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Gastfreundschaft im „Erec“ des Hartmann von Aue

Gastfreundschaft im „Erec“ des Hartmann von Aue

Gertrud Blaschitz (Krems)

Die folgenden Ausführungen1 gelten dem Stellenwert von Gastfreundschaft und deren Ambiguität im Hoch- und Spätmittelalter exemplifiziert am „Erec“ des Hartmann von Aue. Der „Erec“ wurde um 1180/85 von Hartmann nach der französischen Quelle „Erec und Enide“ des Chrétien de Troyes (um 1160) für das deutschsprachige Publikum bearbeitet.

Im mittelhochdeutschen Sprachgebrauch gibt es das Kompositum „Gast- freundschaft“ nicht. Nachzuweisen dagegen sind die Termini gastlich (Adj.), gastgebe(r) m, „wer andere zu Gast lädt und bewirtet“, gasthûs n, „Übernach- tungsstätte mit Speisewirtschaft.“2 Das Lexem „Gast“, mhd., ahd. gast, got gasteis besitzt ein Äquivalent im lateinischen Morphem host-is, was nach Varro (de lingua latina 5, 3) und Cicero (de officiis 1, 37) Feind bedeutete, nämlich jeder Fremde, der (im Gegensatz zum civis Romanus) ohne römisches Bürger- recht war3. „Auch im älteren Dt. konnte gast in analoger Weise als ‚Fremder’ verwendet werden, ja ganz wie im Lat. auch zur Bezeichnung des fremden Kriegsvolkes, des Feindes dienen.“4 Die erschlossene indoreuropäische Form von lat hostis ist *ghost-i-s5. Der Bedeutungsumfang des Lexems gast erfuhr eine Verengung; es bedeutet im Neuhochdeutschen nur noch „Fremder“6. Interessant ist der Vergleich mit dem Englischen und Französischen: „Hospital- ity/hospitalité“, beruht auf dem lateinischen hospitalitas, atis: Gastfreundschaft, Gastfreundlichkeit. Lateinisch hospes ist eine Kontraktion des indoeuropäi- schem *hosti-pot-s und bedeutete „Vater der Fremden“, host wurde der Gast7. Im englischen und französischen Sprachraum besteht heute noch diese Dualität: zwei semantische Felder (beruhend auf hostis und hospes) reflektieren den posi-

1 Erweiterte deutsche Fassung eines Vortrages, der unter dem Titel „Ambiguities of Hospital- ity in Middle High German Literature“ im Rahmen des International Medieval Congress (Leeds 2004) in der Sektion „Contrasts in Quotidianity IV: Hospitality“ gehalten wurde.

2 Wolfgang Pfeifer u. a., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München 1995, 400 f.
3 Helmut Birkhan, Etymologie des Deutschen (Germanistische Lehrbuchsammlung 15) Bern-

Frankfurt am Main- New York 1985, 27.
4 Ebd, 27 f.
5 Ebd. 138.
6 Ebd. 204.
7 Alois Walde – Johann Baptist Hofmann, Lateinisches etymologisches Wörterbuch 1. Hei-

delberg 1982, 660.

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tiven und negativen Aspekt des Umgangs mit Fremden: hospitality/hospitalité; hospital/hôpital; hospitable/hospitablier, hospitablière; host/hôte; hostel, hos- pice/hospice and “guest/hôte”, deutsch “gast”, russisch góst sowie hostile/ hostile; hostility/hostilité; hostage/otage. In den mittelhochdeutschen literari- schen Quellen des 13. Jahrhunderts erscheint hospital sehr selten; häufiger jedoch spital, hospitalhûs und spitalsiechen: Das Hospital war im Hoch- und Spätmittelalter eine Versorgungsstätte (Pflegehaus) für Arme, Kranke, Witwen, Waisen und Pilger8. An den wichtigen Pilgerstraßen entstand zwischen der Mitte des 11. und dem Ende des 12. Jahrhunderts eine große Anzahl von Pilgerhospi- tälern9.

Die Ausübung der Gastfreundschaft war stets ein Gebot der Nächsten- liebe; sie zählte im Mittelalter zu den „Werken der Barmherzigkeit“10. Nach Mt. 25, 36-41 sind das: Den Hungrigen speisen, den Dürstenden tränken, den Frem- den beherbergen, den Nackten bekleiden, den Kranken und den Gefangenen be- suchen. Gastfreundschaft wurde im Früh- und Hochmittelalter von der Kirche und von Klöstern ausgeübt. Hospitalitas war durch das benediktinische Mönch- tum (Regula S. Benedicti, cap. 53) jeder Mönchsgemeinschaft verpflichtend auferlegt11. Karl der Große verordnete in der Kapitularien- und Konzilsgesetzge- bung Klerikern und Laien hospitalitas, der weltliche Adel kam jedoch dieser Aufgabe kaum nach12. Die kommerzielle Gastung entstand nördlich der Alpen seit der Mitte des 13. Jahrhunderts; in Oberitalien gewann sie bereits an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert größere Bedeutung13. Die erweiterte Form der Gastfreundschaft umfasste Unterkunft und Verpflegung.

Die Epiker des 13. Jahrhunderts beschreiben die ideale Gastfreundschaft des christlichen Adels. Die Elemente der Gastfreundschaft waren Begrüßung/ Empfang (mit Minnetrunk), Bad, Bereitstellung frischer Kleider, Verpflegung mit Speisen und Getränken, Verabschiedung (mit Abschiedstrunk/Minnetrunk). Der Gastgeber garantierte für die Sicherheit seines Gastes und war für dessen Aktivitäten verantwortlich. Die normale und verbreitete Form der Gastfreund- schaft war Übernachtung ohne Verpflegung. Die seit dem Ende des 11. Jahrhun- derts stets anwachsende Zahl der Reisenden (Pilger und Kaufleute) führte die Gastfreundschaft in eine Krise: die stets wachsende Zahl der rechtlichen Stel-

8 Uta Lindgren, Hospital, in: Lexikon des Mittelalters 5. München-Zürich 1991, 133.
9 Ludwig Schmugge, Zu den Anfängen des organisierten Pilgerverkehrs und zur Unterbrin- gung und Verpflegung von Pilgern im Mittelalter, in: Hans Conrad Peyer (Hrsg.), Gast-

freundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter. München – Wien 1983, 42.
10 Johann Auer, Barmherzigkeit, in: Lexikon des Mittelalters 1. München-Zürich 1980, 1471

f.
11 Thomas Szabó, Xenodochia, Hospitäler und Herbergen – kirchliche und kommerzielle

Gastung im mittelalterlichen Italien (7. bis 14. Jahrhundert), in: Hans Conrad Peyer (Hrsg.),

Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter. München-Wien 1983, 63.
12 Schmugge, Zu den Anfängen 39.
13 Folker Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter.

Stuttgart 2001, 33; Szabó, Xenodochia 80-92. 29

lungnahmen (Volksrechte, Kapitularien, Gottes- und Landfrieden) des 11. und 12. Jahrhunderts reflektieren diese Probleme14.

Weil die Beherbergung von Fremden als „Werk der Barmherzigkeit“ fun- damental für die öffentliche Wohlfahrt war, besonders in Bezug auf Arme und Pilger, wurde Lk 6,36: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ als Auf- forderung zur Nachfolge Christi interpretiert.

In verschiedenen mittelalterlichen Medien, etwa in Predigten, wurde die mittelalterliche Gesellschaft mit den „Werke der Barmherzigkeit“ konfrontiert und zur Nachahmung aufgefordert. Auch die mittelalterliche Kunst erinnerte die Öffentlichkeit an die Pflicht zur caritas. Ende des 12. Jahrhunderts erscheinen „Werke der Barmherzigkeit“ oft auf bildlichen Darstellungen, häufig im Kontext mit dem „Jüngsten Gericht“15. Die Biographie der Heiligen Elisabeth von Thüringen (1207-1231)16 wurde ein volkstümliches Vorbild für christliche Nächstenliebe. Elisabeth, geboren als Tochter des ungarischen Königspaares Andreas II. und seiner Gemahlin Gertrud, heiratete 1221 Landgraf Ludwig IV. von Thüringen. Bereits zu Lebzeiten ihres Gemahles schloss sie sich der re- ligiösen Armutsbewegung an. Obwohl dem Hochadel angehörig, weihte sie ihr Leben Gott und entschloss sich zur Nachfolge Christi. Sie realisierte Nächsten- liebe in ihrem Alltag, caritas dominierte ihr Leben und entfremdete die Witwe der landgräflichen Familie. Elisabeth wurde bald nach ihrem Tod heilig- gesprochen. Die dichte handschriftliche Überlieferung der vielfältigen litur- gischen und hagiographischen Texte bezeugen ihre überragende Vorbild- wirkung. Auch die visuelle Repräsentation ihrer Taten forderte die Gläubigen zur Verehrung der Heiligen und zur Nachfolge auf. Einzeldarstellungen und Zyklen entstanden schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Abb. 117).

Die bildliche Darstellung war nach Meinung von Elisabeths Zeitgenossen Thomasin von Zerclaere das ideale Medium zur Belehrung des ungebildeten Volkes und der Jugendlichen: … von dem gemâlten bilde sint / der gebûre und daz kint / gevreuwet oft; swer niht enkan / verstên swaz ein biderb man / an der schrift verstên sol, dem sî mit den bilden wol.18 Zur Erziehung junger Leute und Ungebildeter eigneten sich nach Thomasins Überzeugung jedoch ebenfalls höfi- sche (volkssprachige) Romane, aventiuren. Denn auch sie brächten in Bildern und Metaphern zwar keine (philosophischen) Wahrheiten, aber nützliche Vor- bilder für illiterati, die auf bildhaftes Verstehen angewiesen seien. Im ersten

14 Hans Conrad Peyer, Von der Gastfreundschaft zum Gasthaus. Studien zur Gastlichkeit im Mittelalter (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 31) Hannover 1987, 48-51.

15 Dirk Kocks, Bildliche Darstellung der Werke der Barmherzigkeit. In: Lexikon des Mittelalters 1. München-Zürich 1980, 1473.

  1. 16  Matthias Werner, Elisabeth von Thüringen, in: Lexikon des Mittelalters 3 München- Zürich 1986, 1838 f.
  2. 17  Die heilige Elisabeth gibt Armen und Pilgern Obdach. Medaillon aus dem Elisabethfenster (vor 1250) im Ostchor der Elisabethkirche zu Marburg. Aus: Walter Nigg, Elisabeth von Thüringen. Die Mutter der Armen. Freiburg-Basel-Wien 1979, Bild 16.
  3. 18  Thomasin von Zerclaere, Der welsche Gast, hrsg. von F. W. von Kries. 4 Bde. (GAG 425, 1-4) Göppingen 1984-1985, Vers 1709-1714.

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Buch seines Lehrbuches der höfischen Tugenden reflektiert der Autor über den Nutzen historischer und literarischer Figuren für die höfische Erziehung der Ju- gend. Den Mädchen empfiehlt er Andromache, Enîte, Galiena and Blanscheflor, und den jungen Adeligen Gawein, Cliges, Erec, Iwein, Parzival, Alexander den Großen etc. Seine Präferenzen dominieren historische Persönlichkeiten und Fi- guren der Artusliteratur, die akzeptierte Verhaltensnormen zur Anschauung bringen. In der „Vorrede“ bittet er die deutschen Lande, sich ihrer Funktion als Gastgeber bewusst zu sein und sein Werk, wie es sich geziemt, aufzunehmen, denn die freundliche Aufnahme eines Gastes zähle zu den Pflichten einer guten Hausfrau: “tuetsche lant entphahe wol / als ein guot huosfrowe sol, / diesen di- nen welehischen gast, … “ (Vers 697-699) (Abb. 219). Thomasin bittet die Haus- frau weiter, auch die ihr als Gastgeberin auferlegte Schutzfunktion dem Gast gegenüber, besonders vor missgünstigen Menschen, wahrzunehmen (Vers 744- 750).

Êrec und Enîte sind die Protagonisten des ersten Artusromans. Das Epos ist gekennzeichnet durch symmetrischen Aufbau, viele Analysten schlossen sich der „Doppelweg“ (doppelter cursus)-Interpretation Hugo Kuhns von 1948 an: Der erste cursus ist die Geschichte Êrecs und Enîtes bis zur ersten Regentschaft Êrecs; der zweite cursus enthält die späteren Abenteuer des Paares20. Auf beiden „Wegen“ ist Êrec häufig Fremder und Gast. Obwohl die Fahrten Êrecs in der Realität des ausgehenden 12. Jahrhunderts angesiedelt sind, ist die Reise auch als Lebensreise zu verstehen (via – vita)21. Gastfreundschaft und Gastlichkeit sind Stationen seines Unterwegsseins.

In der Adaption Hartmanns spielt Êrec die Hauptrolle, Enîte (obwohl ein wenig in den Hintergrund gedrängt) ist bald die Erfahrenere: nâch vrouwen Enîten râte, / wan si in den wec lêrt, / ûf die strâze er kêrte / die er gebâret dar reit: / daz geschach durch gewarheit (Vers 6745-6749)22.

19 Thomasin von Zerklaere, Der welsche Gast, Cod. Pal. Germ. 389, HS G 8va. Aus: Kries, Thomasin von Zerklaere, Bd. 4, 11, Bild 2.

20 Hugo Kuhn, Erec (1948), in: Hugo Kuhn und Christoph Cormeau (Hrsg.), Hartmann von Aue (Wege der Forschung 359) Darmstadt 1987, 17-48; kritisch dazu Elisabeth Schmid, Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusfor- schung, in: Friedrich Wolfzettel – Peter Ihring (Hrsg.), Erzählstrukturen der Artusliteratur. Tübingen 1999, 69-85.

21 Helmut Hundsbichler, Via sive vita. Straße und Weg in der christlichen Metaphorik, in: Gerhard Jaritz (Hrsg.), Die Straße. Zur Funktion und Perzeption öffentlichen Raums im späten Mittelalter (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Diskussionen und Materialien 6) Wien 2001, 9-30.

22 Mit Hilfe Enîtes – denn sie zeigte ihm den Weg – kehrte er auf die Straße zurück, die er auf der Bahre hergekommen war. Hartmann von Aue, Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Thomas Cramer (Fischer Taschenbuch 6017) Frankfurt 242002, Vers 6745-6748.

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In einer kurzen Inhaltsangabe23 sei der Text zusammengefasst. Erster cur- sus: Êrec, Sohn des Königs Lac (Êrec, fil de roi Lac) zählt zu König Artus’ Ta- felrunde. In Anwesenheit der Königin Ginovêr wird er von Îders Zwerg belei- digt. Auf seiner Suche nach Genugtuung erreicht er einen Markt, wo er eine Unterkunft braucht. Diese findet er in der ruinösen Behausung des verarmten Grafen Koralus, seines späteren Schwiegervaters. Mit dessen Hilfe gewinnt Êrec einen Wettkampf und somit seine Satisfaktion. Schließlich heiratet er Koralus’ Tochter Enîte am Hofe König Artus’. Das frischvermählte Paar begibt sich in Êrecs Vaterland und der junge Ehemann übernimmt die Regentschaft. Das Paar genießt sein privates Glück so sehr, dass Êrec seine Pflichten als König und Ritter vernachlässigt. Enîte erzählt Êrec von den Vorwürfen seiner Ritterschaft. Im folgenden zweiten cursus erwirbt Êrec seine ritterlichen Tugenden zurück. Der zweite cursus ist der (scheinbar) ziellose, lange Weg eines unerfahrenen jungen Mannes durch die Welt der Abenteuer24, der sich von seiner Frau beglei- ten lässt. Die „Erfahr-ung“ seines Lebens markieren zahlreiche Begegnungen, die mit verschiedenen Arten von Aufnahme als Fremder und Gast korrespondie- ren. Am Ende der Reise dankt Êrec, von Hartmann nach der „Oringleepisode“ als künec Êrec tituliert, Gott dem Wegweiser seines Unternehmens.

Die wichtigsten Stationen des ersten cursus sind Êrecs Aufenthalt im Markt Tulmein und Êrecs und Enîtes gemeinsamer Aufenthalt am Artushof Ka- radigân. Das erste Abenteuer führt den jungen Artusritter in ein fremdes Land, denn er verfolgt heimlich Îders, Îders’ Freundin und den Zwerg, der ihn mit ei- ner Geißel geschlagen hatte. Êrec reist in dieser aventiure „inkognito“, daher wird er nicht als Königssohn erkannt und nicht seinem Stand entsprechend auf- genommen; keine Boten melden seine Ankunft. Êrec ist unerkant (Vers 245) und wîselôs (Vers 250), er ist auf Gastfreundschaft angewiesen. Bei Herzog Imaim findet er als Unbekannter keine Aufnahme. Er sucht im Marktflecken am Fuße der Burg Tulmein (ein market unterm hûse lac: Vers 223) Unterkunft. Êrec war vom Artusreich überraschend (ohne Ausrüstung und ohne Geld) auf- gebrochen, ohne Geld erhält er keine Unterkunft (ouch was er habelôs dâ gar Vers 238). Wegen des Festes sind viele Gäste im Ort, alle Häuser sind belegt, er findet niemanden, der ihn als Gast aufgenommen hätte. Im fiktiven Herzogtum Imaims gibt es für Fremde nur gegen Bezahlung Herberge. Am Rande des Marktfleckens bemerkt Êrec ein altes Gemäuer, von dem er denkt, es sei unbe- wohnt (Vers 261f.). Er geht in das Haus, durchsucht alle Winkel und bemerkt einen altersgrauen Mann, den Hausherrn Koralus. Er ist darüber enttäuscht, weil er fürchtet, er werde wieder hinausgeworfen (Vers 292f); dennoch bittet er um

  1. 23  Eine ausführliche Inhaltsangabe bieten Kuhn, Erec 17-48 und Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters. 2 Bde. (=Grundlagen der Germanistik 7) Berlin 21977, 117-141.
  2. 24  Mhd aventiure kommt Ende des 12. Jahrhunderts aus Altfranzösischem aventure, dem das Vulgärlateinische *adventura ‚Ereignis, Geschehnis’ vorausgeht. Dies ist eigentlich Plur. Neutr. des substantivierten Part. Fut. von lat. advenire ‚herankommen, ankommen’, also als das, ‘was sich ereignen wird, das sich Ereignende’ zu erklären (Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch 3).

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Quartier ( ́herre, mir waere herberge nôt ́, Vers 302). Koralus heißt ihn will- kommen: Daran konnte man sehen, dass er die Gesinnung eines Vornehmen hatte, indem er den Gast aufnahm, obwohl er arm war, so kommentiert Hart- mann die gastfreundliche Haltung des Koralus (Vers 312ff.). Der verarmte Graf Koralus ruft seine Tochter, die Êrecs Pferd wie ein Pferdeknecht versorgen soll (Vers 318f). Êrec will ihr diese Arbeit erlassen, aber der Gastgeber besteht dar- auf: ́man sol dem wirte lân / sînen willen, daz ist guot getân ́ (Vers 348f.). Mit- hilfe der kontrastierenden Beschreibung einer reichen (fiktiven) Innenausstat- tung (guote teppeche gespreit / unde dar ûf geleit / alsô richiu bettewât / sô si diu werlt beste hât, / mit samîte bezogen, / dem daz golt was unerlogen, / daz daz bette ein man nie möhte erwegen / und selbe vierde müeste legen, / unde dar über gebreit / nâch grôzer herren werdekeit / kulter von zendâle, / rîche und gemâle, Vers 368-379)25 erfährt der Leser/Hörer von der „realistischen“ Aufnah- mesituation eines Reisenden um 1200 in bescheidenem Rahmen (si geleisten wol ein reine strô: / dar über genuocte si dô / eines bettes âne vliz, / das bedahte ein lîlachen wîz, Vers 382-385)26. Auch die Ritterspeisen können nur imaginiert werden: ouch was dâ ritters spîse: / swes ein man vil wîse / möhte in sînem muo- te / erdenken ze guote… (Vers 386-389)27. Hartmann betont die höfische Gesin- nung des Koralus, die sich jenseits jeder adeligen Repräsentation abspielte28; er zeigt, dass innerer Adel mehr bedeutet als äußere Pracht. Êrec genießt umfang- reiche Gastfreundschaft, obgleich auf sehr einfachem Niveau wegen der Armut des Adeligen. Auf jeden Fall ehrt die Gastfreundschaft, die Koralus und seine Familie Êrec gewähren, den Gast wie den Gastgeber und seine Familie: Menta- ler Adel zählt mehr als materieller Reichtum.

Später, nach dem erfolgreichen Kampf gegen Îders, genießt Êrec die Gast- freundschaft des Herzogs Imaim und die des Koralus. Zu seinen Ehren wird ein Fest bei Koralus gefeiert (Vers 1386-1399), Herzog Imaim übernimmt die Kos- ten, indem er die Speisen aus seiner Burg bringen lässt. Hartmann charakterisiert Êrecs Status als Gast, seine Unterbringung als Herberge.

Ein Vergleich mit Chrétiens „Erec und Enide“ zeigt, dass private Beher- bergung gegen Bezahlung bei Chrétien kein Thema ist. Hier sucht Erec nicht erst im Marktflecken Herberge, denn bei Chrétien gibt es keine Häuser, die „voll mit Gästen belegt waren“. Erec findet die ärmliche Herberge seines späteren (verarmten) Schwiegervaters sofort und wird mit herzlicher Gastfreundschaft

25 Schöne Teppiche / und darauf so stattliches Bettzeug / wie man es nur finden kann, / bezo- gen mit Samt, / geschmückt mit purem Gold, / dass ein Mann allein dies Bettzeug gar nicht heben könnte / sondern es zu viert aufdecken müsste, / darüber gebreitet, / in der Pracht großer Herren / eine Decke aus Zindel, / prächtig verziert [Hartmann von Aue, Erec (ed. Cramer), Vers 368–379].

26 Sie konnten sauberes Stroh bieten. / Darüber genügte ihnen / Bettzeug ohne Besonderhei- ten, / bedeckt mit weißem Leinen [Hartmann von Aue, Erec (ed. Cramer), Vers 382-85].

27 Es gab auch Herrenessen: / was ein kluger Mann / in seiner Phantasie / sich Schönes ausdenken kann [Hartmann von Aue, Erec (ed. Cramer), Vers 386-389].

28 Christoph Cormeau – Wilhelm Störmer, Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. München 21993, 180.

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aufgenommen. Chrétien gebraucht für Herberge die Worte herbergier (Vers 388) und l’ostel (Vers 389, 392), für Gastgeber oste (Vers 482, 503, 505). Auch in der Mittelkymrischen Artusüberlieferung29 fehlt der Passus über die private Beherbergung gegen Bezahlung.

König Artus’ Gastfreundschaft übersteigt alle Maßen. Nachdem ihm die Ankunft Êrecs und Enîtes gemeldet wurde, reitet er mit seinen Rittern den Gäs- ten entgegen, um sie willkommen zu heißen (Vers 1510-1522). Königin Ginevêr empfängt das Paar im Burghof (Vers 1523-1528). Sie nimmt Enîte mit sich, be- reitet ihr ein Bad und kleidet sie eigenhändig in wertvolle Kleider (Vers 1529- 1584). König Artus arrangiert die Hochzeit von Êrec und Enîte mit einer großen Anzahl an Gästen und 3000 Spielleuten. Das Fest dauert vier Wochen und endet mit einem großen Turnier. Artus ist der perfekte Gastgeber: Nichts fehlt; Pferde, Kleidung und Gold wurden den Armen geschenkt (Vers 2166-2185); reiche Ge- schenke werden an den armen Schwiegervater Êrecs gesandt: zwei Saumtiere beladen mit Gold und Silber (Vers 1805-1816). Dieses Hochzeitsfest gereicht dem frisch vermählten Paar noch zu zusätzlicher Ehre, nachdem sich der Haupt- akteur durch seinen Sieg über Îders rehabilitiert hat und Enîte Erhöhung durch den Kuss von Artus erfahren hat (Vers 2162). Ein Turnier wurde verabredet; Artus stattet seinen Gast mit allem aus, was dieser für ein Turnier braucht (Vers 2165). – Nach Hochzeit und Turnier will Êrec mit seiner jungen Frau in sein Vaterland reisen. Zum Abschied wählt Artus sechzig Reisebegleiter aus, die alle, wie auch Êrec, von ihm ausstaffiert werden (Vers 2875).

Die Beschreibung der vorbildlichen Gastfreundschaft des Artus dient zur Charakterisierung dessen allgemeiner Vorbildlichkeit; Gastlichkeit wird hier geradezu zum Maßstab charakterlicher Integrität30. Während ihres langen Auf- enthaltes an König Artus’ Hof werden Êrec und Enîte immer wieder als Gäste bezeichnet. König Artus Gastfreundschaft reflektiert seine Idealität (Vorbild- funktion) und seine Regentschaft. In dieser Szene folgt Hartmann sehr eng sei- ner Vorlage, in den für Gastfreundschaft relevanten Punkten gibt es keine Diffe- renzen zwischen der deutschen und der französischen Version.

Nachdem Êrec und Enîte die Grafschaft Galoains (Chrétien) erreicht ha- ben, erleben sie auf ihrem zweiten cursus drei verschiedene Arten von gastlicher Aufnahme, jene vorbildliche Gastfreundschaft, die ihnen der Knappe des Burg- grafen angedeihen lässt, die zweifelhafte Gastfreundschaft des Burggrafen und die Gastlichkeit des Wirtes.

Der Knappe des Burggrafen heißt sie auf der Straße willkommen. Nach- dem er ihnen Schinken, Brot und Wein zur Stärkung angeboten hat, holt er mit seinem Hut Wasser zur notdürftigen Reinigung der Hände (Vers 3490-3555) und bereitet dem ermüdetem Paar eine Art Picknick am Straßenrand zur Rege-

29 Helmut Birkhan, Keltische Erzählungen vom Kaiser Arthur 1. Aus dem Mittelkymrischen übertragen, mit Einführungen, Erläuterungen und Anmerkungen. [o.O.] 2000, 185 f.

30 Leopold Hellmuth, Gastfreundschaft und Gastrecht bei den Germanen (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 440) Wien 1984, 235 f. und 239.

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neration nach einem langen aufregenden Nachtritt. Der Knappe lädt beide auf die Burg seines Herrn ein. Hartmann zeigt die warme Gastfreundschaft eines jungen Mannes. Der Knappe erkannte in dem Paar Fremde, die er im Sinne der Nächstenliebe als Gäste behandelt. Er versorgt sie mit dem nötigsten Essen und Trinken und übt als einfacher Knecht in vorbildlicher Weise zwei Werke der Barmherzigkeit (Hungernde speisen, Durstige tränken). – Auch der Burggraf selbst lädt Êrec und Enîte auf seine Burg ein; Êrec lehnt dankend ab, da er sich noch nicht reif für den Hof hält. Das Paar sucht das beste Gasthaus im Ort (tiu- resten wirte, Vers 3645). Der Wirt wird positiv gezeichnet (Vers 4007ff.), im Gegensatz zum Burggrafen, der, nachdem er Enîtes Schönheit erkannt hatte, sie zur Frau begehrt. Der Graf verstößt sträflich gegen die Gastfreundschaft, die ihm den Schutz des Gastes auferlegt. Hartmann findet dafür eindeutige Worte: untriuwe riet sînen sinnen / daz er dar sô kaeme / daz er si im benaeme. / daz was doch wider dem rehte / daz er dem guoten knehte / sîn wîp wolde hân ge- nomen, / dô er in sîn lant was komen, / dâ ern bevriden solde / ob er iemen schaden wolde … (Vers 3675-3683)31.

In der „Knappen-episode“ sind interessante Unterschiede der deutschen und französischen Fassungen feststellbar. Der freundliche Knappe Chrétiens bietet den müden Gestalten Erfrischungen an (Kuchen, Wein und fetten Käse), weil er weiß, dass es im Umkreis einer Tagesstrecke weder Burg, Dorf, Turm noch ein befestigtes Haus oder eine Abtei, ein Hospiz oder eine Herberge gab: (Quant il vit Erec et Enide, /Qui de vers la forest venoient, / Bien apercoit que il avoient / la nuit an la forest geü, / N’avoient mangié ne beü;/ Quúne jornee tot antor / Návoit chastel, vile ne tor, / Ne meison fort ne abeie, / Ospital ne herber- gerie. Vers 3131-3140). Chrétien bietet mit dieser Überlegung des Knappen eine interessante Information, die bei Hartmann entfällt. Burg, Dorf, Turm, befes- tigtes Haus und Abtei waren mit Sicherheit auch Hartmanns Rezipienten be- kannt, aber wie ist es mit Hospiz und Herberge? Ließ Hartmann diesen Gedan- ken weg, weil er der Meinung war, dass sein Publikum die Institutionen Ospital et herbergerie (Hospiz und Herberge) nicht kannte? Ospital tritt in Hartmanns Sprachgebrauch nicht auf; herberge dagegen kommt im Êrec etwa achtmal vor. Obgleich dieser Begriff eigentlich „ein das Heer bergender Ort“ bedeutet32, ist es in Hartmanns Erec ein (Privat)Haus, welches Fremden Unterkunft gewährt. Bei Chrétien überrascht der auf das Althochdeutsche heriberga zurückgehende Terminus.

Das nächste Abenteuer von Êrec und Enîte ist die Begegnung mit dem Zwergenkönig Guivreiz, der Êrec zum Kampf herausfordert. Êrec besiegt ihn, wird dabei aber schwer verwundet. Der Zwergenkönig gewährt dem Paar dar-

31 Falschheit gab sie ihm ein, / es darauf abzulegen, / dass er sie Êrec wegnehmen könne. / Das war wahrhaftig wider das Recht, / dass er dem tapferen Ritter / seine Frau wegnehmen wollte, / dem er, als er in sein Land gekommen war, / doch Frieden hätte garantieren müs- sen, / wenn ihm jemand hätte Schaden zufügen wollen [Hartmann von Aue, Erec (ed. Cra- mer), Vers 3675-3683].

32 Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch 533.
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aufhin großzügige Gastfreundschaft: Es wird ihnen ein schöner Empfang gebo- ten (Vers 4606), am Abend werden sie zu einem Mahl geladen (Vers 4614), die Übernachtung wird mit großer Pracht gewährleistet.

Chrétien (Vers 3890-3930) und der anonyme Autor der Arturgeschichten lässt Erec seinen Weg ohne Übernachtung fortsetzen; er schlägt die freundliche Einladung Guivrets, sich in dessen Land und Burg länger aufzuhalten und ver- arzten zu lassen, aus33.

Auf dem Weg zu seiner Identität trifft Êrec wieder auf König Artus und seine Jagdgesellschaft. Der Empfang durch Artus und die Königin ist großartig: man emphienc si wirdeclîche (Vers 5094). Die Königin verarztet Êrec mit einem wunderbaren Pflaster, hergestellt von des Königs Schwester Fâmurgân (Vers 5129-5249); das Paar wird herzlich eingeladen sich der Artusgemeinschaft für länger anzuschließen (Vers 5250-5269). Doch obgleich Êrec schwer verwundet ist, lehnt er einen ausgedehnten Aufenthalt bei der Hofgesellschaft ab; er will seinen Weg fortsetzen, und fühlt sich für das höfische Leben noch nicht bereit (Vers 5056f und 5064). Artus ist auch im Abschiednehmen hervorragend: Zu Ehren des Gastes nimmt er früher als sonst das Morgenmahl ein (Vers 5274); bei der Abschiedszeremonie weint der ganze Hof vor Schmerz (Vers 5283).

Die Schilderung der Gastfreundschaft durch Artus und Ginevêr ist bei Chrétien gänzlich anders gewichtet. Er erzählt von der luxuriösen Hofhaltung der Artusgesellschaft im Wald und den Annehmlichkeiten, die den Gästen in den königlichen Zelten geboten werden: die einzelnen Gänge des Soupers wer- den mitgeteilt („Es war Samstagabend, da aßen sie Fisch und Obst, Hecht und Barsch, Lachs und Forelle, und danach rohe und gekochte Birnen.“ Vers 4265- 4269). Artus kümmert sich selbst um die Nachtruhe der Gäste und sorgt dafür, dass jeder ein Bett für sich allein erhält: „Der König … ließ ihn [Erec] allein in einem Bett schlafen, weil er nicht wollte, dass einer bei ihm schlief und seine Wunden berührte. In dieser Nacht war Erec bequem untergebracht. In einem an- deren Bett nebenan lag Enide mit der Königin in aller Ruhe unter einer Herme- lindecke, und sie schliefen, bis der Morgen dämmerte“ (Vers 4270-4280). Chrétien erwähnt kein Morgenmahl, lässt jedoch (wie Hartmann) den ganzen Hof beim Abschied weinen; die Artusritter möchten Erec das Geleit geben, das dieser ablehnt.

Die nächste Station des aventiure-Weges Êrecs ist der Kampf gegen zwei Riesen, in dem er tödlich verwundet wird. Wieder erscheint ein Graf, der Lan- desherr Oringles, wild entschlossen die schöne Enîte zu heiraten. Wie in der ersten Grafenepisode verletzt auch Graf Oringles durch seine gewaltsame Wer- bung die Gastfreundschaft gröblich. Während der scheintote Êrec in der Burg Limors aufgebahrt ist, zwingt er Enîte, ihn zu heiraten. Da sie beim anschlie- ßenden Mahl ihre Teilnahme verweigert, schlägt er sie brutal ins Gesicht. Durch die verzweifelten Schreie Enîtes erwacht Êrec aus seiner tiefen Ohnmacht. Êrec erschlägt den Grafen Oringles, dem Paar gelingt die Flucht. Êrec ist jetzt von

33 Birkhan, Keltische Erzählungen 229.
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Enîtes tiefer Liebe überzeugt; er weiß, dass er an ihr Treue und Beständigkeit findet und dass sie ihm eine zuverlässige Frau ist (Vers 6788ff.). Dieses Wissen versetzt ihn nun teilweise in die Lage, seiner Lebenskrise Herr zu werden. Er- mutigt, kehrt er vorübergehend in die höfische Gesellschaft zurück.

Hartmann tituliert den Grafen als wirt (Vers 6324), Enîte als ellende34 (Vers 6441) und kennzeichnet sie damit als schutzlose Fremde, die sich, aus ih- rer Rechtsgemeinschaft vertrieben, in einem fremden Land aufhält35. Bei Chrétien fehlen die entsprechenden Substantive; dennoch verurteilt er eindeutig das Verhalten des Landesherrn, der Machtmissbrauch soweit treibt, dass er eine unglückliche, macht- und rechtlose Frau zur Ehe zwingt und unter Androhung von roher Gewalt Fröhlichkeit abverlangt.

Auch Êrec wird am Ende der Episode als ellender (Vers 6860) in dieser Grafschaft bezeichnet. Da der Zwergenkönig Guivreiz sich aufmacht, um dem Landfremden aus der Not zu retten, kreuzen sich beider Wege. Bei ihrer zweiten Begegnung akzeptiert Êrec die herzliche Gastfreundschaft des Königs und das Paar bleibt vierzehn Tage auf dessen Wasserschloss Penefrec. Beim Abschied erhält Enîte ein kostbares Pferd als Geschenk.

Der deutsche Autor bezeichnet Êrec und Enîte wieder als Gäste: diese lie- ben geste (Vers 7057), den vil lieben gesten (Vers 7091), Guivreiz als wirt (Vers 7116).

Auf dem Weg zum Artushof verirren sich die drei und erreichen Brandi- gan, wo sie abermals als Gäste vorzüglich bewirtet werden. Joie de la court re- flektiert die Situation des Paares und am Ende seines Weges besteht Êrec seine letzte aventiure, den Kampf gegen Mabonagrin, dem Herrn von Joie de la court.

Der höfische Protagonist hat seinen Weg gefunden: Durch „Erfahrung“ ist er nun im Besitz der Tugenden, die ihn tatsächlich zur Regentschaft ermächti- gen. Hartmann lässt seinen Helden am Ende seiner Reise über deren Sinn re- flektieren: ich weste wol, / der Saelden wec36 / gienge in der werlde eteswâ, / rehte enweste ich aber wâ, / wan daz ich in suochende reit / in grôzer ungewis- heit, / unz daz ich nû vunden hân./ got hât wol ze mir getân / daz er mich hât gewîset her… (Vers 8521-8527)37. Êrec entwickelte sich von einem unerfahrenen jungen Mann durch eine Krise und eine Serie von aventiure-Situationen zum künec Êrec (ab Vers 6763 als künec bezeichnet).

34 Birkhan, Etymologie 192: vorahd. *alia-landia ‘im anderen (fremden) Land seiend’ > mhd. ellende > nhd. ‚elend’.

35 Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch 277.
36 Dazu Günter Scholz, Der hövesche Got und der Saelden wec: Zwei >Erec<-Konjekturen

und ihre Folgen, in: Christoph Huber – Burghart Wachinger – Hans-Joachim Ziegeler (Hrsg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur. Tübingen 2000, 135-151.

37 Ich wusste wohl, dass der Weg zum höchsten Ruhm irgendwo in der Welt liegt, aber ich wusste nicht genau, wo, und so bin ich auf die Suche geritten, ohne zu wissen, wohin, bis ich ihn jetzt gefunden habe. Gott hat an mir gut gehandelt, dass er mir den Weg hierher ge- zeigt hat, … [Hartmann von Aue, Erec (ed. Cramer), Vers 8521-25].

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Von Interesse ist Hartmanns Sprachgebrauch im Feld der Gastfreund- schaft/Gastlichkeit: Bei freundlicher Aufnahme durch den Gastgeber (wirt) be- zeichnet er den Gast als gast und verstärkt die Kennzeichnung mitunter durch die Adjektive lieb und wird; für die Unterkunft verwendet Hartmann hûs und herberge; auch das Wirtshaus des positiv gezeichneten Wirtes (wirt) im zweiten cursus wird als herberge bezeichnet. Bei unfreundlicher Aufnahme bedient sich Hartmann des Begriffes ellender (Fremder) für Gast. Die Gastfreundschaft, die das Paar empfängt, charakterisiert den Gastgeber und spiegelt Êrecs persönliche Entwicklung. Verschiedene Arten der Gastfreundschaft symbolisieren seine bei- den Wege und sie korrespondieren mit Êrecs Individualisierung. Im ersten cur- sus dominiert Gastfreundschaft und sie ist exzellent, wo Êrec als Königssohn bekannt ist. Êrec hat im ersten cursus schnell Erfolg: rasch erwirbt er Minne und Regentschaft. Aber der erste und schnelle Erfolg ist instabil. Im zweiten cursus ist der seinen Wegsuchende, unerfahrene junge Mann anonym unterwegs. Über- all wo er hinkommt ist er unbekannt, mit Ausnahme an König Artus’ Hof. In zahlreichen Kämpfen ist er siegreich und schließlich erreicht er den Status, in welchem er die höfischen Tugenden in perfekter Harmonie besitzt. Nach einem kurzen Aufenthalt an König Artus Hof wird er in seinem Königreich willkom- men geheißen.

Die Erzählung bietet auch eine frühe Evidenz für die aufkommende kommerzielle Gastlichkeit in jenem deutschsprachigen Bereich, den Hartmann kannte. Im ersten cursus findet Êrec in Markt Tulmein ohne Geld (habelôs) keine Unterkunft. Hartmann beschreibt private Unterbringung gegen Bezahlung, bei Chrétien und in der mittelkymrischen Artusüberlieferung fehlt diese Se- quenz. Die Situation ist nördlich der Alpen zu diesem Zeitpunkt noch unge- wöhnlich, da jeder zur freien Unterbringung ohne Verpflegung verpflichtet war. Im zweiten cursus erhalten Êrec und Enîte im Gasthaus gegen Bezahlung gute Unterbringung und Verpflegung. Das ist kommerzielle Gastlichkeit, die zu die- ser Zeit nur an bedeutenden Straßen existierte.

Wenngleich Straße und Weg bei Hartmann, Chrétien und in der mittel- kymrischen Artusüberlieferung als Metapher den Lebensweg des Helden und Gastfreundschaft die Stationen auf diesem Lebensweg symbolisieren, ist evi- dent, dass die Autoren bei deren Beschreibung „reale“ Situationen vor Augen hatten. Sie erfüllten die Empfehlung des Thomasin von Zerclaere didaktische Inhalte zum besseren Verständnis der „illiteraten“ Rezipienten sinnfällig vor Augen zu führen und bildlich zu gestalten.

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Abb. 1: Die heilige Elisabeth gibt Armen und Pilgern Obdach.

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Abb. 2: Die gastliche Aufnahme des welschen Gastes durch die deutsche Hausfrau.

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MEDIUM AEVUM QUOTIDIANUM

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KREMS 2004

HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ

GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG

Titelgraphik: Stephan J. Tramèr

Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, 3500 Krems, Österreich. Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: Grafisches Zentrum an der Technischen Universität Wien, Wiedner Hauptstraße 8-10, 1040 Wien.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort …………………………………………………………………………………………………. 5

Helmut Hundsbichler, Reiseerfahrung und Reflexivität. Spätmittelalterliche Religiosität als Kontext

kultureller Kontraste ………………………………………………………………………. 7

Gertrud Blaschitz, Gastfreundschaft im „Erec“ des Hartmann von Aue ………. 28 Besprechungen …………………………………………………………………………………….. 41

Vorwort

Das vorliegende schmale Heft 49 von Medium Aevum Quotidianum und auch ein Teil des in Kürze folgenden nächsten Heftes widmen sich einem wichtigen mittelalterlichen soziokulturellen Phänomen, welches uns in unterschiedlichster Quellenüberlieferung, sei es in Texten, Bildern oder archäologischem Befund, regelmäßig entgegentritt: die persons-, objekt- und situationsbezogenen Kon- traste in der Darstellung, Beschreibung, Argumentation und Bewertung1. Solche Kontraste sowie die zu interpretierende Konstruktion derselben, ihre Funktion und Anwendung spielen eine wichtige Rolle für alle Forschungen und Analysen im Rahmen der Geschichte von Alltag und materieller Kultur des Mittelalters. Dies war der Grund für die Organisation von einigen alltagsbezogenen Sektio- nen beim International Medieval Congress in Leeds, 2004, welche sich mit dem Themenkreis „Contrasts in Quotidianity“ und den unterschiedlichen Ausprägun- gen derartiger Kontraste auseinandersetzten. Dieses Heft beinhaltet zwei Bei- träge aus jenen Sektionen, welche hier in erweiterter Fassung und deutscher Übersetzung vorgelegt werden.

Helmut Hundsbichler präsentierte seinen Beitrag in Leeds in der Teilsek- tion „Contrasts in Quotidianity: The Religious Context.“ Er kann in eindrucks- voller Weise vermitteln, dass eine Quelle, die bis dato vor allem als ein für die Realienkunde wichtiger Beleg zum spätmittelalterlichen Reisen im Alpenraum gesehen wurde, neu und anders gelesen werden sollte, wodurch ihre Inhalte eine geänderte, in diesem Falle religiöse Funktion und Relevanz erhalten. Er zeigt auf, dass Veränderungen des Blickwinkels und der Schwerpunktsetzung im Rahmen der Analyse, das heißt ein „neues Lesen“ bzw. „anderes Lesen“ von Quellen ganz allgemein zu Ergebnissen führen mögen, die zuvor nicht in die Überlegungen einbezogen wurden. Hierbei können dann geänderte bzw. modifi- zierte Kontextualisierungen auch neue Zusammenhänge und Bedeutungen er- kennbar machen, die in die ursprünglichen Fragestellungen und Interpretationen nicht einbezogen worden waren. „Das Eigene und das Fremde“ wird modifiziert und eröffnet in dieser geänderten Form neue und spannende Herausforderungen für den/die Historiker/in.

Gertrud Blaschitz präsentierte die ursprünglich englische Fassung ihres Beitrages in der Sektion „Contrast in Quotidianity: Hospitality“. Sie stellt die Frage nach der Anwendung und Funktion des Musters der Gastfreundschaft in der mittelhochdeutschen Literatur und konzentriert sich auf das Beispiel Hart-

1 Vgl. dazu etwa auch den Sammelband: Kontraste im Alltag des Mittelalters, hrsg. von Gerhard Jaritz (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Diskussionen und Materialien 5) Wien 2000.

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manns von Aue und seines Erec. Sie kann gut verdeutlichen, wie mit Kontrasten in Bezug auf die Aufnahme von Gästen operiert wurde und damit gleichzeitig Positiv- und Negativmuster konstruiert wurden, deren Wirkung auf das Publi- kum im besonderen auf derartiger Kontrastierung beruhen sollten. Die wieder- kehrenden Kontrastpaare des willkommenen und des unwillkommenen Gastes, von Aufnahme und Abweisung erzeugten sicherlich einen Teil der Spannung, den der Text auf seine Rezipienten ausüben sollte.

Diese zwei Beiträge vermitteln neuerlich die Relevanz, die dem Phänomen des Kontrastes im mittelalterlichen Alltag auf verschiedenen Ebenen zuzumes- sen ist. Das betrifft die Quellenmitteilung, ihre Funktion, Wirkung und Perzep- tion genauso wie die analysierenden HistorikerInnen und deren „Lesefähigkeit“, „Lesewillen“ und Bereitschaft vieles öfters, neu und anders zu lesen.

Gerhard Jaritz

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