Folklor-episehe Paradigmen in der Nestorchronik1
Iliana Tschekova (Sofia)
Chroniken gehören zu den repräsentativsten Denkmäle der mittelalterlichen Kultur. In ihnen spiegelt sich das Selbstbewußtsein des Ethnos in seiner ganzen Fülle und Vielfältigkeit wider. Die mündlichen Überlieferungen, die in sie Eingang ge nden haben, sind eine der wichtigsten Quellen, aus denen Auskunft über die Vergangenheit und deren (o mythologisierte) Darstellung geschöp wird. Die Chroniken wurden vorwiegend als Werke des historischen Denkens im Mittelalter betrachtet, und sie sind als ‚Kunstwerke‘ wenig erforscht. Es ist notwendig, Geschichte als Literatur im weitesten Sinne des Wortes aufzufassen, d. h. nicht nur nach Quellen und Fakten zu fragen, sonde auch die narrativen Strukturen des Mythos und der Folklore zu suchen. Die überlieferten Chroniken sind als Ausdruck eines bestimmten Kulturtyps nicht genügend erforscht.
Die alt ssischen Chroniken entstehen im Schoße der byzantisch slawischen mittelalterlichen Tradition und sind ein Bestandteil der Kultur der S/avia Orthodoxa. Unbestritten ist ihre natürliche Verbindung zu ihren schri lichen „Vorläufe “ – den byzantinischen und altbulgarischen Chroniken, die die Chronisten, auch der Mönch Nestor des Höhlenklosters (Kiewo Petschora Kloster) und seine Nachfolger, offensichtlich vor sich gehabt haben. Powjest wremennych Iet („Erzählungen von den vergangeneo Jahren“) aus dem 12. Jahrhundert, bekannt als Nestorchronik, ist die früheste uns überlieferte russische Chronik. Sie enthält Werke der Folklore des Kiewer Rußlands und wir ein Licht auf die Fragen nach der ältesten Geschichte der russischen Staatlichkeit, d. h. sie weist kulturhistorische und genealogische Reminiszenzen auf.
Die Erzählungen über das 9. und 10. Jahrhundert in der Chronik beziehen sich auf erste Herrscher des altrussischen Staates, historisch reale, zugleich auch mythologisierte – Rjurik, Sineus, Truwor, Askold, Dir, Oleg, Igor, Olga, Swjatoslav und Wladimir. Die narrative Erzählweise läßt eine Reihe von Folk-
1 Überarbeitete Fassung eines Vo ags bei der Konferenz „The Medieval Chronicle“, Utrecht, 13. bis 16. Juli 1996.
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Ioremerkmalen im Paradigma des mittelalterlichen Herrschers (heidnisch und/oder christlich) deutlich werden, o enbart den männlichen und weiblichen Persönlichkeitsansatz und dessen Bedeutsa keit ir das Schicksal Rußlands.
Die chronistischen Texte über Fürst Oleg und die Gründung der Kiewer Rus können auch unter dem Aspekt des heroischen Epos betrachtet werden. Sie lassen das Paradigma des Kulturheroen entstehen – des Helden-Herrschers, Uranfangers, Gründers des Königtums und der Hauptstadt, Kriegers, Priesters („Zauberkundigen“) und Drachenkämpfers. Oleg macht Kiew zu seiner Hauptstadt und wird zum Gründer des Kiewer Rußlands. „Und Oleg ließ sich als Fürst in Kijev nieder, und Oleg sprach: Dies soll die Mutter der russischen Städte sein … Dieser Oleg begann Städte zu bauen und setzte Tributzahlungen fest.“ (Jahr 882, Trautmann 13). Die Gestalt dieses Fürsten entspricht dem heidnischen epischen Modell, sie hat aber auch eine ch stlichen Exponenz als Heiliger-Krieger: „Oieg zog gegen die Griechen … Und er kam vor Car’grad an, und die Griechen sperrten den Sund ab und verschlossen die Stadt … Und Oleg befahl seinen Kriege , Räder zu machen und auf diese Räder die Boote zu stellen … und sie rückten vom eien Felde her an die Stadt heran. Als das die Griechen sahen, rchteten sie sich, und sandten Boten zu Oleg … Und man brachte ihm Speise und Wein heraus, aber er nahm sie nicht an, denn sie waren mit Gift zubereitet. Und die Griechen fürchteten sich und sprachen: Das ist nicht Oleg, sonde der hl. Demetrios, von Gott gegen uns gesandt.“ (J 907, Trautmann 17).
Das mythopoetische Modell des Weges weist eine feste epische Richtung „Nord-Süd“ auf. In der altrussischen Chronik wird o vom Weg von den Waräge zu den Griechen gesprochen. (Trautmann 3) Die staatsmännische Betätigung Olegs und der anderen altrussischen Herrscher entfaltet sich nach der Achse Novgorod – Kiew – Konstantinopel. Diese Gesetzmäßigkeit ist durch die Zielgerichtetheit der russischen Fürsten auf das große politische Zentrum des Südens, Konstantinopel, bedingt. Es wird in der mündlichen sowie schri lichen Tradition der Slavia Orthodoxa mit dem mythopoetischen Namen „Zarigrad“ (Car’grad) – Kaiserstadt, „Stadt des Zaren“, „Zar über alle Städte“ – benannt.
Es liegen keine byzantinischen Quellen vor, die die Nachricht der altrussischen Chroniken über einen Feldzug unter Führung Olegs (907) gegen das Imperium bezeugen. Der Sieg über die Griechen, gefeiert durch das Aufhängen von Olegs Schild an den Toren Konstantinopels ist möglicherweise aufgrund der Mythologisie ng Zarigrads entstanden. Die byzantinische Hauptstadt stellt einen Anziehungspunkt, ein erwünschtes Ziel des rstlichen Weges dar. Diese Rolle ist historisch tief verwurzelt, daß sie zum chronistischen Topos wird. Die abschließende und mit dem größten Gewicht versehene Tat der Herrscher ist der Feldzug nach Zarigrad (so ist es r die Herrscher Kij, Askold und Dir, Oleg, lgor, Swjatoslav) und dessen Substituten (Wiadimir gegen die griechische Stadt Korsun‘ – 988, Swjatoslav gegen die bulgarische Stadt Perejaslavez an der Donau – 97 1 , oder ein iedlicher Besuch in Zarigrad – so bei Fürstin Olga, 955). Konstantinopel ist auch in der
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Fürstenbiographie von Wladimir Swetoslawitsch, Jaroslav dem Weisen, Wladimir Monomach u. a. präsent.
Die Fassung in der Ersten Chronik von Novgorod berichtet: „Oleg ging nach Novgorod und von dort nach Ladoga. Andere sagen, daß er über das Meer (Warägische Meer) kam, und ihn hat dann eine Schlange gebissen, und er starb; sein Grabhügel ist im Ladoga“. (Novgorodskaja pervaja letopis, 109). Das mythepoetische Modell des Weges zeichnet in der chronistischen Erzählung über Oleg einen geschlossenen epischen Zyklus ab, wo der anfangsbildende geographische Punkt der altrussischen Staatlichkeit, und/oder der Regierungszeit Olegs (der skandinavische Norden, Novgorod, Ladoga, Kiew), dann der mythologisierte Locus der Herrschermacht (Konstantinopel) und der Endpunkt in der staatsmännischen Betätigung des Fürsten, der mit dem Ausgangspunkt zusammen llt (der skandinavische Norden, Novgorod, Ladoga, Kiew), die drei Stützen bilden.
Das Omen und Wunder sind die notwendige mythepoetische Komponente beim Au reten (oder der Geburt) des epischen Helden und auch bei dessen Untergang. Sie bilden den gesetzmäßigen Rahmen des mythologischen Narrativs. „Im Westen zeigte sich ein großer Ste in Speergestalt.“ (Jahr 9 1 1 , Trautmann 19). Es wird über das astronomische Omen berichtet, das den Anfang einer Natur- und Sozialkatastrophe ankündigt, also eine eigena ige Teilnahme des Weltalls am Untergang des Fürsten (interpretiert zu 9 1 2).
Der Herrscher stirbt eines natürlichen Todes oder nach der göttlichen Vorsehung, seine menschlichen Sünden büßend, von denen die häu gsten die Selbstüberschätzung und der Wettkampf mit Gott und Schicksal sind. Oleg muß der Prophezeihung der Wahrsager nach durch sein Pferd getötet werden. „Da lachte Oleg und schalt den Wabrsager, in dem er sprach: Unwahr ist was die Zauberer sagen, alles ist Lüge: das Pferd ist tot, und ich lebe. … Und er trat mit dem Fuß auf der Schädel: da fuhr eine Schlange aus dem Schädel heraus und stach ihn in den Fuß.“ (Jahr 912, Trautmann 24). Seine Mißachtung der Prophezeiung sowie der Tritt auf den Pferdeschädel stellen den Topos im Verhaltensstereotyp des epischen Helden dar. Sie sind mit einer Demonstration von Kra , Überlegenheit und Gotteslästerung verbunden, was an antike Vorbilder erinnert. Die demonstrative Überheblichkeit wird gemäß dem ethischen System des Epos sanktioniert – sie wird in den ethischen Rahmen Sünde-Buße eingeschlossen. Der Herrscher unterliegt nicht dem Gericht der Sterblichen, er ist r seine Taten einer höheren Instanz verantwortlich – dem Schicksal/Gott.
Der Schicksalsschlag kommt von der naheliegenden Umgebung; die Ursache seines Untergangs ist ihrem Wesen nach real – ein Gegenstand, Tier, Mensch, Naturkra , die ihm am nächsten stehen und ihm wesensgleich sind. Fürst Oleg stirbt durch sein Lieblingspferd. Das entspricht ganz seinem Wesen als epischer Held. Das Pferd, ein Teil seines „Ichs“, der die eine Häl e des eigenartigen epischen Kentauren darstellt, wird zur Ursache des Todes der
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anderen, der menschlichen Häl e. Sein Tod ist folglich in seinem eigenen Wesen begründet. Der Held ve ichtet sich selbst.
Die epischen Merkmale der Chronistischen Erzählung, die ausgeprägte Ähnlichkeit der Gestalt mit dem Modell anderer epischer Helden – dem norwegischen Wikinger Orwar Odd, dem englischen Baron Robert Schurland, dem russischen Bogatir Wasilij Buslaev u. a. (Tschekova 1997, 5-1 6), sowie die typologisch gemeinsamen epischen Paradigmen und der feste narrative Zyklus geben Anlaß dazu, von einem Chronistischen Heldenepos über Oleg zu sprechen. Wahrscheinlich existierte dieses Epos in mündlicher Variante. Es entwickelt und verbreitet sich in Südrichtung, nach der Kiewer Rus, steht unter dem Einfluß der skandinavischen mündlichen Sagas, ist aber im Norden Rußlands als mündliche Überlieferung entstanden.
Folklor-episehe Züge trägt auch die Gestalt des kriegerischen Fürsten Swjatoslav. Im Abschnitt zum Jahr 946, dessen Titel „Anfang der Regierung Svjatoslavs“ ist, organisiert Fürstin Olga wie eine kriegerische Jungfrau und tapfere Heidin zusammen mit ihrem Sohn Swjatoslav einen Feldzug gegen das Land der Drewljanen. Swjatoslav ist hier in der Rolle des jungen kindlichen Helden, der seine erste Großtat auf dem Schlachtfeld vollbringt: „Und als die beiden Heerhaufen zusammentrafen, schleuderte Swjatoslav seinen Speer gegen die Drewljanen, und der Speer flog zwischen den Ohren des Pferdes hindurch und schlug an die Beine des Pferdes; denn er war noch jung. Da sprachen Sweneld und Asmud: Der Fürst hat den Kampfbegonnen! Ziehen wir, D ‚ina, dem Fürsten nach! Und sie besiegten die Drewljanen.“ (Jahr 946, Trautman 38). Obwohl so jung, schleudert er den Speer in Richtung des Feindes in seiner Eigenschaft als Anführer des Heeres, setzt durch diese rituelle Geste den Beginn
der Schlacht an und gewährleistet ihren siegreichen Ausgang.
Die Gestalt des kindlichen Fürsten, der Teil am Schicksal des russischen Landes hat, weist viele gemeinsame Züge mit dem Typus des Heldenkindes vom heroischen Epos auf. Dies realisiert sich auch in anderen Chronistischen Erzählungen, so in der Überlieferung über die Einnahme Kiews durch Oleg: Um die Gesetzmäßigkeit seiner Macht zu bestätigen, trägt Oleg auf seinen Armen rituell vor den Kiewer Herrsche Askold und Dir den minderjährigen Thron folger Fürst Igor, in dessen Namen er ver gt: „Ihr seid keine Fürsten, auch nicht vom rstlichen Geschlecht: ich aber bin vom rstlichen Geschlecht“; und man trug Igor heraus, „und dies ist Rjuriks Sohn“. (Jahr 882, Trautman 13).
Ähnlich auch in den Sagen über den Familienzwist zwischen Wladimir und Rogneda: Der minderjährige Sohn lsjaslav setzt sich r seine Mutter mit dem Schwert in der Hand ein und erhebt sich gegen seinen Vater.
In den chronistischen Texten, die über den Unwillen des Fürsten Swjatoslav, dem Rat der Fürstin Olga folgen und das Christentum zu übe ehmen, berichten, erfährt die Diade „Mutter-Sohn“ eine andere Sinn
gebung im Lichte der Opposition „Heidentum-Christentum“: Sohn-„Ungläu biger“, „der in der Finste is wandelt“, Mutter- omme Christin-„Weise“, „Selige“. Die religiösen Widersprüche zwischen Olga und Swjatoslav asso-
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ziieren mit alt- und neutestamentarischen Vorbilder und geben breiten didak tischen Überlegungen Spielraum, die mit Aphoristik aus der kanonischen Literatur unterstützt werden.
In das Paradigma des epischen Herrschers aus vorchristlichen Zeiten reiht sich auch die Gestalt des Fürsten Wladimir, Sohn von Swjatoslav, ein. Die Kriegslüste eit, Grausamkeit und Weiberfreundscha , d. h. Überkra und Überpotenz, sind feste Merkmale des epischen Helden und seines Verhal tenstypus. Andererseits erfüllt Wladimir die historische Mission des Bekehrers des russischen Landes. Nach der Bekehrung wird er als vorbildlicher christlicher Herrscher, als großzügig, barmherzig und in seiner Tat den Aposteln gleich dargestellt: „Dies ist ein neuer Konstantin des großen Roms, der sich und sein Volk taufen ließ; ihm ähnlich hat auch er gehandelt.“ (Jahr 1015, Trautmann 93). Die Unstimmigkeiten mit der christlichen Ethik werden durch die heidnische Vergangenheit des Fürsten gerechtfertigt. Der Chronist versöhnt die zwei Modelle durch das biblische Vorbild, durch den Lebensweg von König Salomo. „Volodimer aber war von Begierde zum Weibe besiegt und seine Frauen waren: Rogned …, Griechin …, Tschechin …, Bulgarin …, Beischlä ferinnen aber hatte er 300 in Vysegorod, 300 in Belgorod und 200 in Berestov … Und er war nicht satt der Hurerei, nahm sich Weiber anderer Männer und schändete Jung auen. Denn er war ein Weiberfreund wie Salomo … Er war weise, ging aber am Ende doch zugrunde; dies aber war töricht und fand am Ende das Heil.“ (Jahr 980, Trautmann 55).
Die narrative Erzählung über Fürstin Olga kennzeichnet sich auch durch stilistische und konfessionelle ZwielichtigkeiL Sie kann unter dem Gesichts punkt der Genrespezifik des Zaubermärchens und der Heiligenvitae betrachtet werden.
Die chronistischen Texte über die Rache der Fürstin (Jahre 945 und 946) formieren die Konzeption über das heidnische Modell der Frau-Herrseherin in der mittelalterlichen mündlich-schri lichen Tradition. Unzugängliche Braut Königin, Gebieterio über die Kräfte der Natur, und kriegerische Jungfrau bilden die Dreigestaltigkeit der russischen Fürstin in der Folklore. Kurz über die Fabel: Das Land der Drewljanen, in den Grenzen des Kiewer Rußlands eingeschlossen, erhebt sich gegen die wiederholte Steue eintreibung durch den Fürsten Igor und tötet ihn. Nach der Ermordung ihres Gemahls wird Fürstin Olga zur Alleinhe scherin. Die Drewljanen schlagen ihr vor, ihren Fürsten heiraten, damit dieser den russischen Staat steuert. Olga gibt den Anschein darin einzuwilligen, aber rächt sich gnadenlos an ihnen unter dem Vorwand der Heiratsehrung der Drewljanen-Brautwerber. Ihrem Befehl zufolge wird die erste Gruppe der Gesandten samt ihren Booten lebendig in Gruben vergraben, die zweite im Bad verbrannt, die dritte während eines Festmahls zum Gedenken an
den verstorbenen Fürsten Igor niedergemetzelt.
Die drei Besuche der Drewljanen haben einen konkreten rituellen Zweck.
Sie ahmen in ihrer Aufeinanderfolge die wichtigsten vorehelichen Etappen der russischen folkloren Hochzeit nach: Brautwerbung, Verlobung, die Woche vor
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der Hochzeit. Die Metapher „Heirat-Tod“ und die Symbolik des Todes zeichnen neue semantische Ebenen in den Worten und in der Verhaltensweise von Olga ab. Ihr Reglement ist eine Eheschließung, den märchenha en Normen entspre chend, die sich jedoch vom Traditionell-Rituellen unterscheidet: Wer den Wett bewerb durch erlistung verliert, ist zum Untergang verurteilt. Die dreimalige Rache der Braut ist den märchenha en Prü ngen durch „Boot“, „Bad“ und „Essen“ (Propp 1986, 315-318) ähnlich. Die Beein ussung durch das Zauber märchen ist auch in kompositionellen und stilistischen Besonderheiten des chronistischen Textes unübersehbar. Hier spiegeln sich alte rituelle und Kultpraktiken wider, die sich auf Urformen des Märchens zurückführen lassen, wo dieses eine utilitäre Erzählung über die Lebensweise der Menschen darstellt, ver ochten mit rituell-magischen und mythologischen Vorstellungen. Die Rolle eines Tabus spielt in der Chronik der Verstoß gegen das Reglement in den
Beziehungen „Fürst-Untertanen“ (lgor – die Drewljanen).
Die märchenha e Rolle von Olga als Königin-Braut, und der Drewljanen als märchenha en Helfe des Bräutigams, die Initiation mittels dreier schwerer Aufgaben, wie auch die Elemente aus dem Genrelexikon des Märchens u. a. zeigen deutlich, daß die grundlegende genreformierende Funktion in dieser Erzählung aus dem Zaubermärchen entlehnt ist. Ich schlage wegen der eigenartigen Ver echtung zwischen dem phantastischen und dem historisch dokumentalen Element den Genrebegriff „chronistisches Märchen“ vor (Tsche kova 1990, 95-98). Die grauenha e Vergeltung der würdevollen und rach süchtigen Witwe Olga erinnert an Kollissionen in den Sagas: Mord unter den reichen Geschlechten und blutige Revanchen (Snorra-Edda, Njälssaga, die Sagas über Stir, Harald, Siegfrid den Stolzen u. a.). Olga weist Ähnlichkeit mit den Heldinnen der Sagas auf, welche die matriarchale Selbständigkeit der Frauen aus der Zeit der Wikinger verkörpe .
Der chronistische Abschnitt über die Reise der russischen Fürstin nach Konstantinopel (955) und ihr Ableben (969) vereinen die Vorstellung über den heidnischen und christlichen Herrschertypus. Das Topon Zarigrad nimmt eine zentrale Stellung im Mythologem des Weges ein, es gilt als Herrscher- und Heiratslocus, steht im Mittelpunkt des Folklorhistorismus. Der byzantinische Kaiser, von dem Reiz und der Klugheit Olgas entzückt, schlägt ihr eine Heirat vor: „Du bist würdig mit uns in dieser Stadt zu herrschen.“ (Jahr 955, Trautmann 40). Sie ist einverstanden, unter der Bedingung, daß er selbst sie zur Christin tauft. Konstantin er llt ihren Wunsch, wird zu ihrem Paten, aber kann sie dann nicht mehr heiraten. „Wie willst du mich zum Weibe nehmen, da du selbst mich getau und deine Tochter genannt hast? Unter Christen ist das nicht Brauch, das weißt du selbst.“ Er ist von der russischen Königin überlistet und gibt das offen zu. Nicht zu llig verwandelt sich Olga gerade in Zarigrad in eine Braut, abgesehen davon, daß sie nach der Chronologie sehr betagt war. Das obligatorische Jungsein der positiven weiblichen Gestalt widerspiegelt die folklor-episehe Idealisierung ihrer biographischen Zeit, es ist ein Merkmal des Auserwähltseins, der sakralen Potenzen und Bedeutsamkeil (vgl. die lange
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Lebenszeit der biblischen Patriarchen und die unverwelkende Schönheit ihrer Gattinnen).
Die historisch-politischen und konfessionellen Beziehungen zwischen den Staaten bzw. Herrsche werden im Familienkontext symbolisie : die Stadt – der Bräutigam (Konstantin), das Land – die Braut (Oiga). So wie im Chronistischen Text über die dreimalige Rache von Olga ist ruer auch die fur das Märchensujet typische Initiation mittels schwerer Prü ngen zu sehen. Diesen liegt das Urmodell des Rätsels mit inzestualem Charakter zug nde. Die Meta pherrepliken und Gleichnisse im Dialog zwischen Olga und griechischen „Zaren“ lassen die semantische Reihe „Besteigung des Throns-Einnahme der Stadt-Taufe-Heirat“ entstehen. Das vorliegende Folktorsujet suggeriert die Vorstellung, daß Olga sich im Zentrum des Christentums von der höchsten Instanz (Kaiser und Patriarch) taufen läßt, wobei sie ihre Freiheit und die Unabhängigkeit ihres Staates bewahrt. Wahrscheinlich ist aber Olga nicht in Konstantinopel getauft worden. Ich bin der Ansicht, daß sie üher getau wurde – in Kiew oder anderswo [es gibt eine Version über ihre bulgarische Herkun ; Archimandrit Leonid (Kavelin), 1888, 215-24)], was ihr christliches Glaubens bekenntnis bereits veraussetzt Im „Zeremonial“ des Kaisers Konstantin Porphirogenet (Porphyrogeniti 1829, 595-598) wird u. a. e ähnt, daß in Olgas Gefolge ein Pfarrer namens Gregor war. Über die Taufe schreibt der Kaiser überhaupt nicht. Offensiebtlieh handelt es sich dabei um eine ideologisierende Fiktion – die Folklorisierung ihres christlichen Glaubensbekenntnisses, welches im folklor-mythologischen Ethos mit ihrem realhistorischen diplomatischen Besuch im orthodoxen Zentrum in Zusammenhang gebracht wird.
In der anekdotenha en Situation der Überlistung des Kaisers durch die russische Fürstin werden biblische Sprüche, Vergleiche aus der christlichen Geschichte und kirchliche Pathetik einge ochten, die dem Akt der Taufe Olgas eine Sinngebung verleihen. „Und in der Taufe gab man ihr den Namen Helena, wie auch die frühere Kaiserin, die Mutter des großen Konstantin, hieß.“ (Trautmann 41). Olgas List wird als christliche Weisheit gedeutet: „Dies nun geschah, so wie zu Zeiten Salomos die Königin von Äthiopien zu Salomo kam, um seine Weisheit zu hören. Und sie sah viel Weisheit und Zeichen; desgleichen suchte auch die selige Olga nach der guten Weisheit Gottes – jene nach der menschlichen, diese aber nach der göttlichen Weisheit.“ Das Mythologem des Weges realisiert nicht nur seine direkte semantische Bezogenheit, sonde hat auch eine metaphorische Bedeutung; es bezeichnet den sittlich-religiösen Aufstieg des alt ssischen Staates zur Orthodoxie. Hier zeichnet sich besonders der literarische Eingriff des Chronisten-Christen ab: „Gesegnet bist du unter den russischen Frauen, denn du gewannst die Lichtliebe und ve arfest die Finste is. Dich werden Rußlands Söhne bis in das letzte Geschlecht deiner Enkel segnen.“ (Trautmann 40-41). Im Chronistischen Text fallen der märchen ha -mythologische und der ch stliche Code zusammen.
Die wirkliche Begebenheit des Besuches der russischen Herrseherin in der byzantinischen Hauptstadt ordnet sich in die typische Situation des
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Mythologems ein, was auf sakrale Projektionen profaner Zeit und profanen Ortes hinweist. Das mythepoetische Erleben der Zeit manifestiert sich sowohl in den expliziten, direkten Zitaten und Vergleichen aus der Bibel (Olga zu Kaiser Konstantin wie die Königin aus Äthiopien zu Salomo) als auch in den implizi ten biblischen Analogien (Olga zu Kaiser Konstantin wie die 90-jährige Sara zu König Awimelech). Es wird eine zyklische Rückkehr zur Zeit der Urereignisse der Kultur realisiert (Tschekova 1993, 6-9).
Die kirchlich-kanonische Betrachtung der Christwerdung Olgas sowie die Bedeutung dieser Tatsache r die weitere Christianisierung des russischen Landes dominieren im Chronistischen Fragment vom Ableben der Fürstin (969). Die posthume Lobpreisung für Olga, ein Meisterstück der christlichen Hagiographie, ist ein Makrovergleich, eingebettet im semantischen Rahmen „Licht-Finste is“: „Sie ging dem christlichen Lande voran wie der Morgenste der Sonne, wie die Morgenröte dem Tageslicht. Wie der Mond in der Nacht leuchtet, so leuchtete auch sie im ungläubigen Volke gleich einer Perle im Schmutz, denn beschmutzt war es von Sünde, nicht durch die heilige Taufe gewaschen.“ (Jahr 969, Trautmann 46).
Die erlieferungen zu den Jahren 955 und 969 sind in bezug auf das Genre zweidimensional. Sie sind auch kennzeichnend r die Eigenart der Genres der altrussischen Chronik, welche den Folklor- und den hagiographi schen Ansatz vereint. Der Abschnitt von 955 stellt eine Symbiose aus münd lichen Überlieferungen, die Elemente des Märchens tragen, mit dem hagio graphischen Literaturkanon (eine Belehrung der Heiden) dar. Im Abschnitt von 969 läßt sich ein Zusammenwachsen von narrativer Erzählweise der Folklore (Sage über die Beziehungen zwischen Olga und Swjatoslav) und kirchlich pathetischem Text (posthume Lobpreisung der ersten russischen Fürstin Christin) beobachten. Die Belehrung von 955 und die posthume Lobrede von 969 bilden ihre „chronistische Heiligenvita“. Sie korrespondiert textuell mit Olgas Heiligenviten im Prolog und mit den hagiographischen, ihrem Enkel Wladimir gewidmeten Denkmäle .
Die anderen weiblichen Gestalten der Chronik (Fürstin Rogneda, die griechische Nonne und Fürstin Anna) sowie die Fürstin Olga treten vorwiegend in Sujets mit ausgesprochen ritueller Sinngebung auf, in denen die Symbolik der Heirat und/oder des Todes verwendet wird.
In den Sagen vom Fürsten Wladimir und der Polotzker Fürstin Rogneda lassen sich rituelle Momente der altrussischen Hochzeit nden. Als Zeichen des Unterordnens soll jede junge Gattin die Stiefel ihres Mannes ausziehen. Die stolze Polotzker Fürstin will ihre Unterwür gkeit gegenüber dem Fürsten Wladimir nicht bezeugen, da er keine adlige Abstammung mütterlicherseits besitzt (Er ist unehelicher Sohn des Fürsten Swjatoslav und der Maluscha, Olgas Schaf erin). Sie hat Vorliebe r seinen Bruder. „Willst du Velodimer zum Mann?“ Sie antwortete: „Einer Sklavin Sohn will ich nicht entschuhen, aber Jaropolk will ich.“ Und die Jungmannen Volodimers kehrten zurück und erzählten ihm alles, was Rogned‘, die Tochter Rogvolods, des Fürsten von
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Po1ock, gesagt hatte (Jahr 980, Trautmann 52). Die Handlungen des beleidigten Wladimir rekonstruieren das alte Szenario der Heirats-Ent h rung. „Da sammelte Volodimer ein großes Heer … und zog gegen Rogvolod. Zu dieser Zeit wollte man Rogned‘ dem Jaropolk zu ihren. Und Volodimer kam nach Polock, tötete Rogvolod und seine beiden Söhne, und seine Tochter Rogned‘ nahm er zum Weibe. Und er zog gegen Jaropolk.“ Der Neuvermählte ist „Fürst-Krieger“ und das Heiratsgefolge „Fürstenheer“. Die Ähnlichkeit in der Beschreibung des Heirats- und des Kriegerzuges, sowie die adelige Betitelung hinsichtlich der Neuvermählten sind typische Besonderheiten in der Poetik der slawischen Hochzeit (Ivanova 148, Bajburin, Levinton).
Wladimirs Brautwerbung wird sekundär in der Lawrentiewischen Chronik zum Jahre 1 1 28 erzählt. Schachmatov ist der Meinung, daß diese Version die ursprüngliche ist und nimmt an, daß sie in den ältesten Chroniken zum Jahr 970 und nicht unter 980 aufge h rt ist. Hier nehmen die Folkloreparadigmen eine klare Form an. Eine wichtige Rolle spielt Dobrinja, der Oheim von W1adimir. Er setztseinenNeffenaufdenNovgoroderThron undsuchtaucheineFraufürihn. Hier sei daran erinnert, daß das Paar „Neffe-Oheim“ ein festes Gestaltenmodell im Heroenepos ist. In der behandelten Sage ckt auch die semantische Parallelität “ E i nnahme der Stadt/Entführung/Heirat“ in den Vordergrund : „Wiadimir erfüllte sich mit Wut. Er sammelte Krieger und zog gegen Polotzk … und nahm die Stadt ein. Und den Fürsten Rogovolod selbst nahm er in Gefangenscha , sowie auch dessen Gemahlin und Tochter. Letztere nahm er zum Weibe und nannte sie Gorislawa (Ruhm der Wehmut).“ (Lawrentiewskaja letopis‘ 299, hier und weiter übersetzt von mir).
Elemente der Hochzeitsriten nden sich auch in der weiteren Erzählung, die von den ehelichen Beziehungen zwischen Rogneda und Wladimir berichtet: „Und Rogned gebar lsjaslav. Und er (Wladi ir) nahm viele andere Weiber zu sich, und sie entrüstete sich. Einmal kam er zu ihr, und als er einschlief, wollte sie ihn mit einem Messer erstechen. Und es geschah, daß er wach wurde und ihren Arm um ng. Sie sagte zu ihm: Es wurde mir schwer zumute, daß du meinen Vater getötet und sein Land erobert hast wegen mir, und nun liebst du mich und dieses Kind nicht mehr. Und er gebot ihr, daß prachtvolle königliche Gewand anzuziehen wie am Tage der Trauung und sich aufs Bett im hellen Raum zu setzen, damit er komme und sie ersteche. So tat sie dann auch.“ (Lawrentiewskaja letopis‘ 300). Eine ähnliche Parallele ndet sich im bulga rischen Heroenepos: Dem Rat ihrer Schwiegermutter folgend zieht die Gattin von Krali Marko wieder ihr Hochzeitsgewand an, um die kühlen Ge hle ihres Mannes von neuem zu entfachen (Texte # 446.-447: Marko verläßt seine häßlich gewordene Frau und will sich wieder verheiraten; Bulgarski junasch Epos, 560-564). Indem die Polotzker Fürstin das zweite Mal das Hochzeitsgewand anzieht, geht sie in den Tod wie zur Hochzeit. Hier entfaltet sich die Metapher „Hochzeit-Tod“: Wie im Fragment über Olga und die Drewljanen steckt hinter der Hochzeitssymbolik Rache und Tod. Um ihre verletzte Würde zu verteidigen, bedient sich Rogneda einer List, wie auch Olga gegenüber den Mörde
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(Drewljanen). Die Rachsucht ist ein gemeinsamer Charakterzug der zwei weiblichen Gestalten . Rogneda-Gorislawa geht so weit, daß sie in den Familienzwist auch ihren Sohn einbezieht, indem sie diesen sich mit dem Schwert in der Hand gegen den Vater erheben läßt. Das epische Schaffen bietet eine Fülle von Beispielen, die belegen, daß der Zweikampf zwischen Vater und Sohn ein Sujettopos in diesem Genre ist.
Mit dem Verstoß gegen festgesetzte religiös-rituelle und sittliche Gebote wird die Gestalt der schönen griechischen Nonne in Verbindung gebracht: „Jaropolks Frau war eine Griechin, die eine Nonne gewesen war; sein Vater Svjatoslav hatte sie mitgebracht und gab sie um der Schönheit ihres Antlitzes willen Jaropolk zur Frau.“ (Jahr 977, Trautmann 52). Nach der christlichen Ethik ist das Unzulässige begangen: erzwungener Kirchenaustritt, d. h. Rück kehr in die Welt und zur weltlichen Lebensweise durch diejenige, die das Gelübde, die Braut Christi zu sein, abgelegt hatte. Zur frevelha en Tat der heidnischen Fürsten kommen damit noch zwei weitere schwerwiegendere Todsünden hinzu: Wladimir läßt seinen Bruder Jaropolk ermorden und nimmt seine Gattin zur Frau: „Volodimer aber beschlief das Weib seines Bruders, die Griechin, und sie war schwanger; von ihr wurde Svjatopolk geboren, denn aus sündiger Wurzel kommt böse Frucht; seine Mutter war ja eine Nonne, und außerdem beschlief Volodimer sie außer der Ehe: Er war also der Sohn einer Ehebrecherin; und deswegen liebte ihn der Vater nicht, stammte er doch von zwei Väte , von Jaropolk und von Volodimer.“ (Jahr 980, Trautmann 54). Dem christlichen Chronisten zufolge ist darin das Unheil, das die Fürstenfamilie und das russische Land heimsucht, begründet. Wegen seiner sündha en Empfängnis zum Übeltäter gebrandmarkt, erweist sich Swjatopolk als neuer Kain, der seine Brüder Boris und Gleb ermordet, da er in ihnen potentielle Anwärter ir den iewer Thron sieht.
Noch eine Frauengestalt hat Eingang im chronistischen Na ativ ge nden: Fürstin Anna, Schwester der byzantinischen Kaiser, die mit Wladimir in Korsun‘ verhandeln. Der Sage über Anna und Wladimir liegt das Sujetschema „Einnahme der Stadt/Heiratffaufe“ zugrunde, die ich bereits in der Erzählung über Olga und Konstantin herausgearbeitet habe. Die Mission dieser Gestalt besteht darin, Wladimir zur Übe ahme des Christentums zu überreden. Der Übergang von der heidnischen Finste is zum christlichen Licht wird durch das Omen der vorübergehenden Erblindung des Fürsten markiert. Als Christ gewinnt Wladimir sein Sehvermögen zurück. „Der Bischof von Korsun‘ samt den Prieste der Kaisertochter tau e Volodimer, nachdem er ihn unterwiesen hatte. Und als er die Hand auf ihn legte, ward er alsbald sehend. Wie nun Volodimer diese plötzliche Heilung bemerkte, pries er Gott und sprach: Jetzt erst habe ich den wahren Gott erkannt.“ (Jahr 988, Traut ann, 79).
Der bekehrte Wladimir, die bekeh e Olga, auch die Brüder Boris und Gleb illustrieren das Paradigma des idealen christlichen Herrschers in der Chronik. Olga (Großmutter) und Wladimir (Enkel) formieren den Prototyp des christlichen Herrscherpaares in der russischen Kulturtradition, analog zu den
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apostelgleichen Helena (Mutter) und Konstantin (Sohn) in Byzanz oder Wja�eslav und Ljudmila bei den Tschechen als Slavia Katoli .
Die Gestalt des christlichen Fürsten wird in einigen Fällen nach dem Vorbild des Märtyrers und gar nach dem Christi modelüe . Gerade so werden die Fürsten Boris und Gleb, die Söhne des den Aposteln gleichen Wladimir, dargestellt. Dem Befehl ihres Bruders Swjatopolk folgend werden sie getötet. Mit christlicher Demut gen sie sich in ihr Schicksal, um das Prinzip der Ererbung des Throns durch den ältesten nicht verletzen. „Herr Jesu Christ, der du … eiwillig deine Hände an das Kreuz nageln ließest und das Leiden auf dich nahmst um unserer Sünden willen, würdige auch mich das Leiden empfangen; siehe, nicht von Feinden empfange ich es, sonde von meinem Bruder. Rechne es ihm Herr nicht als Sünde an.“ (Gebet des Boris, Jahr 1015, Trautmann 95-96). „Glebs Koch … zog sein Messer und schlachtete Gleb ab. Wie ein makelloses Lamm brachte er sich Gott zum süßdu enden Opfer dar.“ (Glebs Ende, Jahr 1 0 1 5 , Trautmann 98). In den mittelalterlichen russischen historischen Vorstellungen erscheint der Fürstentod als eigentümliches Opfer bei Gründung und Aufbau des Staates (Olegs Tod); oder derselbe fungiert als Sühne am Altar der Staatlichkeil (Martertod des Boris und Gleb). Die mythopoetischen Vorstellungen vom sakralen Opfer im Namen des Reiches sind im blutgefärbten Zarengewand verkörpert, das dje Fürstenmacht in der Kjewer Rus sakralisiert. „Freut euch, Bo s und Gleb …, die ihr mit heiligen Blutstropfen das Purpurgewand rot gefarbt habt, ihr Hochberühmten, und es herrlich traget, rrüt Christus herrscht ihr immerdar, r die neuen Christenmenschen und eure Stammesbrüder betend; denn das russische Land ward gesegnet durch euer Blut.“ (Trautmann 99).
lm Lobpreis ftir Boris und Gleb dominieren die „lichtbringenden“ Vergleiche und Epitheta: „hellscheinendes Leuchten“; „ihr leuchtende Strahlen, wie zwei Gesti e erscheint ihr, das ganze russische Land erleuchtend, immerdar die Finsternis verjagend“; „in den goldig strahlenden Wohnungen in den hjmmlischen Gefilden“, „die ihr von Gottes Lichtheil hell umstrahlt werdet“; „immerdar durch die göttliche Strahlen entzündet“; „die ihr der Gläubigen Seelen erleuchtet“; „durch die lichtbringende Liebe des Himmels erhöht … und das Licht der Ve un „; “ le ihr der Kirche neuen Sonnenglanz schu „; „ihr lichten Ste e, die ihr in der Frühe aufgeht.“ (Trautmann 98-99). Ähnliche stilistische Charakteristik bekommen auch die schon teilweise zitierte posthume Lobrede r Olga und auch jene r Wladimir.
Die astrale Symbolik (Sonne, Mond, Ste , Morgenste , Morgenröte, Gesti e), die „lichtbringenden“ Gestalten (Perle, Strahlen, Leuchten, Tag, Licht) und die semantische Opposition „Licht-Finsternis“ stellen eine allgemeine stilistische Besonderheit sowie einen allgemeinen semantischen Code in der literarisch-hagiographischen Poetisierung der christlichen Herrscher in den Chroniken dar. Die Sonne, das Feuer, die solaren Symbole und die rote Farbe sind emblematische Zeichen des Königtums und der königlichen Macht. Besonders aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang dje „Konzentration“ der
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Feste im frühlings-sommerlichen Kalenderzyklus, gewidmet den ersten christlichen Herrsche von Byzanz und der Slavia Orthodoxa: 2. Mai – Fürst Boris,derBekehrerderBulgaren;amselbenTagderrussischeFürstBoris; 21. Mai – Kaiser Konstantin und Helena; 1 1 . Juli – Fürstin Olga-Helena, die erste He scherin-Christin im Kiewer Rußland; 15. Juli – Fürst Wladimir, der Bekehrer der Russen; 24. Juli – die Fürsten Boris und Gleb. Diese Zeitspanne repräsentiert das vollendete Entfalten des solaren Herrschens nach der Niederschlagung der chtonischen Mächte und Wesen. Als deren Besieger wird der Heilige Georg am 24. April (6. Mai) gefeiert.
Zusammenfassend läßt sich sagen: Die hier aufge hrten Schlüssel gestalten des Chronistischen begri lichen Komplexes werfen ein Licht auf die Klärung der Korrelation „Mythos-Epos-Chroniken“. Die Mythospoetik eröffnete den Zugang zu mittelalterlichen Formen des Helden- und Märchenepos; spezifische Mechanismen der Mythenschaf ng wurden aufgedeckt. Die Poetisierung der Geschichte in der altrussischen chronistischen Tradition ist größenteils eine Form der Mythologisierung und Folklorisierung.
Im Liebte der Theorie von Bachtin r die Redegenres (Bachtin, 1 979) kann man die Nestorchronik als eine Redeeinheit des Makrogenre betrachten. Ihre kommunikative Funktion besteht darin, die unterschiedlichen Positionen im mittelalterlichen russischen Sozium über Fragen der Staatlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Die Vorstellungen vom Nationalen formierend, was ihr unmittelbares Ziel ist, verläßt die russische Chronik das Feld ihrer konkreten Zielsetzung und gewinnt an übe ationaler Bedeutung. Unter dem Aspekt des Diachronen läßt sich sagen, daß die Chronik einige ursprüngliche allgemein kulturelle Universalien und mythologische Archetypen des euroasiatischen kul turhistorischen Raumes vereint, und auf der Ebene des Synchronen einige r die slawische orthodoxe Kultur spezi sche Vorstellungen zum Ausdruck bringt.
Die Idee des Königtums, der Macht und des Schicksals ist ihrem Charakter nach allgemeinkulturell; in der Nestorchronik ist sie hrend. Der genannte Aspekt ist ausschließlich auf das Herrscherpaar des Fürsten Oleg und der Fürstin Olga xiert, das den männlichen und weiblichen Persönlichkeits ansatz verkörpert. Die Texte über Oleg und Olga beziehen sich auf die älteste Folkloreschiebt der Chronik und modellieren den ältesten mythologischen Archetyp des geschichtlichen Herrschers.
Das Paradigma der Herrscher und der Königsmacht stützt sich hier aufdas familiär-verwandtscha liche Modell und den rituellen Komplex: Bruder-Bruder (Noahs drei Söhne Sem, Ha , Japhet; Rjurik, Sineus, Truwor; Kij, Sek, Ho w; Radim, Wjatko; Oleg, Jaropolk, Wladimir; Swjatopolk, Boris, Gleb, Jaroslav); Mutter-Sohn (Olga, Swjatoslav; Rogneda, Isjaslav); Großmutter-Enkel (Olga, Wladimir); Vater-Sohn (Wladimir, lsjaslav; Wladimir, Boris und Gleb); Ne e Oheim (Wladimir, Dobrinja); Braut-Brautwerber (Olga, Oleg; Rogneda, Dobrinja); Tau ind-Tau ate (Olga, Konstantin); Verlobte und/oder Gattin Verlobter und/oder Gatte (Olga, lgor; Olga, Mal; Olga, Konstantin; Rogneda,
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Wladimir; die g echische Nonne, Jaropolk; die griechische Nonne, Wladimir; Anna, Wladimir) u. a.
Eine zentrale Stellung nimmt die Gestalt des Kulturheroen ein: Gründer eines Stammes, einer Stadt, eines Fürstentums und einer Herrscherdynastie, Uranfänger, Drachenkämpfer, Mag, Brautwerber, kindlicher Held und Bekehrer (Noah, Japhet, Kij, Rjurik, Oleg, Swjatoslav, Wladimir u. a.).
In allen chronikalen Sagen, in denen weibliche Gestalten au reten, hat die Symbiose der Staats-, Ehe- und Tau ituskomplexe eine besondere Bedeutung. Das Besteigen des Throns und Herrschen über das Land ist gleichzeitig mit der Vermählung mit einer Frau verbunden: der Fürst der Drewljanen – Kiewer Fürstentum – Olga; Kaiser Konstantin – russisches Land – Olga; Wladimir – Polotzker Fürstentum – Rogneda; Wladimir – die griechische Stadt Korsun‘ – Taufe – byzantinische Prinzessin Anna u. a.
Dem christlichen Modell des He schers und des Staatsautbaus liegen die Gestalten Christi (Martertod von Boris und Gleb), der Gottesmutter (die Beschützerio von Konstantinopel beim Angriff der Russen im Jahre 866; die Hilfe bei der Überwindung des Fürsten der Kasogen, Rededja, im Jahre 1022 durch Fürst Mstislav), der Heiligen (Prophezeihung des Apostels Andreas über die christliche Zukun Kiews; der heilige Demetrios im Feldzug Olegs gegen Konstantinopel) und der ersten christlichen Kaiser (Parallele Olga-Helena, Wladimir-Konstantin) zugrunde.
Die Erzählweise zeichnet die Anfangsmuster bei der Sakralisierung des He schers ab, die typisch ir die russische Ethnokultur ist. Die Chronik r Anfangszeit einer festen Tradition von Slavia Orthodoxa, nämlich die slawische Staatlichkeil und Konfession korrelativ zum Kultunnodell des zweiten Roms, Konstantinopel, betrachten. Auf dieses Mytheloge wird in der Kulturtradition des Moskauer Rußlands akzentuiert und es kulminie später zum Ideologem „Moskau – das dritte Rom“.
Die Nestorchronik stammt aus der Feder eines c istlichen Chronisten.
Ihre Ausgestaltung in der Zeit aber ist der Entstehung eines Folklorewerkes sehr ähnlich. „Die älteste Kiewer Fassung“ (30er bis 40er Jahre des 1 1 . Jh.) ist der Ke , das Bekannte, das sich immer wieder bereichert und entfaltet und mit dem Neuen, den lokalen Chronikfassungen, in die spätere Geschehnisse Eingang gefunden haben, zusammenwächst. Das historische Bewußtsein generiert zudem stets neue Geschhenisse, die weitere Schichten über der geschichtlichen All fangserinnerung bilden.
Im Chronistischen Na ativ sowie im russischen mittelalterlichen Sozium existiert eine eigentümliche Glaubensdualität, die folgende Dimensionen auf
weist:
I) Zusammenwachsen von Folkloretexten, die vorchristliche Vorstel lungen widerspiegeln, mit der christlichen „literarischen Etikette“.
2 ) Paganische Einflüsse a u f d i e Interpretation der kanonischen Texte.
Eine sekundäre Folklorisierung von Bibelsujets, die ihrerseits eine sakrale, schriftlich xierte Folklore formieren.
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„Powjest wremennych Iet“ des Mönches Nestor enthält die komplizierte Verflechtung zwischen dem „Ch stlichen“ und „Heidnischen“, dem „Schri lichen“ und „Mündlichen“, dem „Dokumentalen“ und „Rituellen“. Die Erforschung der semiotischen Aspekte der Folkloregeschichte führt zur Annahme einer organischen Einheitlichkeit der mittelalterlichen russischen Kultur. Der folklor-paganische (heidnische) und der litera sch-christliche Ansatz beziehen sich in den chronikalen Texten über die ersten russischen Herrscher aufeinander wie zwei gleichwertige Komponenten. Sie sind nicht antithetisch, sonde dialogisch zu betrachten: als Synthese von Mythos, Folk lore und Literatur sind die Chroniken repräsentativ r das mittelalterliche Kul
turphänomen.
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I. Tschekova, Die chronistische Erzählung über den Fürsten Oleg und das skandinavische Epos. : Medium Aevum Quotidianum, 37. Krems, 1997, 5-16.
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MEDIUM AEVUM QUOTIDIANUM
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MS 1999
HE USGEGEBEN VON GE JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG DES AMTES DER NlEDERÖSTERREICHJSCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der materiellen Kultur des Mittelalters, Kö ermarkt 13, A-3500 Krems, Öster reich. Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren aus drückliche Zustimmung jeglicher Nachd ck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1 050 Wien.
Inhalt
Vorwort …………………………………………………………………………………………………. 5 Helmut Hundsbichler, AIItagsforschung und lnterdisziplinarität ………………….. 7
Andreas Külzer, Die byzantinische Reiseliteratur:
Anmerkungen zu ihrer literarischen Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ……………… 35
lliana Tschekova, Folklor-episehe Paradigmen in der Nestorchronik ………… 52
Lucas Burka , Kommunale und seigneurale Bildersprache
des Quattrocento in Padua und Ferrara …………………………………………… Rezensionen ……………………………………………………………………………………….. 125
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Vorwort
Das vorliegende He 40 von Medium Aevum Quotidianum veremtgt eine Anzahl von Beiträgen, die in den letzten Monaten von Mitgliede und Freunden unserer Gesellscha zur Ver gung gestellt wurden. Diese sollen vor allem die Bedeutung vermitteln, welche interdisziplinären Ansätzen in einer Geschichte von Alltag und Sachkultur des Mittelalters zukommt.
Die Planungen ir die nächsten He e sind insoweit fortgeschritten, als sich besonders einige Sonderbände bereits in einer konkreten Vorbereitungs phase be nden. Dies gilt vor allem ir zwei Bibliographien: Detlev Kraack (Berlin) und sein inte ationaler Mitarbeiterstab be nden sich in den Abschlußarbeiten für eine Bibliographie zu den Gra ti des Mittelalters und der hen Neuzeit, welche Ende 1999 oder Anfang 2000 erscheinen wird. Außerdem beschä igen wir uns schon seit längerem mit einer Überarbeitung und sehr nötigen Ergänzung der im Jahre 1986 als Medium Aevum Quotidianum-Newsfetter 718 erschienenen Auswahlbibliographie zu Alltag und materieller Kultur des Mittelalters. Auch für jene ist ein Erscheinungstermin
1999/2000 vorgesehen.
Als Autor einer der nächsten Sonderbände konnte Markus Späth
(Hamburg) gewonnen werden, der sich mit der räumlichen Differenzierung in der hochmittelalterlichen Klosterarchitektur am Beispiel nordenglischer Zisterzen auseinandersetzen wird.
Schließlich möchten wir Sie wieder herzlich einladen, unsere Website http:// . imareal.oeaw. ac. at/maq/ zu besuchen. Im Augenblick nden Sie dort die Inhaltsverzeichnisse aller bisher erschienenen Bände unserer Reihe. Binnem kurzem wird dieses Angebot ergänzt werden durch die Zugriffsmöglichkeit auf den Volltext ausgewählter, uns besonders wichtig erscheinender Beiträge aus zum Teil bereits vergriffenen Bände vergangener Jahre.
Gerhard Ja tz, Herausgeber
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