre 1810 die Ziegelstatt im Sinne heutiger Privatisie- rungsüberlegungen öffentlich zum Verkauf an. Die Zeitungsannonce pries den Gesamtkomplex an als „Behausung mit Ziegel gedeckt, Stadel, Viehstallung, 2 Brennöfen, 2 Trockenstädel mit Ziegel gedeckt, Gras- und Baumgärten, 141⁄2 Tagwerk Jauchert Äcker Gründe, 20 Tagwerk Jauchert Wiesgründe“.40
Er wechselte in der Folge mehrfach den Besitzer und Betreiber,41 bis das Anwesen 1899 vom Erdinger Maurermeister Johann Auer erworben wurde, in dessen Familie es bis heute blieb. Auer gründete 1885 ein bis zur Gegenwart florierendes Baugeschäft (heute ein Bauwarenmarkt mit fünf Niederlassungen) und produzierte auf dem Gelände der Ziegelstatt und in der neuen, anderthalb Kilometer nördlich davon gelegenen Ziegelei an der Dachauer Straße bei Auf- kirchen seine eigenen Baumaterialien.
Max Auer jun., der Urenkel des Gründers Johann Auer, gab in den 1960er Jahren die alte Ziegelstatt und die Ziegelei bei Aufkirchen auf. Auf dem Ge- lände der Erdinger Ziegelstatt, verortet man den „Ziegelstadel“ Heinrichs des Maurers an dieser Stelle, wurden also über 600 Jahre lang für den lokalen Markt Baustoffe hergestellt.
Zusammenfassung
Mit der Entwicklung des städtischen Ziegeleiwesens im Mittelalter zu einem großorganisierten, vorindustriellen Wirtschaftszweig mit „sozial- und sicher- heitspolitischen Aufgaben“ (G. Fouquet42) gingen grundherrschaftliche Prob- leme einher. Arealerweiterungen ließen diese Konflikte wiederholt aufkommen und forderten folglich analoge Lösungsansätze. Diese Schwierigkeiten waren hausgemacht: Die Auswahl des Standortes für eine Ziegelstätte hing von kom- plexen Faktoren ab. Es war einerseits unabdingbar, großflächig Lehm werfen zu können, in unmittelbarer Nähe die Öfen zu errichten und eine konstante Versor- gung mit Brennmaterial sicherzustellen. Andererseits verlangten binnenurbaner Platzmangel und feuerpolizeiliche Überlegungen, eine städtische Ziegelei au- ßerhalb der Stadtmauern (extra muros), also auch außerhalb des eigenen Rechtsbezirkes, und damit fast ausnahmslos auf fremdherrschaftlichen Grund und Boden zu errichten. Die daraus resultierenden grundherrschaftlichen Prob-
38 Schierl, Chronik 51 und 199; HONB Erding 218, Nr. 736.
39 Matthias Johannes Bauer, Als Erding „versteinerte“. Von der Holz- zur Ziegelbauweise –
der Zyegelstadel im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, in: Historischer Verein Erding:
Jahresschrift 2004, 112-121, hier 118.
- 40 Zitiert nach Schierl, Chronik 51.
- 41 Aufgezählt in ebenda, 199.
- 42 Fouquet, Ziegelei, Sp. 603.
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leme waren m. E. systemimmanent, standen im direkten Verhältnis zu den im- mensen Flächen, die Ziegeleien mit ihren Lehmgründen und Lagerplätzen benö- tigten, und können folglich kaum punktuelle Einzelfälle gewesen sein.
Die Stadtmauer zog zwar eine räumliche Grenze, doch war sie über die modellhaft-theoretische Scheidewand von Rechtsbezirken und Grundherrschaf- ten hinaus keinesfalls auch eine solche in der Realität. Vielmehr war „die Stadt als klar abgegrenztes Gebilde eine (zeitgenössische ebenso wie forschungsge- schichtliche) Fiktion“, so Felicitas Schmieder, denn „so sehr die Stadtmauer ab dem 13. Jahrhundert zunehmend zum Signum des eigenständigen städtischen Rechtsbezirkes, zum Symbol einer Rechtsgrenze wurde, so wenig war dieser Rechtsbezirk territorial geschlossen oder endeten städtische Rechte, Ansprüche und Begehrlichkeiten an der Mauer. In vielfacher Weise durchdrangen Land und Stadt einander, und vor allem bemühten sich gerade die größeren Städte im Spätmittelalter, ihr Umland möglichst herrschaftlich zu durchdringen.“43 Das geschah durch eine offensive, vielleicht bisweilen aggressive Umlandpolitik, indem Rechte und Einflussmöglichkeiten, wie hier am Beispiel des Erdinger Ziegeleiwesens dargestellt wurde, Stück um Stück akkumuliert wurden.
Das territoriale Erfassen von Raum in naher Umgebung der Stadt und das Akkumulieren von Rechten ließ die Stadt Erding nicht nur vor dem Hintergrund des Baugewerbes das Rennen um die wirtschaftliche und politische Vorherr- schaft gegenüber dem Umland machen. Mit der Stadt als neuartigem, „frühka- pitalistischem“ Gesellschaftssystem auf der einen und den Propsteien des Salz- burger Domkapitels und des Klosters Attl mit ihrem veralteten, überholten Selbstverständnis standen sich Geld- und Natural- bzw. Tauschwirtschaft ge- genüber. Gerade im Tausch (anstelle bspw. Verpachtung) des 1638 zur Ziegelei- erweiterung benötigten Grundes – für Attl wohl nichts weiter als lehmreicher Ackerboden ohne Gefälle – zeigt sich das: Die kirchlichen Feudalherrschaften des Klosters Attl hatten das wirtschaftliche Potenzial hinter einem Unternehmen wie einer Ziegelei noch nicht erkannt, obwohl sie – wissentlich oder unwissent- lich – den entscheidenden Beitrag dazu leisteten: Sie stellten den benötigten Grund mit den dazugehörigen Rohstoffen zu Verfügung – zu einem zweifellos unverhältnismäßig geringen eigenen Vorteil.
43 Schmieder, Stadt 135.
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MEDIUM AEVUM QUOTIDIANUM
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KREMS 2007
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramèr
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, 3500 Krems, Österreich. Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: Grafisches Zentrum an der Technischen Universität Wien, Wiedner Hauptstraße 8-10, 1040 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ………………………………………………………………………… 4
Matthias Johannes Bauer, Extra muros.
Systemimmanente grundherrschaftliche Probleme
im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen städtischen Ziegeleiwesen am Beispiel der Stadt Erding (Oberbayern) ………………………….. 5
Ana-Maria Gruia, Sex on the Stove.
A Fifteenth-Century Stove Tile from Banská Bystrica ……………… 19
Thomas Kühtreiber, „Raum-Ordnungen“. Raumfunktionen und Ausstattungsmuster auf Adelssitzen im 14.-16. Jahrhundert.
Ein Forschungsprojekt am ‚Institut für Realienkunde’
der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ………………… 59
Matthias Johannes Bauer, Die unbekannte illustrierte Fechthandschrift
des Hugold Behr. Vorbemerkungen zur Edition
von Rostock UB Mss. var. 83 ………………………………………… 80
Buchbesprechungen …………………………………………………………….. 86
Vorwort
Der vorliegende Band von Medium Aevum Quotidianum beschäftigt sich vor- rangig mit einem Bereich des historischen Alltags, welcher seit dem 19. Jahr- hundert für die kultur- und sozialgeschichtliche Forschung immer wieder von besonderem Interesse gewesen ist: mit Wohnkultur im weitesten Sinne, vom Bauwesen bis zu einem Detail spätmittelalterlicher häuslicher Innenausstattung. Eine solche Konzentration steht im Zusammenhang mit einem Projekt am ‚In- stitut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit’‚ welch letzteres eng mit Medium Aevum Quotidianum zusammenarbeitet. Dieses Forschungs- projekt, ‚Raum-Ordnungen’ widmet sich vor allem den Raumfunktionen und häuslichen Ausstattungsmustern im adeligen Wohnbereich Mitteleuropas vom 14. bis zum 16. Jahrhunderts und wird in diesem Heft von Thomas Kühtreiber kurz beschrieben.
Das genannte Forschungsvorhaben sieht auch die internationale Koopera- tion von ausgesprochener Bedeutung. Erste Ergebnisse dieser Zusammenarbeit sollen zwei weitere Beiträge dieses Heftes vermitteln. Matthias Johannes Bauer beschäftigt sich für den oberbayrischen Raum mit Fragen des spätmittelalterli- chen städtischen Ziegeleiwesens, welches natürlich eine wichtige Rolle gerade in Bezug auf jedwede öffentliche und private Bautätigkeit spielte. Ana Maria Gruia setzt sich dagegen mit einem Detail des häuslichen Innenraumbereiches im spätmittelalterlichen Oberungarn auseinander, und zwar mit den Bildpro- grammen glasierter Kachelöfen. Es geht ihr dabei besonders um den Versuch einer Erklärung und Entschlüsselung des Kontextes der Darstellung eines Ko- pulationsaktes auf einer Ofenkachel des 15. Jahrhunderts aus der heute slowaki- schen Stadt Banská Bystrica. Gerade diese Abhandlung zeigt die Varietät von zu berücksichtigenden Analysemöglichkeiten, welche akribische Detailuntersu- chungen zu Fragen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wohnkultur er- öffnen können.
Gerhard Jaritz
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