KOMMUNIKATION ZWISCHEN ORIENT UND OKZIDENT.
ALLTAG UND SACHKULTUR
Kurzfassungen der Kongreßreferate
109
Die Handelsbeziehungen zwischen Byzanz,
den italienischen Seestädten und der Levante
vom 10. Jahrhundert bis zum Ausgang der Kreuzzüge
RALPH-JOHANNES LILIE, BERLIN
Bekanntermaßen bildet die Mittelmeerwelt in der Spätantike noch eine
Einheit, die einen lebhaften Fernhandel nicht nur zuließ, sondern geradezu
erforderte. Diese Einheit erfährt erste Erschütterungen mit dem Zerfall
des Imperium Romanum und zerbricht dann endgültig mit der Expansion
des Islam, ohne daß dieser die einzige Ursache für diesen Zusammenbruch
gewesen wäre. Im 8. und 9. Jahrhundert kann jedenfalls von
Fernhandel in nennenswertem Umfang zwischen dem westlichen und dem
östlichen Mittelmeerraum – der Levante – nicht mehr gesprochen werden,
was einzelne, auch regelmäßige Handelsunternehmungen keineswegs ganz
ausschließt. Aber das Niveau dieses Handels ist weder mit demjenigen der
Spätantike noch dem des hohen Mittelalters vergleichbar.
Ebensowenig sind, mit der Ausnahme Venedigs und Amalfis, die italienischen
Handelsstädte schon so weit entwickelt, daß sie in größerem Maße
Fernhandel hätten treiben können. Genua und Pisa können in diesen Jahrhunderten
noch froh sein, wenn sie sich gegen Langobarden und Araber
überhaupt ihrer Haut wehren können. Demgegenüber profitieren Venedig
und Amalfi beide von dem Umstand, mehr oder weniger direkt zum
byzantinischen Machtbereich zu gehören. Aber auch ihr Handel ist eher
mit der Vermittlung von Luxuswaren – Seide, Gewürze und dgl. – ausgelastet,
bisweilen auch mit dem Transport von Pilgern ins Hl. Land, der aber
erst ab dem 10. Jahrhundert ein bedeutenderes Ausmaß erreicht, um dann
allerdings immer weiter anzuschwellen.
Im 1 1 . Jahrhundert mindert sich die Bedeutung Amalfis, das schließlich
unter die Herrschaft der unteritalienischen Normannen gerät, damit
seiner bis dahin bevorzugten Stellung in Byzanz verlustig geht und schließlich
keine Rolle mehr spielt. Venedig hingegen kann als Bezahlung für seine
Bündnistreue gegen dieselben Normannen in Byzanz Privilegien erreichen,
die ihm eine, selbst gegenüber den Byzantinern, bevorzugte Stellung einräumen.
110
Die große Wende im 1 1 . Jahrhundert bringt der erste Kreuzzug. Die
Etablierung lateinischer Herrschaften in der Levante zieht nun auch Genua
und Pisa, die beide bis dahin fast ausschließlich im westlichen Mittelmeer
engagiert waren, in den Vorderen Orient hinein. Die Kreuzfahrerstaaten in
Syrien und Palästina brauchten ständige Unterstützung aus dem Westen,
die nach Lage der Dinge nur über See erfolgen konnte, und Venedig war
andererseits wegen seiner Stellung in Byzanz nicht von vorneherein zu
einem bedingungslosen Engagement in den Kreuzfahrerstaaten bereit. So
war die Situation für Genua und Pisa günstig.
Hinzu kommt im 1 1 . Jahrhundert eine Veränderung der Bevölkerungszahl
in Norditalien, die dazu führt, daß die wachsende Bevölkerung nur
noch mit Mühe aus dem Land selbst ernährt werden kann. Byzanz bietet
sich hier als Produzent an, da es selbst in dieser Zeit eher Agrarüberschüsse
produziert zu haben scheint.
Zugleich wurde Agypten zu einem Hauptexporteur, vorwiegend von
Gewürzen, auf die es praktisch ein Monopol besaß, aber auch von Alaun
und Baumwolle.
Die Kreuzfahrerstaaten spielen als Exporteure praktisch keine Rolle,
sind jedoch für den Pilgertransport die ganze Zeit hindurch von ausschlaggebender
Bedeutung.
Einen gewissen Umschwung erhält diese Entwicklung um die Wende
vom 12. zum 13. Jahrhundert und dann wieder um die Mitte des 13. Jahrhunderts:
Der Verlust Jerusalems 1 187 an Saladin löst nicht nur den
Dritten Kreuzzug aus, der zur Gründung des lateinischen Königreichs Zypern
führt, sondern läßt die Kreuzfahrerstaaten noch viel abhängiger von
auswärtiger Hilfe werden als je zuvor. Als eigenständiger Machtfaktor im
Vorderen Orient, der sie bis in die siebziger Jahre des 12. Jahrhunderts
noch gewesen waren, treten sie jedenfalls weit zurück.
Gleichfalls führt die Eroberung Konstantinopels durch das Heer des
Vierten Kreuzzugs zu einer Verlagerung der Handelsströme und zu einer
gewissen Neuordnung im LevantehandeL Obwohl Venedig hier zunächst
der einzige Gewinner zu sein schien, mußte es sich bald der starken Konkurrenz
Genuas erwehren, das nun gleichfalls ins Schwarze Meer vordrang
und an dessen Ostende Handelsstützpunkte gründete, die den Fernhandel
mit Rußland und Zentralasien zumindest teilweise an sich ziehen konnten.
Diese Entwicklung verstärkte sich noch mit der Entstehung des Weltreichs
der Mongolen, das jetzt selbst China dem Fernhandel zu öffnen
1 1 1
schien und zeitweilig eme Möglichkeit bot, den Sperriegel Ägyptens zu
umgehen.
Am Ende des 13. Jahrhunderts haben die italienischen Fernhandelskaufleute,
vor allem diejenigen Venedigs und Genuas, jedenfalls den Handel
im östlichen Mittelmeer und im Schwarzen Meer fast völlig an sich gezogen,
und einige ihrer Kaufleute drangen bis nach Indien und China vor. Die
Isolierung des Abendlands, die im frühen Mittelalter festzustellen ist, hatte
ihr Ende gefunden.
Allgemeine Literatur zu dem Thema:
W. HEYD, Risteire du Commerce du Levant au Moyen Age, 2 Bde. Leipzig 1885/86
(Neudruck Amsterdam 1967).
A. SCHAUBE, Handelsgeschichte der romanischen Völker des Mittelmeergebiets bis
zum Ende der Kreuzzüge. München-Berlin 1906.
R.-J. LILIE, Handel und Politik zwischen dem byzantinischen Reich und den italienischen
Kommunen Venedig, Pisa und Genua in der Epoche der Komnenen und der
Angeloi (1081-1204). Amsterdam 1984.
D. CLAUDE, Der Handel im westlichen Mittelmeer während des Frühmittelalters, Untersuchungen
zu Handel und Verkehr der vor- und frühgeschichtlichen Zeit in Mittelund
Nordeuropa 2 (Abh. Ak. Göttingen, philol.-histor. Kl. 3/144) Göttingen 1985.
A. R. LEWIS, Nomads and Crusaders A . D . 1000-1368. Bloomington/Indianapolis
1988.
M.-L. FAVREAU-LILIE, Die Italiener im Heiligen Land vom ersten Kreuzzug bis zum
Tode Heinrichs von Champagne. Amsterdam 1989.
(Die hier aufgezählten Titel sollen nur einen Einblick in die engere Problematik des
Themas bieten. Daneben sind für einen allgemeinen Überblick natürlich die bekannten
Sammelwerke zur Geschichte und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters heranzuziehen)
112
Die byzantinischen Gesandten als Vermittler
materieller Kultur vom 4. bis ins 1 1 . Jahrhundert
TELEMACHOS LOUNGHIS, ATHEN
Als Vermittler ihrer materiellen Kultur beeindruckten die byzantinischen
Gesandten im Westen immer wieder durch Prunk und Reichtum, die im
oströmischen Reich zweifellos unerschöpflich sein mußten; so berichten wenigstens
viele überlieferte Quellenbelege. Prunk und Reichtum bilden das
Haupterkennungszeichen einer byzantinischen Gesandtschaft, deren Kommen
– wie bekannt – im Westen als große Ehre angesehen wurde. Damit
kann auch relativ leicht die alte Frage beantwortet werden, warum die
lateinischen Quellen des Westens viel häufiger Nachrichten über byzantinische
Gesandtschaften liefern als die eigenen griechischen Quellen: In
Konstantinopel wurde die Entsendung einer Gesandtschaft ins Abendland
als eine mehr oder weniger gewöhnliche Tatsache betrachtet, während es
in Regensburg oder in lngelheim natürlich großes Aufsehen erregte, wenn
etwa von einer solchen Gesandtschaft ein großes Kreuzpartikel (partem non
modicam salutiferae Crucis, Ann. Fuld. 872) überreicht wurde. Derartige
Geschenke betonten in besonderem Maß die gemeinsame christliche Kultur,
die auch über große Entfernung bestehen blieb. Wenn die Kultur des
Empfangers und Absenders gemeinsam ist, dann entscheidet man sich in
der Beurteilung natürlich zugunsten der reicheren von beiden, welche von
den westlichen Empfangern mit bewundernden Worten beschrieben wird.
Prunk und Reichtum bilden auch unentbehrliche Bestandteile der Betonung
byzantinischer Oberhoheit über andere Gebiete. Hervorzuheben
sind etwa die Insignien hoher Hofränge, welche die oströmischen Kaiser
ihren nominellen Untertanen verliehen. Kein geringerer als Prokop von
Kaisareia beschreibt bis ins Detail die römische Art der Kleidung eines
Führers der Mauritaner, welcher dieser von Belisar selbst erhalten hatte
(BV I, 25, 3-8). Andere Geschenke dagegen, wie z. B. goldene Tische und
Betten oder der kaiserlichen Ausstattung entsprechende Hüte und Gürtel,
die von Kaiser Maurikios an Chosroes, den Thronfolger der Perser, gesandt
wurden, sollten das Gleichgewicht zwischen Großmächten der Spätantike
betonen (Simok. V, 3, 7). Neben 144.000 Solidi (älterer Prägung, nachdem
1 1 3
diese Botschaft aller Wahrscheinlichkeit nach ins Jahr 1082 zu datieren
ist), sandte Kaiser Alexios I. an Kaiser Heinrich IV. auch 100 blattia (es
ist nicht klar, ob es sich hier um Laien- oder Kirchengewänder handelt,
Ann. Komn. III, 10, 4).
Um die byzantinische Oberhoheit im Westen und sogar in Italien zu sichern,
versprach Justinian I. dem Ostgotenkönig Teodahat durch seine Gesandten
beträchtliches Grundvermögen aus dem kaiserlichen Patrimonium
(Prokop BG I, 6, 22-27); derselbe Kaiser überließ den Langobarden Städte
in Noricum und Festungen in Pannonien, zu denen ganze Dörfer gehörten,
sowie nicht geringe Geldsummen (BG III, 33, 10). Der „Plebeier“-Kaiser
Phokas, dessen Beziehungen zum Heiligen Stuhle immer sehr eng waren,
bestätigte seine Oberhoheit über Rom unter anderem auch durch Baurechte,
die er den Päpsten Bonifaz III. (607) und Bonifaz IV. (608-615)
verlieh (LP I, 316-317, Paul. Diak. IV,36).
Die merkwürdigste Sendung von Geschenken, welche die byzantinische
materielle Kultur veranschaulichen sollten, fand m. E. im Jahre 757
statt, als Kaiser Konstantin V. misit regi Pippino inter alia dona organum,
quod antea non visum fuerat in Francia. Diese wenigstens ungewöhnliche
Erwähnung der Annales Mettenses Priores wird von weiteren sieben annalistischen
Quellen wiederholt, was nichts anderes als die Bewunderung der
Empfänger sowie die weite Ausstrahlung eines solchen Ereignisses verrät.
Im Bereich der Musikinstrumente kennt man nur einen ähnlichen Fall –
allerdings von geringerer Bedeutung – in Kassiodors Variae (11, 40), in welchem
der berühmte Patrizier Anicius Boethius von Theoderich dem Großen
veranlaßt wird, einen guten Gitarrespieler und Sänger, den der fränkische
König Chlodwig benötigte, zu suchen. Derselbe Boethius, vielleicht ebenfalls
im Jahr 507, wurde von König Theoderich mit der Aufgabe betraut,
eine mechanische Uhr (horologium) für den Burgunderkönig Gundbald zu
suchen (Var. I, 45). Obwohl derartige Erwähnungen nur sehr selten sind,
können wir wohl mit Recht vermuten, daß durch solche Sendungen und
Begebenheiten die materielle Kultur der Spätantike in die germanischen
Königreiche Westeuropas vermittelt wurde.
Auch Kirchengeräte und andere Luxuswaren waren als Geschenke im
Rahmen der gemeinsamen Kultur von großer Bedeutung, wie die Quellen
berichten: Unter Papst Hormisdas und Kaiser Justinian I., also zwischen
518 und 523, . .. venerunt Romam multa vasa argentea de Graecias (sie!
LP I, 271) durch den kaiserlichen Gesandten Symmachus. Dem gehorsamen
Papst Vitalian (657-672) schenkte Kaiser Konstantin II . … evange-
114
lia gemmis albis mirae magnitudinis in circuitu ornata (Marianus Scotus
676). Ein anderer Cristallus mirae magnitudinis, auro gemmisque praeciosis
ornatus wurde 872 König Ludwig dem Deutschen geschenkt, wie
uns die Annales Puldenses berichten, mit dem weiteren Hinweis, daß die
unbekannten byzantinischen Botschafter ehrenvoll empfangen wurden (honorifice
suscepti). In dieser Beziehung dürfen auch nicht die zwei kunstvoll
geschnitzten Türen aus Elfenbein ( duas portas eburneas merifico apere
sculptas) vergessen werden, die Fortunatus, Patriarch von Grado, mit weiteren
griechischen Geschenken im Jahr 803 nach Selz an der Saale brachte.
Der heutige Cod. Parisinus gr. 437, der die Schriften des PseudoDionysios
Areopagites enthält, ist gleichfalls ein symbolisches Geschenk
an das westliche Kaiserreich aus dem Jahre 827. Ausgehend vom Interesse
des Abtes Hilduin von St. Denis hatte Kaiser Ludwig der Fromme
schon 824 eine Originalhandschrift desselben aus Byzanz angefordert, und
das Geschenk von 827 muß als Vorlage für die vollständige Übersetzung
dieser Schriften (gegen 835) gedient haben. Genau wie .. bei den Sendungen
heiliger Reliquien werden wir auch in bezug auf die Ubermittlung von
Handschriften oft im Unklaren gelassen, da sie in den erhaltenen Quellen
nicht so sorgsam verzeichnet wurden wie etwa Luxusgegenstände.
Die Frage, ob der Gesamteindruck von Byzanz im Westen jener hohen
Ebene der materiellen Kultur entsprach, muß offen bleiben. Man kann
jedenfalls nicht leugnen, daß mancher Eindruck, den wir aus den Quellenbelegen
erfahren, auf gewisse unangenehme Überraschungen bzw. Enttäuschungen
im Westen hindeutet. Dies kann etwa mit relativer Sicherheit
für die Jahre 634 und 798 angenommen werden. Im ersten Fall (634)
mußte der Frankenkönig Dagobert I. auf Befehl des Kaisers Herakleios alle
Juden innerhalb seiner Reiches zur Taufe zwingen (Fredeg. IV, 65; Gesta
Dag. 24); im zweiten Fall (798) hat die Enttäuschung mit der Blendung
des jungen Kaisers Konstantirr VI. durch seine eigene Mutter Eirene zu
tun, was westlichen Gelehrte mit wohlbegründeter Indignation zur Beurteilung
als femineum imperium führte (Ann. Einh. 798; Ann. Mett. 798;
Ann. Laur. 801). Byzanz besaß damit einerseits eine prunkvolle materielle
Kultur – deren gemeinsame Wurzeln auch geschätzt wurden -, andererseits
ließen sich Abweichungen von christlichen Idealen erkennen, was
im Abendland bereits relativ früh konstatiert wurde: Schon unter Papst
Paul l. galten die Byzantiner (und nicht nur die Ikonoklasten) als nejandissimi
Graeci, inimici sanctae Dei ecclesiae et orthodoxae fidei expugnatores
(Cod. Car. 30: Jaffe 2357).
115
The Transmission of News in the Period of the Crusades
SOPHIA MENACHE, HAIFA
What informed the character and essence of „news“ in the Middle Ages?
What were the boundaries, if any, between „news“ and information prior
to the era of print? In order to understand the peculiar input of medieval
communication, the process of communication today may serve as a term
of reference. The growing demand for news and its broadcasting throughout
the whole „global village“ should be related to the development of a
worldwide economy and, in parallel, the more sophisticated exigencies of
modern bureaucracies. The need for reliability and speed of news in the
twentieth century is thus basically dictated by the socio-political nature of
the market, which can hardly allow for any margin of misinformation. On
the social level as well, what may be regarded as the „news syndrome“ is
meant to fulfill a lack of concrete human relations in urban conglomerates.
In the Middle Ages, by contrast, feudalism resulted in the intense localization
of economic life; though toward the thirteenth century it gradually
lost its autarchic nature, the medieval economy continued to be affected
by the fragmentation of the political body. On the other hand, most people
were active partners both economically and socially in the traditional
society, whether in the framework of the extended family, the manor, the
village, the guild, or the fraternity. Although news still fed the natural
curiosity of people for the bizarre and the unknown, its role in this society
was rather marginal.
In the late eleventh century, therefore, European society had not yet
developed communication systems beyond elementary, archaic contacts at
the political and commercial levels. Conversely, the colonial character of
Crusader society made it imperative to find the most efficient transmission
of news between Europe and the Levant. It is the thesis of this study
that the Crusader kingdoms fostered a new socio-political reality in which
efficient communication systems played a crucial role in both the internal
and the external spheres with regard to Europe, but to North Africa and
the Levant, as well. As such, the Crusader period presents all the characteristics
of a transitional stage, in which old communication channels
116
acquired a new meaning but were not yet replaced by more sophisticated
techniques of transmission.
The emergence of the Latin kingdoms made the transmission of information
more difficult, since communications were no Ionger restricted
to the Continent but included wide areas overseas, as well. The Christian
strongholds in the Levant constantly demanded fluent communication
along both shores of the Mediterranean. European society was thus
confronted, for the first time in medieval history, with the imperative to
assure contact with its many sons who had undertaken the Crusader vow
and departed to liberate the Holy Sepulchre. The new communicational
reality, moreover, included not only Crusaders but Eastern Christians,
the Byzantine Empire, and the Moslems and Islam, as well. The human
factor thus imposed additional difficulties on the geographical distances,
since the knowledge possessed by the average „Westerner“ about foreign
cultures in general at that time was almost nil; nor, reciprocally, was the
Moslems‘ information about Christians and the West much better. The
cultural gap between West and East permeated all aspects of daily life and
produced differing perceptions of the historical process. To mention one
example, the conquest of Jerusalem on 15 August 1099, according to the
Christian calendar, was registered in the years 6607 and 493, respectively,
in the Byzantine and Moslem calendars, the chronological gap reflecting
mental structures that were not only different but also antagonistic in
many aspects. The obvious question that arises relates to the communication
channels that were available at the end of the eleventh century.
No less important is the question of the capability of European society to
bridge, in addition to geographical distances, the cultural, political and
socio-economic gaps that existed. In other words, Christendom was now
faced with the added challenge of finding „the meeting point“ with Islam
and Byzantium; that is, opening up channels of communication not only
with its own sons overseas but with Moslem and Byzantine societies, as
well. Furthermore, the survival of the Christian states in the Latin East
was significantly affected by their success in maintaining fluent, reliable
communication with the Continent, which remained their major supplier
of logistical assistance in terms of foodstuffs, war materials and manpower.
The Crusader kingdoms thus fostered a new communicational reality,
whose requirements advanced European society far beyond the limitations
of the feudal regime or the intermittent nature of the commercial links
developed up to then. Against the localism that was inherent in feu-
1 1 7
dal practice, a growing number of Europeans between the eleventh and
the thirteenth centuries moved between Continent and Levant; their offices
– as in the case of princes, prelates, members of Military Orders and
merchants – further required a constant exchange of information between
distant areas. It should be noted that the growing need for an effective
communication system responded not only to geographical distance but
also to the accelerated pace of social change in the West and to the almost
complete dependence of the Grusader kingdoms on Europe. For its part,
too, Western Christendom displayed an identification with and a solidarity
of feelings toward the Christian strongholds in the Holy Land ( at least
throughout the twelfth century). Although the technical level of transmission
remained very archaic, the historical context fastered the development
of a new awareness of the importance of the accuracy and efficiency of information
transmission. This mixture of new and old patterns justifies an
approach to the Grusader period as a transitionary stage in the history of
communication, the Grusades themselves being an important catalyst for
further development. In many aspects, they form a prelude to the first
seeds of the „communication revolution“ fastered three centuries later by
print.
1 1 8
Impediments to the Transmission of the Cultural Influence
of Islam to Western Europe in the Middle Ages
NORMAN DANIEL, TORONTO (t)
We must either identify the particular impulse that elicits intercultural
activity in a society or else explain why there is none. There was little
innovative movement and no sustained external outlook in Europe during
the first four Muslim centuries. There was considerable knowledge of lslam,
but no sufficient interest.
However we evaluate Pirenne’s dassie thesis, the Arabs controlled the
Mediterranean. The European elite was so small that existing trade could
meet its needs and there was enough war at home to satisfy those who had
an interest in it. Our modern society is based on the constant raising of
expectation, but Europeans then had neither the consumer experience nor
the expectation. The use of ‚pagan‘ for ‚Muslim‘ in the chansans de geste
and elsewhere arose from an early failure to distinguish Arab invaders from
Vikings and others. The word ‚Saracen‘ is ethnic in origin and acquired the
sense of ‚Muslim‘ by extension. There were few contacts with Arabs (the
Cordova martyrs, coastal raiders, occasional embassies) and they pointed
forward to Grusade rather than cultural exchange.
When Europe did turn outwards with armed aggression, increased
trade, higher productivity and wider interests, Islam, now perceived as a
serious rival, becam the object of acrimonious scrutiny, and yet was still
treated defensively. There is a dose likeness throughout the entire corpus
of this literature and European thinkers were tied to an infrangible,
cumulative and hereditary stockpile of opinions. It is likely that poleinie
was meant to confirm the faith of Christians rather than persuade Muslims.
This links in continuity the earlier legends of Muhammad (Eulogius,
Ernbrico, Walter of Compiegne, Hugh of Fleury) to the later more sophisticated
and better informed writers, Peter the Venerable, the Koran
translators and the Dominican and other scholastics, intelligible to a new
dass of derics.
Polernic became increasingly deliberate and pervasive. The apprehension
of ‚the other‘ was cemented by emotion. Societies generally do not
119
want to form a useful concept of any different and rival culture. Social
identity is jealous, and ideology protects itself. Canon law tried to isolate
Christians from Muslims in Europe and overseas. As the war faded,
the unrelenting character of Crusading thought is illustrated by the plans
for battle drawn up by Fidenzio, and for colonisation by Dubois, even
the praise of Muslims by Riccoldo and la Brocquiere. Encyclopaedists
like Vincent de Beauvais and annalists analogous to modern investigative
journalists inevitably included some of the available polemic.
One way to measure the animosity is to compare travellers beyond Islam
with those within its boundaries. Marco Polo has no polemic. William
of Ruhruck sometimes speaks like the priest and envoy, but more often, as
de templis eorum et ydolis et qualiter se habent in officiis deorum suorum
like an anthropologist recording points of interest. He works with Armenians
and Nestorians, where Riccoldo disputed with them in the same way
as he says he did with Muslims. The Far Bastern travellers broke the rational,
biased, emotional pattern of thinking about ‚Saracens‘. A strongly
held ideology protects itself. Yet an aggressive society is not always culturally
destructive, witness, in modern imperial times, Sir William Jones
and his colleagues in Bengal. The current ideal of ‚objectivity‘, with all
its cultural deficiencies, originated with the scholastics.
The medieval rejection of Islamic religion did not touch other subjects,
but the literary infl.uence of Arabic has been slight. It was felt to be
culturally oppressive by Alvarus (9th century) but Mozarabs acculturated
successfully. On European languages there was some infl.uence in the Middle
Ages (Peter Alfonso, Proven<;al verse, Alfonso the Learned) ; nothing
was unquestionably successful till Galland ’s 1001 Nights (late 17th century)
and that was a popular oral narration, strictly not literatme at all;
classical poetry found few readers and there has never been a taste for the
Koran.
There may have been acknowledged infl.uences. The laws of Crusade
and jihad are probably a case of ‚connvergent evolution‘, as I think are the
unacknowledged infl.uences suspected by George Maqdisi. Cf. also Gardet’s
and Anawati’s Introduction a la theologie musulmane.
Although essential Islam was excluded, science was always admitted,
and in all ages has been ‚culture transferable‘. The transmission of scientific
translations was painless (Adelard of Bath, Hugh of Santalla, Daniel
of Morley, Hermann of Carinthia). Muslim and ‚pagan‘ philosophers were
120
grouped together (Roger Bacon, Aquinas, Dante). Averroism was contrary
to both religions.
There is no frontier at which modern technological communication
stops. Radio is ‚culture free‘ but a world broadcast like CNN from Atlanta
is ‚culture bound‘ to its place of origin. Consumerdom is and always
has been intercultural. The impediments to cultural transmission now,
in our society, with its uncertain beliefs, are still basically what they once
were in a more coherent world: psychological and sociological factors, such
as inherited habit and historical accident, are apt to be most active in
ideology, and least in the transmission of techniques.
121
Angewandtes Rechnen in der islamischen Welt
und dessen Einflüsse auf das Abendland
ULRICH REBSTOCK, TÜBINGEN
Die Einflußnahme der orientalischen Wissenschaften auf ihre europäischen
Gegenstücke ist ein ideologiegeschichtlich besetztes Thema. War man im
Rahmen des Humanistenstreits bis ins 18. Jahrhundert hinein noch damit
beschäftigt, die reinen griechischen Quellen vom ‚ranzigen und übelriechenden
Einfluß der Araber‘ zu reinigen1 , richtete erst das evolutionistische
Interesse des 19. Jahrhunderts sein Augenmerk auf Herkunft, Weitergabe
und Fortentwicklung wissenschaftlicher Leistungen im gedachten Kontinuum
der menschlichen Kulturgeschichte.
Für den Anfang der Geschichte der Mathematik und ihrer arabischislamischen
Beiträge haben zwei Namen eine geradezu repräsentative Bedeutung:
Frederic Rosen 1831 mit seiner ersten vollständigen, nicht-lateinischen
Übersetzung der bedeutendsten arabischen Quelle des Abendlandes,
der Algebra von al-ijuwärizmr und Franz Woepcke in den 60er Jahren mit
seinen breiten und vergleichenden Studien eines guten Dutzends arabischer
Original werke.
Das Jahrhundert, das folgte, hat erstaunlich wenig zu einer Verbreiterung
der Quellenbasis beigetragen – vielleicht mit Ausnahme des auch
heute noch vielfach unterschätzten Schaffens von Eilhardt Wiedemann.
Erst während der letzten Jahrzehnte hat die immense Editionstätigkeit
hauptsächlich arabischer Mathematikhistoriker komparatistischen und historischen
Studien eine neue Dimension verliehen. In der Kulturkampfatmosphäre
der ‚Orientalismus‘-Diskussion wurde nun damit hauptsächlich
Innovationsgeschichte getrieben. Die Untersuchung weniger spektakulärer
Leistungen arabischer Mathematiker, ihrer Rolle für die Entwicklung der
1 Im Vorwort der Paradozoru.m Medicinae libri tre3 (Basileae 1535) von Leonhard Fuchs
(1501-1566 ), übers. in Felix Klein-Franke, Die Klassische Antike in der Tradition des
Islam. Darmstadt 1980, 35. Moderater, aber noch im selben Geist, äußerte sich der
Literaturgeschichtler Pierre Daniel Huet (1630-1721), vgl. dazu Klein-Franke, ibid. 67
ff.
122
islamischen Kultur und Gesellschaft und die – wie zu zeigen versucht wird
– durchaus berechtigte Frage nach ihrem Transfer ins abendländische Europa
mußte in diesem Millieu von zweitrangiger Bedeutung bleiben.
Zwar hat schon Daoud Kasir 1931 auf das besondere Verhältnis der
arabischen Mathematik zur gesellschaftlichen Praxis hingewiesen 2 . Der
Hinweis blieb jedoch eine Randbemerkung beim Versuch, die griechische
Mathematik von ihren Erben abzusetzen. Erst vor einigen Jahren beschäftigte
sich der Mathematikhistoriker und Mesopotamist Jens Hoyrup erneut
und intensiv mit dieser Unterscheidung. Seine These der ‚beiden Wunder‘,
des griechischen und des arabischen, werde ich als einen Ausgangspunkt
meiner Überlegungen benutzen3 . Mit dem griechischen Wunder bezeichnet
Hoyrup das Hervorbringen einer ‚wissenschaftlichen‘ Mathematik – scientific
mathematics nennt er sie – die, getragen von einer bestimmten und
weitgehend isolierten Gelehrtengruppe eine problemorientierte und vom
Alltagswissen und -bedarf losgelöste wissenschaftliche Tradition in Gang
setzte. Die überall – zwischen China, Ägypten und Europa – existente voroder
genauer ’subwissenschaftliche‘ Mathematik – subscientific mathematics
-, die ubiquitäre Entstehung und Fusionsbereitschaft gleichermaßen
auszeichnet, blieb davon unberührt. Das ‚islamische Wunder‘ bedeutete
die Infusion der von den Arabern rezipierten wissenschaftlichen Mathematik
in die subwissenschaftlichen Techniken und Traditionen.
Der islamische isäb, als welcher die Mathematik im Wissenschaftskanon
internalisiert und ‚islamisiert‘ wird, entwickelt nun ab dem 10. Jahrhundert
eine Reihe von praktischen Zweigen, in denen beide Traditionen
weitergepflegt und verschmolzen werden. Für die Frage ihrer möglichen
Befruchtung der abendländischen Mathematik ergeben sich daraus methodische
Probleme.
Wegen ihrer breiten Diffusion in der alten Welt ist der Wirkungsgeschichte
der subwissenschaftlichen Mathematik mit chronologischen Abhängigkeiten
nicht beizukommen. Andererseits mußte die islamische Mathematik
– soweit sie nicht arabisiertes griechisches Wissen war – auf
Rezeptionsschwierigkeiten im christlichen Abendland stoßen. Dort waren
arabische Arithmetik, Algebra und Geometrie im 12. Jahrhundert durch
lateinische Übersetzungen in klerikalen Kreisen bekannt geworden. Die
2 S. Daoud Kasir, The Algebra of Omar Khayyam. New York 1931, 18.
3 Jens Hoyrup, The Formation of Islamic Mathematics. Sources and Condition. In:
Science in Context 1:2 (1987 ) 281-329, 282 ff.
123
scholastische Lehrtradition isolierte aber die neuen Kenntnisse, vor allem
das Rechnen mit Dezimalziffern, weitgehend. Der entscheidende Impuls,
diese Isolation aufzuheben, kam aus den mit dem Orient eng verbundenen
oheritalienischen Stadtstaaten und Sizilien, verkörpert in der Person des
Leonardo von Pisa und seinem Liber abaci {‚1202, 21228).
Die Quellen für die Mathematik Leonardos sind größtenteils unbekannt.
Ihre Wirkungen auf die Rechenkünste in Konstantinopel, Florenz
und – zwei Jahrhunderte später – in Regensburg, Nürnberg und Leipzig
sind unübersehbar, aber selten mit philologischen Mitteln beweisbar.
In Byzanz treten sie Hand in Hand mit direkten arabischen, vielleicht
auch persischen Einflüssen auf. In Oberitalien pragmatisieren die maestri
d ‚abaco seine Arithmetik für die Bedürfnisse in Okonomie und Verwaltung.
Und im süddeutschen Raum des 15. Jahrhunderts, wo sozialökonomische
Entwicklungen eine strukturelle Veränderung der Wissensvermittlung bewirkt
hatten, konnte die lateinische Mathematiklehre mit einer merkantilen
Rechenkunst in Berührung kommen, in welcher viele Erbstücke des
Liber abaci wieder auftauchten. Die Rechenbücher der ‚ Deutschen Cossisten‘
kreieren mit den solcherart amalgierten Lehrinhalten eine praktische
Rechenkunst, die in ihrer Form, ihrem Niveau und ihrer Orientation große
Ähnlichkeit mit der arabischen mu ‚ämalät-Literatur aufweist.
Die Erklärung für die zeitverschobene islamische und abendländische
Genese einer gesellschaftlich anerkannten praktischen Rechenkunst muß
die Komplexität der damit verbundenen Prozesse berücksichtigen. Aber
sie kann nicht die inhaltlichen und begrifflichen Gemeinsamkeiten ignorieren,
die beide verbinden. Ausgewählte Beispiele sollen diese Gemeinsamkeiten
hervorheben und versuchen zu zeigen, wie die islamische Rechenkunst
auf verdeckte und indirekte Weise Einfluß auf die Entstehung ihres
abendländischen Pendants genommen hat.
124
Astronomical Instruments between East and West
DAVID A . KING, FRANKFURT AM MAIN
Over one thousand astronomical instruments of one sort or another, including
astrolabes, quadrants and sundials, survive from the Middle Ages
(here generously defined as lasting until 1900 for the Islamic world and to
ca 1550 for Europe) . They represent but a small fraction of the instruments
that were actually made, but nevertheless they bear witness to the
scientific knowledge and interests of the widely-varying societies in which
they were produced.
An astrolabe is a model of the universe which one can hold in ones
hands; its heavenly features include a star-map, and its terrestrial features
serve specific latitudes or localities. The principal function of the astrolabe
is to provide a two-dimensional image of the sky as it would be seen
in a given location at any specific time. It has obvious applications in
timekeeping and astrology. Quadrants are mainly for timekeeping or for
calculation. Sundials enable the user to reckon time from the position of
the shadow cast by a gnomon.
Now the state of documentation of these important historical sources
can only be regarded as catastrophic. The monumental survey of astrolabes
by R. T. Gunther (Oxford, 1932), still the standard work, is long
out of date, and its numerous errors have never been corrected. It features
but one-quarter of the astrolabes now known. There are no surveys
at all of medieval quadrants or sundials. Some of the major collections
of historical instruments (in Oxford, London, Greenwich, Paris, Florence,
Nuremberg, Munich, Chicago, Istanbul and Cairo) are still uncatalogued
or without an adequate catalogue, and many of the most historically significant
and technologically spectacular pieces are unpublished. Individual
instruments have with few exceptions not received the attention and
respect they deserve, which, I would claim, is akin to that merited by
manuscripts. The surviving corpus of instruments constitutes a mine of
information on medieval astronomy, mathematics, geography, calendrics
and religious practices, calligraphy, and technology. In addition, many instruments
are objects of beauty, although they are persistently overlooked
125
by historians of metalwork and historians of art. Some instruments deserve
to be published in the minutest detail; others merit at least comparison
with others from the same workshop.
When an astrolabe is published by some aficionado, inevitably in isolation,
the author invariably feels a need to explain what an astrolabe is
(as I have just clone) . But very few publications move on to the next step,
to compare two or more instruments from the same workshop. The field
is such that we do not have comparative studies of any single group of
instruments of related provenance. Thus, for example, there is no survey
of early Islamic astrolabes, nor of Italian or French or German astrolabes,
let alone of European quadrants or sundials. This is also a field in which
amateurs have free rein, often with disastrous consequences. Yet at least
amateurs know how to appreciate an astrolabe or a sundial; most moderns,
including most medievalists, have not a clue what an astrolabe is.
In an attempt to remedy this situation I have begun to prepare a
critical catalogue of all surviving „medieval“ instruments. A large proportion
of the earliest instruments (up to ca 1500) have now been inspected
at first hand. Also the related contemporary textual traditions are being
consulted. The preparation of the „Mother of Catalogues“ , as it is affectionately
known, has already revealed a great deal of new information
on medieval instrumentation. The first phase of the project ( 1989-1992)
produced a preliminary draft of about 3000 pages; the second phase ( 1992-
1994), funded by the German Research Organization, will attempt to move
closer to the first goal, namely, to produce a publishable version for the
earliest instruments (Islamic and European, to ca 1500). Progress is hampered
by the fact that many museums are incapable of producing even the
most commonplace of photographs, and such pictures often fail to reveal
some of the most important features anyway.
There is no substitute for a direct examination of the actual instrument,
but in some cases the descriptions will have to be published without
illustrations; they therefore need to be appropriately detailed. Star-names,
geographical latitudes and localities, variants for names of zodiacal signs
and month-names – all these need to be recorded and indexed. The starnames
featured on instruments provide a vast corpus of data extending
far beyond that in the manuscript tradition so laboriously documented
by Prof. Paul Kunitzsch of Munich. Unusual Latin or vernacular monthnames
have already served to identify the provenance of several items.
Numeral forms, calligraphy, special artistic features – all these need to be
126
recorded and documented in graphic indexes. When this is done there will
be material in plenty for amateurs and professionals alike.
In this paper some instruments of particular historical interest will be
discussed in an attempt to draw attention to the wealth of information
which they can reveal. These instruments further provide a remarkable
example of transmission of ideas within the framework of this Symposium:
– They are mainly Greek in origin (the quadrant, however, was an Islamic
invention).
– They reached their zenith in the world of Islam from the tenth to the
fourteenth century.
– The basic instruments, devoid of most ofthe Muslim innovations, were
transmitted piecemeal to Europe in the tenth century.
– The art of instrumentation recovered slowly in Europe during the later
Middle Ages and Renaissance.
– After the fifteenth century instrumentation languished in the Islamic
world, although in some regions (mainly Persia, India and the Maghrib)
competently-made and often highly ornate astrolabes were still
produced.
– Individual pieces often reveal complicated histories: Islamic instruments
with additions or replacement parts by Europeans or by Indians
(in Sanskrit); European instruments with additions or replacement
parts by Muslims. (Thus, for example, we can point to an
early-thirteenth-century astrolabe from Seville with a replacement
rete made in Louvain in the late sixteenth century; an early-fourteenth-
century Maghribi astrolabe with a replacement plate made by
a Syrian astronomer a few decades later, and an Ottoman rete from
about 1800; or an early-fifteenth-century astrolabe made in Paris with
additional markings by an Egyptian ca 1800.)
– In some cases it was not until the sixteenth or even the seventeenth
century that European instruments reached the same level of sophistication
that Islamic astronomical instruments had achieved in the
tenth and eleventh centuries.
The sole surviving astrolabe with Greek inscriptions, dated 1062, has previously
been described as exhibiting Islamic influence on the one hand,
and devoid of Islamic influence on the other. The „Islamic“ components
on this Byzantine piece represent later additions, but the original instru-
127
ment nevertheless shows considerable development over the astrolabe as
described in surviving Greek texts.
Various early lslamic astrolabes refiect the innovations to the „standard“
astrolabe that were effected by astronomers in Baghdad in the ninth
and tenth century. A spectacular (unpublished) piece from the late tenth
century constructed by a leading astronomer, al-Khujand!, shows the sophistication
in instrumentation in the Islamic East at that time. Various
later Islamic instruments will be shown to identify the major schools of
the East and to show that the importance of the instruments far exceeds
the boundaries of the history of science. A twelfth-century Syrian astrolabe
ith a rete decorated with circus figures, also unpublished, has
star-positions which correspond to about the year 600. What is its relation
to contemporaneous decorative art, and why are the star positions
so outdated? A fourteenth-century Tunisian sundial, on the other hand,
holds the key to the question why there are five prayers in Islam and why
their times are astronomically defined. A cartographic plate from Isfahan
ca 1700 enables the user to read the direction of Mecca for any locality
directly from a scale around the map. It represents the culmination of
practical cartography for religious purposes.
Partienlady important for our knowledge of the transmission of the
astrolabe to Europe through Spain are the earliest Andalusian instruments
and the earliest surviving European astrolabes of the Hispano-Mauresque
variety. Now the earliest surviving European astrolabe, a singularly important
piece known as the „Carolingian astrolabe“ and dating probably
from the tenth century, has been compared for the first time with these
Hispano-Mauresque and other early European instruments. lt emerges
that there was a completely independent line of transmission of the astrolabe
to Europe.
Examples of instruments from various European schools which developed
in the fourteenth and fifteenth centuries in the Po Valley, Paris,
Nurernberg and Vienna have now been gathered, and their critical analysis
is in progress. We also have some Islamic instruments that were later modified
in Catalonia, ltaly and Germany, and last but not least, French and
Dutch instruments which were modified in the eighteenth and nineteenth
century by Muslim craftsmen.
New findings and shattered myths abound. (The present summary
is indicative of what he would like to present to colleagues if time and
their patience were not a consideration.) For example, an illustration in
128
a fourteenth-century German treatise on the astrolabe reveals that contemporaneous
German retes had a form not attested on any surviving instrument.
A French astrolabe from about 1400 with a rete in art nouveau
style proves that we know a lot less about French astrolabe construction
than anyone has ever cared to admit. An astrolabe featured in an intarsia
in the study of Archduke Ferdinand of Urbino can be identified with
a surviving instrument, which can be independently shown to have been
in Urbino. A fifteenth-century German astrolabe now in Nurernberg and
supposedly from the legacy of Regiomontanus can be shown to have been
in Paris about 1600. An astrolabe from about 1700 with Armenian inscriptions
attests to the fact that its maker sojourned in the Netherlands,
but its rete preserves for us a medieval Dutch design not attested on any
European instrument.
Consider two astrolabes with inscriptions composed in the first person.
The earlier one comes from late-fourteenth-century Picardy and bears
a later dedication ( . . . me dono dedit . . . ) by the Benedictine monk Berselius
of Liege dated 1522. It is unique amongst medieval astrolabes in that its
scales are Iabelied in numeral ciphers rather than the old-fashioned Roman
numerals or the „new“ Hindu-Arabic ones. These ciphers were introduced
by monks in the thirteenth century as an alternative to the Roman numerals,
and they were used for representing numbers in foliation, lists,
indexes, Easter tables, dates and musical notation. The earliest variety is
reported by Matthew Paris to have been brought from Athens by John of
Basingstoke (d. 1252). Figures with the same shape, used alphabetically,
are indeed attested in Greek shorthand, but from the fourth century B. C.
The development of the numeral ciphers in medieval Europe is paralleled
by their röle in medieval and early Renaissance shorthands and coded
scripts.
The second piece is an astrolabe dedicated by Regiomontanus to his
patron Bessarion in 1462 ( . . . surgo I oannis opvs . . . ). Thought by some colleagues
to be a fake because it was so similar to early sixteenth-century
German astrolabes, it can now be shown to be one of ten – all unpublished
– from the same workshop and period. With its Renaissance numeral
forms, ltalian script and elegant design, it has, with some justification,
been called „the first scientific instrument of the Renaissance“ . But German
astrolabes of the first half of the sixteenth century are in a sense still
medieval: their design is based on those of the „Regiomontanus“ school,
and even their star-positions are taken from Regiomontanus. Certainly the
129
European astronomical instruments of the Renaissance cannot be properly
understood unless the medieval instruments are studied first.
All instruments can speak to us if we are prepared to listen. And they
constitute an untapped source for history of man’s preoccupation with his
celestial environment and his attempts to understand it. But first we need
access to the basic information on each available instrument.
130
The Imperfect Transmission
of Arab Agricultural Innovations into Christian Europe
ANDREW M. WATSON, TORONTO
This paper addresses the broad question of when and how technologies,
ideas and cultural artifacts are transmitted from one society to another. It
uses as a case study the new crops and farming techniques introduced from
the eastern parts of the Islamic world into Muslim Spain and Sicily. These,
by and large, failed to move into Christian Europe and nearly disappeared
from Spain and Sicily after the Christian reconquest. The paper argues
that mere contact does not ensure diffusion, even of technologies which are
in some sense „superior“ . Other conditions must be satisfied.
The early sections of the paper describe the agricultural innovations
introduced into Spain and Sicily by the Arab conquerors. These include
a great many new crops, some of considerable economic importance, such
as rice, sorghum, hard wheat, sugar cane, cotton, sour oranges, lemons,
limes, bananas, watermelons, spinach, artichokes, colocasia and eggplants.
But these new crops could not be grown without other innovations: in
soil and water management. And they were accompanied by new, more
intensive rotations which required further improvements in the use of soil
and water. The paper then traces the very slow and selective diffusion
of these innovations into Christian Europe, and their near disappearance
from Spain and Sicily after the Christian reconquest.
What were the reasons for the poor receptivity of Christian Europe?
Climate, although it did place a northern limit on the diffusion of all the
new crops, does not seem to have been a significant constraint. Instead
differences in the social and econornic contexts of the two worlds – Islarnic
and Christian – seem to have been critical. Amongst the social and econornic
variables considered are the following: population densities, size of
cities, degree of monetization of the economy, and differences in agricultural
traditions. It will be argued, for instance, that the relatively low
population density of Europe, and particularly of reconquered Spain and
Sicily, made it unnecessary and uneconomic to adopt intensive systems of
131
agriculture; that the small size of European cities and the relatively unmonetized
economy of most of rural Europe resulted in little pressure to
commercialize agriculture; and that the agricultural traditions of medieval
Europe, which stressed self-sufficiency, mixed farming (with a heavy emphasis
on grains and animals), and diffused proprietory rights over land,
were also hostile to the Arab innovations.
Also important are the failure of peasants from Muslim Spain and
Sicily to migrate into Christian Europe – taking with them their skills – and
the near disappearance of these peasants after the reconquest. Whether
there was a strong cultural aversion in Christian Europe to Muslim diets
and technologies is also considered.
The paper concludes that agricultural – and no doubt other – technologies
are most readily diffused when the sending and receiving societies
have similar economic, social and agricultural systems. Where there are
very large differences in systems only those technologies which offer very
great advantages will cross cultural barriers, and usually only after long
delays.
132
Die Vorgeschichte der Nürnberger Nadelwaldsaat
von 1368 – iberisch-islamische Überlieferung
antiker Forstkultur
WOLFGANG VON STROMER, NÜRNBERG
An Ostern 1368 begann der Nürnberger Ratsherr Peter Stromeir, großer
Montanunternehmer und Chef des Handelshauses Stromeir, in den Nürnberger
Reichswäldern bei Lichtenhof, Wald anzusäen. Ulman Stromeir
berichtete um 1385 in seinem „Püchel“ stolz von dieser „Erfindung“ seines
Bruders Peter, der bis zu seinem Tode im Jahr 1388 Hunderte von Morgen
Land vor allem mit Tannen und Kiefern erfolgreich ansäte. Die Nürnberger
Nadelwald-Saattechnik, die die Nachkommen des Erfinders fortführten und
verbesserten, etwa durch die Saat alpiner Lärchen ab 1485, verwandelte die
lichten Auenwälder um Nürnberg in dichten Nadel-Hochwald und sicherte
damit den weltberühmten Nürnberger Gewerben die Rohstoffversorgung
mit Holz und Holzkohle. Ab 1423 wurde die Nadelwald-Saattechnik, deren
Geheimnisse die Nürnberger viele Generationen zu wahren wußten,
durch Nürnberger „Tannensäer“ und mit Nürnberger Samen weithin über
Mitteleuropa verbreitet, vor allem in den Montanrevieren, von den Karpaten
bis zum Schwarzwald, von den Alpenländern bis zur Nordsee. Ein
entscheidender Fortschritt in den sonst so konservativen Techniken der
Urproduktion war damit errungen. Bis heute beruhen alle Nadelholzforste
der gemäßigten, also der höchstindustrialisierten Klimazone auf den
Prinzipien der Koniferen-Saat Peter Stromeirs.
Der hohe Stand der sehr komplizierten Samen-Gewinnungs- und SaatTechnik,
der offenbar noch in der Generation des Erfinders erreicht wurde,
drängt die Vermutung auf, daß Peter Stromeir seine Versuche nicht spontan
unternahm. Die Mutter der Erfindung war auch hier die Not, nämlich
die Montanbetriebe und Metallgewerbe des Nürnberg-Oberpfälzer „Ruhrgebiets
des Mittelalters“ mit Holz und Holzkohle zu versorgen, insbesondere
die Eisenhämmer und Schmelzhütten des Handelshauses Stromeir.
Schon seit 1309 war man in Nürberg daran, den spürbar werdenden Mangel
zu steuern. Die Idee, Wald nicht nur zu hegen, sondern ihn durch Saat
133
aufzuforsten, „lag in der Luft“. Woher aber nahm Peter Stromeir seine
Idee?
Ein Halbjahrtausend zurück sollte der Plan des Klosters St. Gallen aus
den Jahren 820/830 nach der Reproduktion seines ersten Herausgebers von
1844, Ferdinand Keller, im Klostergarten – und dort also durch Pflanzung
oder gar aus Samen gezogen – zwischen sieben verschiedenen Obstbäumen
auch eine pinus enthalten. Dieser Musterplan, den aufgeführten Pflanzenarten
nach offensichtlich nach mediterranen Vorbildern erstellt, führt die
Bäume in genau derselben Reihe an, wie das auf aquitanische Verhältnisse
ausgerichtete Capitulare de villis. Neueste Untersuchungen aber ergaben,
daß der St. Galler Plan das Wort pinus niemals enthielt, vielmehr hat es
Keller im Jahr 1844 eben wegen jener Analogie zum Capitulare de villis
hineinin terpoliert.
Dagegen berichtet aus der Mittelmeerwelt das 5. Buch der um 1304/09
verfaßten Ruralium commodorum libri XII des Bologneser Petrus de Crescentiis
de arboribus et de natura et utilitate fructuum ipsarum von der
Saat der Pinie aus ihren eßbaren Nüßchen nach Art der Getreidesaat. Sehr
wahrscheinlich kannte Peter Stromeir Crescentius Werk und es liegt nahe,
daß er aus ihm auch Anregungen für seine Fortkulturversuche empfing.
Jedoch hielt sich Crescentius nicht nur an das überkommene mittelalterliche
Denkschema, sondern er beginnt das 7. Buch über die arbores
non fructiferae mit der Feststellung: Abies piella et arexe quasi eedem arbares
sunt, n o n enim coluntur . . . et omnes miro modo directe in altum
extolluntur.
Angeblich soll der Abt Flammini des Zisterzienserklosters Val1ombrosa
bei Florenz schon um 1350 Waldkultur-Vorschriften für die Klosterwälder
verfaßt haben. Jedoch ist dort erstmals für 1629 die Pflanzung
von 3000 Tannen(-Setzlingen) nachweisbar. 1804 faßte der Abbate Luigi
Fornaini das dort überlieferte forstliche Wissen zusammen; „inutile cura
il seminare gli abeti … non staro qui a parlare del modo di sementare gli
abeti; in Val1ombrosa come nelle altre macchie della Toscana vi nascono
in a.bbonda.nza. sponta.nea.mente e senza veruna cultura. … “ !
George Sa.rton nannte 1947 in seiner „Introduction to the History of
Science“ das größte Ereignis in der Agrikultur des Mittelalters die Aufforstung
der Dünen von Leiria durch den portugiesischen König Dinis o
La.vra.dor, tl325, der berühmt ist durch die Gründung der Universität von
Lissa.bon-Coimbra.. Aus dem Holz des 9000 ha großen Kiefernwaldes von
Leiria. wurden die Flotten Heinrichs des Seefahrers, Vasco da Ga.mas und
134
Albuquerques gebaut. Jedoch muß es auffallen, daß die Waldsaat König
Dinis in Leiria erst in den portugiesischen Nationalepen des 16. Jahrhunderts
hervorgehoben ist, während die zeitgenössische Cr6nica de Don Dinis
(von Rui da Pina) nichts davon weiß!
Hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, denn über die iberische
Halbinsel führt die Idee der Waldsaat zurück zur Antike über maurischislamische
Uberlieferungen.
Um die Mitte des 14. Jahrhunderts wurde der berühmte Tratado de
Agricultura des Ibn Bassal al Tulaytuli aus dem Jahre 1 101/494 n. H. ins
Kastellanische übertragen. Just zu dieser Zeit nahm das Handelshaus Peter
Stromeirs den Handel mit der iberischen Halbinsel auf und ein Hennequinus
Estrumant/Heinz Stromeir war als jonglar (= Spielmann) Familiar
des Königs von Aragon und diente ihm auf Botschaften nac. Frankreich
und den Niederlanden. Ibn Bassal und seine kastellanisehe Ubersetzung
nun berichten in einem Kapitel habla de {p}llantar los arboles über es de
{pjllantar los pinones und ‚es de senbrar los pinos de los pinerones, es de
{pjllantar los t;ipreses: Toman las nueses de los t;ipreses grandes verdes . . . ,
sowie von der Pflanzung und Saat von Kastanien und anderen Bäumen.
Dabei stehen das Wissen und die Ausführungen Ibn Bassals, wie vielfach
nachweisbar, mit dem Kitab al falaha des Ibn al Awwam al Ibili, der sein
Buch der Landwirtschaft im 12. Jahrhundert gestützt auf die Uberlieferung
aus der Antike verfaßte, in lebhafter Wechselwirkung.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichte Chwolson „Die nabatä.ische
Landwirtschaft“ eines Ibn Wahsija, der behauptete, darin ein
Manuskript der Chaldäer ins Arabische übertragen zu haben, als erstes
bekanntes Zeugnis altbabylonischer Agrikultur. Doch die Kritik Alfred
v. Gutschmids und Th. Nöldekes ..z erpflückten die Argumente des Herausgebers
ebenso wie die anebliche Ubersetzung Ibn WahSijas und entlarvten
das Werk als islamische Uberlieferung und damit vermeintlich Ibn Wahsija
als Scharlatan. Damit schien das Buch abgetan und niemand nahm die
„nabatä.ische Landwirtschaft“ mehr ernst. Erst 1922 und 1928 griffen Wiedemann
und Plessner sie wieder auf. Plessner rehabilitierte den Autor, der
nur mehr um der Publicity willen die Herleitung von den Babyioniern behauptet
hatte, aber ein zutreffendes Bild der Landwirtschaft seiner Zeit –
um 930/318 n. H. – gegebn und weiterhin zahlreiche naturwissenschaftliche
und agrartechnische Uberlieferungen aus der Antike verwertet hatte.
Die Nabatä.ische Landwirtschaft berichtet – in einem in Leiden erhaltenen
Manuskript – in besonderen Abschnitten über sanawbar ( = Kiefer oder
135
Pinie), arz (= Zypresse). Ein ganzes Kapitel handelt über „Bäume, die
nichts ( d. h. keine Früchte) hervorbringen, außer Holz für Dinge, die man
daraus macht“ , d. h., die bekannten arbores non-fructiferae. Jeweils ist
dabei auch kurz die Pflanzung, Samen und Saat dieser Bäume erwähnt.
Die Unterscheidung zwischen arbores bonae und arbores malae kannte
schon die Bibel. Um das Jahr 300 v. Chr. glaubte Theophrast, daß Tanne
und Fichte für Anzucht in bebauten Gegenden nicht geeignet seien. So
kümmerten sich um die Kultur von Waldbäumen weder Säer noch Pflanzer.
Wenig später aber schrieb am 27. Dezember 256 v. Chr. Apollonios,
der Finanzminister König Ptolemaios II., seinem Gutsverwalter Zenon im
Fayum, er solle dort strobilon phyteusein, d. h. Nadelbäume, pflanzen und
zwar mindestens 300 Bäume im Park, um den Weinberg und um den Olivenhain,
denn sie wären schön und für den König nützlich. Daß er dem
Mangel an Bauholz damit abhelfen oder Zimmerholz zum Schiffsbau ziehen
wollte – wie Edgars und William Tarn angaben – erwähnt der ZenonPapyrus
Nr. 95/59157 nicht, doch liegt ein solcher Schluß nahe.
Von keiner der genannten Quellen und Überlieferungen ist es bezeugt
oder schlüssig zu belegen, daß sie auf Peter Stromeirs Kulturversuche
von 1368 direkt einwirkten. Eine Kenntnis von Crescentius Werk, das in
seinem Umkreis mehrfach vorhanden war, ist jedoch hochwahrscheinlich.
Auch eine Berührung mit der iberisch-maurisch-islamischen Überlieferung
scheint uns nicht unwahrscheinlich. Diese wie Crescentius führen die Idee
auf das Gedankengut und die natur- und agrarwissenschaftliehen Kenntnisse
der antiken Mittelmeerwelt zurück. Die durchführbare Erfindung
aber und ihre aus der Praxis des europäischen Forstwesens der folgenden
Jahrhunderte nicht wegzudenkenden Erfolge waren das alleinige Verdienst
Stromeirs und der Nürnberger Forstleute.
136
Waffen und Gesellschaft im spätmittelalterlichen Ägypten
ULRICH HAARMAJ’\N, FREIBURG
Das vielschichtige Verhältnis der spätmittelalterlichen ägyptischen Gesellschaft
zu Waffen soll in diesem Referat kurz vorgestellt werden.
Allein die fremdstämmige mamlukische – turko-tscherkessische – Elite
war befugt, – jedenfalls außerhalb der Häuser – Waffen zu tragen und
sich hoch zu Roß zu bewegen. Dieser Elitestatus korrelierte mit der Neigung,
die traditionellen mamlukischen Ausbildungstechniken, die sich im
13. Jahrhundert im Kampf gegen die Mongolen bewährt hatten, auch
während der zwei folgenden Jahrhunderte nicht ernsthaft in Frage zu stellen,
und sich militärtechnischen Neuerungen zu versagen, die ohne den
ritterlichen Zweikampf, die direkte Konfrontation der Reitersoldaten, auskamen.
Auch das mittelalterliche Buropa kennt Parallelen zu dieser Verweigerungshaltung.
Feuerwaffen wurden, von der Belagerungsartillerie abgesehen,
verschmäht bzw. so spät und unorganisch in die mamlukische
Kampftechnik übernommen, daß die Osmanen in ihrem Feldzug gegen das
Mamlukensultanat 1516/17 ein vergleichsweise leichtes Spiel hatten.
Zu diesem Themenk.?mplex stehen uns unterschledliche Quellengattungen
zur Verfügung. Uber die ritterlich-kämpferische Ausbildung der
jungen Mamluken informieren nicht nur spezielle furüsiyya-Traktate, sondern
auch Passagen in topographischen (al-Maqrizis llitat) und historischen
Werken (u. a. Abü ämids Türkenepistel); besonders detachlert,
unvoreingenommen und deshalb aussagekräftig sind die Bemerkungen europäischer
Reisender (wie z. B. Surianos) zu diesem Thema. In arabischer
und türkisch/kiptschakischer Sprache stehen Traktate zu Waffenkunst
und Hippologie zur Verfügung, von denen einige wenige bereits näher
untersucht worden sind (z. B. ‚faybugäs Schrift über das Bogenschießen),
z. T. auch wegen der in ihnen enthaltenen Skizzen über Turnierfiguren und
Kampfhaltungen das Interesse der Kunstgeschichte auf sich gezogen haben.
Ein übergeordnetes Problem ist in dieser Literatur, die sich zwischen
beschriebener Herrscherkaste und beschreibender Untertanenschaft angesiedelt
weiß, natürlich die Originalitäts- bzw. „Vorurteils“ marge. Sind die
dominanten antimamlukischen Sentiments bei einheimischen Autoren in
137
die Darstellung eingeflossen? Inwieweit spiegelt z. B. as-Sab.äwTs Waffentraktat
aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert wirklich nur (wie bei seinem
Vorgänger Ibn Qayyim al-Gawziyya aus dem 14. Jahrhundert) die idealen
Verhältnisse zu Lebzeiten des Propheten und der Prophetengefährten wider,
was den Umgang mit Lanze, Schwert, Pfeil und Bogen betrifft? Wird
hier nicht versucht, behutsam in das mamlukische Waffenmonopol „hineinzuregieren“
und unverfänglich an diesen zugleich wegen ihrer Stärke
und ihrer Verdienste um den Islam bewunderten, und wegen ihrer barbarischen
Herkunft und Manieren verachteten ausländischen Obrigkeit Kritik
zu üben? Es werden mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben werden
können.
138
Wechselseitige Einflüsse zwischen Orient und Okzident
im B ereich des Kriegswesens
TAXIARGHIS G. KOLIAS, IOANNINA
Selten hatten Leute des Mittelalters Gelegenheit mit Einwohnern aus anderen
Ländern in Kontakt zu treten. Nur einige wenige Händler, Pilger
und manchmal auch Gesandte waren die „Fremden“ , denen man begegnen
konnte. Das galt allerdings nur in Friedenszeiten und in Gegenden, die in
militärischer Hinsicht nicht von Interesse waren. Kam es jedoch zu kriegerischen
Auseinandersetzungen ergab sich oft Gelegenheit zur Begegnung mit
Menschen weit entfernter Länder. Aber nicht nur im Kampf selbst kam es
zur „Begegnung“ mit dem „Fremden“ ; sobald die Möglichkeit eines Krieges
in Aussicht stand, wurden oft ausländische Söldner oder Verbündete in
den Reihen des Heeres aufgenommen. Auch nach einem Krieg gab es nicht
selten Gefangene, die entweder als Sklaven dienten oder aber zumindest
bis zu ihrem Freikauf oder Austausch eine Zeit lang im feindlichen Land
ver brachten.
Die Kriegssituation bot also Anlaß zur Begegnung, zur Kommunikation,
wenn auch die Umstände dafür nicht erfreulich waren. Es handelt sich
hiebei um eine Begegnung, bei der die Mentalität eines Volkes oder wichtige
Merkmale eines Kulturbereiches besonders stark zum Ausdruck kommen.
Die Menschen begegneten einander im Kampf um das Uberleben, sie selbst
bzw. ihre Feldherren waren interessiert, alle Details über das Verhalten
des Gegners, also auch Informationen über deren Alltag, herauszufinden.
Dazu kommt, daß im Krieg die wichtigsten Errungenschaften der Technik
eingesetzt und sehr oft auch vom Gegner übernommen wurden, so daß
das Studium der kriegerischen Auseinandersetzungen sehr bedeutend zur
Erforschung der Sachkultur beitragen kann.
Im Rahmen einer Thematik, die „Kommunikation zwischen Orient
und Okzident“ lautet, soll zuerst definiert werden, was unter Orient und
Okzident verstanden wird. In meinem Beitrag wird hauptsächlich von
Byzanz und seiner „Kommunikation“ mit Westeuropa die Rede sein. Dabei
darf man aber nicht vergessen, daß Byzanz die Mitte zwischen dem
westlichen Europa und dem islamischen Orient bildete.
139
Was die Mentalität, den Alltag und die materielle Kultur im Bereich
der kriegerischen Auseinandersetzungen betrifft, werden folgende Aspekte
untersucht und zur Diskussion gebracht:
– Was waren die Ansichten des einen über den anderen? Was hielten
die Gegner von den Kriegsgewohnheiten und der diesbezüglichen
Moral der anderen Seite? Dabei müssen die Quellen allerdings mit
besonderer Vorsicht herangezogen werden, wobei die jeweilige Zeit,
die Umstände und das Milieu, in denen sie verfaßt wurden, zu berücksichtigen
sind.
– Was war der gegenseitige Einfluß im Bereich der Bewaffnung und der
Kriegstechnologie schlechthin? Existierte ein reger Waffenhandel und
in welche Richtung?
– Welche Schlüsse über die jeweilige Kultur kann man aus einem Vergleich
der Kriegstaktik ziehen?
– Gab es einen Einfluß der byzantinischen Kriegswissenschaft und der
kriegswissenschaftlichen Texte auf die westeuropäische Kriegskunst?
– Eine vergleichende Untersuchung der moralischen und ideologischen
Vorbereitung auf einen Krieg kann ein besseres Verständnis für die
Art der Begegnung der verschiedenen Kulturkreise wecken.
– Ein Vergleich der Rekrutierung und der Struktur des Heeres kann
z. T. die Haltung des byzantinischen Bauern oder Soldaten dem abendländischen
Krieger gegenüber verständlich machen.
Im allgemeinen läßt sich sagen, daß die Begegnung der Byzantiner mit
den „Lateinern“ auf dem Schlachtfeld viel seltener war als jene mit den
„Ungläubigen“. Erst in der Zeit der Kreuzzüge beginnt eine regelmäßige
Konfrontation bzw. ein Kontakt der Menschen aus dem europäischen Osten
und Westen.
Die Struktur der byzantinischen Gesellschaft läßt bei der Bevölkerung
kein besonderes Interesse für kriegerische Tätigkeiten aufkommen. Wenn
man dazu bedenkt, daß das oströmische Reich als richtige Großmacht seiner
Zeit bemüht war, selbst Kriege zu vermeiden und andere an seiner
Stelle kämpfen zu lassen, versteht man, daß die Byzantiner einerseits den
Westen im Bereich der Heeresorganisation beeinflußten, sich andererseits
aber von der kriegerischen Einstellung ihrer abendländischen Zeitgenossen
beeindrucken ließen.
140
The Medieval Islamic Vestimentary System:
Evolution and Consolidation
YEDIDA K . STILLMAN, BINGHAMTON
Medieval Islamic attire developed from a gradual, long-term fusion of three
clistinct modes of dress, each of which evolved in different cultural zones
– namely, those of pre-Islamic Arabia, the Hellenistic Mediterranean, and
lrano-Thrkic Central Asia. The first was characterized by loose, flowing,
untailored garments. The second, by tunics and wraps, and the third by
fitted or tailored garments that included coats, jackets, and trousers. To
some extent, the fusion of these three distinct modes had already begun
in the Arabian fringe zones of cultural osmosis, such as Ghassä.n and Hira,
when Islam was born in the seventh century.
Over the next few centuries, there emerged throughout the length
and breadth of the Där al-lsläm a generally recognizable Islamic style of
dress. There were considerable temporal and regional variations to be
sure, but these were within the parameters of a pan-Islamic mode that
remained remarkably constant throughout the Middle Ages. In addition to
the emergence of what might be called Islamic fashion, there developed an
Islarnic ideology and sociology of dress. Together, this clistinctive fashion,
its ideology, and its sociology make up a system of meaning which Roland
Barthes has dubbed „a vestimentary system“ (un systeme vestimentaire).
This paper explores the evolution of this vestimentary system from
its origins in the early umma at the time of the Prophet, through its
development under the succeecling caliphates. The later Umayyads began
adopting elements of Byzantine and Sasanian dress for their court attire,
but it was under the Abbasids that conditions became most favorable for
the rapid evolution of a new, cosmopolitan, Islamic fashion at all levels of
society. At the same time that this process was taking place in the eastern
heartlands of Islam, the semi-independent Muslim West was developing its
own styles of dress incorporating indigenous Berber and lberian styles.
Also exarnined in this paper are the political and ceremonial uses of
fashion, which reached their apogee under the Fatirnids in Egypt, and
the economics of fashion. Finally, the paper discusses some of the major
141
trends of the later Middle Ages, particularly: the diffusion of new garrnents
from outside the vestirnentary systern, the increasing social stratification
reflected in clothing, and the rigidification of the dress code for the dhimmi
subject population.
142
Die Chirurgie und ihre Instrumente
in Orient und Okzident vom 10. bis 16. Jahrhundert
FRIEDRUN R. HAU‘ BONN
Innerhalb der medizinischen Disziplinen hat die Chirurgie im Mittelalter
einen Tiefpunkt. Medizinhistoriker gliedern das Mittelalter in eine östliche
und eine westliche Medizin, letztere in die monastische ( 400-1130, Verbot
ärztlicher Tätigkeit für Mönche auf Konzil von Clermont) und die scholastische
(1130-ca. 1450, besser „arabistische“) .
Als auf dem Konzil von Tours im Jahre 1163 den Ärzten chirurgische
Eingriffe untersagt wurden ( ecclesia abhorret a sanguine), beginnt
die Trennung der Chirurgie von der Medizin für 700 Jahre. Steinschnitte,
Staroperationen etc. wurden nun endgültig Badern, Barbieren, Kastrierern
und Quacksalbern überlassen, fielen nun in den Bereich der Zünfte.
Nur in Südfrankreich, z. B. <!ie Medizinschule in Montpellier, und vor allem
in Italien betätigen sich Arzte weiterhin chirurgisch, lebt die klassische
Tradition fort.
Nach Salerno, der ältesten Medizinschule in Europa (wohl seit 800)
kam um 1065 Constantin (um 1015-1087) aus Nordafrika gereist mit arabischen
medizinischen Lehrbüchern; Alphan, der Erzbischof von Salerno,
der selbst für das Lateinische eine medizinische Terminologie geschaffen
hatte, drängte ihn zur Übersetzung; denn es fehlte an medizinischen Lehrstoffen,
von einem Lehrplan ganz zu schweigen, man war praxisorientiert.
Constantin ging dann ins Mutterkloster der Benediktiner (529-1944) nach
Monte Cassino, wurde Mönch und übersetzte insgesamt 24 Schriften aus
dem Arabischen ins Lateinische; darunter die Aphorismen und das Prognostikon
des Hippokrates mit Galens Kommentar, die Mikrotechne Galens
und hauptsächlich arabische Lehrbücher aus der Medizinschule von
Kairuan (10. Jahrhundert): Die „Fieber-“ und „Urinschrift“ sowie die
„Allgemeine und spezielle Diätetik“ des Isaac Judaeus (gest. um 955),
das Viaticum (eine spezielle Pathologie a capite ad calces) und den Liber
de gradibus (Heilmittel entsprechend den vier Wirkungsgraden in den
Primärqualitäten heiß oder kalt und feucht oder trocken) des Ibn al-Gazzar
(gest. 979), ferner den Kitab al-malaki (eine medizinische Enzyklopädie in
143
einem theoretischen und einen praktischen Teil zu je 10 Abhandlungen;
Chirurgie 1 . Teil, 8. Abhandlung und 2. Teil, 9. Abhandlung) des Haly
Abbas (gest. 994 Bagdad) unter dem Titel Pantechne sowie die „Einleitungsschrift
zur Galenischen Humoralphysiologie“ des Hunain ihn Ishäq
(808-873; übersetzte 129 Galen-Schriften ins Griechische, nach dem Sinn
eines ganzen Satzes vorgehend!) als Isagoge Johannitii. Dadurch erhielt
die Medizinschule in Salerno einen kompletten Lehrplan für den theoretischen
medizinischen Unterricht und wurde weltberühmt. Von überallher
kamen Studenten und Gelehrte zum Studium der Medizin bei den magistri
– Salerno ist im 11./12. Jahrhundert erste medizinische Fakultät in Europa.
Die Kranken wurden mit „Schlafmittelschwämmen“ ( spongia somnifera,
aus Opium, Mandragora und Bilsenkraut) .. oder durch Einatmung narkotischer
Stoffe betäubt. Aus Constantins Ubersetzungen entwickelte sich
die medizinische Lehrsammlung des Spätmittelalters zur Erlernung der
ärztlichen Kunst, die sog. Articella oder Ars medica, die mit der Isagoge
Johannitii des Hunain ihn Ishäq beginnt (allein 14 Drucke bis 1525).
Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts wurden in Toledo unter Leitung
des Gerhard von Cremona zusammen mit jüdischen und muslimischen Gelehrten
außer philosopischen Schriften (vor allem die des Aritstoteles) auch
naturwissenschaftliche aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt, und
zwar in der für die Bibel üblichen Wort-für-Wort-Methode. Am Ende der
Vita des Gerhard von Cremona sind 71 Schriften aufgelistet, darunter drei
medizinische Lehrbücher: Der fünfbändige Ca non de medicina des A vicenna
(Ibn Sinä; 98ü-1037, Chirurgie im 4. Buch), Räzis Liber Almansoris
in zehn Büchern (7. Buch Chirurgie) und der Liber Tesrif des andalusischen
Arztes Abu 1-Qäsim az-Zahräwi (Albucasis, gest. nach 1009) in 30
Abhandlungen, deren letzte die Chirurgie (3 Teile) beinhaltet (stützt sich
auf Byzantiner Paulos von Aegina) mit Abbildungen chirurgischer Instrumente.
Diesem Novum verdankt die 30. Abhandlung im Abendland ihre
weite Verbreitung und Beliebtheit und bringt ihm fälschlicherweise den
Ruf des größten arabischen Chirurgen ein.
Die beiden arabistischen Rezeptionswellen von Salerno ( 1 1 . Jahrhundert)
und Toledo (12. Jahrhundert) kreuzensich im südfranzösischen Montpellier,
dem medizinischen Ausbildungszentrum im 13. Jahrhundert (1137
Medizinschule, 1289 Universität mit einer medizinischen, juristischen und
philosophischen Fakultät). Hier lernten und lehrten im Fach Chirurgie im
13. und 14. Jahrhundert Roger Frugardi („Chirurgie“-Buch und „Roger-
144
Glossen“) , Petrus Hispanus (ab 1277 Papst Johannes XXI.), Bernard Gordon,
Arnald von Villanova, Henri de Mondeville und Guy de Chauliac.
Saliceto von Bologna (1201-1277), verteidigte das Messer gegen das
arabische Ausbrennen der Wunden (Kauterisation). Sein Schüler Lanfrank
von Mailand mußte aus politischen Gründen Italien verlassen und brachte
die italienische Chirurgie nach Frankreich, wurde im Pariser „College de
St. Cöme“ (gegründet 1295) aufgenommen und später Leibarzt des französischen
Königs Phitipps des Schönen.
Die ältere Wundbehandlung hielt bei Quetschwunden, offenen Knochenbrüchen,
Lanzen- oder Pfeilwunden den Eiterungsprozeß für die Heilung
für unerläßlich. Dieses pus bonum et laudabile und die Coctio mußten
unter allen Umständen gefördert und provoziert werden; andererseits wurde
eine knappe Diät und der Aderlaß verordnet, damit nicht begleitende
Entzündungsprozesse zu gefährlichen Komplikationen führten. Mit dem
Eiter sollten die schädliche Stoffe aus dem Körper befördert werden, damit
die aus dem Gleichgewicht geratenen Primärqualitäten und die Säftemischung
(Dyskrasie) auf diesem Wege wiederhergestellt werde (Eukrasie) .
Der Chirurg entfernte daher nur die Splitter oder ähnliches aus der Wunde,
stopfte diese mit Scharpies aus und legte einen Breiumschlag oder ein Pflaster
(„Zugpflaster“) auf.
Guy de Chauliac (1300-1370), der Leibarzt des Papstes in Avignon,
hatte zwar als ausgezeichneter Chirurg die Stein- und Staroperationen
wesentlich verbessert ( Cyrurgia magna mit 200 Zitaten aus Albucasis
Chirurgie-Traktat), aber er hing der Lehre von der Eiterbildung und Coctio
(siedendes Öl in die offene Wunde) an; leider folgte die Tradition ihm
und nicht Henri de Mondeville (1260-1320), dem Leibarzt Phitipps des
Schönen, der sich dieser Lehre heftig widersetzte.
Der Hohenstaufer Friedrich li., König von Sizilien und Gründer der
ersten staatlichen Universität im Jahre 1224 in Neapel, verordnet in den
Constitutiones medicinales (Artikel 45 und 46) die Trennung von Arzt und
Apotheker, eine Taxenordnung und regelt die Studiendauer [3 Jahre Logik,
dann 5 Jahre Medizin mit Chirurgie und erster Prüfung (theoretisch) und
zweiter Prüfung (praktisch) nach einem praktischen Jahr; ohne Lizenz
Androhung einer Gefängnisstrafe].
Im Orient stand die Chirurgie auch nicht in hohem Ansehen, da
man einer Krankheit durch eine „gesunde Lebensführung“ (gr. diaita) vorbeugte
und im Krankheitsfalle zuerst aus dem Bereich der sog. Materia medica
des Dioskurides (1. Jahrhundert) bzw. den „Zusammengesetzten Heil-
145
mitteln“ nach Galen und entsprechenden arabischen einschlägigen Schriften,
mit Purgantien und erst dann mittels Aderlaß therapierte. Während
die Augenheilkunde eine eigene Disziplin darstellt, werden chirurgische
Belange im Rahmen der allgemeinen Therapie behandelt.
Der andalusische Arzt AbU 1-Qasim az-Zahnlwi (gest. nach 1009) beschreibt
im Chirurgie-Traktat erstmals eine innen gezahnte Zange, den
Cephalotribe, zur Extraktion eines Feten. P,ie Blutstillung erzielte man
durch eine Ligatur, Kauterisation oder mit Atzmitteln.
Ibn al-Quff (1233-1288), Militärarzt während der Kreuzzüge in Palästina,
verfaßte sogar ein „Handbuch der Chirurgie“ in 20 Kapiteln, das
aber nicht ins Lateinische übersetzt wurde.
In der Augenheilkunde verfaßte Jesu Haly um 1000 in Bagdad das
umfangreichste Lehrbuch der Augenheilkunde (130 Krankheiten und eine
Liste von 141 Augenheilmitteln), das in Europa erst im 18. Jahrhundert
übertroffen wurde. Der Patient wurde entweder mit Mohnsirup, Mandragora
oder Opium bzw. durch Einatmung narkotischer Stoffe betäubt.
Seinem Zeitgenossen Ammä.r aus Mosul, der ein knappes Lehrbuch ( 48
Augenleiden) schrieb, verdanken wir acht Staroperationsberichte; er saugte
den weichen Star mit einer eigens angefertigten Hohlnadel aus Metall ab,
eine Radikal-Operation.
Bedeutend ist im Abendland die Wundarzney des Hieronymus Brunschwig
(1497) und Hans von Gersdorffs „Feldbuch der Wundarznei“ (Frankfurt
1517). Erst Ambroise Part� (1510-1590) gelang es, die Coctio durch
ein Digestivum aus Eiern, Rosenöl und Terpentinöl endgültig zu ersetzen.
Casparo Togliacozzi (1546-1599) führte wieder die Rhinoplastik ein, indem
er einen gestielten Lappen an der Nasenwurzel befestigte.
146
Materia medica und therapeutische Praxis um 1500.
Zum Einfluß der arabischen Heilkunde
auf den europäischen Arzneischatz
PETER DILG, MARBURG/LAHN
Während das Phänomen des ‚Arabismus‘ als solches bereits mehrfach Thema
medizin- und pharmaziehistorischer Veröffentlichungen gewesen und
namentlich durch die Untersuchungen von H. Schipperges erhellt worden
ist, stellt die Rezeptionsgeschichte der arabischen Materia medica im
Abendland ein Forschungsgebiet dar, das – von den Übersetzungen ganzer
Werke einmal abgesehen – bislang nur ungenügend Berücksichtigung fand.
Zwar liegen auch zu diesem Aspekt verschiedene Arbeiten und sogar eine
Reihe neuerer Dissertationen vor, doch beschränken sich erstere zumeist
auf allgemeine, häufig nur der älteren Sekundärliteratur entnommene und
nicht näher dokumentierte Angaben, wohingegen sich letztere in der Regel
auf ein spezielles Werk konzentrieren, dessen Analyse nicht ohne weiteres
generalisiert werden kann. Dies bedeutet zugleich, daß die Frage nach dem
Stellenwert der arabischen Heilkunde fast ausschließlich von den Quellen
her behandelt wird, wobei freilich offenbleibt, ob und inwieweit der dort
aufgeführte Arzneischatz auch im lateinischen Fachschrifttum des Westens
in Erscheinung tritt; ferner lassen derartige Untersuchungen nur selten erkennen,
welche der aus dem islamischen Kulturkreis übernommenen Heilmittel
als genuiner Beitrag der arabischen Medizin und Pharmazie gelten
dürfen und welche – da anderer Provenienz – durch diese lediglich vermittelt
worden sind. Hinzu kommt schließlich, daß zwischen einer rein literarischen
und einer tatsächlich in den Alltag umgesetzten Rezeption unterschieden
werden muß, was wiederum mit der Art der jeweils analysierten
Texte zusammenhängt, deren Praxisrelevanz in vielen Fällen zumindest
zweifelhaft ist. Um hier somit zu verbindlichen Aussagen zu gelangen,
bieten sich in erster Linie die Arzneibücher an, die – zusammen mit den
Taxen – wohl am zuverlässigsten die jeweils verwendete Materia medica,
d. h. die therapeutische Praxis, widerspiegeln; dies trifft im wesentlichen
auch auf die Destillier- und Kräuterbücher sowie auf die Consilia- und
Regimina-Literatur zu, die nicht zuletzt der Laienmedikation bzw. sogar
147
einem bestimmten Patienten(kreis) oder Indikationsgebiet zugedacht waren.
So soll denn der Frage, welchen Einfluß die arabische Heilkunde auf
den europäischen Arzneischatz in Spätmittelalter und früher Neuzeit ausgeübt
hat, anhand einiger Werke aus dem genannten Fachschrifttum nachgegangen
werden, die allesamt dem Jahrhundert zwischen 1450 und 1550
angehören. Den Ausgangspunkt bildet dabei das Compendium aromatariorum
des Saladin von Ascoli, das – um 1450 verfaßt – erstmals 1488
im Druck erschienen ist. Denn von den darin zur Lektüre empfohlenen
Büchern stammt mehr als die Hälfte von arabischen Autoren, wobei es sich
allerdings im Falle der meistbenutzten: nämlich des Mesue und des Serapion
um – im lateinischen Westen entstandene – Pseudepigraphe handeln
dürfte. Darüber hinaus machen die dort aufgeführten Arzneimittel selbst
zur Genüge deutlich, in welchem Ausmaß die Materia medica des Abendlandes
durch den östlichen Kontakt seit dem hohen Mittelalter bereichert
worden war. Während Saladins Compendium indes ein Lehrbuch für Apotheker
darstellt, haben wir es bei den übrigen, hier zur Untersuchung
herangezogenen Werken durchwegs mit – freilich noch inoffiziellen – Arzneibüchern
zu tun, die zudem jeweils im Abstand von zwei Jahren publiziert
wurden und untereinander mehr oder minder ausgeprägte Bezüge aufweisen:
Davon ist zunächst das Dispensarium ad aromatarios des sog. Nicolaus
Prepositus (um 1490) zu nennen, dem sich zumindest in Teilen das
Lumen apothecariorum des Quiricus de Augustis (1492) verpflichtet weiß,
das wiederum im Luminare maius des Manlius de Bosco (1494) der Kritik
unterzogen wurde, andererseits aber auch dem Thesaurus aromatariorum
des Paulus Suardus (1496) als unmittelbares Vorbild diente. Dagegen lag
mit dem sog. Ricettario Fiorentino (1498/99) bereits ein behördlich verordnetes,
also amtliches Arzneibuch vor, das im deutschen Sprachraum erst
mit dem Nürnberger Dispensatorium des Valerius Cordus (1546/47) einen
Nachfolger finden sollte. – Arabisch-arabistischen Einfluß lassen desgleichen
die Kräuter- und Destillierbücher dieser Zeit erkennen, wie ihn etwa
der die mittelalterliche Herbarienliteratur abschließende Gart der Gesuntheit
(1485) bzw. die beiden maßgebenden Kompendien des Hieronymus
Brunschwig (1500 und 1512) exemplarisch demonstrieren; eine Tradition,
die selbst noch bei einigen Humanisten des 16. Jahrhunderts fortwirkt,
so daß beispielsweise Otto Brunfels keinen Widerspruch darin sah, mit
dem Spiegel der Artzney des Lorenz Fries (1529) das Werk eines erklärten
Arabisten zu edieren.
148
Die Kommunikation zwischen dem Westen und dem Osten schlug
sich jedoch nicht nur in der Einführung neuer Arzneimittel in die europäische
M ateria medica nieder, deren Vegetabilia, A nimalia und Mineralia
samt Zubereitung und Anwendung im wesentlichen auf der antiken
Überlieferung basierten. Vielmehr übernahm man gerade auf dem
Gebiet der ars pharmaceutica auch eine Reihe von Arbeitsgeräten und
-methoden, die im islamischen Kulturkreis entwickelt oder doch zumindest
verfeinert worden waren, wodurch sich vor allem das Spektrum der
Arzneiformen und damit der medikamentösen Applikationsmöglichkeiten
für die therapeutische Praxis beträchtlich erweiterte. Die Rezeption der
arabischen Heilkunde belegen schließlich, gleichwohl nicht zuletzt die vielen
diesbezüglichen Termini, die in die medizinisch-pharmazeutische Fachsprache
des lateinischen Westens Eingang gefunden und sich zum Teil bis
heute erhalten haben.
149
Rezeption der arabischen Kochkunst
und Getränke in Europa
PETER HEINE, MÜNSTER
Die arabische Küche hat sich in der Abbasidenzeit (750-1258) zu einer
komplexen Hochküche entwickelt, deren Rezepte schon früh in Kochbüchern
gesammelt und fixiert wurden. Im Fihrist (Index) des Ibn al-Nadim,
einem ersten Katalog arabischer Bücher aus dem 10. Jahrhundert, werden
schon eine Reihe von Kochbuchtiteln genannt, deren Texte uns allerdings
nicht erhalten sind. Ursache für die kulinarische Entwicklung in Baghdad
war das große, über regionale Produkte hinausgehende Angebot von Nahrungsmitteln
und den dazugehörigen Zubereitungstechniken, die durch ein
dichtes Netz von Handelswegen aus der gesamten bekannten Welt nach
Baghdad kamen, die Rezeption der persischen Kultur samt ihrer elaborierten
Küche in den oberen Schichten der abbasidischen Gesellschaft und
die Tatsache, daß sich in eben dieser Gesellschaft eine breite Elite von Offiziellen,
Kaufleuten, Intellektuellen und Künstlern entwickelt hatte, die die
Mittel und das Interesse an kulinarischen Besonderheiten aufzubringen in
der Lage waren.
Durch die hohe Mobilität der mittelalterlichen islamischen Gesellschaft
wurden die verschiedensten kulturellen Errungenschaften der einzelnen
Regionen verbreitet. Diese Diffusion umfaßte neben Theologie und
Philosophie, Literatur und Musik, Architektur und Kalligraphie auch die
Kochkunst. So finden wir Baghdader Gerichte im maurischen Andalusien
und umgekehrt. Die Handelsbeziehungen der Muslime reichten jedoch weit
über die islamische Welt hinaus, auch nach West-, Mittele und Nordeuropa.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die Produkte der Kochkunst
die Zeit nicht überdauern. Kulinarische Artefakte des islamischen Mittelalters,
auf die wir direkt Bezug nehmen können, sind uns nicht erhalten.
Auch schriftliche Quellen, die auf die Kochkunst eingehen, sind uns
für das europäische Mittelalter nicht in der Form überliefert, daß wir die
direkte Übernahme eines bestimmten Rezepts beweisen können. Neben
einigen aus historischen Quellen geschlossenen möglichen Abhängigkeiten
der westeuropäischen von der maurischen Küche im Zusammenhang mit
150
der Zuckerbäckerei sind es vor allem die Namen verschiedener Zutaten und
einiger Gerichte, die auf eine arabische oder orientalische Herkunft hinweisen.
Zu nennen sind z. B. u. a. Aubergine (Melanzane) , Kandis, Marzipan
und Sorbet.
Es sind wohl vor allem drei Wege, auf denen die arabische Küche
bzw. die Nahrungsmittel aus der arabischen Welt in das mittelalterliche
Abendland gekommen sind. Es handelt sich um Kontakte, die über die
iberische Halbinsel, Sizilien und Italien und über den Balkan verliefen.
Die iberische Verbindung läßt sich wohl vor allem an der Zuckerbäckerei
belegen. Die Übernahme von Zutaten aus der arabischen Welt in die italienische
Küche und von ihr aus dann auch in die französische haben Elisabeth
Vollenweider und Maxime Rodinson verschiedentlich nachgewiesen.
Eine gewisse Rolle in der Verbreitung der arabischen Kochkunst hat auch
die arabische Medizin, hier vor allem die Diätetik gespielt. Besonders
die Schule von Salerno hat von der arabischen Ernährungslehre profitiert.
Über den Balkan kamen mit der Expansion des Osmanischen Reiches vor
allem türkische Gerichte und Zutaten, die ihrerseits aber wiederum von
arabischen kulinarischen Traditionen beeinflußt waren.
151
Griechische Buchproduktion in Italien im 15. Jahrhundert.
Voraussetzungen und Anfänge
HERBERT HUNGER, WIEN
Die Einführung einer Schrift und die Fähigkeit, sie für literarische Denkmäler
zu verwerten, wurden stets als wichtige Schritte in der kulturellen
Entwicklung eines Volkes/Landes angesehen. Kontakte benachbarter
Völker auf höherer Ebene führten zumeist zu einer über die Kommunikationsfunktion
hinausgehenden Einschätzung von Schrift und Sprache. Die
Literatur und die Literatursprache wurden zu legitimen Vertretern der
vornehmliehen Eigenschaften eines Volkes, seiner Gesellschaft und Kultur.
Dies gilt auch für Griechen und Römer, die für die europäische Kulturgeschichte
maßgebenden Völker des Mittelmeerraumes. Das Imperium
Romanum der Kaiserzeit erstreckte sich über den gesamten Mittelmeerraum
und war zugleich ein Reich zweier Sprachen, der lateinischen und der
griechischen. Die Graecia capta des Horaz war zu . .Politischer Ohnmacht
verurteilt, wußte aber in manchen Bereichen ihre Uberlegenheit zu wahren.
Natürlich spielte die ethnische Zusammensetzung der verschiedenen
Provinzen eine große Rolle. Im Osten hatte das Griechentum von vornherein
eine günstigere Ausgangsstellung als im Westen. Das zeigt z. B. ein
Vergleich der fast nur aus Ägypten stammenden erhaltenen Papyri: Die
iechischen Papyri haben gegenüber den lateinischen eine zahlenmäßige
Uberlegenheit, die – grob geschätzt – vielleicht 100:1 ausmacht. Schon in
den Jahrhunderten der Spätantike kann man – etwa in der Verwaltungssprache
und im Rechtsleben, wo das Latein obligat war – einen Rückgang
dieser Sprache im Osten beobachten. Der zeitlich jüngste Teil des Corpus
Justinians, die Novellen, ist nicht mehr lateinisch, sondern fast durchgehend
griechisch gefaßt, und in Byzanz sollten die 60 Bücher griechischer
Basiliken die Masse des römischen Jus ersetzen. Im oströmischen Reich,
das seit dem Frühmittelalter, etwa seit dem 7. Jahrhundert, ein griechisches
Reich wurde, verlor das Latein immer mehr an Boden, was man
schon aus jenen Sachbüchern ersieht, die lateinische termini technici dem
Publikum eigens zu erklären versuchten.
152
Freilich spielte für die Sprachenfrage auch die politische Geschichte
eine entscheidende Rolle, die in dem seit Theodosios I. endgültig geteilten
Reich einen verschiedenen Lauf nahm. Während Byzanz, wenn auch unter
Einbuße so mancher Provinzen und nur unter Aufbietung aller diplomatischen
Möglichkeiten, den Ansturm der Germanen aus dem Norden und der
Araber aus dem Osten abzuwehren bzw. abzulenken verstand, erlag das
Westreich im 5. Jahrhundert den im Rahmen der Völkerwanderung einströmenden
Aggressoren. Für Italien blieb der von Kaiser Justinian unter
gewaltigem Aufwand durchgeführte Restaurationsversuch der römischen
Herrschaft ephemer. Mit dem Vormarsch der Langobarden vom Norden
her und später der Araber im Süden konnte sich die antike Kultur in Italien
nur mehr punktuell, etwa in einzelnen Klöstern, halten. Obwohl im
frühmittelalterlichen Rom und in Süditalien, vor allem im Rahmen der
Kirche, Griechen noch immer präsent waren, schwand allmählich die Bindung
an die östliche Heimat. Die Kenntnis der griechischen Sprache ging
– mit Ausnahme von Teilgebieten Apuliens und Kalabriens – immer mehr
zurück.
Zur Entfremdung von West und Ost im Mittelalter trug auch die Kirchengeschichte
nicht wenig bei. Die ursprünglich geringfügig erscheinenden
dogmatischen Differenzen wurden durch politische Reibungen (Konkurrenz
in Unteritalien) und kulturelle Entfremdung in ihrer Wirkung
verstärkt und führten schließlich zu dem bekannten Schisma von 1054.
Die Kreuzzüge boten wiederholt Gelegenheit zur Vervielfachung der Gegensätze,
die von der allgemeinen Mentalität auf die Praxis des Alltags
übergriffen. Freilich gab es auch Stimmen, die zu Versöhnung und Vernunft,
ja zur Wiederherstellung der Kirchenunion aufriefen.
So manche Byzantiner erkannten im 13. und 14. Jahrhundert, daß man
das Latein und die lateinische Literatur brauchte, nicht nur zu Zwecken
der Kommunikation, so in der Diplomatie, wenn es galt, zweisprachige
Auslandsschreiben aufzusetzen, und insbesondere im täglichen Umgang
mit den Funktionären und Handelsleuten aus den italienischen Republiken
Venedig, Genua und Pisa, sondern auch als Theologe und Philosoph.
So entstand damals eine ansehnliche Übersetzungsliteratur, die vor allem
mit den Namen Maximos Planudes, Demetrios und Prochoros Kydones
verknüpt war. Vieles davon liegt heute noch ungedruckt in den griechischen
Handschriften europäischer Bibliotheken. Die Scholastik aber wurde
so im Osten für die theologisch-philosophischen Diskussionen präsent. In
Italien hielt man im selben 14. Jahrhundert Boccaccio für den ersten Eu-
1 53
ropäer, der aus persönlichem Interesse Griechisch lernte. Tatsächlich gab
es schon in der Frühzeit des Humanismus interessierte Vorläufer wie Barlaam
aus Kalabrien, der im Hesychastenstreit und als Gegner des Gregorius
Palamas in Byzanz hervortrat, in Italien aber Petrarca in die Grundbegriffe
des Griechischen einführte. Leontios Pilatus war es zu verdanken,
daß die beiden Archegeten des Humanismus in Italien, Petrarca und Boccaccio,
mit Hilfe von wörtlichen Übersetzungen ins Lateinische die Ilias
und die Odyssee in Griechisch lesen konnten. Der byzantinische Humanist
und Diplomat Nikolaos Sigeros konnte aufgrund seiner Lateinkenntnisse
die Übersetzung des Somnium Scipionis des Macrobius durch Maximos
Planudes verbessern. An Petrarca sandte Sigeros einen Homer-Codex; das
Dankschreiben aus Mailand von 1354 ist erhalten, ebenso wie der genannte
Codex in der Biblioteca Ambrosiana.
Ziel des Beitrages ist es, zu zeigen, welche Bedeutung die griechische
Buchproduktion in Italien, ausgehend von den bescheidenen, soeben
erwähnten Anfängen des Interesses für die griechische Sprache und Literatur,
für die Überwindung der alten Entfremdung und Trennung von Ost
und West hatte. Daß die Herstellung und Verbreitung griechischer und lateinischer
Texte der Antike einen wesentlichen Baustein von Humanismus
und Renaissance in ganz Europa bildete, ist seit langem bekannt und unbestritten.
Die besonderen Bedingungen, unter denen diese Buchproduktion
vor sich ging, die Schwierigkeiten, die sich diesem eminent wichtigen
kulturellen Prozeß entgegenstellten, scheinen hingegen der Aufklärung zu
bedürfen.
154
Westliche Bergleute auf dem Balkan und im Ägäisraum
im 14. und 15. Jahrhundert
KLAUS-PETER MATSCHKE, LEIPZIG
Der bestimmende westliche Einfluß auf den südosteuropäischen Bergbau
des hohen und späten Mittelalters ist eine unbestreitbare Tatsache. Er
zeigt sich in der serbischen und türkischen Bergbaugesetzgebung und in der
balkanischen Bergbauterminologie, von ihm zeugen archäologische Reste in
verschiedenen Bergbauorten Südosteuropas, besonders in Novo Brdo, und
schriftliche Aussagen in verschiedenen Reisebeschreibungen und diplomatischen
Berichten. Die Menschen, die diesen Einfluß ausübten, die ihre Sprache,
ihre Rechte und ihre Lebensgewohnheiten aus den Bergbauzentren
Mitteleuropas mitbrachten, um im europäischen Südosten Erzlagerstätten
zu erschließen und Silber, Gold und andere wertvolle Metalle zu gewinnen,
sind dagegen historisch kaum zu fassen, es gibt keine Lebensläufe von ihnen,
allenfalls Augenblicksaufnahmen ihrer Existenz, weit verstreut, kaum
gesammelt, aufbereitet und ausgewertet. Die Aufgabe, das zu tun, wird
dadurch erschwert, daß die einwandernden Bergleute nach wenigen Generationen
in der autochthonen Bevölkerung aufgingen, daß es in den lateinischen,
griechischen und slavischen Quellen zumindest diesen Anschein hat,
und die Zuzügler nach kurzer Zeit nur noch schwer zu erkennen sind, selbst
wenn sie sich eine besondere Stellung, eine besondere Sprache und besondere
Lebensumstände bewahrt haben sollten. Auch die Leitworte Saxoni,
Sassi sind nicht in jedem Fall ein sicherer Wegweiser zu mitteleuropäischen
Bergleuten in den Bergbaurevieren und an den Umschlagplätzen von Edelmetallen
im südosteuropäischen Raum. Einige wenige Belege finden sich
in ragusanischen Archiven. Aus einem behördlichen Schreiben der Adriastadt
vom September 1368 geht hervor, daß ein gewisser Chanus Petri
Saxinouich über die Bergbaurechte und Bergbauanlagen in der Stadt Fojnica
verfügt, die ihm bzw. seiner Familie vom bosnischen Herrscher für die
Summe von 250 Pfund Silber dauerhaft übertragen worden waren und die
er zusammen mit verschiedenen anderen Ragusaner Bürgern ausbeutete.
Anlaß der gerichtlichen Vorladung des Hans von Sachsen sind nicht näher
155
beschriebene Auseinandersetzungen nach dem Verkauf eines Teils der Gruben
und Ausrüstungen an seine Geschäftspartner. Nötig wird noch ein
weiteres behördliches Einschreiten, weil sich ein Bruder des Verkäufers namens
Niklas, Nickel geweigert hatte, die Transaktion zu akzeptieren. Die
beiden Sachsen sind ausdrücklich als Bürger Dubrovniks ausgewiesen, ihre
Einwanderung aus den serbisch-bosnischen Bergbaurevieren ist zwar nicht
eindeutig nachweisbar, aber doch sehr wahrscheinlich.
Ein Formularbuch aus der Zeit König Johanns von Böhmen macht es
wahrscheinlich, daß im frühen 14. Jahrhundert eine Gruppe Kuttenherger
Bergleute vom Herzog des Archipelagus, Niccolo I. Sanudo, zur Ausbeutung
vermuteter Bodenschätze auf den Inseln Milos und Chios angeworben
wurde. Ob sie ihre Arbeit vor Ort tatsächlich aufgenommen haben,
läßt sich noch nicht genau sagen. Die nachweisbare Intensivierung des
Bergbaugeschehens auf verschiedenen Inseln des Ägäisraumes im 14. und
15. Jahrhundert könnte aber für derartige Aktivitäten sprechen.
Schließlich enthält das Archiv des Herzogs von Kandia ein pactum
cum (a)minatoribus aus dem Jahre 1364, demzufolge ein Beauftragter
der venezianischen Regierung in Kuttenberg verschiedene Bergmeister und
Bergleute für die venezianische Kolonie Kreta anwirbt, allerdings nicht
zur Aufnahme von bergbaulicher Tätigkeit auf der Insel, sondern zu militärischer
Unterstützung bei der Niederschlagung eines Aufstandes der
lnselbewohner. Vier Jahre später findet in der Inselhauptstadt ein Prozeß
gegen mehrere Personen de Boemia und einen Petrus TheotonicusjTodisco
statt, denen die Beteiligung an einem Einbruch in die Camera Communis
und am Raub von mehreren Säcken Geld vorgeworfen wird, deren Beutezug
aber vielleicht nur der Beschaffung vorenthaltener Besoldungen dient.
Durch die ausführliche Diskussion der genannten Quellenbelege soll nachgewiesen
bzw. wahrscheinlich gemacht werden, daß
1. westliche Bergleute nicht nur in die Bergbaureviere Serbiens und Bulgariens
einwanderten, sondern daß es Interesse und Verwendung für
sie auch in der lateinischen Inselwelt der Ägäis und vielleicht sogar in
den byzantinischen Restgebieten an ihren Küsten gab;
2. die Einwanderung dieser Bergleute sich nicht auf die Frühphase des
Bergbauaufschwungs in Südosteuropa beschränkte, sondern sich zumindest
bis weit in das 14. Jahrhundert hinein fortsetzte und vielleicht
erst mit der osmanischen Besetzung dieses Raumes und seiner Bergbaureviere
zum Stillstand kam;
3. Bergleute aus dem Westen nicht nur zum Abbau von Erzen und zur
156
Gewinnung von Edelmetallen angeworben wurden, sondern auch zu
militärischen Aufgaben, als Sapeure und Kanoniere, und im Bedarfsfall
sicherlich auch von der einen in die andere Tätigkeit überwechseln
konnten;
4. sächsische Einwanderer im 14./15. Jahrhundert nicht nur als Bergarbeiter,
sondern auch als Bergbauunternehmer und Edelmetallhändler
eine Rolle spielten und als solche augenscheinlich in Dubrovnik/Ragusa
und vielleicht in weiteren Balkanstädten Fuß fassen konnten;
5. die Einwanderung westlicher Bergleute in den südosteuropäischen
Raum in starkem Maße, wenn nicht sogar vorzugsweise, organisierten
Charakter trug, Element staatlicher Wirtschaftspolitik war und der
Verstärkung oder Bewahrung wirtschaftlicher und politischer Positionen
in einer Krisenregion diente.
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Rezensionen
Stavroula Leontsini, Die Prostitution im frühen Byzanz {Dissertationen
der Universität Wien 194) Wien: VWGÖ, 1989, 202 S.
Die Arbeit repräsentiert die gedruckte Dissertation einer Schülerin von
Herbert Hunger. Sie widmet sich dem Teilbereich der Erforschung mittelalterlichen
Alltags, die gerade in der modernen Österreichischen Mediävistik
sehr erfolgreich betrieben wird. Darauf bezogene neue Forschungsansätze
tragen wesentlich dazu bei, daß die mittelalterliche Geschichte bzw. jene
von Byzanz nicht mehr nur als die „Kaisergeschichte“ und/oder „Institutionsgeschichte“
betrachtet wird, sondern auch als die Geschichte der
Menschen, die an ihrer Schöpfung und Entwicklung selbst beteiligt waren.
Von diesem Standpunkt aus gesehen erscheint die Forschung Leontsinis als
sehr aktuell.
Leontsini behandelt die frühbyzantinische PORNEIA und versteht
darunter die weibliche Prostitution. Sie betont, daß es „ein wichtiges Motiv
für die vorliegende Untersuchung war, überhaupt festzustellen, wie eine
solche ganz vom Christentum geprägte und konservative Gesellschaft wie
die (früh-)byzantinische speziell der Prostitution gegenüberstand, und wie
sie sich darüber – und somit allgemein über Sexualität – äußerte, wofür
aufgrund der wenigen Möglichkeiten, die sonst zur Verfügung standen,
eben die Prostitution im Endeffekt als Anlaß fungierte“ (S. 20 f.).
Im großen und ganzen ist das Buch sehr logisch konzipiert. Es geht
von einem terminologischen Ansatz aus und versucht danach, die mit
entsprechenden Begriffen bezeichneten historische Phänomene zu untersuchen.
So beginnt Leontsini ihre Forschung mit der Analyse von „Decknamen“
, unter welchen Prostituierte in den historischen Quellen auftreten.
Dies entspricht dem alten Phänomen, „aus dem Eigennamen auf das Wesen
oder die Eigenschaften einer Person schließen zu können“, wie dies
auch in Byzanz sehr verbreitet war. Ferner beschreibt Leontsini die Orte
der Berufsausübung (Bordelle, Räume) und die Stadttypen (Hafenstädte,
Pilgerzentren), welche sich für die Ausübung des Gewerbes am günstigsten
erwiesen. In den darauffolgenden Kapiteln analysiert sie den Werdegang
einer Prostituierten, die Motive, welche dafür ausschlaggebend waren, das
158
öffentliche Auftreten der Frauen (Tracht, Benehmen), ihre Kunden, Nebenberufe
und „Berufskrankheiten“ . Auch die gesellschaftliche Stellung
der Prostituierten wird nicht vergessen (besonders in den Kapiteln über
die materiellen Aspekte des Berufes und die Beziehungen zum staatlichen
und kirchlichen Recht).
Als Quellenbasis dienen Leontsini Hagiographie, Patristik, Geschichtsschreibung,
Rechtsquellen usw. Daß bis dato dem Thema wenig Aufmerksamkeit
geschenkt worden war, bezeugt der Mangel an entsprechender Sekundärliteratur.
Man muß grundsätzlich feststellen, daß die Aufgabe Leontsinis nicht
leicht war. Die Schwierigkeiten beginnen bereits in bezug auf die Fragestellung
und die Quellenkritik. Körperliche Liebe und sexuelle Beziehungen
wurden in Byzanz kirchlich und staatlich nur als Mittel zur Fortpflanzung
des menschlichen Geschlechts betrachtet. Obwohl Prostitution
sehr verbreitet war (und das zeigen Leontsinis Forschungen sehr deutlich),
wurde sie nie als gleichberechtigte soziale Erscheinung aufgefaßt. Der
Kuppler etwa erscheint in der byzantinischen Literatur selten, während
er im römischen Drama zu den Hauptpersonen zählt. Auch ein LysistrateTyp
ist in den byzantinischen literarischen Texten sehr schwer vorzustellen.
Diese Besonderheit der byzantinischen Quellen wird indirekt auch in
Leontsinis Untersuchung bewiesen: Die Kuppler werden fast ausschließlich
in der Rechtsliteratur behandelt (vgl. Anm. S. 175-178, 182). Die
öffentliche byzantinische Einstellung gegenüber der Prostitution spiegelt
sich auch im Rahmen ihrer Bewertung in den Quellen wider: vorwiegend
ist diese negativ. Das zeigt sich im gesamten von Leontsini herangezogenen
Material, und vor allem in der Hagiographie. Die Verfasserin mußte
nun diese negativ gefärbte Information gleichsam „positiv“ umarbeiten,
um historische Schlüsse ziehen zu können.
Ohne Einschränkung kann man das Buch als gut fundierte Sammlung
des entsprechenden historischen Materials bezeichnen. Neben ihren unbestrittenen
Vorzügen ist die Forschung Leontsinis allerdings nicht frei von
mancher Problematik. Die erste (und wichtigste) ersehe ich im Umgang
der Verfasserin mit ihren Quellen. Sie war bestrebt, ein möglichst umfassendes
Bild der frühbyzantinischen Prostitution zu rekonstruieren und
ordnet Beispiele aus den Quellen bestimmten Themenkreisen zu. Bei einer
solchen Methode entsteht ein Bild, dessen historische Zuverlässigkeit
allerdings sehr anzuzweifeln ist. Man kann z. B. keinesfalls sagen, inwieweit
die von Leontsini beschriebenen Erscheinungen (‚Tatsachen‘) für das
159
damalige Leben typisch waren. Vor allem muß betont werden, daß sich historische
Forschung, und gerade wenn es sich dabei um Alltagsgeschichte
handelt, in besonderem Maß mit der Wechselbeziehung zwischen Idee und
Wirklichkeit bzw. auch zwischen dem Typischen (Gesetzmäßigen) und dem
Zufälligen auseinanderzusetzen hat. Was die Wechselbeziehung zwischen
Idee und Wirklichkeit betrifft , so steht die frühbyzantinische Prostitution
als Kulturphänomen nicht gesondert. Mit Recht betont Leontsini die
Tatsache, daß Prostitution von den Zeitgenossen anband der schon vorhandenen
antiken Vorbilder (und mit Anwendung antiker Ausdrucksformen)
beschrieben wurde (S. 12). Bedauerlicherweise wird auf diesen Aspekt jedoch
zu wenig Rücksicht genommen. Es wäre wünschenswert gewesen,
wenn sich Leontsini einer verstärkten Auseinandersetzung mit den Begriffen
in ihrem jeweiligen K o n t e x t gewidmet hätte. Nach einer solchen
diachronischen Analyse (unter der Bedingung, daß jeder Fachterminus im
Kontext seiner Quellen interpretiert wird), wäre es dann wohl leichter gefallen,
zu bestimmen, ob es sich z. B. bei der Bezeichnung von Bordellen als
MASTROPOEION und CHAMAITYPEION nur um hochsprachliche Begriffe
handelte, oder dabei eine besondere stilistische Belastung des Wortes
beachtet werden müßte (vgl. z. B. S. 55-56, über die Kontexte s. z. B. S. 89,
Anm. 16). Die Vorbilder der Prostituierten waren darüber hinaus den mittelalterlichen
Autoren nicht nur aus der Antike bekannt. Das Bild der reuigen
Sünderirr kommt im Alten und Neuen Testament vor, etwa die Hure
Rahab oder Maria Ägyptiaca (vgl. S. 158, Anm. 97). Und hier muß auch
auf die Frage nach Gesetzmäßigem und Zufälligem eingegangen werden,
wobei man die Informationsmöglichkeiten der verschiedenen Quellenarten
zu bestimmen hat. Geht man von den Forschungsansätzen von A. Kazhdan1
aus, dann kann man sehen, daß jeder Text einen bestimmten Adressaten
(ein Leserauditorium) hatte, der die Themenauswahl beeinfl.ußt hat.
Die Berücksichtigung dieser Adressaten und des Argumentationstyps einer
Quelle ist das, was der Gattungskategorie eines mittelalterlichen Textes
zugrunde liegt. Jede literarische Gattung beschreibt das historische Ereignis
von ihrem spezifischen Standpunkt aus, wobei bestimmte Details eines
Ganzen erwähnt werden. Deshalb wäre es auch wünschenswert gewesen,
zu zeigen, welche Details in der Beschreibung der frühbyzantinischen Pro-
1 A. P. Kazhdan, Der Mensch in der byzantinischen Literaturgeschichte. In: JÖB 28
(1979) 9; K. D. Seemann, Zum Weltlichen und Geistlichen in der altrussischen Literatur.
In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 25 (1978) 338-340.
160
stituierten in den verschiedenen Quellengattungen regelmäßig( er) vorkommen
(vgl. das Beispiel der gesetzlichen Heirat einer Prostituierten, wovon
sowohl in einer Vita als auch in der Weltchronik erzählt wird, S. 143).
Schließlich sei auf einige Ungenauigkeiten des Buches hingewiesen:
S. 39: Ich bin nicht sicher, ob man GAEITANA mit GAITANI in Verbindung
zu setzen hat. Vielleicht ist die Bedeutung dieses Wortes von
syr. GeUTHa‘ „gloriose vivens“ , „superbus“ herzuleiten, was seinerseits
in den Zusammenhang des angeführten Beispiels paßt. S. 110: Meines
Erachtens sollte man EPE:RO:SAN „verleiten“ (vgl. Pape, Griechisches
WÖrter buch, v. s . l.) nicht als „verstümmeln“ übersetzten. Im Zusammenhang
geht es um die Leute, die Verhütungsmittel verwendet haben und
deshalb ihre menschliche Natur „verleiteten“ {- überlisteten) . Sie haben
sie jedoch nicht „verstümmelt“ (vgl. OUK ANELONTES TECHTHENTAS
TOUS PAIDAS, ALLA ME:DE PHYNAI TE:N ARCHE:N SYNCHO:
RE:SANTE). Darüber hinaus wäre es ratsam gewesen, allen Quellenbeispielen
eine Ubersetzung beizufügen. Letztendlich ist es bedauerlich,
daß die Arbeit kein Wort- und Sachregister enthält.
Nikolaj I. Serikoff, Moskau ( z. Z. Hamburg)
Dorothee Rippmann, Bauern und Städter: Stadt-Land-Beziehungen im
15. Jahrhundert. Das Beispiel Basel, unter besonderer Berücksichtigung
der Nahmarktbeziehung und der sozialen Verhältnisse im Umland (Basler
Beiträge zur Geschichtswissenschaft 159) Basel und Frankfurt/Main:
Verlag Helbing & Lichtenhahn 1990.
Das Problem der Stadt-Land-Beziehungen findet seit langem Interesse,
schon bei den Ökonomen des 17. und 18. Jahrhunderts. Für Karl Marx
war das Verhältnis von Stadt und Land ein Schlüssel zur Analyse des
Kapitalismus; für Johann Heinrich von Thünen, neben Marx der größte
deutsche Volkswirtschaftler des 19. Jahrhunderts (Braudel), war die Stadt
in der Ebene das Modell für Wirtschaft schlechthin. Auch in der von
Christaller begründeteten Zentralitätsforschung spiegelt sich die Prominenz
des Themenkomplexes. Seit 1945 hat sich die west- und ostdeutsche
Stadtgeschichte zunehmend mit der empirischen Untersuchung von
Land-Stadt-Beziehungen befaßt. Im Zentrum standen dabei vor allem
Fragen des bürgerlichen Landbesitzes, des Strebens nach Territorialherrschaft
im städtischen Umland oder die Frage nach der Rolle von Städten
161
als Nahmärkte und nach der Rolle des Umlandes als Ressource der Versorgung
der Städte. Die wohl am meisten verbreitetste Methode war und
ist in diesem Zusammenhang jene der lokal oder regional begrenzten Fallstudie.
Auch Dorothee Rippmann bedient sich in ihrem Buch ‚Bauern und
Städter‘ dieses Ansatzes, sie beschäftigt sich mit dem Problem der LandStadt-
Beziehungen am Beispiel der Stadt Basel. Rippmanns Arbeit besteht
aus zwei ziemlich deutlich voneinander getrennten Hauptteilen. Im
zweiten Teil beschäftigt sich Rippmann – sozusagen regula artis – in eher
traditionellen, von der bisherigen Land-Stadt-Beziehungs-Forschung bereits
weitgehend vorgegebenen Formen mit den Beziehungen eines Baseler
Kaufmannes zum Umland und mit den Sozial- und Besitzstrukturen im
Baseler Umland. Auf der Basis einer vergleichsweise guten Quellenlage
gelingt Rippmann eine eindrucksvolle Darstellung des Problemkomplexes.
Sie vermehrt damit zweifelsfrei jene Einsichten, die etwa am Beispiel der
Analyse südwestdeutscher Städte bereits gewonnen wurden. Hervorzuheben
ist – und dies unterscheidet diese Arbeiten von vergleichbaren anderen
-, daß in ihrer Darstellung nicht nur die Perspektive der ‚Stadt‘ gewählt
wurde, sondern daß auch die ländlichen Milieus des Umlandes ausführlich
berücksichtigt werden.
Gerade für eine alltags-, kultur-, und mentalitätsgeschichtlich interessierte
Sozialgeschichte ist aber der erste Teil von Rippmanns Arbeit von
noch weitaus größerem Interesse. Hier gelingt es, die Grenzen des traditionellen
Kanons der Forschungsansätze zu den Land-Stadt-Beziehungen
durch die konzise Erschließung und Analyse einer sonst kaum berücksichtigten
Quelle, der Baseler Glückshafen Rodel, zu überschreiten. Anläßtich
der in Basel stattfindenden Messen wurden – wie an anderen Orten auch –
Lotteriespiele veranstaltet, wohl um eine zusätzliche Attraktion zur Messe
selbst zu bieten. Während nun ansonsten der Nachweis für derartige
Lotteriespiele meist lediglich durch überlieferte Ausschreibungsbriefe und
ähnliche Quellen erbracht werden kann, haben sich für Basel die Listen
mit den Teilnehmern am Glückshafen erhalten. Diese umfangreiche Quelle
(über 23.000 Einträge zu Loskäufern) wurde – nach einer Stichprobenziehung
– von Rippmann mit Hilfe quantitativer Methoden analysiert. Der
Informationsreichtum dieser Quelle erlaubt nun – unter der wohl zurecht
getroffenen Annahme, daß die Teilnehmer am Glückshafen selbst wieder
eine Stichprobe aus allen Messebesuchern bilden – einen bisher kaum in
dieser Dichte gegebenen Eindruck vom ‚realen‘ Publikum der Messen. Dies
162
ist insofern von außerordentlichem Interesse, als in der wirtschaftshistorischen
Literatur meist lediglich die ‚Händler‘ und ‚Kaufleute‘ berücksichtigt
wurden.
Nach Rippmanns Analyse der Berufszugehörigkeit – sie berücksichtigt
nur die auswärtigen Teilnehmer am Glückshafen – repräsentieren die Messebesucher
nahezu das gesamte soziale Spektrum der spätmittelalterlichen
Gesellschaft. Von hohem Interesse ist auch das Ergebnis, daß ca. 30 Prozent
der auswärtigen Teilnehmer Frauen waren. Rippmann sieht diesen
Umstand zurecht als einen (weiteren) Beleg dafür an, daß Frauen im
Spätmittelalter nicht auf eine bloß ‚häusliche‘ Rolle reduziert waren.
Die Auswertungen der geographischen Herkunftsbezeichnungen erlauben
es Rippmann nicht nur, Rückschlüsse auf das Basler Um- und Hinterland
zu ziehen, sondern bilden einen ungemein wertvollen Beitrag zur Sozialgeschichte
der temporären Migration im Spätmittelalter, ein Problembereich,
der sich aufgrund typischer Quellenlagen einer systematischen Analyse
weitgehend entzieht.
In diesem Sinn handelt es sich bei Rippmanns Buch um eine regionalund
lokalgeschichtliche Arbeit, die zu weit über das Lokale hinaus reichenden,
bedeutsamen sozialgeschichtlichen Ergebnissen gelangt ist.
Albert Müller, Wien
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