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Habenichtse und Landstreicher.

62
Habenichtse und Landstreicher
Zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Armenfürsorge in Island
und deren Zusammenbruch
Vilborg Auður Ísleifsdóttir-Bickel (Wiesbaden/Reykjavík)
Armut hat die Menschheit seit jeher begleitet. Auf Grund ihrer Funktion als
alltägliches und weit verbreitetes Phänomen wurde es allerdings häufig für überflüssig
gehalten, sich mit den Erscheinungsformen des Mangels schriftlich auseinanderzusetzen.
Daher sind auch die Quellen über das Leben und die Lebensumstände
von Armen im Mittelalter und der frühen Neuzeit spärlich. Sicherlich
kann Armut auf vielfältige Weise definiert werden,1 aber im mittelalterlichen
Island war jener Mensch arm, der sich nicht selbst ernähren konnte: sei es aufgrund
von Jugend oder Altersgebrechlichkeit, durch Krankheiten oder mangels
einer Existenzgrundlage, die sich vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert auf
Grund und Boden bezog.
Der vorliegende Beitrag soll aufzeigen, wie Armenfürsorge in der
mittelalterlichen isländischen Gesellschaft bewerkstelligt wurde, vor allem auch
wie Kirche und Gesellschaft bei der Bewältigung dieses Problems zusammen
wirkten. Diesem Thema ist in der Vergangenheit nur geringe Aufmerksamkeit
gewidmet worden, abgesehen von einem kurzen Überblick von Tryggvi
Þórhallsson über Armenfürsorge und Nahrungsmittelverteilung.2 Ich möchte
einen Schwerpunkt auf die Aufgabenteilung zwischen den weltlichen Institutionen,
d. h. zwischen den Bauernfamilien, den „hreppar“3 (Landkreise), und den
1 Siehe dazu Karl Bosl, Das Problem der Armut in der hochmittelalterlichen Gesellschaft
(Sitzungsberichte der Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse
294/5) Wien 1974, passim
2 Tryggvi Þórhallsson, Ómagahald, matgjafir o. fl. [Armenfürsorge, Nahrungsmittelvergabe u.
a.]. In: Skírnir 110 (Reykjavík 1936) 123-132. Jüngst erschien eine Dissertation zum
Thema: Wolfgang Gerold, Armut und Armenfürsorge im mittelalterlichen Island. (Heidelberg
2002). Der Autor ist der philologischen und juristischen Tradition verpflichtet und
stützt sich vornehmlich auf ältere deutsche Forschung, lässt aber die kirchlichen Einflüsse
außer Betracht
3 Zusammenschluss von 20 Thingfahrtsbauern, die vermögend genug waren, Thingfahrtssteuer
zu entrichten. Sie waren für die Organisation der Armenfürsorge in ihrem „hreppur“
zuständig: Gunnar Karlsson u. a. (Hg.), Grágás. Lagasafn íslenska þjóðveldisins [Die
Graugans. Die Gesetzessammlung des isländischen Freistaates]. Reykjavík 1997, 180; An63
kirchlichen Institutionen legen. Diesbezügliche Steuerregelungen und andere
Möglichkeiten zur Finanzierung der Armenfürsorge werden untersucht. Schließlich
soll der Zusammenbruch dieses Sozialsystems dargestellt werden, welcher
der Einführung der Reformation und der Kirchenordinanz König Christians III.
folgte.
Die Quellen finden sich hauptsächlich im Diplomatarium Islandicum4,
aber auch in den Bischofssagas, Heiligenviten und Gesetzbüchern. Sie sind zwar
eher spärlich, jedoch ergiebiger als jene aus dem übrigen Nordeuropa. In den
isländischen Sagas finden sich verstreut Zeugnisse der Armenfürsorge und der
Einstellung der mittelalterlichen Isländer zu dieser Problematik. „Jung wurde ich
dem Njáll gegeben; da habe ich ihm versprochen, ein Schicksal solle uns beide
treffen“5, sagte Bergþóra, als das Haus über ihnen angezündet wurde, und legte
sich unter die Stierhaut mit ihrem Ehemann und Enkelsohn. Dieser Satz ist seit
eh und je als Zeugnis der Liebe Bergþóras zu Njáll und ihrer ehelichen Treue
interpretiert worden. Er hat jedoch einen weiteren und eher nüchternen Hintergrund.
Wer sollte die herrische Frau versorgen, wenn Njáll und seine Söhne gestorben
waren? Sie wäre nach deren Tod zur Bettlerin geworden.
Die meisten Quellen über die Behandlung von Armen und Kranken sind
aus dem Blickwinkel der Reichen und Mächtigen geschrieben, aus Aspekten
derjeniger, die die Probleme organisatorisch zu meistern hatten. Klare Beschreibungen
der Lebensumstände des gemeinen Volkes können am ehesten in den
Heilagra manna sögur (Heiligenviten) und Jarteinasögur (Mirakelgeschichten)
gefunden werden. Darin ist ein bitterer Lebenskampf zu erkennen, in dem häufig
Gebet zu und Gelübde an die Heiligen der einzige Ausweg der Geschundenen
waren. Diejenigen waren am stärksten betroffen, die nirgends ein Zuhause und
keine Verwandten hatten und schwer krank von Haus zu Haus betteln gehen
mussten
Christliche Lebenseinstellung
Das Erbarmen ist gemäß den Lehren der Kirche ein grundlegendes Element des
Christentums. Solche Ansichten müssen für Menschen, die nur die Regeln der
Stammesgesellschaft kannten, eine Neuheit gewesen sein. Es dauerte wohl
lange, bis sie diese akzeptiert hatten. Das bestimmende Element des Verhältnisses
von Geber und Nehmer stellte sich als wichtig dar. Predigten zeigen, dass
isländische Priester den theologischen Strömungen ihrer Zeit auf dem Kontinent
dreas Heusler, Isländisches Recht – Die Graugans (Germanenrechte Bd. 9) (Weimar 1937),
XIII, Nr. 234, S. 397. Zur Definition des Begriffes „hreppur“ siehe ausführlicher Gerhold,
Armut und Armenfürsorge 136 ff.
4 Diplomatarium Islandicum. Íslenskt fornbréfasafn, sem hefur inni að halda bréf og gjörningar,
dóma og máldaga og aðrar skrár, er snerta Ísland og íslenzka menn I-. XVI. Kaupmannahöfn
und Reykjavík 1857-1970 (im weiteren DI).
5 Felix Niedner u. a. (Hg.), Die Geschichte vom weisen Njal (Thule. Altnordische Dichtung
und Prosa IV) Düsseldorf-Köln 1963², 278.
64
folgten. In Alia sermonis (sic!), d. h. in der zweiten Weihnachtspredigt, heißt es
in der Ansprache an die Armen:
„Jetzt empfehle ich euch, ihr Armen, dass ihr euch Kleider und Essen
wünscht und dass ihr von den Almosen guter Menschen lebt. Seid getröstet,
eure Qual wird sich in Freude verwandeln. Werdet nicht müde zu beten,
denn Gott ist gerecht und milde in allen seinen Werken. Darum
machte er euch arm, dass ihr mit Geduld die kurze Armut ertragen sollt,
aber die ewige Freude danach erlangt. Und daher machte er einen anderen
reich, dass dieser von seinen Sünden geheilt würde, wenn er euch von seinem
Geld gebe.“6
In Island war die Familie im weitesten Sinne die Produktionseinheit und gesellschaftliche
Institution, welche die Verteilung der Güter vornahm, bis auch die
kirchlichen Institutionen begannen, diese Funktion wahrzunehmen. Die zu verteilenden
Güter waren Nahrungsmittel, Kleidung, Schuhe, Beherbergung und
anderer Schutz, den sonst die Familie gewährte.
Die Kenntnis der Verwandtschaft war aus vielen Gründen der Schlüssel
zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Gesellschaft, insbesondere in Bezug
auf Erbschaft, Ehehindernis, Versorgung, Rachepflicht und Gefolgschaft.7 Im
umfangreichen und detaillierten ‚Armenversorgungsteil’ des Gesetzbuches
Grágás, der wahrscheinlich seine Wurzeln in heidnischen Zeit hat, werden Regeln
über die Versorgung von Unvermögenden aufgestellt. Sie sind an die Verwandtschaft
geknüpft.8 Der Versorgungsteil des Jónsbók ist viel kürzer als der
entsprechende Teil in der Grágás, und es sind weniger Beispiele genannt.9
Mit der Christianisierung hatte ein neuer gesellschaftlicher Faktor in der
Geschichte der nordischen Länder eingesetzt. Die Kirche war in der Lage, den
Menschen zu helfen, die kein klares Recht auf Hilfe durch die Verwandtschaft
hatten. Sie bildete ein unterstützendes System zur weltlichen Armenfürsorge, die
von den Bauernfamilien und den „hreppar“ geleistet wurde10. Die Armenfür-
6 Sigurbjörn Einarsson u. a. (Hg.), Íslensk Hómilíubók. Fornar stólræður [Isländisches Homilienbuch.
Alte Predigten]. Reykjavík 1993, 76.
7 Agnes S. Arnórsdóttir, Konur og vígamenn. Staða kynjanna á Íslandi á 12. og 13. öld
[Frauen und Wikinger. Die Stellung der Geschlechter in Island in 12. und 13. Jh.]. Reykjavík
1995, 43-55.
8 Karlsson (Hg.), Grágás 75-108; Heusler, Isländisches Recht – Die Graugans, VIII, 235-258.
9 Ólafur Halldórsson (Hg.), Jónsbók [Das Buch von Jón. Gesetzessammlung]. Odense 1970²,
100-110. In diesem Zusammenhang ist auf eine Untersuchung von Sidsel Grevle [S.
Grevle, Kirkens og det verdlige samfunnets syn på fattige i norsk middelalder. In: Historisk
Tidsskrift 81 (2002), 27-53] hinzuweisen, die anhand der Gesetzbücher Gulatingslov und
Frostatingslov die Änderungen, die in der Armenfürsorge und in der Einstellung zu den
Armen in der Amtszeit des Erzbischofs Øystein Erlendsson (1161–1188) stattfanden, herausarbeitet.
Erzbischof Øystein war bemüht, die Armenfürsorge nach den Bestimmungen
des kanonischen Rechtes, wie sie im Decretum Gratiani festgelegt waren, in die Tat umzusetzen.
10 Þórhallsson, Ómagahald, matgjafir o. fl., 131 f.
65
sorge lag in der Hand der Diözesen, Klöster, Kirchen mit großem Landbesitz
und der Hospiz-Höfe (siehe unten).
Die Verteilung des Zehnten und die Regelung der Steuern
Die Einführung des Zehnten, die im Jahre 1096 beschlossen wurde, war ein
Meilenstein, denn damit bekam eine Institution, die ihrer Natur nach außerhalb
der Regeln der Stammesgesellschaft stand, eine finanzielle Grundlage. Die gemeinsame
Verantwortung für das Los der Armen wurde mit der Einführung des
Armenzehnten gesetzlich verankert. Dieser betrug ein Viertel des Zehnten, und
dessen Verteilung wurde dem „hreppur“ übertragen. Da ein „hreppur“, wie erwähnt,
einen Zusammenschluss von zwanzig Thingfahrtsbauern darstellte, waren
es die einzelnen Bauernhöfe, welche die Verteilung des Armenzehnten vornahmen.
Die Steuerregeln scheinen ziemlich streng gewesen zu sein. Das Geld,
das an Kirchen oder für Brückenbau oder für Fähren gespendet wurde, blieb unbesteuert.
11 „Fünf Männer, die dazu am besten geeignet sind, sollen im Herbst
den Zehnten verteilen“. In einem besonderen weiteren Satz steht, dass Frauen
den Zehnten genauso bezahlen sollten wie die Männer,12 ein recht guter Beleg
für die weibliche Teilnahme am Wirtschaftsleben im mittelalterlichen Island.
Vom Armenzehnten heißt es: „Er soll aus gewebtem Wollstoff, aus „vararfeldir“
13, Wolle, Schafshäuten, aus Nahrungsmitteln oder Vieh außer Pferden
bestehen. Die Empfänger sollen ihren Teil vor St. Martin erhalten.“ Über das
Maß der Verteilung wurde bestimmt, dass jene mehr erhalten sollen, die mehr
bedurften.14
Gesetze und Tradition bestimmten zum einen, wie viel an Gütern, meistens
Essen und Obdach, jeder Zehntzahler beisteuern musste, und zum anderen,
wer berechtigt war, Zehntgüter zu erhalten und in welchem Maße. Die strenge
Zehnteintreibung und die Regel, dass die Armen den Zehnt von einem Vermögen,
das geringer als fünf Hunderte15 war, behalten durften, zeigt, dass die Armenfürsorge
eine hohe Priorität genoss, und man hat darauf verwiesen, wenn
Steuern gerechtfertigt werden mussten16.
11 DI, I, Nr. 22.
12 Ibid.
13 Es handelt sich bei „vararfeldir“ um ein Fell, dessen Beschaffenheit nicht genauer bestimmt
werden kann. Johan Fritzner, Ordbog over Det gamle norske Sprog. Oslo 1954, 866.
14 DI, I; Nr. 22
15 Ein „Hundert“ war eine Werteinheit und entsprach ursprünglich (im 12. Jh.) einem Kuhwert
oder 120 Ellen gewebten Wollstoffs. 6 trächtige Schafe mit Vlies galten als ein Kuhwert
oder ein Hundert. Diese Werteinheiten waren in Island bis in das 19. Jahrhundert. in
Gebrauch. Allerdings unterlagen sie Wertschwankungen, weil sie sich von dem ursprünglichen
Gegenstand lösten. Vgl. Páll Briem, Hundraðatal á jörðum [Das Hundertersystem bei
der Schätzung des Grundeigentums]. In: Lögfræðingur. Tímarit um lögfræði, löggjafarmál
og þjóðhagfræði 4 (1900) 11-13.
16 Z. B. Dómr Þorvarðs lögmanns Erlendssonar um manneldi [Entscheidung des Richters Þorvarð
Erlendsson über die Ernährung] (DI, XII, Nr. 37).
66
Ein Problem der Zehntgesetzgebung besteht darin, dass die Bestimmungen
und die Armenfürsorge sehr alt sind, d. h. aus dem 11., 12. und 13. Jahrhundert
stammen, während die Entscheidungen, die sie am besten belegen, relativ
jung, d. h. aus dem 15. und 16. Jahrhundert überliefert sind. Der relative Stillstand
der Gesellschaft während dieser Jahrhunderte lässt aber durchaus Rückschlüsse
auf die frühere Zeit zu.
Es hat immer Meinungsverschiedenheiten darüber gegeben, wer den Zehnt
bezahlen sollte, und in welcher Höhe. In der Geschichte über Bischof Laurentius
in Hólar (1324-1331) wird von einem Streit zwischen Bischof Auðun dem Roten
(1313-1322) und den „lausamenn“17 in Skagafjörður erzählt, wonach der Bischof
den Zehntfreibetrag praktisch beseitigen und Steuern schon ab dem ersten
Hundert erheben wollte.18 Bischof Auðun kam aus Norwegen, und es könnte
sein, dass dort Angelegenheiten des Zehnten anders gehandhabt wurden als in
Island. In einem Urteil, das Þorvarður Erlendsson, der „lögmaður” (Rechtsgelehrter/
Richter) für den Süden und Osten, im Jahre 1500 fällte, wird geschildert,
dass die Kreisvorsteher („hreppstjórar“) die „búlausir menn“19 verklagten, weil
diese sich nicht – wie gefordert – an der Versorgung der Armen beteiligten. Die
Hungersnot der vergangenen Jahre hatte viele an den Bettelstab gebracht.
Der “lögmaður“.(Rechtsgelehrter/Richter) bezog sich auf eine Vorschrift,
die besagt, dass Knechte, die Geld besitzen, steuerliche Pflichten wie andere
Bauern hätten. Das ist dieselbe Streitfrage, die Bischof Auðun und die „lausamenn“
in Skagafjörður beschäftigte. Die „búlausir menn“ (Männer ohne Hof
und Grundbesitz), die fünf Hunderte besaßen, schuldenfrei waren und keine Unvermögenden
oder Kinder zu versorgen hatten, waren verpflichtet, eine Elle für
jedes Hundert bis zu zehn Hunderten, d. h. bis zu zehn Ellen, zu bezahlen. Diejenigen,
die mehr besaßen, sollten Verpflegungssteuern („svara manneldi“)
zahlen wie alle anderen. Wenn nicht, mussten sie sich freikaufen, sonst wurden
sie mit vier Mark Geldbuße belegt. Dann wird auf die Vorschrift verwiesen, dass
die Kreisvorsteher („hreppstjórar“) die Armenverpflegung in gleichem Maße auf
die Zehntpflichtigen aufteilen sollten, und zwar eine Übernachtung auf je zehn
Hunderte Besitz.20 Das bedeutet wohl, dass alle, die zehn Hunderte besaßen, verpflichtet
waren, einem Armen eine Übernachtung und Verpflegung zur Verfügung
zu stellen. Wie oft und wie lange ein Armer in diesen Genuss kam, geht
aus dieser Regelung nicht hervor. Interessant ist, dass auch die „búlausir menn“
17 „Lausamaður“ war ein Mann, der weder Bauer noch Knecht war, sondern sich in anderer
Form von eigener Hände Arbeit ernährte, z. B. als Fischer oder Handwerker. Der Meinung
von Fritzner, Ordbog 434, es habe sich um Menschen ohne festen Wohnsitz gehandelt,
kann angesichts ihres Vermögens nicht beigepflichtet werden. Sie waren nur nicht an die
Scholle gebunden.
18 Einar Hafliðason, Lárentíus saga biskups [Die Geschichte des Bischofs Laurentius]. In:
Biskupasögur III (Íslenzk fornrit XVIII) Reykjavík 1998, 339.
19 „búlaus maður“ war entweder Knecht oder ein „lausamaður“ (DI, XII, Nr. 37).
20 Ibid.: „nótt á hverjum xc“.
67
dazu verpflichtet sind, Armensteuer zu zahlen. Offenbar konnten diese Knechte
und Leute ohne Hof recht vermögend sein.
Das Urteil über Sturla Jónsson (Maura-Sturla) aus dem Jahre 154021 zeigt
deutlich, dass für Verpflegung und Übernachtungen auf den Bauernhöfen genaue
Regeln gegolten haben. Das Urteil zeigt auch, wie die Verteilung des Armenzehnten
im mittelalterlichen Island stattgefunden hat, nämlich auf den Bauernhöfen,
denn der Transport von Nahrungsmitteln war schwierig. Es war einfacher,
dass die Bedürftigen selbst herumreisten, um in den Genuss der Zuwendungen
zu kommen. Die Hausherren waren verpflichtet, das Essen des Gesindes,
das in den üblichen Fastenzeiten eingespart wurde, den Armen zu geben.
Das Gesinde, das jeweils für ein Jahr angestellt war, war zum Fasten für die
Armen verpflichtet.22 Sturla hatte diese Nahrungsmittel unrechtmäßig behalten.
Er hatte es auch unterlassen, ein Fünftel des Viehs, das er im Herbst nicht
schlachtete – „es waren zehn mal zehn an der Zahl“ –, als Steuer abzugeben.
Wahrscheinlich handelte es sich dabei um Lämmer. Sturla wurde darüber hinaus
für viel anderes beschuldigt, z. B. dass er falsche Angaben für die Zehntzahlung
gemacht bzw. die Zahlung des Bischofszehnten unterlassen habe und sein Gesinde
an Feiertagen habe arbeiten lassen. Er wurde auch der Wucherei und des
Versäumens des pflichtgemäßen Kirchgangs für schuldig befunden. Für dieses
Fehlverhalten und solche Missetaten wurde Sturla zu hohen Bußzahlungen verurteilt.
23 Das Urteil stellt fest, dass er gegen Gesetz und Tradition schwer verstoßen
habe. Dies ist eine der wenigen Quellen, die Informationen über die Besteuerung
auf den Bauernhöfen innerhalb der Hausgemeinschaft und über eine
funktionierende Steuerkontrolle geben.
Sehr schlecht war die Situation nicht sesshafter Bettler. Darüber gibt eine
Zwölferweisung des Landrats („sýslumaður“) Ari Jónsson (?–1550) Auskunft,
die im Jahre 1544 erlassen wurde. Alle Bedürftigen im Landkreis Vaðlaþing, die
dort einen ansässigen Vater gehabt hatten, durften vier Umgänge im Bezirk
(mehrere „hreppar“) pro Jahr in bestimmter Reihenfolge machen und an jedem
Bauernhof um Verpflegung bitten. Diejenigen, die kein Recht in diesem Landkreis
hatten, durften gemäß dieser Regelung nur zwei Umgänge machen.24 Die
21 DI, X, Nr. 227.
22 Ibid. Diese Zehntregeln sind in Bischof Árnis „Christenrecht“ verankert, und sie sind recht
ausführlich. Alle, die älter als 14 Jahre und gesund waren, hatten nach gewissen Regeln an
gesetzlich verbindlichen Fastenzeiten zu fasten. Biskop Arnes kristenret. In: Norges gamle
love indtil 1387, V. Christiania 1895, 48-49.
23 Von Sturla wurden die Bußgeldzahlungen für jeden Gesetzesverstoß separat verlangt, z. B.
wurde er für verkürzte Vermögensabgabe mit einer Zahlung von 3 Mark für das erste Jahr
und 6 Mark für das zweite Jahr bestraft; die Zahlung für das dritte Jahr wurde nicht spezifiziert,
sondern angegeben, dass die Hälfte der Buße an den Bischof gehen solle. Für die unterschlagenen
Nahrungsmittel, die den Armen zustanden, wurde er für die nächsten 4 Jahre
mit 18 Ellen gewebten Wollstoffes für jeden Knecht und jede Magd belegt. Für jedes Stück
Vieh, das er unrechtmäßig zurückbehalten hatte, musste er 18 Ellen bezahlen. Für die Wucherei
wurde er besonders belangt, die Strafe aber zunächst nicht benannt.
24 DI, XI, Nr. 301.
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Verfügung macht einen gesetzlichen Unterschied zwischen „einheimischen“ und
„fremden“ Bettlern. Die einheimischen Bettler waren zur Verpflegung und
Übernachtung berechtigt, wenn sie die richtige Reihenfolge einhielten. Auf der
anderen Seite hatten die Bauern Angst vor fremden Landstreichern und wollten
sie so schnell wie möglich loswerden. Dazu im Vergleich sei ein Beschluss des
Allthings aus dem Jahre 1489 angeführt. Dort wird geregelt, dass die Bauern
solche Personen nicht beherbergen oder anstellen müssen, über die sie nicht Bescheid
wissen.25
Gingen jemandem die Mittel aus, wurde zunächst nach seinen Verwandten
geforscht, die gemäß dem Gesetz verpflichtet waren, ihn zu versorgen. Protestierte
der Verwandte, war der Kreisvorsteher („hreppstjóri“) verpflichtet festzustellen,
ob er dazu finanziell in der Lage war. Aufgrund ihres Amtes müssen
die „hreppstjórar“ immer einen guten Überblick über die finanziellen Verhältnisse
ihrer Gemeindemitglieder gehabt haben.
Sicherlich kam es wegen derartiger Armenfürsorge oft zu Streitigkeiten
zwischen den Verwandten und der „Hreppsobrigkeit“. Ein gutes Beispiel dafür
ist der Streit um eine Kranke im Jahre 1494. Arnór Finnsson in Ljárskógar in
Laxárdal wollte, dass Sturla Þórðarson seine Verwandte, Þóra Tumadóttir, die
invalid war, zu versorgen habe. Sturla wurde zornig und schaffte Þóra mit einer
Gruppe von Knechten auf die Hauswiese von Ljárskógar. Arnór wollte sie nicht
übernehmen, und daher kam es zum bewaffneten Kampf, wobei beide Parteien
Blessuren erlitten.26 Aus diesem Ereignis ergaben sich einige Prozesse zwischen
den beiden Verwandten.
In den in dem Diplomatarium Islandicum aufgenommenen Regelungen
finden sich Informationen über die Ordnung der Behandlung von Kranken und
Unvermögenden. Nach den Gesetzen waren Zugehörigkeit zu Familie und
Landkreis maßgeblich. Auf der anderen Seite war man versucht, sehr kranke
Personen sowie Langzeitkranke abzuschieben, wie das Beispiel von Hallotta
Hákonardóttir aus dem Jahr 1477 zeigt (s. unten). Ein weiteres gutes Beispiel
über die durch einen Unvermögenden entstehenden Probleme ist in dem Urteil
von Vallarlaug in Skagafjörður aus dem Jahr 1562 zu finden: Ein verwaistes Geschwisterpaar
sollte der Verwandtschaft zugeordnet werden. Steinþór, der
Junge, wurde Tumas Þorgilsson zugewiesen. Tumas verweigerte jedoch vorerst
die Aufnahme, denn im Urteil wird vermerkt:
25 DI; VI, Nr. 590; XII, Nr. 34. Dies bezieht sich auf arbeitsfähige Menschen. Demgegenüber
sollen Bettler mit dem Notwendigsten versorgt und ihr Weiterkommen (z. B. Übersetzen
über Flüsse) gewährleistet werden.
26 DI, VII, Nr. 241, 288. Aus dem Urteil (Nr. 241) geht hervor, dass Sturla seine Finanzen und
Versorgungslast offen legen musste. Er meinte, dass er nach dem Gesetz diese kranke Verwandte
nicht zu versorgen verpflichtet sei und verwies auf Guttormur Ólafsson, dem die
Versorgung eher obliege. Guttormur musste daraufhin seine Vermögensverhältnisse und
seinen Verwandtschaftsgrad mit Þóra offen legen. Es stellte sich heraus, dass Guttormur
sowohl arm als auch in Schulden verstrickt war. Somit konnte er Þóra abschwören, die daraufhin
Sturla nochmals zur Versorgung zugesprochen wurde.
69
„Wenn der zuvor genannte Tumas behauptet, kein Geld zur Versorgung
des oben genannten unvermögenden Kindes zu haben, verpflichten wir ihn
dazu, sein Geld offen zu legen und verständige Männer schätzen zu lassen
und darauf einen Schwur abzulegen, dass er nicht mehr Geld besitzt, als
welches er vorgelegt hat, eher weniger. Wenn sich herausstellt, dass er
kein Geld für die Versorgung dieses Kindes hat, verpflichten wir den oben
genannten Tumas, dem Kind eine gesetzmäßige Versorgung zu verschaffen,
indem er in der Verwandtschaft sucht, wo Geld vorhanden ist.“27
Tumas musste also einen Offenbarungseid leisten. Wenn die Obrigkeit einen
Verwandten ausfindig gemacht hatte, den sie für vermögend genug hielt, den
Unvermögenden zu versorgen, wurde dieser zu ihm gebracht. Von da an musste
der Versorger selbst einen anderen Verwandten als Versorger ausfindig machen,
wenn er selbst diese Bürde los werden wollte. Letztlich ist es Tumas gelungen,
den unwillkommenen Verwandten los zu werden, und zwar als der Junge 15
Jahre alt wurde. Mit Hinweis auf § 1 des Thingfahrtgesetzes entschied ein Urteil
aus dem Jahre 1559, ein Unvermögender habe das „Versorgungsvermögen“ zu
verlassen, wenn er 15 Jahre alt, gesund und arbeitsfähig ist.28
Es mag sein, dass in den Kommunen des Landes Streitigkeiten darüber
entstanden, in welchem Maße arme Leute das Recht hatten, einen versorgungsberechtigten
Verwandten, der nicht im „hreppur“ des Versorgers wohnhaft war,
bei sich aufzunehmen. Eine Verfügung aus dem Jahr 1544 sieht vor, dass derjenige,
der einen Verwandten durch Aufnahme in den hreppur einführen wollte,
fünf Hunderte besitzen sowie schuldenfrei und auch anderer Versorgungspflichten
ledig sein musste.29 Mit diesen Maßnahmen hat man wohl kommunale
Versorgungspflichten verhindern wollen, die dadurch entstanden, dass arme
Leute ferne Verwandte bei sich aufnahmen. Die Gefahr bestand dann, dass solche
Menschen mit ihren Familien und dem aufgenommenen außerkommunalen
Armen die öffentliche Armenhilfe beanspruchten.
Diese Beispiele belegen, dass die Gesetze zur Versorgung von Armen
manchmal sehr streng, manchmal aber auch großzügiger waren; großenteils hing
das mit der Ergiebigkeit der Ernte und der allgemeinen wirtschaftlichen Situation
zusammen.
Die Zehntgesetze und tradierte Regeln über Nahrungsmittelgaben und andere
Dienste an die Schwachen trugen zu einem funktionierenden Steuersystem
und zur Steuerkontrolle bei. Die Steuer in Form von Nahrungsmitteln beruhte
zum Teil auf Regeln, die mit dem Fasten zusammenhingen. Die Menschen
wussten über diese Regeln Bescheid und übten darüber auch Kontrolle aus. Weil
die Steuer nicht so sehr in Geld, sondern hauptsächlich in Naturalien und Übernachtungen
gezahlt wurde, musste der Armenzehnt auf den Höfen verteilt wer-
27 DI, XIII, Nr. 537.
28 DI, XIII, Nr. 326.
29 DI, XI, Nr. 286.
70
den. Die Regeln, nach welchen die Fürsorgepflichten auf die Bauernhöfe verteilt
wurden, sind in ihrer systematischen Gesamtheit nicht bekannt.
Hospiz-Höfe und Versorgungsbestimmungen in Testamenten,
Inventaren und Gelübdebriefen
Die älteste Quelle im Diplomatarium Islandicum über soziale Maßnahmen von
Privatpersonen im christlichen Geist ist eine Schenkung des Ehepaares Hallfríður
und Tanni aus der Zeit um 1100. In der darauf bezogenen Urkunde bestimmten
sie, dass die Hälfte des Grundbesitzes Bakki als Hospiz-Hof30 verwendet
werden soll. Ein Teil des Ertrages, den der Hof abwarf, sollte zur Verpflegung
von Reisenden verwendet werden und auch dazu dienen, sie über den
Fluss zu setzen, an dessen Ufer sich Bakki befand. Es handelt sich hier wohl um
den Fluss Hvítá in Borgarfjörður. Zu diesem Hofteil gehörten zehn Kühe, sechzig
Schafe und ein neues Boot. Der Hospiz-Bauer sollte „alle Leute verpflegen,
die er für würdig und gut hielt.“31 Tanni behielt sich, so lange er lebte, die Aufsicht
über den Hof vor. Nach seinem Tod sollte der Bischof in Skálholt über ihn
verfügen, was bedeutet, dass der Hospiz-Hof aus dem Erbgut der Familie des
Ehepaares ausgegliedert wurde und eine Stiftung unter der Aufsicht des Bischofs
bleiben sollte. Dies war ein Novum im isländischen Besitzrecht, denn
bisher konnte Grundbesitz nur natürlichen Personen gehören. Im 11. und 12.
Jahrhundert wurden aber die Kirche, kirchliche Institutionen wie Klöster und
humanitäre Einrichtungen wie Hospiz-Höfe rechtsfähig und zu Guts- und
Grundbesitzern. Mit der Etablierung der Hospiz-Höfe wurden gezielt wirtschaftliche
Grundlagen für die Armenfürsorge und andere gemeinschaftliche
Bedürfnisse und Leistungen geschaffen. Den Hospiz-Höfen gehörte im Spätmittelalter
schätzungsweise 1,2% des Grundbesitzes des Landes.32
Das Ehepaar Hallfríður und Tanni unterstützte kirchliche Einrichtungen
auch weiterhin großzügig. Sie schenkten die Hälfte des Hofes Hraun jener Kirche,
die auf dem Hof errichtet wurde. Hinzu kamen Vieh, Bargeld und liturgisches
Gerät. Diese Ausstattung der Kirche war ein rechtsfähiges Sondervermögen.
In der Inventarliste heißt es, dass dort ein Priester und ein Diakon versorgt
werden sollten. Auch sollte ein weiblicher Pflegling unterstützt werden. Wenn
die Kirche keinen Diakon hatte, sollte zusätzlich ein männlicher Pflegling statt
seiner versorgt werden. Hier wurde die kirchliche Armenfürsorge eingeleitet, die
sich später weiter entwickeln sollte. Der Pächter sollte „jeden Menschen, den er
30 Hospiz-Hof ist die Übersetzung der isländischen Begriffe “kristfjárjörð” und “sælubú”.
Hospiz-Höfe wurden von vermögenden Personen zur Versorgung der Armen, Kranken und
Alten gestiftet. In der Stiftungsurkunden wurden die näheren Bestimmungen über den Betrieb
und die Zahl der zu Versorgenden festgelegt.
31 DI, I, Nr. 24.
32 Magnús Már Lárusson, Jordejendom in: Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder
fra vikingertid til reformationstid VII. Kopenhagen 1962, Sp. 671-677.
71
für gut und würdig befand, eine Nacht beherbergen und verpflegen.“33 Dieselbe
Quelle besagt, dass der Bischof in Skálholt, Þorlákur Runólfsson (1118–1133),
den Zehnten von 14 Höfen dieser Kirche gegeben habe, wohl um die wirtschaftliche
Grundlage der Armenfürsorge und anderer Leistungen, die hier erbracht
wurden, zu stärken. Fürsorgebestimmungen für Arme kommen auch häufig in
den Inventaren der Kirchen vor.
In Keldunúpur war ein Hospiz-Hof mit „gänzlichem Gut und Nutzen“
Christus und dem Apostel Petrus gewidmet. Zu ihm gehörten vierzig Schafe und
ein einjähriger kastrierter Widder, vierzehn Öre von sechs Ellen, ein Scheffel
Korn oder ein halbes Vætt Nahrungsmittel. Auf diesem Hospiz-Hof sollte ein
weiblicher Pflegling, „der sich an- und ausziehen kann“, wohnen. Am Gründonnerstag
oder am St. Peter sollte eine halbe Mark gewebten Wollstoffes bezahlt
werden.34 Hinzu kam der Priesterlohn. Ein Essen für einen Mann sollte am ersten
Weihnachtstag, am Ostersonntag und am Pfingstsonntag ausgegeben werden.
35
„Die Milch des gesamten Viehs soll am Morgen von St. Peter verteilt werden.
Jedes Frühjahr soll ein Lamm markiert werden, und Petrus soll es
schützen, und man soll es im Herbst verschenken, wenn es von der Allmende
zurückkommt. Dort sollen [außerdem] arme Leute und die, die mit
Aufträgen unterwegs sind, verköstigt werden.“36
Es ist klar, dass ein Hospiz-Pächter durch den Betrieb kaum wohlhabend werden
konnte. Die Hospiz-Höfe warfen selten viel ab, und die Abgaben- und Versorgungspflichten
waren erdrückend. Aber man kann von diesem Brief ableiten,
wie die Finanzierung der Armenfürsorge gedacht war und ausgeführt wurde.
Der Hospiz-Hof und sein Viehbestand waren die wirtschaftliche Grundlage sowohl
für den Pächter und seine Familie als auch für die Versorgung der Armen
und die Verpflegung der Reisenden. Der Ertrag von einem Hof hat kaum all die
oben genannten Verpflichtungen decken können, besonders, wenn häufig Reisende
kamen. Man darf annehmen, dass weitere finanzielle Unterstützungen
dazu gehörten, auch wenn diese in den verfügbaren Quellen nicht erwähnt werden.
33 DI, I, Nr. 26.
34 1 Öre war knapp 27 g. 6 Ellen gewebten Wollstoffes war 1 „lögeyrir“, d. h. gesetzlich bestimmtes
Zahlungsmittel. Eine „Vætt“ war eine Gewichtseinheit von. ca 34,7 kg, 48 Ellen
gewebten Wollstoffes galten als eine Mark. Gleichzeitig waren Vætt, Mark (= 214 g) und
Öre (= 27 g) Gewichtseinheiten. Daher sind die Wertangaben in Ellen gewebten Wollstoffes
für uns heute nicht mehr nachvollziehbar. Finnur Jónsson, Islands mönt, mal og vægt,
in: Nordisk Kultur, Mal og vægt. Kopenhagen u. a., o. J., 155-161 ; Helgi Þorláksson,
Vaðmál og verðlag. Vaðmál í utanríkisviðskiptum og búskap Íslendinga á 13. og 14. öld.
[Gewebter Wollstoff und Preise. Gewebter Wollstoff im isländischen Exportgeschäft und in
der Wirtschaft im 13. und 14. Jh.) Reykjavík 1991, 111-151. Die Zahlenverhältnisse sind in
Karlsson (Hg.), Grágás 512 graphisch dargestellt.
35 DI, I, Nr. 32.
36 Ibid.
72
Im Diplomatarium Islandicum finden sich recht viele Stiftungsbriefe für
Hospiz-Höfe ähnlichen Inhalts wie in der oben zitierten Urkunde. Häufig bestimmte
der Stifter, dass der Arme aus seinem Clan stammen musste. Es gibt
auch Belege, dass arme Leute einen Hospiz-Hof als Existenzgrundlage für sich
und ihre Familien bekamen.37 Der Gemeindevorsteher oder Aufseher über ein
bestimmtes Kirchenvermögen sollte die Verwendung des Hospiz-Hofes bestimmen.
Der Grundbesitz war die Hauptgrundlage der Wirtschaft, und wahrscheinlich
kam es häufig vor, dass an die Höfe Armenfürsorgebestimmungen geknüpft
waren. In einem Brief aus dem Jahre 1371 regelt Halldóra Þorvaldsdóttir ihre
Proventpflicht an das Kloster Helgafell, wo sie als „Provent-Frau38“ ihren
Lebensabend verbringen wollte. Sie hatte als Bezahlung für die Proventversorgung
4 Höfe à 10 Kuhwerte geleistet. An diese Höfe waren Bestimmungen über
die Aufnahme von Armen geknüpft, die der Klostervorstand nachträglich zu ändern
verlangte. Halldóra mußte diese Bestimmungen zurücknehmen39.
Ähnliche Bestimmungen zur Versorgung der Armen sind auch in
Testamenten reicher Personen zu finden. Loftur Guttormsson der Reiche vererbte
sein Vermögen an seine Söhne und an eine Verwandte und erließ strenge Bestimmungen
über die Armenfürsorge gegenüber Verwandten. Folgendes wird
vermerkt:
„Item befehle ich Ormur, Skúli und Sumarliði, stets einen Unvermögenden
aus dem Skarðsverjaclan, wer es am meisten braucht, in Staðarholt,
Garpsdal und Vatnshorn, zu unterhalten. Derjenige soll den Armen unterhalten,
der dieses Gut erbt. Ich befehle allen meinen gesetzmäßigen Erben,
dass sie stets einen Unvermögenden auf allen Haupthöfen unterhalten
sollen, also in Skarð, Flatey und Galtartungu. Diese sollen aus dem
Skarðsclan sein. Ein Armer aus dem Möðruvellingaclan soll jeweils in
Möðruvellir, Lögmannshlíð, Ásgarðsbrekku, Sjávarborg, Marstöðum und
Ásgeirsá aufgenommen werden. Noch ein Armer aus dem Clan von Páll
Þorvarðarson soll in Eiðar, Njarðvík und Ketilsstaðir sowie ein Armer aus
dem Clan des Bauern Gísli in Mörk und Dalur unter Eyjafjöll aufgenommen
werden. Ich ordne an, dass jedem von ihnen acht Ellen gewebter
Wollstoff alle zwölf Monate zugeteilt werden. Ich befehle meinen gesetzmäßigen,
im Testament genannten Erben, die Bestimmungen, die in meinem
Testament enthalten sind, stets zu beachten und zu befolgen.“40
37 DI, IV, Nr. 428
38 Der Begriff “Provent” bedeutet Altersfürsorge gegen Bezahlung, meistens in einer kirchlichen
Einrichtung, üblicherweise in Form vom Grundbesitz im Wert von 30 Kuhwerten.
Eine Proventfrau war eine alte und vermögende Frau, die einen Altersfürsorgevertrag
meistens mit einer kirchlichen Organisation abgeshlossen hatte. Es gibt auch Beispiele für
Proventverträge mit Privatpersonen. Der Proventvertrag war eine gängige Form der Altersfürsorge
der oberen Klasse in Island im Mittelalter.
39 DI, VI, Nr. 25.
40 DI, IV, Nr. 446.
73
Möglicherweise sind solche Vermächtnisse eine Form des Entgegenkommens
gegenüber fernen Verwandten, die nach dem Gesetz nicht erbberechtigt
waren, aber Loftur nahe standen. Auf diese Weise konnte man die Folgen der
starren Erbschaftsregeln mildern. Auch können solche Maßnahmen eine Belohnung
des Häuptlings an seinen Gefolgsmann für alte Freundschaft und Gefolgschaft
gewesen sein. Fürsorge und Großzügigkeit war auch ein Teil der Identität
des mittelalterlichen Häuptlings.41
Man kann davon ausgehen, dass Armenfürsorge häufiger stattgefunden hat
als sie in Quellen überliefert ist. Die umfangreichste Überlieferung zur Armenfürsorge
und zu den Hospiz-Höfen stammt aus dem Bezirk Skaftafellssýsla; dies
ist sicherlich dem Zufall zu verdanken. Die Hospiz-Höfe waren wohl in anderen
Landesteilen genauso verbreitet wie dort. Die Bestimmung über Versorgungspflichten
gegenüber Armen, sowohl für längere Zeit als auch punktuell an großen
Festtagen, sind besonders in Inventaren und Stiftungsurkunden von Kirchen
und Hospiz-Höfen zu finden.42 Ein gutes Beispiel über eine zeitlich begrenzte
Armenversorgung vermittelt das Inventar der Kirche von Spákonufell. Dort findet
sich folgendes:
„Eine weibliche Arme, die derjenige, der dort [auf dem Hospiz-Hof]
wohnt, nach seiner Wahl aufzunehmen hat, soll sich an St. Þorlák vor
Weihnachten (23. Dezember) einfinden und soll über die Feiertage bleiben;
ein zweites Mal am Gründonnerstag, um in der Osterwoche zu bleiben;
ein drittes Mal zu Pfingsten und in der Pfingstwoche.“43
Es gibt Beispiele dafür, dass reiche Leute den Kirchen die Armenfürsorge mit
der Bedingung finanzierten, dass ihre Verwandten in den Genuss derselben kämen.
44 In einem anderen Fall kaufte ein Mann einen Platz und die Pflege für einen
Armen.45 Aus den Inventaren der Kirchen zeigen sich Bestimmungen über
die Gabe von lebensnotwendigen Gütern, insbesondere den Zehnt von Walen an
Arme. Diese Inventare belegen, dass die Kirchen häufig das Recht auf einen gestrandeten
Wal, das Jagdrecht auf Seehunde, das Recht auf Eierentnahme und
andere Fang- und Jagdrechte innehatten. Sie besaßen häufig auch Vieh. Zahlun-
41 Vgl. Gerd Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der
Gruppenbildungen im früheren Mittelalter. Darmstadt 1990, 203-217. Althoff diskutiert besonders
die Feste, die dazu dienten, eine Gruppe für politische Zwecke zusammenzuhalten.
Bei dieser Gelegenheit tauschte man Geschenke aus. Siehe auch: J. Bazelmans, Gift and
„Gefolgschaft“. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 11. Berlin 1998, 468 –
470.
42 DI, III, Nr.42, 115-149, S. 162; Nr. 182, S. 233-234; Nr. 190, S. 242; Nr. 190, Nr. 192, Nr.
287, Nr. 259, Nr. 419-449; S. 552 und S. 582; Nr. 519. DI, V, Nr. 233-314.
43 DI, III, Nr. 419-498, S. 552.
44 DI, III, Nr. 247; Nr. 419-448, S. 585.
45 DI, III. Nr. 190. Aus dieser Quelle geht hervor, dass der Bauer Páll einen Fürsorgeplatz an
der Kirche in Hoffell am Hornafjörður vom Bauern Magnús in Skál für 12 Hunderte gekauft
hatte. Der Quelle ist nicht zu entnehmen, was Páll mit diesem „Armenfürsorgeplatz“
vorhatte, und wieso der Bauer Magnús diese Rechte an der Kirche besaß.
74
gen an Kirchen bestanden in der Regel aus Nahrungsmitteln und Häuten für
Schuhe.46 All dies konnte der Armenfürsorge zu Gute kommen.
Aus Ás in der Gemeinde Holt ist z. B. die St. Olafs-Kuh überliefert, deren
Milch den Armen gehörte.47 Auch war es Sitte, ein Fünftel der Jagdbeute oder
des Fischfangs, der an einem Feiertag gemacht wurde, an die Armen abzuführen.
48 Nach den Inventaren und ähnlichen Quellen wurden Nahrungsmittel und
andere notwendige Objekte traditionell an hohen kirchlichen Festtagen, zu
Weihnachten, Ostern und Pfingsten, am Michaelitag und zu den Apostelfesten
verteilt, letzteres insbesondere, wenn die betreffende Kirche einem der Apostel
geweiht war. In den Inventaren gibt es sogar Beispiele dafür, dass auch Reparaturen
an Brücken und Fähren aus dem kirchlichen Vermögen finanziert werden
sollten.49 Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass es weitere Formen der
Armenfürsorge gegeben hat, auch wenn die Quellen sie nicht explizit benennen.
Aus den im Diplomatarium Islandicum gedruckten Gelübde-Briefen geht
hervor, dass die Menschen mehr Gottesdienste, stärkeres Fasten und größere
Beiträge für die Armenfürsorge versprachen, wenn sie sich mit dem Allmächtigen
versöhnen wollten. In einem solchen Brief aus Eyjafjörður aus dem Jahre
1477 versprechen die Aussteller nach ihrem Vermögen zu spenden, die Bauern
jedoch nicht weniger als eine Elle. Männer ohne Hof und Grundbesitz („búlausir
menn“), die aber mehr als 10 Hunderte besaßen, hatten ein „geschorenes Schafsfell“,
diejenigen, die fünf Hunderte besaßen, eine Kalbshaut zu spenden. Diese
Almosen sollten an einen Unvermögenden gehen, der „im Hause liegt“. Wahrscheinlich
ist damit ein Kranker gemeint, der nicht in der Lage war, zwischen
den Bauernhöfen zu wandern und sich daher nur auf ein- und demselben Bauernhof
aufhalten konnte. Am Festtag des seligen Guðmundur sollte jeder Einzelne
des Hausgesindes 2 1/2 Mark Butter oder ein gleichwertiges Essen schenken.
50 In dieser Quelle wird von der Nahrungsmittelausteilung auf den
Bauernhöfen an bestimmten kirchlichen Feiertagen ausgegangen. Als eine
Mahlzeit wird 2 1/2 Mark Butter oder anderes gleichwertiges Essen bezeichnet.
51
In den Biskupa sögur (Bischofsviten) und Heilagra manna sögur
(Heiligenviten) kann man eine Tradition im Zusammenhang mit Gelübden er-
46 DI, IV, Nr. 23, 47, 48, 103, 137, 151, 162, 192, 150. DI, V, Nr. 241, 246, 258, 278, 298.
47 DI, IV, Nr. 53; DI, VI, Nr. 307 (In diesem Inventar ist die Milchspende an den Mittwoch
gebunden).
48 Páll Eggert Ólason, Menn og menntir siðskiptaaldarinnar á Íslandi [Personen und Kultur
des Reformationszeitalters in Island] II. Reykjavík 1922, 26.
49 DI, V, Nr. 241, S. 258: „… aus dem Anteil für die Kirche soll eine Brücke über einen Bach
und eine Flussfähre unterhalten werden.“
50 DI, X, Nr. 28.
51 DI, VII, Nr. 8 I: „Anno 1477: Eine Mahlzeit ist 2 1/2 Mark Butter oder entspricht anderen
gleichwertigen Nahrungsmitteln.“ Nr. 8 II: „Anno 1477: Nach einer alten Bestimmung ist 3
1/2 Ellen pro Woche für ein altes Weib [angemessen]. Für einen alten hilfsbedürftigen
Mann sind 4 Ellen [angemessen]. Wenn er aber gepflegt werden muss, sind 5 Ellen [angemessen]“
75
kennen, die den Armen und auch der Ausübung des Gottesdienstes zu Gute kamen.
In Sögu Þorláks biskups hinni elztu [Die älteste Saga des Bischofs Þorlák]
ist von Gelübden an den heiligen Þorlákur die Rede. Ein Mann namens Þorbjörn
in Grindavík versprach, fünf Arme zu versorgen, den Psalter fünfmal zu singen
und Gott zu Ehren die Oratio „Deus, qui populo tuo“ zu lesen.52 Ein weiteres
Gelübde wird in derselben Quelle erwähnt: Ein Mann in Not versprach, dem Bischofsitz
zu Skálholt ein Pferd zu leihen und der Kirche einen Balken zu stiften;
der erste Seehund, der ins Netz ging, sollte unter die Armen verteilt werden53.
Häufig wurde gelobt, eine Mahlzeit an Arme in einer bestimmten Häufigkeit
auszuteilen. Hinzu kam das Versprechen, einer bestimmten Kirche Wachs und
gewebten Wollstoff zu stiften.
Die Armenfürsorge der Bischöfe
Da die Bischöfe gemäß kanonischem Recht die Pflicht hatten, sich um die Armen
zu kümmern, muss sich an den beiden isländischen Bischofssitzen immer
eine größere Zahl von Armen aufgehalten haben. In Hungrvaka wird erzählt,
dass Bischof Ísleifur (Amtszeit 1056–1080) „keine wirtschaftlichen Vorteile von
seinem Bischofsitz hatte, denn der Ertrag war klein und es gab immer viele
Gäste; die Bewirtschaftung gestaltete sich schwierig.“54 Mit der Einführung des
Zehnten verbesserte sich die Situation, denn ein Viertel des Zehnten, „der in
gewebtem Wollstoff, in Fellen, vararfeldir55, in Lammfellen, in Gold oder in gebranntem
Silber“ geleistet werden musste, floss an die Bischofsitze.56 Der
Bischofzehnt musste am Donnerstag bis zur vierten Sommerwoche gezahlt werden.
Den oben genannten Regeln über die Fürsorgepflicht der Bischöfe gegenüber
den Armen entsprechend muss der Bischofzehnt auch der Fürsorge an den
Bischofsitzen zu Gute gekommen sein.
Zusammen mit Bischof Þorlákur Runólfsson in Skálholt (Amtszeit 1118–
1133) lebte der Priester Tjörvi Böðvarsson, „ein großartiger Mann“, wie in der
Hungrvaka vermerkt wird. Er arbeitete ständig: Entweder sang er den Psalter,
oder unterrichtete, schrieb, las, oder er kümmerte sich „um die Angelegenheiten
der Menschen, die zu ihm kamen und seinen Rat suchten.“ Zu den Armen war er
freigiebig, aber sparsam im Umgang mit den Bauern. Nie sparte er aber das
Geld für notwendige und nützliche Arbeiten.57 Tjörvi war wohl der Almosenmeister
des Bischofsitzes in Skálholt. Er hat offenbar so sorgfältig seines Amtes
gewaltet, dass er in Hungrvaka verewigt wurde.
52 Jarteinir úr sögu Þorláks biskups hinni ýngstu [Mirakel aus der jüngsten Saga des Bischofs
Þorlákur]. In: Biskupa sögur Bókmentafélagsins I. Kopenhagen 1858, 379.
53 Ibid. 382
54 Hungrvaka [Die Hungerwache]. In: Biskupa sögur Bókmentafélagsins I. Kopenhagen 1858,
63.
55 Siehe Anm. 13.
56 DI, I, Nr. 22.
57 Hungrvaka 74.
76
Über den späteren Nachfolger des Bischofs Þorlákur Runólfsson in
Skálholt Bischof Klængur Þorsteinsson (Amtszeit 1152–1176) heißt es, dass „er
edelmütig und großzügig gegenüber seinen Freunden und mildtätig und freigiebig
gegenüber armen Leuten war.“58 Klængur war offenkundig ein Häuptling,
wie er in den Sagas steht; er pflegte seine Verwandtschafts- und Freundesbande
und vermehrte dabei seinen sozialen und politischen Einfluss. Die bischöfliche
Wirtschaft benötigte viele Ressourcen, denn auf dem Bischofsitz gab es viel Gesinde,
und die Gastfreundschaft war kostspielig. Klængur ließ eine Kirche bauen
und belebte damit die Wirtschaft im Bistum. Seine Zeitgenossen waren von seiner
Tatkraft so begeistert, dass der Verfasser von Hungrvaka meint, seine Großzügigkeit
werde in Erinnerung bleiben, solange Island von Menschen bewohnt
werde. Das lässt die Schlussfolgerung zu, dass in der Amtszeit Bischof
Klængurs der Skálholter Bischofsitz eine wirtschaftliche Triebkraft und ein
wichtiger Arbeitgeber geworden war. Sein Nachfolger Þorlákur Þórhallsson
(Amtszeit 1178–1193), auch genannt der heilige Þorlákur, bemühte sich, die
wirtschaftliche Grundlage des Skálholter Bischofsitzes weiter zu stärken und
berief tüchtige Vorsteher, „damit er selbst von diesen Pflichten befreit sein
konnte.“59 Er nahm seine Rolle als Vater der Armen sehr ernst, und in seiner
Vita wird berichtet:
„Er pflegte sehr die Liebe zu armen Menschen, er schenkte Frierenden
Kleidung und fütterte die Hungernden. Es war deutlich, dass er selten vergaß,
dass er am jüngsten Tag Rechenschaft geben und sich als Hirte dafür
verantworten muss, wie die Armen in diesem Leben behandelt wurden.“60
Der Titel „Vater der Armen“ hat sich schon im 12. Jahrhundert verfestigt, und
die Armenfürsorge war in den Augen der Isländer ein Teil des Bischofsamtes
geworden. Dieser Titel wurde dann auch dem heiligen Jón Ögmundsson, dem
Bischof von Hólar (Amtszeit 1106–1121), zugesprochen. Von ihm wird berichtet:
„Er war ein wahrer Vater aller Armen. Er tröstete Witwen und Waisen,
und keiner kam so trauerbeladen zu ihm, dass er ihn nicht in der einen
oder anderen Weise trösten konnte.“61
Obwohl die Biskupa sögur viele übliche Topoi der Heiligenviten enthalten, darf
man deren Beschreibung über die Natur des Bischofsamtes und der Maßnahmen,
die zur Lösung der Probleme der Armen eingesetzt wurden, durchaus
Glauben schenken. Und sicher ist, dass die zwei letztgenannten Bischöfe auf
Grund ihrer Liebe zu den Armen und deren Geschäftstüchtigkeit so berühmt
wurden, dass sie in den Stand der Seligen aufgenommen wurden.
58 Ibid, 81.
59 Saga Þorláks biskups hin elzta [Die älteste Saga des Bischofs Þorlákur]. In: Biskupa sögur
Bókmentafélagsins I. Kopenhagen 1858, 102.
60 Ibid. 104.
61 Jóns biskups saga, hin elzta [Die älteste Saga des Bischof Jón]. In: Biskupa sögur Bókmentafélagsins
I. Kopenhagen 1858, 166.
77
Die Liebe Bischof Guðmundur Arasons in Hólar (Amtszeit 1203–1237),
der den Beinamen „der Gute“ bekam, zu den Armen und Schutzlosen stand in
keinem Verhältnis zu den materiellen Gütern, die zur Verfügung standen. So
sehr identifizierte er sich nach der Vita mit seinen armen Gefolgsleuten, dass er
derentwegen in Streit mit seinen mächtigen Verwandten in Skagafjörður geriet.
Dies endete mit einer Katastrophe. Es sieht so aus, als ob Guðmundur weder
wirtschaftliche Voraussicht noch diplomatisches Geschick im Umgang mit den
wohlhabenden und steuerfähigen Mitgliedern der Gesellschaft besessen hat.
Möglicherweise stand er unter dem geistigen Einfluss der Bettelorden, die sich
zu dieser Zeit in den Städten des Kontinents etablierten. In seiner Vita wird nebenbei
erwähnt, wie die Nahrungsmittel verteilt wurden. Bischof Guðmundur
wollte den Armen dreimal pro Tag Essen geben, während sein naher Verwandter
Kolbeinn, der dem Gästehaus vorstand, nur einmal pro Tag Essen austeilen ließ.
Diese Sparsamkeit führte zum Streit zwischen den beiden62. Aufgrund der
Mildtätigkeit Bischof Guðmundurs hatte sich eine große Schar in Hólar angesammelt,
und die Bauern fürchteten Gewalttätigkeiten von diesen Leuten, wenn
die Nahrungsmittel ausgingen. Wenn es Guðmundurs Absicht gewesen war, den
Bischofssitz zu Hólar in ein Armenhospital umzuwandeln, ist ihm dies nicht
gelungen. Seine Gefolgsleute wurden von Hólar verjagt, und über ihr weiteres
Schicksal wissen wir nichts.
Aus einem Streit zwischen Bischof Auðun dem Roten und dem Priester
Snjólfur in Grenjaðarstaður darf man schließen, dass die Bischöfe die Versorgung
minderbemittelter Priester mitbestimmen wollten. Der Sachverhalt war
folgender: Snjólfur lehnte es ab, einen Priester aufzunehmen, den ihm der Bischof
zugewiesen hatte. Der Bischof ließ darauf durch Eid belegen, dass Grenjaðarstaður
verpflichtet war, sieben Priester zu beschäftigen.63 Der Priester
Snjólfur muss jedoch gute Argumente für seine Sache gehabt haben, denn hinreichende
Arbeit für so viele Priester hat es in Grenjaðarstaður wohl kaum gegeben.
Der Streit eskalierte, und der Bischof belegte Snjólfur mit einem Bann.
Daraufhin flüchtete Snjólfur nach Norwegen. In der Geschichte von Bischof
Laurentius Kálfsson in Hólar (Amtszeit 1324 – 1331) wird über die Organisation
der Armenfürsorge folgendes berichtet:
„Es ist nicht zu vergessen, sondern soll guten Menschen kundgetan werden,
wie viele und gute Almosen er [Laurentius] vom bischöflichen Gut
in Hólar hat verteilen lassen, als er Bischof war. Alle Strafgelder, die in
der Propstei einkamen, verschenkte er an Arme, an diejenigen, die es am
meisten brauchten, besonders an solche, die im Hause lagen, an Aussätzige,
an Blinde und die, die schwerstkrank waren. Um die Propstei zu
betreiben, berief er Priester, zuerst Páll Þorsteinsson, dann aber Björn
Ófeigsson. Der Bischof bestimmte selbst deren Lohn für ihre Mühe. So
62 Saga Guðmundar Arasonar Hóla-Biskups, hin elzta [Die älteste Saga des Bischofs Guðmundur
Arason in Hólar]. In: Biskupa sögur Bókmentafélagsins I. Kopenhagen 1858, 477.
63 Hafliðason, Lárentíus saga biskups [Die Saga des Bischof Lárentíus] 341. DI, II, Nr. 204 –
336, S. 433.
78
war es all seine Lebtage. Vielen Armen wurden geholfen, und alle haben
ihr Schärflein gutwillig beigetragen. Er befahl, dass in Hólar und auf den
bischöflichen Gütern zwölf Bettler wohnen sollten. Sie wurden mit Kleidung
und Essen versorgt. Während der Fastenzeit wurden fünf Arme im
Hause aufgenommen. Sie blieben bis über Ostern. Auf Michaelis im
Herbst hatte der bischöfliche Vorsteher zwanzig Hunderte gewebten
Wollstoffes zuzumessen. Diese sollten den Armen für den Winter bis
über die Pfingsten gegeben werden. Der Almosenmeister hatte dies unter
die Armen zu verteilen, und zwar an die, die er am bedürftigsten hielt,
oder an jene, die der Bischof zu ihm schickte. Zu dieser Arbeit wurde ein
tugendreicher Mann bestimmt, Þorsteinn Þorleifsson. Die gesamte Einnahme,
die jährlich in Form vom gewebtem Wollstoff an den Bischofssitz
geleistet wurde, ließ er in seine Räume tragen und unter die Armen
verteilen.“64
Bischof Laurentius vergaß aber sein Personal und seine Klientel nicht. In seiner
Vita wird dazu berichtet:
„Er ließ stets ein großzügiges Weihnachtsfest für seine Priester und die
kirchlichen Würdenträger, die Proventleute, Verwalter und die Haushälterin
und für das ganze Gesinde ausrichten, damit alle genug Freude hatten.“
65
Auch wenn man davon ausgehen kann, dass der Verfasser der Vita seinen Helden
in bestem Lichte erscheinen lassen will, so darf man dennoch annehmen,
dass das Verhalten des Bischofs den Erwartungen der damaligen Zeit entsprach.
Weiterhin muß an dieser Stelle bemerkt werden, dass Lárentíus saga keine Heiligenvita
ist. Der Verfasser, Einar Hafliðason war ein Zeitgenosse des Bischofs
Laurentius und stand in dessen Diensten. Bei der Abfassung seiner Biographie
hatte er Zugang zum bischöflichen Archiv in Hólar.66
An den Bischofssitzen, aber auch in den Klöstern war ein Almosenmeister
für die armen Gäste und herumwandernde Bettler zuständig, wie es auch auf
dem Kontinent Sitte war. An hohen Festen wurden Nahrungsmittel sowie Vieh
und Häute für Schuhe unter die Armen verteilt. Solche Maßnahmen haben den
Bauernfamilien wohl ihre Aufgabe erleichtert, die sich ebenfalls um die Armen
und Herumstreunenden zu kümmern hatten. An den Festen der Bischöfe Guðmundur
des Guten und Jón Ögmundsson ließ Bischof Jón Arason (Amtszeit
1524–1550) ebenfalls zwanzig Hunderte verteilen. Dabei wird er sich wohl an
die alte Tradition angelehnt haben. Als Bischof Jón auf seine Hinrichtung wartete,
schickte er eine Botschaft nach Hólar und forderte seine Verwalter auf, 60
Kuhwerte unter die Armen verteilen. Das waren 60 „vættir“ Butter (ca 2040 kg.)
64 Ibid. 380 f. Außerdem wird vermerkt: „Jedes Mal, wenn er eine Messe sang, sollten 5 Arme
ins Haus geholt und einmal anständig verköstigt werden“ (376).
65 Ibid. 378.
66 Biskupa sögur III. Guðrún Ása Grímsdóttir, Einleitung, LXIV.
79
1200 Fische, 18 „Fettkegel“, 8 Bahnen gewebten Wollstoffes und 10 Häute.67
Wahrscheinlich wurden ähnliche Mengen an Nahrungsmitteln und Kleidung auf
dem Bischofssitz in Skálholt verteilt, denn dem dortigen Bischof Ögmundur
Pálsson (Amtszeit 1521–1540) wurde nachgesagt, dass er „erstaunlich freigiebig
an Geld und Nahrung“68 gewesen sei.
Die Versorgung von alten und armen Priestern stand auf der Prioritätenliste
der kirchlichen Führung wohl ganz oben. Davon wird in der Laurentius-Geschichte
berichtet. Bischof Laurentius hatte, sozial engagiert, ein Priesterhospiz
am Kvíabekk errichten lassen, damit alte und kranke Priester nicht den Bettelstab
in die Hand nehmen mussten. Die finanzielle Ausstattung des Hospizes war
durchaus solide. So wurde etwa jeder Priester im Bistum verpflichtet, 3 ½ Mark
an dasselbe zu entrichten. Außerdem wurden für alle Zukunft die Bauern in
Ólafsfjörður und Fljót verpflichtet, für das Hospiz fünfzig Lämmer großzuziehen.
Darüber hinaus stellte Laurentius Bußgelder zur Verfügung69. Ein zweites
Hospiz gab es in Gaulverjabær in Flói.70
Wie sehr die Armenfürsorge im Zentrum bischöflichen Wirkens stand,
kann man an den Wundern sehen, die verstorbenen Bischöfen zugeschrieben
wurden. Vom seligen Bischof Þorlákur wird die Rettung einer Frau aus einer
verzweifelten Lage berichtet. Gleichzeitig erfährt man, wie es um eine
schwerstkranke Bettlerin bestellt war. In der Saga Þorláks biskups hin ýngsta
[Die jüngste Geschichte über den Bischof Þorlákur] wird beschrieben, dass eine
arme Frau namens Álfheiður am Bein erkrankte, so dass sie nicht mehr arbeitsfähig
war:
„Eine Zeitweile wanderte sie mühevoll von Haus zu Haus. Bei der Nässe
und beim Überqueren von Bächen wurde die Wunde noch schlimmer …
Schließlich legte sie sich auf dem Bauernhof Þorvaldsstaðir nieder, und
sie schien aus Hunger, Beinwunden und Atemnot dem Tode geweiht, denn
sie hatte sich lange Zeit stöhnend und ächzend zwischen den Bauernhöfen
auf allen Vieren bewegt.“71
Am Festtag des heiligen Þorlákur konnte sie nicht mehr. Da im Land Not
herrschte und viele starben, wollte man ihr keine Hilfe leisten. Offensichtlich
waren die Bauersleute nicht in der Lage, eine hilflose Kranke bei sich aufzunehmen.
In dieser Heiligengeschichte kam der selige Bischof Þorlákur und erlöste
Álfheiður aus ihrer Not. Es spielt in diesem Zusammenhang überhaupt
67 [Þórður Jónsson í Hítardal], Æfisaga og ættbálkur Jóns biskups og barna hans. Historian af
biskup Jóni Arasyni á Hólum og um hans ættfólk, niðja og tengdamenn [Die Lebensgeschichte
und Sippe des Bischofs Jón und seiner Kinder. Die Geschichte von Bischof Jón in
Hólar und von seinen Verwandten, Kindern und Schwiegerkindern]. In: Biskupa sögur
Bókmentafélagsins II. Kopenhagen 1878, 354. Eine derart detaillierte Beschreibung der
Nahrungsmittel ist äußerst selten.
68 Kvæði um Ögmund biskup [Das Gedicht über Bischof Ögmundur]. In: Biskupa sögur
Bókmentafélagsins II. Kopenhagen 1878, 311.
69 Hafliðason, Lárentíus saga biskups 387.
70 Jón Jóhannesson, Íslendinga saga [Geschichte Islands] II. [Reykjavík] 1958, 282.
71 Jarteinir úr sögu Þorláks 386 ff.
80
keine Rolle, ob Álfheiður eine historische Person ist, denn die Geschichte beschreibt
auch allgemein den Leidensweg einer Kranken im Mittelalter, die nicht
in der Lage war, sich selbst zu helfen.
Die Funktion der Bischofsgüter, subsidiär zu den Familien Hilfe zu leisten,
zeigt das Beispiel von Hallotta aus dem Jahre 1477 deutlich. Sie lebte auf
einem Hof in Húnaþing und war gesundheitlich völlig am Ende. Björn, der
Bauer, wählte den Ausweg, die Kranke auf den Hof Flugumýri in Skagafjörður
zu transportieren, der zum Bischofsitz Hólar gehörte. Dort verließ er sie. Die
Verwalter des Bistums in Hólar sahen darin einen Verstoß gegen die Kirche.
Björn wurde verurteilt, den Aufenthalt der Frau in Flugumýri und obendrein
Buße für seine Unverschämtheit zu zahlen. Er wurde dazu verpflichtet, Hallotta
wieder nach Húnaþing zu transportieren72. Dass der Bauer Björn die Kranke auf
ein bischöfliches Gut transportiert hatte, ist nur plausibel, falls die Kirche und
ihre Institutionen in der Regel den Notnagel dargestellt haben, wenn es um die
Pflege Langzeitkranker ging, welche die Kräfte durchschnittlicher Haushalte
überschritt. Für derartige Fälle gab es sicherlich Regeln, die Bauer Björn offensichtlich
nicht beachtet hatte. Es kann durchaus sein, dass er vermögend genug
war und seine Versorgungspflichten gegenüber Hallotta zu eindeutig waren, als
dass die Domkirche in Hólar ihm Unterstützung gewährte..
Ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr den Führungskräften der mittelalterlichen
Gesellschaft an der Erfüllung ihrer karitativen Pflichten an Armen und
Kranken lag, liefert das Stiftungsstatut der Hospize an der Allerheiligenkirche
und der Kirche der heiligen Katrin in Vogsbotn im norwegischen Bergen aus
dem Jahre 1276. König Magnús Hákonarson (Amtszeit 1263–1280), Bischof
Áskatinn, Abt Eiríkur zu Munklífi und die Chorherren der Christkirche riefen
folgendes großzügige Engagement ins Leben: An der Allerheiligenkirche sollten
dreißig Betten für Männer und an der Kirche der heiligen Katrin sollten zwanzig
Betten für Frauen zur Verfügung stehen. Es war strengstens untersagt, bezahlende
Proventleute aufzunehmen; diese Hospitäler waren offensichtlich dem
gemeinen Manne gewidmet. Darüber hinaus finden sich in dieser Urkunde genaue
Bestimmungen für die Verpflegung der Kranken, Gehalt und Entlohnung
der Hospizgeistlichen und die Umgangsformen des Personals.73 Das Statut belegt
die Tradition, die im norwegischen Staat und dem Erzbistum Nidaros aufrecht
erhalten wurde. Könige und Bischöfe wurden auf Gebieten der Armenfürsorge
und des Sozialwesens initiativ. Jene Situation zeigt sich auch wichtig für
Island und erlegte wohlhabenderen Personen, besonders den führenden Geistlichen,
Pflichten auf.
Über Hospitäler für das gemeine Volk berichten die isländischen Quellen
nichts mit Ausnahme jenes Hospitals, das auf Initiative von Bischof Ögmundur
in Skálholt errichtet wurde. Im Jahre 1525 holte dieser Bischof den deutschen
Arzt Lazarus Mattheusson nach Island. Er stellte ihm den Hof Skáney zur Ver-
72 DI, VI, Nr. 95
73 Chr. C. A. Lange u. a., Diplomatarium Norvegicum II.Christiania 1851, II, Nr.16 a.
81
fügung, wo er Kranke für geringes Entgelt behandeln sollte. Die Medikamente
sollte der Arzt selbst bereitstellen. Da zu dieser Zeit in Island die Syphilis wütete,
betrachtete es Bischof Ögmundur offensichtlich als seine Pflicht, die
Krankheit zu bekämpfen und ein Hospital zu errichten.74 Unwahrscheinlich ist,
dass der landwirtschaftliche Betrieb von Lazarus in Skáney das Hospital finanzieren
konnte; es muss andere Einkünfte oder Zuschüsse gegeben haben.
Das soziale Engagement der Klöster
Die isländischen Klöster hatten vielfältige Aufgaben, insbesondere auf sozialem
und wirtschaftlichem Gebiet. Äbte und Äbtissinnen zählten zur führenden
Schicht des Landes und verwalteten einen ausgedehnten Grundbesitz. Innerhalb
des Klosters besaßen sie bischöfliche Disziplinargewalt. Leider sind die Klosterarchive
in Island schlecht erhalten,75 und man muss daher versuchen, mit aller
gebotenen Vorsicht anhand der Regeln und Traditionen der Armenfürsorge am
Kontinent auf den Beitrag der isländischen Klöster zu schließen.
Am Ende des Mittelalters gab es in Island neun Klöster, sieben Mönchsund
zwei Nonnengemeinschaften. Die Zahl der Konventualen war im Spätmittelalter
jedoch eher niedrig. In einem Register, das Superintendent Gizur Einarsson
in Skálholt im Jahre 1542 anfertigen ließ, heißt es, dass es im ganzen Bistum
Skálholt achtzehn Mönche und sieben Nonnen gegeben habe.76
Die Klosterinsassen, die zu höheren Weihen und Ämtern gelangten,
stammten aus begüterten und einflussreichen Familien. Man darf annehmen,
dass in den isländischen Klöstern außer Mönchen und Nonnen auch eine Anzahl
von Laienbrüdern und Laienschwestern lebte.77 Einige der isländischen Klöster
waren reich an Landbesitz, z. B. besaß das Kloster Helgafell zur Zeit der Reformation
120 Höfe, das Kloster in Viðey 95, das Kloster in Þykkvibær 55, das in
Skriða 40, das in Möðruvellir 55, das in Munkaþverá 61 und das Kloster in Þingeyrar
74 Höfe. Die beiden Nonnenklöster waren deutlich weniger vermögend:
Das Kloster in Reynistaður besaß bei der Reformation 41 und das Kloster in
Kirkjubær 39 Höfe.78 Insgesamt betrug dieser Landbesitz der Klöster 13 % des
74 DI, IX, Nr. 301 D-F.
75 Ragnheiður Mósesdóttir, Bessastaðabók og varðveisla Viðeyjarklaustursskjala [Bessastaðabuch
und die Erhaltung der Dokumente des Klosters Viðey]. In: Saga XXXIV (Reykjavík,
1996) 220.
76 DI, XI, Nr. 173.
77 In seinem Testament vermachte Ritter Torfi Arason, der im Jahre 1459 in Bergen verstarb,
„den Chormönchen einen blauen Umhang und einen braunen Mantel mit Silberschnallen,
den Laienbrüdern 20 Ellen gewebten Wollstoffs, aber den kleinen Brüdern 6 Ellen gewebten
Wollstoffs“. DI, V, Nr. 175.
78 Jarðabækur klaustranna 1637[Das Verzeichnis des klösterlichen Grundbesitzes]. Leyndarskjalasafn
[Geheimarchiv], suppl. II, 44, 45, 46, 48, 96. Þjóðskjalasafn Íslands, Reykjavík
[Handschriftensammlung Islands].
82
gesamten Landbesitzes in Island.79 Man darf davon ausgehen, dass die Erträge
nicht nur dazu verwendet wurden, einige wenige Mönche und Nonnen und deren
jeweiliges Personal zu unterhalten. Hinzu kam, dass Abgaben meistens in Nahrungsmitteln
geleistet wurden, die nicht lange haltbar waren; sie mussten entweder
verkauft oder verteilt werden.
Den Klosterunterlagen ist zu entnehmen, dass dort auch Unterricht
stattgefunden hat, denn es gibt entsprechende Verträge zwischen der Klosterleitung
und den Eltern oder Vormündern von Kindern oder Jugendlichen.80 In den
isländischen Klöstern wurde Handwerk betrieben, wie Weben und die Anfertigung
von Wandteppichen und die Herstellung von Büchern.81 Es liegt auf der
Hand, dass bei der dort praktizierten Arbeitsteilung auch die Arbeitskraft von
körperlich schwachen Menschen, die in einem anderen sozialen Zusammenhang
zur Last fielen, zum Einsatz kommen konnte. Mitunter konnten die Klöster zu
versorgenden Menschen Schutz gewähren und eine zeitlich begrenzte Existenznot
ihrer Klienten lindern. In Ritgjörð von Jón Gizurarson wird erzählt, dass Abt
Sigvarður in Þykkvabær Gizur Einarsson, den späteren Superintendenten in
Skálholt (1540/42–1548), aufgenommen hatte, als ihm niemand Schutz gewähren
wollte.82 Gizurs Tante, Äbtissin Halldóra von Kirkjubær, nahm eine Frau in
ihrem Kloster auf, deren Ehemann sie übel verprügelt hatte. Ihr Neffe, der Superintendent,
ermahnte sie daraufhin, die Frau nach Hause zurückzuschicken, da
häusliche Gewalt kein Anlass zur Scheidung sei.83 Es gab jedoch die Tradition
und das allgemeine Anerkennen des Kirchenasyls für Verfolgte. In diesem Fall
stützte sich Äbtissin Halldóra darauf, was das einzige Beispiel für die Rolle der
isländischen Nonnenklöster als Asyl für Frauen darstellt.
Wenn man von der europäischen Klostertradition der Mildtätigkeit gegenüber
Armen ausgeht, darf angenommen werden, dass auch in den isländischen
Klöstern arme Leute bewirtet wurden. In einem auf Plattdeutsch verfassten
Brief, den Kaufleute, Bürger und Kapitäne in Hamburg im Jahre 1540 an den
Dänenkönig richteten, wird erwähnt, dass im Kloster zu Viðey täglich 40 Arme
verköstigt wurden.84 Diese 40 Armen sind eine beachtliche Gruppe, auch wenn
es sich bei dieser Zahl vielleicht auch um Proventleute handelte, die für ihre Altersfürsorge
schon bezahlt hatten. Im französischen Kloster Cluny wurden täglich
72 Arme verköstigt. Hinzu kamen wandernde Bettler.85 Man darf davon
ausgehen, dass sich der großzügige Beitrag des Klosters Viðey zur Armenfür-
79 Magnús Már Lárusson und Björn Lárusson, The Old Icelandic Land Registers. Lund 1967,
67.
80 DI, III, Nr. 628.
81 Lögmannsannáll. In: Gustav Storm (Hg.), Islanske Annaler indtil 1578. Christiania 1888,
Oslo 1977, 287.
82 Jón Gizurarson, Ritgjörð [Aufsatz]. In: Safn til sögu Íslands og íslenzkra bókmenta [Sammlung
zur Geschichte Islands und der isländischen Literatur] I. Kopenhagen 1853, 676
83 DI, XI, Nr. 234.
84 DI X, Nr. 224, S. 504.
85 Michel Mollat, Die Armen im Mittelalter. München 1987, 51.
83
sorge auf eine Tradition gestützt hat, und die anderen Klöster Armenfürsorge in
ähnlichem Umfang gemäß ihrem Vermögen betrieben haben, auch wenn die
Quellen darüber schweigen.
In der reformatorischen Kirchenordinanz von 1537 werden Klosterleute
und damit Klöster indirekt und nur kurz behandelt. Im Zuge der Reformation
kamen die klösterlichen Besitztümer an den König. Diesen Besitz überließ er
für ein geringes Entgelt seinen Gefolgsleuten. Das erwirtschaftete Geld fand
nicht in demselben Maße wie früher den Weg in die Gesellschaft, diente aber
den treuen Freunden und Gehilfen des Königs als finanzielle Basis. Interessanterweise
wird die Niederlegung der Klöster nicht erwähnt, sondern es wird den
Mönchen und Nonnen erlaubt, ihre Klöster zu verlassen, wenn das Klosterleben
ihrem Gewissen widerstreiten sollte. Dem Text ist zu entnehmen, dass die
Klosterleute als Sozialfälle angesehen wurden, die versorgt werden müssten,
wenn sie weiter in ihren Klöstern bleiben wollten, was bei der Überführung deren
Besitzes an den König auch nahe liegt. Die Nonnen werden ermahnt, „ihrer
Priorin, Vorstandsfrau und Äbtissin gehorsam zu sein“, und sie werden gewarnt,
im Lande herumzureisen, sowie vor Trinkerei oder unziemlichem Umgang mit
Männern. Sollten sie ihr Kloster verlassen wollen, stand ihnen dies frei, falls
ihre Versorgung gesichert war, und sie durften mit Einverständnis ihrer männlichen
Verwandten oder Freunde heiraten.86 Wahrscheinlich sind hier auch Bettelmönche
und Bettelnonnen gemeint, gegen die sich die Reformatoren entschieden
wandten. Da die Bettelorden in Island nie Fuß fassen konnten, trafen diese
Artikel der Kirchenordinanz auf ein Klosterleben, das ganz anderer Natur war
und welches in der isländischen Gesellschaft eine weitaus größere und wichtigere
Rolle gespielt hatte, als die Kirchenordinanz Christians III. es unterstellte.
Reformation und Neuordnung der Königsmacht
Die Grundherrschaft der Bischofssitze und deren wirtschaftliches Engagement,
das sich sogar nach Norwegen ausdehnte, hatten den isländischen Bischöfen die
wirtschaftliche Führung im Lande gesichert. In Island war die Stellung der letzten
katholischen Bischöfe in vielerlei Hinsicht mit der Stellung der katholischen
Kirchenfürsten in Deutschland vergleichbar.87 Der politische Paradigmenwechsel,
der in Dänemark im Jahre 1537 bei der Machtübernahme Christians III.
stattfand, hatte in den folgenden Jahrzehnten tiefgreifende Folgen für Island. Zu
diesem Zeitpunkt fand eine Verfassungsänderung in Richtung zum zentralistischen
Staat statt, die auch das Sozialwesen und die Wirtschaft des Landes
gründlich veränderte. Die Kirchenordinanz Christians III. wurde die Grundlage
einer Kirchenordnung, die das wirtschaftliche und politische Fundament der
Macht der isländischen Bischöfe zum Verschwinden brachte.88 Die Rolle und
86 DI, X, Nr. 95, S. 246 ff.
87 Vilborg Auður Ísleifsdóttir-Bickel, Die Einführung der Reformation in Island 1537–1565.
Frankfurt/Main u. a. 1996, 91, 102.
88 DI, X, Nr. 95, S. 229.
84
das Aufgabengebiet der lutherischen Superintendenten wurden ganz anders definiert
als die Rolle ihrer katholischen Vorgänger. Sie waren nicht in demselben
Maße die „Väter der Armen“, sondern nach der Bedeutung des Wortes „Superintendent“,
Aufseher. Der Teil des Zehnten, der traditionell den Bischöfen zustand,
wurde vom König beansprucht und eingezogen. Die Kirchenordinanz war
ein Gesetz, das Christian III. mit militärischer Macht einseitig durchsetzte, auch
wenn es im Vorwort heißt, dass der König viele „Mithelfer“ zu Rate gezogen
habe.89 Zusammen mit dem Rezess von 1536 ist die Kirchenordinanz die
Verfassung, die lange Zeit dem reformierten dänischen Staat die Form gab.90
Die Reformatoren auf dem Kontinent hatten einiges an der katholischen
Armenfürsorge auszusetzen, u. a. dass sie durch ihren Lobgesang auf die Armut
und den Bettler die Faulheit und Tagedieberei fördere. Darüber hinaus war viel
die Rede von Diebstahl und Korruption in den Armenhospitälern der Kirche.
Die Reformatoren meinten, die für die Armenfürsorge zur Verfügung stehenden
Mittel seien ausreichend, nur unterscheide man nicht zwischen den wirklich
Armen und denen, die arbeiten könnten. Auch war es ihnen ein Dorn im Auge,
dass den Laien die Führung und der Betrieb der karitativen Einrichtungen verwehrt
wurde.91 Der Tragbalken der reformierten Armenfürsorge waren die
städtischen Behörden. Über die Organisation der Armenfürsorge steht in der
Kirchenordinanz folgendes:
„Daher soll jeder Bischof in seinem Stift mit unserem Lehnsmann, den
Pröpsten, Predigern und dem Rat jeder Stadt einen allgemeinen Almosenkasten
für die Armen einrichten, in welchen alles das gesammelt
wird, was christliche Leute im Namen Gottes spenden, ob Testamentsgaben
oder Synodengeld, Geldkollekten an Feiertagen, Gaben von Gesellschaften
oder Gilden, Seelgerät und aller Grundbesitz, der den Armen
vermacht worden ist. Auch herrenloses Gut soll an die Armen gehen. Die
Prediger sollten die Menschen zur Freigiebigkeit ermahnen, so dass sie
Almosen an die Armen spenden, die sie früher zum guten Zwecke, aber
in einer falschen und irre geleitenden Ansicht für Messen, Mönchsgesang,
für Ablassbriefe, Pilgerfahrten und für die Seelen der Toten sowie
für manch andere solche Irrlehren zu spenden pflegten.“92
Dem Superintendenten wurde angeraten, in Übereinkunft mit dem Lehnsmann,
dem Propst und den Pfarrern einige tugendreiche Honoratioren, die als „Vor-
89 DI, X, Nr. 95, S. 118. Siehe auch: Jörgen Stenbæk, Den danske kirkeordinans af 1537/39 –
teologi og funktion. In: Carl-Gustav Andrén (Hg.), Reformationen i Norden. Kontinuitet
och fornyelse. Lund 1973, 130.
90 Über diese Problematik siehe Ísleifsdóttir-Bickel, Die Einführung der Reformation in Island
163-185. Siehe auch dies., Siðbót eða bylting. Nokkur orð um siðbreytinguna og kirkuordinanzíuna
frá 1537 [Reformation oder Revolution. Einige Bemerkungen über die Reformation
und die Kirchenordinanz]. In: Sagnir. Tímarit um sögulegt efni 17 (XXXX) 66-71.
91 Bronislaw Geremek, Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München
1988, 26.
92 DI, X, Nr. 95, S. 235.
85
münder, Vorstandsleute und Diener der Armen“ fungieren sollten, mit der Verwaltung
zu beauftragen. Ein besonderes Kapitel handelt von den Hospitälern,
deren Errichtung und Betrieb als Hauptbeitrag zur Linderung des Loses der Armen
angesehen wurde. Am Anfang des Kapitels wird der Wille des Königs bekräftigt,
dass die Besitztümer, die zur Armenfürsorge gestiftet worden waren,
ihrem ursprünglichen Zweck zugeführt werden. Dieser Satz deutet darauf hin,
dass sich vorher habgierige Leute unrechtmäßig solche Stiftungen angeeignet
hatten, wogegen sich die Kirche, auch auf dem Festland, immer wieder zur
Wehr setzen musste.
Dann wird bestimmt, dass bei solchen Institutionen gute Vorstände bestellt
werden, welche die „Rente einsammeln und solide Rechenschaft ablegen.“
Die Angestellten des Spitals sollten ihren Lohn aus dem oben erwähnten Almosenkasten
beziehen. Die Aufsicht über den Betrieb lag in den Händen des Gemeindepfarrers.
In einem Abschnitt wird die Ausstattung des Hospitals beschrieben:
„Sowohl das Zimmer, als auch das Bettzeug, das Tafelgeschirr, z. B.
Schalen und Teller, und alles andere, was da gebraucht wird, soll sorgfältig
ausgestattet sein. Es wird den jeweiligen Kranken je nach deren
Krankheit zugeteilt, insbesondere, weil befürchtet wird, dass die Krankheiten
so beschaffen sind, dass sie jeder vom anderen empfängt. Daher
dürfen nicht viele durch den Umgang mit einigen wenigen von derselben
Krankheit infiziert werden. Die Ärzte in den Städten sollen ihr Bestes tun,
die Kranken zu heilen, soweit die Heilung möglich ist, z. B. diejenigen,
die an Syphilis erkrankt sind. Für diese Mühsal sollen die Ärzte ihr Gehalt
bekommen.“93
Betrachtet man die vorangegangenen Anordnungen über die Organisation der
Armenfürsorge und Krankenpflege für Island, ist diese Gesetzgebung geradezu
zukunftsweisend, war jedoch in der isländischen Wirklichkeit des 16. Jahrhunderts
wohl kaum durchführbar. Die Kirchenordinanz Christians III. war auf
städtische Kommunen zugeschnitten,94 wo sich Geld als Zahlungsmittel etabliert
hatte. Diese Organisation war in Island unpraktikabel, da es dort Städte nicht
einmal im Ansatz gab und geschlagene Münzen selten waren. Dennoch machten
die führenden Männer des Landes Anstalten, die neuen Gesetze umzusetzen. Im
sogenannten Bessastaðarrezess von 1555 schlugen sie vor, vier Armenhospitäler,
eines in jedem Landesviertel, zu errichten, stießen dabei aber bei der königlichen
Verwaltung auf wenig Resonanz. Im Jahre 1556 kam ein Schreiben des
Königs, aus dem die nachfolgende Passage stammt:
93 DI, X, Nr. 95, S. 228 f.
94 Ísleifsdóttir-Bickel, Die Einführung der Reformation in Island 312.
86
„Es ist die Ansicht der königlichen Majestät, dass in Island keine Hospitäler
zu errichten sind, solange die Armen im Lande herumziehen und ihre
Nahrung dort suchen, wo sie sie am besten finden …“95
Dieser lapidaren Feststellung kann man entnehmen, dass die dänische Obrigkeit
die Organisation der Armenfürsorge in Island so gut fand, dass sie keinen dringenden
Anlass sah, die einschlägigen Bestimmungen der Kirchenordinanz zu
realisieren, zumal der Bau und der Betrieb der Armenhospitäler Geld gekostet
hätten, das die Obrigkeit nicht gewillt war, für soziale Aufgaben bereitzustellen.
Andere Aufgabengebiete, wie z. B. die Gerichtsbarkeit, rangierten höher auf der
Prioritätenliste. Die isländischen Bauernfamilien waren die Institutionen, die
durch die unmittelbare Bereitstellung des Armenzehnten die Armenfürsorge
auch nach der Reformation bis in das 20. Jahrhundert gewährleistet haben.
Ein Brief von zwölf Geistlichen im Bistum Hólar zeigt, dass schon in der
Amtszeit Ólafur Hjaltasons (1552–1569) auf dem Bischofssitz in Hólar eine
Krisensituation eingetreten war, als im Notwinter von 1557 die Armen in Scharen
dorthin kamen, in der Hoffnung, Linderung ihrer Not zu erhalten. Es heißt:
„In seinem Stift im Nordland ist sowohl in der Landwirtschaft als auch in
der Fischerei große Not und Kälte. Die Menschen sterben fast vor Hunger
und Armut. Auch das Vieh verendet in Frost und Schnee. Arme Leute
sterben aus Mangel an Kleidung, so dass er [Ólafur] das Stift kaum erhalten
kann.“96
Die Geistlichen schlugen vor, dass der Superintendent den traditionellen
Bischofszehnt behalten dürfe und diesen nach altem Brauch und der Notdurft
des Landes entsprechend einsetze und verteile.“97 Zu dieser Zeit war der Bischofszehnt
schon dem König zugeschlagen worden, und an den Bischofssitzen
war wenig Hilfe zu erwarten. Die Quelle zeigt, dass die isländische Lebensgestaltung
eine neue Dimension erhalten hatte; und diese war verbunden mit dem
vollkommenen Unvermögen der Kirchenführer, eine akute Hungersnot zu lindern,
denn das kirchliche Wirtschaftssystem und das kirchliche Sozialwesen waren
zum Erliegen gekommen. Aus dem späten 16. Jahrhundert gibt es zahlreiche
von Landräten („sýslumenn“) getroffene Entscheidungen, die zeigen, dass das
Armutsproblem die Bauern und die weltliche Obrigkeit vollkommen überforderte.
98
95 „Tykkis Kongel. Majest. godt være, at der ingen Hospitaler skal stigtes paa Island, meden
at de Fattige drager omkring Landet, og söger efter deris Underholling hvor de best kunde
…“. Oddgeir Stephensen u.a. (Hg.), Lovsamling for Island I. Kopenhagen 1853, 74.
96 DI, XIII, Nr.155. Als Vergleich darf ein Brief von Bischof Jón Arason aus dem Jahre 1540
herangezogen werden. Darin sagt der Bischof, dass in einigen vergangenen Jahren große
Hungersnot geherrscht habe und dass man armen Leuten habe helfen müssen. Jedoch seien
viele gestorben, die gute Menschen, welche hätten helfen können, nicht erreichen konnten.
Offensichtlich gab es damals Hoffnung auf Hilfe, wenn die Armen in der Lage waren, danach
zu suchen und sie auch zu finden.
97 Ibid.
98 DI, XIV. Nr. 46. Spjaldhagadómur, Nr. 268; Miðgarðdómur, Nr. 267; dómur við Vallalaug,
XV, Nr. 155. Alþingisbækur Íslands [Die isländischen Thingbücher] I-XVI. Reykjavík
87
Schlusswort
Die Untersuchung hat gezeigt, wie man sich in Island mit dem allgegenwärtigen
Armutsproblem in den 500 Jahren katholischer Zeit auseinandersetzte. Es entwickelte
sich ein gestaffeltes soziales Netz, dessen vorderste Front die Familie des
Armen war. Danach kamen die Gemeinde und danach die Kirche als letzte Auffangstation,
wenn beide versagten. Der Zusammenbruch der Armenfürsorge
nach der Reformation zeigt, dass die Kirche davor eine bedeutende Funktion in
diesem System hatte, da die Leistungsfähigkeit von Familie und Kommune doch
begrenzt war. Dies gilt auch dann, wenn man für das 16. Jahrhundert die Zunahme
der Armut auf eine Verschlechterung der Witterung zurückführt. Diese
Verschlechterung des Klimas und die gleichzeitige Umstellung der Armenfürsorge
durch die Kirchenordinanz Christians III. von 1537 führten schließlich
zum Zusammenbruch der Armenfürsorge in Island. Der größte Wirtschaftsfaktor
des Landes, die Kirche, wurde seiner wirtschaftlichen Funktion beraubt. Der
König, der diese Wirtschaftsmacht übernahm, füllte die entstehende Lücke
nicht. Die Abkoppelung der Armenfürsorge vom christlichen Ethos und dem
damit verbundenen Lohn im Jenseits durch die Zuweisung dieser Aufgabe an
die weltliche Obrigkeit führte auch zu einer Demotivation der Begüterten und
zum Rückgang persönlicher Hilfsbereitschaft.
Die Situation der Armen ist meist ein recht zuverlässiger Maßstab für die
wirtschaftliche Lage der Gesellschaft. Die vielen Urteile über Bettler und deren
Umtriebe in den Jahren nach der Reformation zeugen davon, dass der Gesellschaft
die Armenfürsorge über den Kopf gewachsen war. Da es nicht gelang,
neue Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen zu entwickeln, blieb die Grundherrschaft
im Großen und Ganzen das herrschende Wirtschaftssystem bis in das
20. Jahrhundert hinein. Nur ein kleiner Teil der Steuer kam dem isländischen
Sozialsystem in Form des Armenzehnten zu Gute, während verschlechtertes
Klima, ungünstige Handelskonditionen und niedrige Produktivität die Armut
zunehmen ließen, welche die isländische Gesellschaft bis in das 20. Jahrhundert
bedrängte.99 In Folge der Reformation bekamen die Isländer zwar einen verbesserten
Zugang zur Bibel und sie konnten die theoretischen Grundlagen der
1922-1988, II, 11-18, 68-71. Dies sind einige wenige Beispiele über die Lage; es gibt noch
viel mehr diesbezügliche Belege.
99 Gísli Ágúst Gunnlaugsson hat die Lage der Armen in Island in den letzten drei vergangenen
Jahrhunderten untersucht. Es wird hier auf seine einschlägigen Arbeiten auf diesem Gebiet
verwiesen. Siehe G. Á. Gunnlaugsson, Löggjöf um fátækraframfærslu og stjórn fátækramála
á 18. öld [Gesetze über die Armenfürsorge und deren Organisation im 18. Jh.]. In:
Saga XXI (1983), 39-72; ders., Ómagar og utangarðsfólk. Fátækramál Reykjavíkur 1786-
1907 [Unvermögende und Landstreicher. Armenfürsorge in Reykjavík 1786-1907] (Safn til
Sögu Reykjavíkur 5) Reykjavík 1982; ders., ‘Þraut er að vera þurfamaður …’ Um þurfamenn
og fátækt á Íslandi í lok síðustu aldar og í upphafi þessarar aldar [‚Schrecklich ist es,
ein Almosenempfänger zu sein…’ Über Almosenempfänger und Armut in Island am Ende
des vorigen Jahrhunderts und zu Beginn dieses Jahrhunderts]. In: Saga og samfélag. Þættir
úr félagssögu 19. og 20. aldar. Reykjavík 1997, 130-143.
88
kirchlichen Lehre studieren. Gleichzeitig waren jedoch die wirtschaftlichen
Grundlagen zerbrochen, die notwendig waren, die biblischen Gebote zur Armenfürsorge
zu realisieren. Mit einigem Recht kann behauptet werden, dass die
Isländer gezwungen waren, statt der Orthopraxie nur noch die Orthodoxie zu
behalten.
M E D I U M A E V U M
Q U O T I D I A N U M
52
KREMS 2005
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramèr
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, 3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. –
Druck: Grafisches Zentrum an der Technischen Universität Wien, Wiedner
Hauptstraße 8-10, 1040 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ……………………………..…………………………………………. 5
Annie Saunier, L’enfant victime: une représentation de l’enfance
au travers de quelques sources religieuses, judiciaires et hospitalières .… 6
Dorothee Rippmann, Der Körper im Gleichgewicht:
Ernährung und Gesundheit im Mittelalter ……………………………… 20
Salvatore Novaretti, Mittelalterliche Fischrezepte aus Frankreich und Italien –
Zeugnisse unterschiedlicher kulinarischer Kultur? ………………….… 46
Vilborg Auður Ísleifsdóttir-Bickel, Habenichtse und Landstreicher.
Zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Armenfürsorge
in Island und deren Zusammenbruch ………………………………..… 62
Tom Pettitt, Nuptial Pageantry in Medieval Culture and Folk Custom:
in Quest of the English charivari ……………………………………… 89
Besprechung …………………..……………………………………………….. 116

5
Vorwort
Das vorliegende Heft von Medium Aevum Quotidianum zeigt in besonderem
Maße die Breite und ‚Internationalität’ sowohl von Fragestellungen als auch von
Forschungsinitiativen im Rahmen der Geschichte von Alltag und materieller
Kultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Wir danken den partizipierenden
Beiträger(inne)n für ihre wertvollen Untersuchungen, von Reykjavik bis zur
Université des Antilles-Guyane.
Annie Saunier beschäftigt sich komparativ mit der Opferrolle des Kindes
in verschiedenen spätmittelalterlichen französischen Quellen. Dorothee Rippmann
und Salvatore Novaretti analysieren Quellen zur Ernährung und können
dabei wichtige Kontexte zur Gesundheit und zu allgemeinen Fragen von Kulturausformung
und Mentalität liefern. Vilborg Auður Ísleifsdóttir-Bickel widmet
sich der Armenfürsorge und deren Entwicklung im spätmittelalterlichen Island.
Tom Pettitt vermittelt neue Ergebnisse zur Kultur der Performanz im spätmittelalterlichen
und frühneuzeitlichen England.
Wir danken allen Mitgliedern und Freunden von Medium Avum Quotidianum
für das kontinuierliche Interesse und die gute Zusammenarbeit. Wir hoffen,
auch in Zukunft dazu beitragen zu können, dass jene Breite des Forschungsfeldes
und die Relevanz komparativer und kontextsensitiver Analysen weiter verfolgt
und einen Schwerpunkt der Untersuchungen darstellen wird.
Gerhard Jaritz, Herausgeber

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