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Landwirtschaftliche Kalender im frühen Mittelalter. Überlegungen zum Fortleben antiken Bildungsgutes und zu seinen Funktionszusammenhängen

Landwirtscha liche Kalender im frühen Mittelalter. Überlegungen zum Fortleben antiken Bildungsgutes und zu seinen Funktionszusammen ngen
VERENA WINIWARTER, WIEN
1. EINLEITUNG
Zwischen Antike und ühmittelalter gibt es eine Reihe von Gemeinsam­ keiten und viele Unterschiede, was die landwirtschaftlichen Techniken und Werkzeuge betri t1 . Über agen der materiellen Kultur hinaus lassen sich Entwicklungslinien struktureller Aneignung antiken Bildungsgutes im Sinne einer adaptiven Assimilation anhand der landwirtschaftlichen Ka­ lender verfolgen, wie im folgenden zu zeigen sein wird. Nach allgemeinen Überlegungen zur Funktion des Kalenders und einem Überblick über d Erbe der Antike aufdiesem Gebiet werden frühmittelalterliche Agrarkalen­ der hinsichtlich ihres Publikums und ihrer Funktion diskutiert. Dabei wer­ den auch agen des Verhältnisses von Bild und Text betre end die Bedeu­ tung für die Rezeption angeschnitten. Es ergibt sich ein aufschlußreiches Bild von Konstanz und Wandel der gesellschaftlichen Funktion eines be­ stimmten Typs schriftlicher Agrarwerke in Antike und Frühmittelalter. So­ wohl Monatsbilder als auch sogenannte „Bauernkalender“ treten in Spät­ mittelalter und üher Neuzeit mit di erenziertem Publikum in durchaus unterschiedlichen Funktionen auf. Auf welcher Grundlage sich diese Tra­ ditionen entwickelt haben, versucht der folgende Beitrag zu beleuchten.
Weder mit Monatsbildern noch mit Agrargedichten als Anleitung ließe sich die Landwirtschaft erlernen, selbst die antiken Lehrbücher würden es einem Anfänger in der Landwirtschaft kaum erlauben, sie als praktisches Handbuch zu benutzen. So kann man das Publikum und die nktion der Schriften einengen: Alle diese Werke können, was die Praxis betri t, nur von Menschen, denen Landwirtscha vertraut ist, benützt werden. Oder aber sie werden nicht zum Zweck praktischer Unterweisung gelesen.
1 Vgl. dazu zuletzt Kar! Brunner, Continuity and Discontinuity of Roman Agricultural Knowledge in the Early Middle Ages. In: Del Sweeney (ed.), Reality and Image in Medieval Rural Life. Penn State Press (im Druck).
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2 . KALENDER ALS MITTEL DER ZEITEINTEILUNG
Die Art des Umgangs mit Zeit ist wesentlicher Teil jeder Kultur, jedes Zeitrechnungssystem ist „Ausdruck einer Kultur“2• Dies drückt sich auch im System der Einteilung von Zeit aus. Ein Zeitrechnungssystem setzt sich nicht nur aus naturalen und astronomischen, sondern auch aus sozialen und kulturellen Elementen zusammen3. Auch am Beispiel der römischen An­ tike läßt sich die Bedeutung des Zeiteinteilungsmittels „Kalender“ zeigen. Ein Beleg für die Beschäftigung mit dem Thema ndet sich bei Plutarch. Er diskutiert im ersten nachchristlichen Jahrhundert in seinen Parallel­ viten, die ja eigentlich Lebensbeschreibungen großer Staatsmänner sind, ausführlich die Geschichte des Kalenders4, wohl noch unter dem Eindruck der Julianischen Kalenderreform.
In der römischen Antike sind kultische wie kulturelle Ereignisse eng mit landwirtschaftlichen Ereignissen verknüpft. Es gibt zahlreiche Feste, deren Zeitpunkt durch die Ernte eines bestimmten Produktes festgelegt wird, wie z. B. jenes der Ca a Dea durch die Bohnenernte. Die Feste orientieren sich an der Landwirtschaft und am Kriegswesen, also an den vorherrschenden Handlungsfeldern der römischen Gesellschaft; durch Feste wird der Jahresablauf strukturiert5 •
Auch im Mittelalter zählt die Landwirtschaft zu den bestimmenden Handlungsfeldern, von denen die Gesellschaft und ihr Diskurs geprägt sind6.
2 Ashaver v. Brandt, Historische Grundlagen und Formen der Zeitrechnung. In: Stu­ dium Generale 19 {1966) 722.
3 Werner Bergmann, Der römische Kalender: Zur sozialen Konstruktion der Zeitrech­ nung. Ein Beitrag zur Soziologie der Zeit. In: Saeculum 35 {1984) 2.
4 Plutarch, ed. C. Lindskog, K. Ziegler, I-IV. ipzig 1914-39, 2. Au . 1957. Enthalten im Kapitel über Lykurg und Numa Pompilius.
5 Bergmann, Soziale Konstruktion 9.
6 Eine „germanische“ adition des schriftlichen Kalenders anzunehmen, besteht kein Anlaß. Vgl. Tacitus, Germania, ed. E. Koestermann: P. Cornelius Tacitus, Libri qui supersunt II 2: Germania – Agricola – Dialogus de oratoribus. Leipzig 1962, Kap. 26: .sola ter e ege.s imperatur. Unde annum quoque ip um non in totidem digerunt spe· cie.s: hiem et ver et ae.sta intelleetu ac vocabula habent, autumni perinde nomen ac na ignorontur.
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3. ANTIKE AGRARKALENDER7
Agrarkalender sind aus der Antike in mehreren landwirtschaftlichen Hand­ büchern, aber auch in poetischen Werken überliefert. Im Zuge der Durch­ setzung der Julianischen Kalenderreform entstanden außerdem zahlreiche lnschriftensteine, die den neuen Kalender publik machen sollten. Von den 19 erhaltenen derartigen Menologien geben zwei die landwirtscha lichen Arbeiten für jeden Monat an8• Was das zeitgenössische Pub kum angeht, sind die Steinquader jedenfalls eine Art Sonderfall: Sie richten sich an jene, die tatsächlich landwirtschaftlich arbeiteten, die stici, von denen man durchaus annehmen darf, daß sie imstande waren, mit Geschriebenem etwas anzufangen. Dies kann man aus einigen Stellen beim römischen Agrarautor Varro schließen, in denen er zumindest für Vorarbeiter und Oberhirten davon ausgeht, daß diese lesen können9 .
Die Menologien geben die für den betre enden Monat wichtigen land­ wirtschaftlichen Arbeiten an. Sie haben aber primär der Bekanntmachung des neuen Kalenders gedient. Die durch die Natur vorgegebenen Zeiten für landwirtschaftliche Handlungen wurden als Orientierungshilfe für den neuen Kalender verwendet, allerdings für ein Publikum, das den richtigen Zeitpunkt für die angegebenen Arbeiten kannte10•
Schon lange vor diesen Inschriften gab es andere Agrarkalender: Der älteste, der aus dem europäischen Raum erhalten ist, ist jener des Resiod aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. Seine „Werke und Tage“ sind ein unter anderem der Landwirtschaft gewidmetes Lehrgedicht, das formal an den Bruder des Dichters, Perses, gerichtet ist. Etwa ein Drittel davon ist eine
7 Ein direkter Vergleich dieser und mittelalterli er Kalender ndet sich in der Tabelle im Anhang.
8 Für diese Arbeit wird das Menologium Ru$ticum Colotianum (CIL Il, 2305) verwen­ det, der zweite Agrarkalender ist das Menologium Va/len$e.
9 Varro, Res Rusticae, I, 17,4: Qui prae$int e$$e oportere, qui litterü atque aliqua $int humanitate imbuti, ugi, aetate maiore quam operario$, quo$ dizi. RR II, 5, 18: De $anitate &unt complura, quae ezscripta de Magonü librü armentarium meum crebro ut aliquid Iegat eu . RR 11, 2, 20: De $anitate $Unt multa; sed ea, ut dizi, in lib $Cripta magi$ter pecori$ habet, et quae opu$ ad medendum, partat $ecum. Zitiert nach William D. Hooper – Harrison B. Ash, Marcus Porcius Cato On Agriculture, Marcus Terentius Varro On Agriculture. London 1967.
10 DieAgrarschriftstellerkanntenundnutztendieMenologienvermutlichebenfalls,was zumindest für Columella wahrscheinli ist: Will Richter (Hg.), L. lunius Moderatus Columella, De Re rustica. München 1981, III, 620.
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kaiendarisch geordnete Ubersicht über die landwirtschaftlichen Arbeiten, wobei nicht für jeden unserer Monate Angaben gemacht werden11.
Die Meinungen darüber, ob sich die Erga des Resiod an Anfänger der Landwirtschaft richten oder aber die Grundzüge vorausgesetzt werden, gehen auseinander1 2 . Die an den Landwirtschaftskalender anknüpfenden allgemein gehaltenen Anweisungen über Schi ahrt stützen aber die These, daß der Kalender sich nicht an ein speziell landwirtschaftlich gebildetes Publikum gerichtet hat13. In Perses, dem das Gedicht gewidmet ist, ver­ mute ich nach den Andeutun&�n des Autors einen in der Landwirtschaft unerfahrenen Grundbesitzer. Uber das Publikum des Werkes in der grie­ chischen Antike erhalten wir Hinweise aus der Parodie des Gedichtes in
Theaterstücken. Demnach wurde es in den Schulen verwendet; ob aus inhaltlichen oder stilistischen Gründen, ist aber nicht zu klären14.
Drei inhaltliche Merkmale des Hesiod-Werkes sind hinsichtlich seiner Funktion wichtig: Zum einen die Auswahl von für jede einzelne Jahreszeit typischen Arbeiten, wobei je Jahreszeit nur jeweils eines der möglichen Ar­ beitsgebiete eines Bauern (Viehzucht, Ackerbau, Weinbau etc.) erwähnt wird. Für das ühjahr stehen Rebenschnitt und das Häufeln an den Weinstöcken. Der Sommer wird durch die Getreideernte vertreten, der Herbst hat vornehmlich die Weinlese als typische Arbeit, im Winter wird gepflügt. Das älteste Landwirtschaftsgedicht nimmt mit dieser vereinfa­ chenden Zuordnung der vielfältigen parallelen Arbeiten auf einem Bauern­ gut eine Stilisierung vor, die wir auch in weit jüngeren Werken nden15. Zweites wesent ches Merkmal ist die starke inhaltliche Betonung des Paa­ res Saat/Ernte, die metaphorisch für jegliche menschliche Arbeit steht16. Das dritte Merkmal ist die Betonung der Rechtzeitigkeit und der Notwen-
11 Zitiert nach: Hugh G. Evelyn-White, Hesiod. The Homeric Hymns and Homerica. London 1959.
12 So spricht sich Walter Nicolai, Resiods Erga. Beobachtungen zum Aufbau. Heidet­ berg 1964, 103 für ein Expertenpublikum aus und weist (103, Anm. 243) auf gegenteilige Ansichten in der Literatur hin.
13 Hesiod, Erga 403-404.
14 Paul Friedländer, Resiods YII00HKAI. In: Hermes 48 (1913) 571 f.
15 Für Monatsbilder z. B. gezeigt von Bridget Henisch, In Due Season: Farmwork in the Medieval Calendar Tradition. In: Del Sweeney (ed.), Reality and Image (im Druck). 16 Hierzu und zum folgenden s. Nicolai, Resiods Erga 89-95.
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digkeit der Vorbereitung von Arbeiten. Jede Arbeit hat ihren richtigen Zeitpunkt, der Mensch muß sich einordnen.
Als Zeitangaben für den Kalender nimmt Resiod alles, was zur Ver­ fügung steht: Meteorologie und auch Zoologie und Botanik dienen als Zeichensetzer17.
Das Gedicht des Hesiod ist, wenn auch kompliziert in seinem Auf­ bau und wohl nicht als Nachschlagewerk gescha en, nach dem Prinzip des Kalenders aufgebaut.
Kann Hesiods Werk die mittelalterliche Kalendertradition beein ußt haben? West nimmt nach Untersuchung der Manuskripttradition18 an, daß im neunten und zehnten Jahrhundert einige Manuskripte des Resiod­ Textes Byzanz verfügbar waren. Diese wiederum könnten aus mehreren antiken Abschriften stammen, und die heute vorhandenen Manuskripte gehen auf zumindest zwei verschiedene Texte zurück, wobei eine Abschrift des neunten Jahrhunderts großen Ein uß auf spätere Manuskripte hatte. Trotzdem, die Erga sind und bleiben griechisch, sind damit einer kleinen Zahl von Spezialisten vorbehalten und daher höchstens von indirektem Ein uß. Lateinische Manuskripte wurden zumindest bis in karolingische Zeit nicht unbedingt als emdsprachig empfunden19. Wenn auch ein Ein­ uß von Hesiods Erga auf die mittelalterlichen Kalender nicht ausgeschlos­ sen werden kann, ist doch anzunehmen, daß die Tradition des landwirt­ schaftlichen Kalenders in Mitteleuropa nur in geringem Maß direkt von den griechischen Werken beeinflußt wurde20. Die inhaltlichen Merkmale aber, die wir bei Hesiod finden, nämlich die Stilisierung der landwirtschaftlichen Arbeiten und die Betonung von Saat und Ernte gegenüber den Erhaltungs­ arbeiten, werden wir auch in ühmittelalterlichen Werken wieder nden, vielleicht aufgrund in rekter Tradition.
Auch ein weiteres griechisch verfaßtes landwirtschaftliches Werk21, die
17 Nicolai, Resiods Erga 96.
18 Max L. West, Medieval Manuscripts of Works and Days. In: Classical Quarterly N. S. 24 (68) 1974, 163-185.
19 Rosamond McKitteri , The Carolingians and the Written Word. Cambridge 1989, 7-22.
20 Auch das Landwirtschaftsgedicht des Vergil ist von Resiod beein ußt. Vgl. dazu Hans Schwabl, Art. Hesiodos. In: RE Suppl. XII (1970) 485.
21 Henricus Beckh, Geoponika sive Cassiani Bassi Scholastici De Re Rustica Eclogae. Leipzig 1895. Die Überlieferung griechlscher Werke zu Agrarthemen ist spärli er als
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Geoponika, enthält als drittes Kapitel einen Bauernkalender. Die Zusam­ menstellung dieses Werkes erfolgte erst im sechsten oder siebten nach­ christlichen Jahrhundert, die heute vorliegende Form stammt aus dem Jahr 950 n. Chr. Die Geoponika wird in der hier vorgelegten Untersuchung wegen ihrer späten Entstehung nicht berücksichtigt, auch für sie gilt die Sprachbarriere22 •
Die Frage nach dem Fortwirken antiker adition in Form des land­ wirtschaftlichen Kalenders stellt sich also für in lateinischer Sprache ge­ schriebene Werke. Die hier untersuchten Schriften sind alle in Prosa verfaßt. Schon aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert ist ein römisches Landwirtschaftsbuch erhalten, jenes des M. Porcius Cato. Wir wissen von einer Reihe anderer Agrarschriftsteller des römischen Reiches aus Zitaten, mehrere Arbeiten sind auch vollständig erhalten. Bis auf das spätantike Werk des Rutilins Taurus Aemilianus P ladius, das insgesamt ein Agrar­ kalender ist, sind sie thematisch geordnet, zwei enthalten allerdings einen kalendarischen Teil. Es sind dies M. Terentius Varros Res Rusticae und
L. Iunius Moderatus Columellas De Re Rustica23. Diese Werke wurden daher auch in die Vergleichstabelle aufgenommen.
Das Publikum der Agrarschriftsteller ist ebensowenig eindeutig fest­ zulegen wie jenes der Inschriften. Wenn auch die Vorarbeiter des Lesens mächtig gewesen sein mögen, Vano und Columella schreiben für die Her­ ren. Landwirtschaft ist im römischen Reich immer zumindest theoretisch Sache der Patrizier, denen ja jede andere Art von Erwerbstätigkeit unter­ sagt ist24. Auch das gesamte 11. Buch des Columella, jenes über die P ich-
jenerömischer. Vgl.VerenaWiniwarter,ZurRezeptionantikerAgrarliteraturimfrühen Mittelalter, ungedr. phil. Diplomarb. Wien 1990, Kap. 2.
22 Eine Rezeption der griechischen Agrarliteratur erfolgte allerdings im maurischen Spa­ nien, vgl. dazu ausführlicher G. E. Fussell, The Classical Tradition in West European Farming. Rutherford 1972, 62 .
23 Zu Columella: Außer im kaiendarisch geordneten 11. Buch nden sich Angaben über die Zeiten, zu denen eine Arbeit durchgeführt werden soll, im 2. Buch (Terminefür Erst­ und Nachp ügung, Düngung, Saat bei Getreideund Hülsenfrüchten). Das 9. Buch über die Bienen hat ebenfalls einen kaiendarisch geordneten Teil, in genau jener Jahresteilung in 8 Abschnitte, die auch Varro für seinen Kalender benützt.
24 Columella beschreibt im ersten Buch sowohl, wie er sich einen gewissenhaften Guts­ herren vorstellt (I, 2, 1), als auch, in einem ganzen Kapitel (I, 7), welche Aufgaben der Besitzer hat; dann gibt er Hinweise, wie man einen Verwalter und wie man Pächter auswählen soll.
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ten des Verwalters, richtet sich zweifelsohne an die patrizischen Grundbe­ sitzer und nicht an jene, die das Land tatsächlich bebauen. Den in diesem Buch enthaltenen Kalender schrieb Columella allerdings für den Gebrauch des Verwalters25 . Auch der spätantike Palladius schrieb für die Grundbe­ sitzer. Wenn er auch mit der einfachen Sprache der rustici kokettiert, ist dies nur literarische Wendung26. Die Leserschaft der Agrarautoren sind also zumindest leidlich gebildete aristokratische Grundbesitzer, die einer­ seits praktische Unterweisung suchen, andererseits aber auch aus Gründen des Prestige über die Landwirtschaft informiert sein müssen, weil Agrar­ wissen zum Kanon der Bildung gehört27• Während ein Nachschlagewerk, das man beim Auftreten von Problemen konsultiert, sinnvollerweise the­ matisch geordnet ist, erweist sich für eine ober ächliche Information (z. B. zum Zwecke der Kontrolle des Personals) ein Agrarkalender praktischer, weil man nur beim gegebenen Zeitpunkt einmal nachsehen muß.
4. DER ILLUSTRIERTE KALENDER IN DER ANTIKE
Mehrere illustrierte Kalender aus der Antike sind überliefert, sie sind aber nur in den wenigsten Fällen agrarischen lnhalts28. Die Funktion bebilder­ ter Kalender ist überwiegend repräsentativ, wenngleich man sie wohl als Zeitmesser benützt hat.
Einen für die Überlieferung wichtigen Sonderfall stellt der illustrierte Kalender des Filocalus dar29. Der im Jahr 354 für einen reichen Auf-
25 Er weist darauf hin, daß die Zeiten des Kalenders nach den klimatischen Gegeben­ heiten abzuändern sind, was der Verwalter anhand des Werkes bewerkstelligen könnte: Co!. XI, 2 , 1: C iu.3 varietatem mutationemque 3i ez hoc commentario erit praemo­ nitu3 villicu.3, aut nu.mqu.am decipietu.r aut certe non equenter.
26 Rene Martin (ed.), Palladius Traite d’Agriculture. Paris 1976, Einleitung Kap. 5, L-LIV.
27 Das Werk des Varro ist als Gespräch dreier Grundbesitzer über ihre Erfahrungen und Sorgen aufgebaut. Diese literaris e Form entsprach bis zu einem gewissen Grad der römischen Wirklichkeit. Auch der immer wieder erfolgende Hinweis auf jene guten alten Zeiten, in denen alle noch brav ihr Land bebauten (im Sinne der mo3 maioru.m), weist darauf hin; vgl. dazu z. B. Co!. I, Einleitung, 13: apud antiqu.o3 no3tro3 fui33e gloriae cu.ram ru.3ticationü.
28 Eines der wenigen Beispiele ist ein vorchristli es Kalenderrelief aus Athen, auf dem das Treten der Trauben, das P ügen und das Säen dargestellt sind. Vgl. Alois Riegl, Die mittelalterlid!e Kalenderillustration. In: MIÖG X (1889) 6.
29 Henri Stern, Le Calendrier de 354. Etude sur son texte et sur ses illustrations
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traggeber hergestellte kunstvoll illustrierte Kalender wurde in der Karo­ lingerzeit zumindest zweimal kopiert. Es handelt sich bei dem Werk nicht vornehmlich um einen Agrarkalender, sondern um eine Sammlung, die Monatsbilder ebenso enthält wie Tierkreiszeichen, Caesarenporträts und Städteansichten.
Die Monatsbilder haben nachhaltigen Ein uß auf mittelalterliche Ka­ lenderillustratoren ausgeübt, sie sind aber im Gegensatz zu diesen keine Abbildungen bäuerlichen Tuns, sondern, wie auch die beigegebenen vier­ zelligen Verse zeigen, Personi kationen der Monate (z . B . Ianuarius für den Jänner, die Juno februata für den Februar etc.)30.
Diese Art der IDustration war in der Spätantike o ensichtlich sehr üblich, wie auch ein Exemplar eines „Steckkalenders“ zeigt, auf dem die gleichen Bilder anstelle von Monatsnamen stehen. Mithilfe einer Lochleiste und von Beinknöpfen konnte der Kalender auf das jeweils aktuelle Datum eingestellt werden. Um diesen Kalender benutzen zu können, mußten die Monatsbilder eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten Monat er­ lauben31 .
5. DER LANDWIRTSCHAFTLICHE KALENDER IM FRÜHMITTELALTER 5.1. Verwendung antiker Agrarwerke
Aus dem ühmittelalter sind mehrere Zeugnisse der Benützung antiker Agrarkalender und einige Neuschöpfungen landwirtschaftlicher Kalenda­ rien überliefert.
Als wichtiges Zeugnis der Bedeutung von antiken agrarischen Wer­ ken für die Adeligen der Karolingerzeit liegt das Testament des Grafen Eckehard von Macon (verfaßt um 867) vor3 2 . Dieser besaß neben einer Reihe von liturgischen und anderen geistlichen Texten einige Werke eher praktischen Bedarfs: Wir nden darunter einen militärischen und einen agrarischen Text. Ursprünglich hat ebe diesen des Titels wegen (das
(Institut fran ais d’archeologie de Beyrouth, Bibliotheque archeologique et historique 55) Paris 1953.
30 Riegl, Kalenderillustration, zu Filocalus 19-27, zu den Personi kationen 24.
31 Riegl, Kalenderillustration 26.
32 Pierre Riche, Les bibliotheques de trois aristocrats laics carolingiens, In: Le Moyen Age 69, 4. Serie, 18 {1963) 101 f.
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Buch ist im Katalog mit De agricultura angegeben) als das Werk des Pal­ ladius angenommen33, später ordnet er ohne Angabe von Gründen das Buch Columella ein34 , McKitterick35 gibt beide Möglichkeiten an. Auf­ grund der weit größeren Zahl an Handschriften des Palladius ist anzuneh­ men, daß es sich bei dem Werk um De agri cultura handelt36. Eckehard von Macon hat als reicher Adeliger neben repräsentativen Werken eine „Handbibliothek“ mit jenen Nachschlagewerken, die man in seiner Posi­ tion braucht: Militärisches und agrarisches Wissen könnte vonnöten sein. Ob im vorliegenden Fall der Bedarf an Information oder der Wunsch nach grundherrschaftlicher Repräsentation für den Besitz des Buches ausschlag­ gebend waren, ist anband des Testaments nicht zu klären.
Tatsache ist, daß die Adeligen als Grundbesitzer über ein gewisses Maß an Fachwissen verfügen müssen, um gegen ihre Untergebenen be­ stehen zu können37• Das mag einer der Gründe sein, ein Agrarwerk zu besitzen. Warum sollte es aber eines sein, d in Form eines Kalenders organisiert ist? Analog zu den Grundbesitzern der Antike, die ihr Perso­ nal oder ihre Pächter anband der kaiendarisch aufgezählten Arbeits- und Produktlisten kontrollieren konnten, war der mittelalterliche Grundherr imstande, zu der Zeit seinen Zins einzufordern, die er dem Kalender ent­ nehmen konnte. Die Kalender wären demnach als Instrument zur Durch­ setzung von Herrschaft zu bezeichnen, eine Funktion, die ihnen sowohl in der Antike als auch im Frühmittelalter eigen ist.
Abgesehen davon scheint die bevorzugte Art der Organisation von Wissen aber eine age des „Bildungskanons“. Zu den septem artes libe­ rales zählt im Mittelalter mit der Arithmetik die Kunst der Kalenderbe-
33 Riebe, Bibliotheques 103.
34 Pierre Riebe, Daily Life in the World of Charlemagne. Liverpool 1978, 227.
35 McKitteri , Carolingians 249.
36 Robert H. Rodgers, An introduction to Palladius (Institute of Classical Studies Bulletin Suppl. 35) London 1975, 15. Aus dem 9. Jh. allein sind 6 Manuskripte erhalten. Rodgers nimmt an, daß eine Reihe weiterer Manuskripte existierte, die durch häu ge Benutzung unbrauchbar wurden. Columella hingegen ist nur in zwei Exemplaren, der „SA“-Handschrift (um 830 in Corbie entstanden) und einer Fuldaer Abschrift des 9. Jh., überliefert.
37 So verlangt Kar! der Große im Capitula de Villi (5), daß alle Arbeiten so beauf­ sichtigt werden, daß sie rechtzeitig geschehen, was beträchtli es Wissen voraussetzt, und sagt (60), daß keine vornehmen, sondern Leute mittleren Standes (wegen deren höheren Fachwissens?) Dienst als Meier versehen sollen.
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rec ung, wobei die richtige Berechnung des Osterfestes von zentraler Be­ deutung ist. Die Wissenschaft der Komputistik, der Kalenderberechnung, ist eine zentrale, konkrete Sparte der (früh)mittelalterlichen Wissenschaf­ ten38 . Die weit verbreiteten Martyrologien sind ebenfalls kaiendarisch auf­ gebaut39 und wichtige Grundlage für die Verankerung der Kirchenfeste im Jahreslauf.
Wenn sogar ein Laie im Besitz eines antiken Agrartraktates war, um wieviel mehr haben sich dann die schriftkundigen Kleriker mit diesen Mate­ rialien auseinandergesetzt?40 Der gelehrte Mönch Walah id Strabo kannte sowohl den Kalender des Filocalus als auch das Opus Agriculturae des Pal­ ladius, was anhand einer Exzerptenhandschrift nachweisbar ist41 .
Die antiken Agrarwerke, respektive darin enthaltene Kalender, wur­ den im ühen Mittelalter verwendet. Die Benützung antiker Quellen ist aber auch für die in dieser Zeit neu gescha enen Werke inhaltlich nach­ weisbar. Dies verwundert insofern nicht, als die antiken Agrarwerke zu jenen Schriften gehören, die zur Lektüre empfohlen werden42.
5.2. ühmittelalterliche Agrarkalender
An ühmittelalterlichen Werken zu diesem Thema gibt es neben dem Landwirtschaftsgedicht des Wandalbert von Prüm und den Carmina Salis­ burgensia, die den Typus des poetischen Kalenders vertreten, die einseitige Monatsbilderdarstellung von 818, e auch unter dem Namen „Hirtenka­ lender“ be nnt ist. Darüber hinaus ndet sich zum Thema Kalender in
38 Katherine Walsh, Die Naturwissenschaften in Irland zur Zeit des hl. Virgil. In: Heinz Dopsch – Roswitha Ju nger (Hg.), Virgil von Salzburg. Missionar und Gelehrter. Beiträge des internat. Symposiums vom 2 1 . – 24. 9. 1984 in der Salzburger Residenz. Salzburg 1985, 155.
39 Das Landwirtschaftsgedicht des Wandalbert von Prüm steht mit einem solchen Mar­ tyrologium in direktem Zusammenhang.
40 Eckehard vererbte seinen Agrartraktat dem Bischof von Meaux. Vgl. McKitteri , Carolingians 259.
41 Bernhard Bischo , Eine Sammelbandschrift Walahfrid Strabos (Cod. SangalL 878). In: ders., Mittelaltedime Studien Il. Stuttgart 1966/67, 34-51. 42Z.B.vonIsidorv.Sevilla,ed. W.M.Lindsay. Oxford1911, 17. Buch. ErerwähntHe­ siod, Demokritos, Mago, Cato, Varro, Vergil, Celsus, Atticus, Aemilia s (= Palladius) und Columella. Schon vor ihm hat Cassiodor (Institutiones 1. 28. 6) Gargilius Martialis, Columella und Palladius zur Lektüre empfohlen.
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Einhards Vita Karoli Magni eine Liste mit den neuen Monatsnamen, die der Herrscher einführen wollte.
Warum hat nun aber ein Mönch wie Wandalbert gerade die Form des landwirtschaftlichen Kalenders für sein Werk gewählt? Warum will der Kaiser die Namen der Monate neu erscha en? Warum werden antike Vorlagen kopiert oder in veränderter Form übernommen? Eine summa­ rische Antwort auf diese agen ist nicht mög ch, doch lassen sich einige Aspekte des ühmittelalterlichen Lebens anführen, die die Entstehung sol­ cher Werke wahrscheinlich machen.
Das „Umfeld“ ist günstig f die Scha ng von Agrarkalendern: Der Diskurs der ühmittelalterlichen Gesells aft wird auf Basis agrarischer Termini und Vorstellungen abgewickelt. Auf spiritueller Ebene nden wir in vielen Predigten, wie auch in der Heiligen Schrift selbst, die Metapho­ rik des Ackerbaues43. In der Predigtliteratur kommt es zu Reminiszenzen antiker Inhalte4 4 . Ein ußreiche Männer wie Augustinus und Caesarius von Arles haben sich über die Landwirtschaft geäußert, Augustinus nennt in De genesi ad litteram45 die P ege der Seele und jene des Ackers als einander ähnliche Tätigkeiten und betont, daß der Landbau das größte und wunderbarste Schauspiel sei, das sich dem Menschen biete. In der Predigtsammlung des Caesarius von Arles, die im 6. Jahrhundert entstan­ den ist, ndet sich eine Predigt, die ganz dem Vergleich des Ackerbaues mit der P ege der Seele gewidmet ist46• Die Predigten des Caesarius von Arles haben großen Ein uß sowohl was den zeitlichen als auch was den räumlichen Wirkungsbereich angeht. Die ackerbauliehen Metaphern sollte m nkeinesf s nur Bibelreminiszenzenklassi zieren47.VielePredigten verfolgen (auch) das Ziel, die durch die gottgegebene Einteilung in orato-
43 Wichtige Bibelstellen aus den Evangelien zum Ackerbau: Mt 13, 3-9; Mt 13, 24-31; Lk 8,4-9; Mk 4,3-9; dazu kommen noch die Gleichnisse vom Weinstock, vom Senfkorn und von der Ernte (O .Joh.), die alle eine Vertrautheit zumindest mit dem Vokabular der Landwirtschaft verlangen.
44 Kurt Smolak, Das Gedicht des Bischofs Agrestius. Eine theologische Lehrepistel aus der Spätantike (Sb. Ak. Wien, phil.-hist. Kl. 284) Wien 1973, 23.
45 S. Aureli Augustini, De genesi ad litteram Lib. VIII, ed. Josef Zycha (CSEL 28) 1944, 243 (den Hinweis darauf verdanke ich Johannes Divjak).
46 Caesarius ep. Arelatensis, Sancti Caesari episcopi Arelatensis opera omnia nunc primum in unum collecta I, ed. H. Morin. : Migne, PL Ser. Lat. 103 (1937) 30.
47 Brich Auerbach, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Bern 1958, 66.
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res, bellatores und laboratores entstandene P icht der rechtzeitigen und vollständigen Abgabe des Zinses entsprechend darzustellen. In solchen Predigten spricht der Klerus in seiner Eigenschaft als Herrschaft zu den Gläubigen, die Diktion der Predigten ist kohärent mit der in den agrari­ schen Kalendern dargestellten, wie Comet anband einer Predigtsammlung aus dem 13. Jahrhundert ausführt48. Die Wurzeln dieses Diskurses nden wir schon bei Augustinus.
Die einzelnen kalendarischen Werke haben aber, von der gemeinsamen Grundlage ihrer Verankerung in der Gesellschaft einmal abgesehen, jeweils verschiedene Funktionszusammenhänge.
Was die Monatsbilderdarstellung von 818 betri t, so wurden in einem karolingischen Skriptorium die Bilder aus dem Kalender des Filocalus, die eigentlich Personifikationen der Monatsnamen darstellten, umgedeutet in jene Sphäre, die dem wesentlichen und kontinuierlichen Handlungsfeld der Gesellschaft entsprach: Aus den Göttern wurden Bauern. Damit wurden die Monatssymbole an die realen Gegebenheiten angepaßt.
Der „Hirtenkalender“ ist Teil einer astronomischen Handschrift. Wel­ chen Zweck könnte eine Monatsdarstellung in einem solchen Werk ha­ ben?49
Wenn, was in diesem Fall anzunehmen ist, der astronomische Text in einem Zusammenhang mit der Ill‘.lstration steht, so vielleicht in folgendem: Die Zeitpunkte der landwirtschaftlichen Arbeiten sind für den Leser der Handschrift Markierungen, um zwischen den astronomischen Berechnun­ gen und der „Realität“ einen Zusammenhang herzustellen, sich zu orien­ tieren.
Anders das Gedicht des Wandalbert von Prüm50. Es hat ein antikes
48 Georges Comet, Le Temps Agricole d’apres Ies calendriers illustres, In: Temps, Memoire, Tradition au Moyen Age. Actes du XIIIe Congres de Ia Societe des Historiens Medievistes de l’enseignement superieur public. Aix-en-Provence 1983, 15.
49 Walter Achilles, Der Monatsbilderzyklus zweier Salzburger Handschriften des frühen 9. Jahrhunderts in agrarhistorischer Sicht. In: Kau old/Riemann (Hg.), Theorie und Empirie in Wirtschaftspolitik und Wirtsch tsgeschichte. Festschrift für Wilhelm Abel zum 80. Geburtstag (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 11) Göttingen 1989, 96 f. weist nach, daß die Bilder von 818 keine Illustration der neuen Monatsnamen Karls des Großen sein können.
50 MGH PL 2, 604-616. In Übersetzung: Kar! Theodor v. Inama-Sternegg – Paul Herzsohn, Rheinisches Landleben im 9. Jahrhundert. Wandalberts Gedicht über die 12 Monate. In: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst 1 (1882) 277-290.
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Agrargedicht, die Georgica des Vergil, zum Vorbild. Im Gegensatz zu Wandalberts zeitlicher Ordnung sind die Verse Vergils thematisch in vier Bücher unterteilt (Ackerbau – Wein/Oliven – Viehzucht – Bienen) . Nur im ersten und zweiten Buch sind verstreut und eher global einige kalendarische Anmerkungen enthalten. Wandalbert hat also die Ordnung seiner Quelle verändert .
Außerdem stellt er in seinem Gedicht klar, daß er tatsächliche Ver­ hältnisse beschreiben will:
Bis sena hos cultus renovant vertigie menses
Hunc modum et morem sibi Gallica retenant51
Die Handschrift Wandalberts ist mit Monatsbildern geschmückt, die je­ weils eine Person in typischer Pose darstellen, sowie das passende Tierkreis­ zeichen. Riegl untersuchte, welche Monate in der bildliehen Darstellung aktive landwirtschaftliche Tätigkeiten illustrieren52 , und fand Abweichun­ gen von antiken Vorbildern in den Monaten Jänner durch die Verwendung eines Schweines als Attribut, im Juli durch einen Mäher, und im August durch einen Schnitter. Weitere Abweichungen finden sich noch im Novem­ ber und Dezember, wo Figuren mit einem Stab abgebildet werden, der als Hirtenstab interpretiert werden könnte. Hier ist die Zuordnung zu land­ wirtschaftlichen Tätigkeiten aber nicht so eindeutig. Dem kalendarischen Gedicht des Wandalbert folgt eines des gleichen Autors über die Stunden des Tages, ganz wie bei Palladius jedes Kapitel mit einer Beschreibung der Stunden endet. Das Gedicht über die Monate ist Teil eines Martyro­ logiums, was man berücksichtigen sollte, wenn es um Fragen der Funktion geht. Wandalbert stellt mit seinem an antike Vorbilder anknüpfenden Ge­ dicht die gottgewollte Ordnung des landwirtschaftlichen Lebens dar, für ein klösterliches Publikum, wie wir vermuten dürfen. Landwirtschaftli­ ches Grundwissen, zumindest was die Einordnung der Arbeiten in den Jahreslauf betri t, spielt bei der Erziehung und Bildung von Mönchen eine wichtige Rolle.
Die beiden in Salzburg geschriebenen Monatsgedichte, die aufgrund ihrer Kürze inhaltlich nur wenig Informationen bieten, sind stark von den Illustrationen des Filocalus-Kalenders abhängig und stellen eine Interpre­ tation dieser Bilder dar53.
51 MGH PL 2, 626, 361 f.
52 Riegl, Kalenderillustration 43 .
53 MGH PL 2, 644 und 645. Diskutiert u. a. bei Riegl, Kalenderillustration 50 .
45

Auch die fränkischen Namen, die Karl der Große seinem Biographen Einhart zufolge den zwölf Monaten gab, beziehen sich zum Teil auf land­ wirtschaftliche Tätigkeiten: im Juni die Brache, im Juli das Heu, im Au­ gust die Ernte, im September das Holz und im Oktober die Weinlese. Der neue Name für den November, herbistmanoth weist auf die Ernte der Früchte hin. Ob der Mai (uuinnemanoth) auf die Weide oder aber die Wonne hinweist, kann nicht entschieden werden54.
6. ZEITLICHER VERGLEICH DER KALENDER55
In die Vergleichstabelle wurde nur der Kalender des Wandalbert als mittel­ alterliches Beispiel aufgenommen, da er im Gegensatz zu den Bildbeschrei­ bungen des Filocalus-Kalenders, wie ihn die Carmina liefern, in jedem Monat auf die landwirtschaftlichen Tätigkeiten eingeht. Auf den „Hirten­ kalender“ von 818 wird im Text eingegangen.
Bezüglich der Zeiten für die Arbeiten sind sich die Kalender im großen und ganzen erstaunlich einig. Resiod hat die Weinlese schon im Septem­ ber, während le anderen in der Vergleichstabelle aufgenommenen Werke übereinstimmend den Oktober dafür ansetzen, gerade Wandalbert aber läßt die Weinlese im September bereits beginnen, ebenso Columella, der jedoch nach Gegend di erenziert.. Bemerkenswert auch, daß für Wandal­ bert die ersten Trauben im August einer Erwähnung wert sind. Für Karl den Großen ist Oktober der Weinlesemonat.
Die häu gsten Erwähnungen der Jagd gibt es bei Wandalbert, der im Jänner, Februar, April, Juli sowie November und Dezember auf verschie­ dene Formen der Jagd hinweist. Das Menologium gibt für September und Dezember Jagd an. Eines der Bilder des „Hirtenkalenders“ (Februar) kann als Vogeljagdszene interpretiert werden, Einhard gibt keinen Jagdmonat an.
Fischfang kommt nur bei Wandalbert vor, in Februar und Dezember, hingegen betonen die ausführlichen Agrarkalender von Varro, Columella und Palladius den Obstbau weit stärker als die anderen. Für den agrari­ schen Jahresablauf relativ unwichtige Arbeiten wie Holzfällen/hacken sind unterschiedlich angeordnet, ohne daß dieser Tatsache inhaltliche Bedeu­ tung zukommen muß.
54 Einhardus, Vita Karoli Magni, MGH Scr. rer. Ger. 25, Kap. 29. 55 Siehe Tabelle im Anhang.
46
Die Getreideernte zieht sich, wie auch in der Realität, durch zwei Monate, Juli und August, wobei Hesiod den Beginn der Ernte im Mai ansetzt und im Juli bereits den Drusch angibt. Der „Hirtenkalender“ zeigt sie im August. Auch in den Monatsnamen ist August der Erntemonat. Die Heumahd wird in den Monaten Mai und Juni angegeben, der Bildkalender von 818 liefert sie im Julibild, ebenso wie die Monatsnamen den Juli zum Heumonat machen, während im Juni gepflügt wird, was auch Columella und Palladius empfehlen.
Wandalbert erwähnt sehr detailliert die Weinlese, vergleichsweise ge­ nauer als andere agrarische Tätigkeiten. Das mag mit der liturgischen Bedeutung des Weins ebenso zusammenhängen wie mit dem Interesse der Adeligen an der Anlage neuer Weinpflanzungen56•
Während Wandalbert nur die Gärten im März düngt, geben die an­ deren Kalender mit Ausnahme Hesiods detaillierte Anweisungen.
Alle mittelalterlichen Kalender stellen in den Monaten November und Dezember das M ten und Schlachten von Vieh (Schweinen) in den Vor­ dergrund, während in den antiken Kalendern in diesen Monaten keinerlei Erwähnung von Vieh festzustellen ist, sieht man von der Anweisung des Palladius, im November Eicheln zu sammeln, einmal ab57.
Dieser Überblick zeigt, daß kein .systematischen Di erenzen der Ka­ lender zu finden sind; vor allem eine Anderung der Zeiten in den mittelal­ terlichen Beispielen aus klimatischen Gründen ist nicht auszumachen. Das, obwohl die „richtige Zeit“ für jegliche Arbeit eine christlich-jüdische For­ derung58 ist, die die Anpassung der Kalender an die realen Gegebenheiten bis zu einem gewissen Grad notwendig machte.
56 Vgl. Patrick J. Geary, Before France and Germany. The Creation and Transforma­ tion of the Merovingian World. New York 1988, 97.
57 Columella, De Re Rustica, ed. Richter, 1 1 , 2, 83 beschreibt Eicheln als Tierfutter, sie scheinen im Kalender aber nicht auf. Auch Cato reiht den Eichenhain an guter neunter Stelle in einer Produktivitätsliste (Cato, De Agri Cultura I, 7.) Im Mittelalter waren die Eicheln als Nahrungsbestandteil allerdings von höherer Bedeutung. Vgl. Marina Baruzzi – Massimo Montanari, Porci e Porcari nel Medioevo. Paesaggio, Economia, Alimentazione. Bologna 1 9 8 1 , 18 und 30. In Sardinien, wo ein Teil der Besitzungen des Palladius lag, werden Eicheln auch heute noch benützt, seine Erwähnung spiegelt viellei t die lokalen Verhältnisse. Vgl. Mariarme Schneider, Acorns as a Staple Food – Di erent Types and Change of Exploitation Through Time. In: Die Bodenkultur. Journal für landwirts aftliche Forschung 41/1 (1990) 81 f.
58 Vgl. Koh. 3, 1 .
47
Eine Änderung der Schwerpunkte im Kalender erfolgt z. B. dort, wo sie der anderen Werthaltung im Karolingerreich entspricht, nämlich beim Vieh, dessen Stellenwert in der ühmittelalterlichen Gesellschaft höher ist als bei den späten römischen Agrarautoren59.
Die Monatsnamen, die Karl der Große einzuführen versuchte, zeigen nur bei der hohen Bewertung der Brache (Juni) Abweichung von dem, was in allen anderen hier verglichenen Werken ebenfalls zu finden ist. Was ver­ wundert ist, daß trotz der hohen Bedeutung von Jagd und Schweinemast diese in den Monatsnamen keinen Niederschlag finden, der Kalender somit rein pflanzenbaulich de niert wird.
7. ZUM VERHÄLTNIS VON BILD UND TEXT
Lange Zeit wurde die Karolingerzeit weitgehend schriftlose Zeit darge­ stellt, eine Au assung, der mit guter Begründung widersprochen wurde. Was die ustration von Manuskripten betri t, wird seitens der Bilder durchaus auf den Text inhaltlich Bezug genommen60 .
Die Bilder haben nicht zwangsweise Vorrang vor dem Text, was das Verstehen anbelangt. Die age des – wechselnden – Verhältnisses von Bild und Text muß für jeden Kalender einzeln gestellt und beantwortet werden. So sind zum Beispiel die in dieser Überlieferung nicht illustrierten
Carmina Salisburgensia, vor allem das zweite Kalendergedicht (No. 11), eine getreue Schilderung der Bilder des Filocalus-Kalenders. Wegen der unterschiedlichen Entstehungszeiten – die Monatsbilder sind etwa 40-50 Jahre üher zu datieren – können die Monatsbilder keine iustration der Carmina sein, sondern sind wohl eine spätere Interpretation51. Der Text folgt hier also den Bildern.
Bei Wandalbert sind die Verhältnisse nicht so eindeutig62 und bei den Darstellungen von 818 sind die Bilder, denen ja nur abgekürzte Mo­ natsnamen als Text beigegeben sind, Transportmedium der Aussage. Ob bebilderte Kalender grundsätzlich eine andere Zielsetzung haben als nicht bebilderte, ist anhand der ühmittelalterlichen Beispiele kaum zu klären,
59 Geary, Before France and Germany 96 f.
60 Rosamond McKitteri , Text and Image in the Carolingian World. In: dies. (ed.), Uses of Literacy in Early Medieval Europe. Cambridge 1992, 297-318.
61 Achilles, Monatsbilderzyklus 96.
62 Siehe die Besprechung der Handschrift oben; vgl. Riegl, Kalenderillustration 43 .
48
für die späteren Darstellungen sei auf die einschlägige Literatur verwie­ sen63.
Kalenderbilder sind alles andere eindeutig, das zeigt sich schon an der Umdeutung der heidnischen Symbolik des Filocalus in bäuerliche Szenen; anderseits sind sie in einer Weise stilisiert, die sie so eindeutig macht, daß sie als Hilfe zur Einordnung anderer Inhalte in den Lauf der Zeit dienen können, wenn man agrarisches Grundwissen beim Betrachter postuliert. Lokale Diskrepanzen bei der Durchführung der dargestellten Arbeiten sind dafür unerheblich, weil die Inhalte in einer allgemeinen, in Bild und Text üblichen Weise stilisiert sind.
8. ZUSAMMENFASSUNG
Von der antiken Kalendertradition gibt es einen nahtlosen Übergang ins Frühmittelalter. Es existieren antike Monatsbilder, zum Teil mit Textun­ terschri en, und solche karolingischer Produktion, es gibt gereimte Kalen­ der mit bäuerlichen Arbeitsanweisungen, wie das Gedicht des Wandalbert von Prüm und die Carmina Salisburgensia, abgesehen von den zumindest für den Arbeitskalender des Palladius sehr reichlichen Abschriften anti­ ker Texte. Herrschaftliches Interesse, sowohl was die Repräsentation unter Adeligen als auch was die Durchsetzung der Herrschaft betri t, steht hinter der Nutzung antiker Agrarwerke, der Scha ung teils illustrierter Kalenda­ rien und natürlich auch hinter dem Versuch des Kaisers, die Monate neu zu benennen.
Die agrarischen Kalender, die aus der Antike ins Frühmittelalter über­ liefert wurden, hatten, abgesehen von ihrer Funktion als Instrument zur Darstellung und Durchsetzung von Herrschaft Bedeutung als Quelle der Bestätigung und Erbauung (in christlicher, wenn auch profaner Umdeu­ tung der heidnischen Symbolik), außerdem wurden sie bei der Scha ung neuer kaiendarischer Werke benutzt.
Bereits Hesiod stilisiert die Realität der Landwirtschaft in jener Weise, wie sie nahezu unverändert auch im Frühmittelalter stilisiert wird: Die
63 Vgl. z. B. Wilhelm Hansen, Kalenderminiaturen der Stundenbücher. Mittelalterlidles Leben im J eslauf. München 1984; sowie Perrine Mane, L’apport de l’iconographie des calendriers pour l’etude de Ia vie rurale en France et en Italie aux XIIe et XIIIe siedes (exemple: La taille de la vigne). In: Bäuerliche Sachkultur des Spätmittelalters (Sb. Ak. Wien, phil.-hist. Kl. 439) Wien 1984, 265-275.
49
landwirtschaftlichen „Erhaltungsarbeiten“ werden zu Gunsten der Pro­ duktion vernachlässigt; die Dualität Saat/Ernte ist zentrales Element des Aufbaus und die Rechtzeitigkeit der einzelnen Arbeiten steht als Forde­ rung über ihren praktischen Nutzen hinaus im Sinne der Einordnung in die gottgegebenen natürlichen Zyklen.
Die Kalender sind, obgleich „profan“ in den dargestellten Tätigkeiten, in einem weiteren Sinn Mittel der geistlichen Unterweisung; diese wendet sich außer an die Kleriker selbst durchaus auch an die anderen Schich­ ten der frühmittelalterlichen Gesellschaft. Sie dienen der Verbindung von Forderungen des Christentums mit den realen Lebensbedingungen, wobei die Maler und Schreiber der Kalender die Aufteilung der Arbeiten auf die Monate den Verhältnissen in ihrer Umgebung durchaus angepaßt ha­ ben, soweit dies zur Erreichung ihrer Ziele notwendig schien. Das Motiv der „richtigen Zeit“ sollte ja transportiert werden. Während die antiken
Agrarwerke einige praktische Benützung erlangen, werden die kalendari­ schen Werke des Frühmittelalters Teil des spirituellen Gesamtsystems, de­ ren Nähe zur Realität nicht primär das Ziel der Brauchbarkeit (im Sinne praktischer Unterweisung in der Landwirtschaft) hat. Kalender erhalten vielmehr allgemeinere Orientierungsfunktionen54•
64 Riegl, Kalenderillustration 50 schließt von der Änderung der antiken Bildvorlagen ebenfalls darauf, daß der Kalender ein wichtiges, „dem täglichen Wandel nahestehendes“ Gebiet war, ohne allerdings Begründungen dafür zu geben.
50

Feh. wie Jänner vor Mitte
Febru r:
Weingärten beschneiden
4.2.-21.3.
Pflanzschulen
vAr et en
graben
R•h•n•chnitt P f l ügen
( J tenl
Obstgärten beschneiden Wiesen düngen und säubern Weingärten umgraben und Wurzeln ent­ fernen
W e i denbäume pflanzen Kornland jäten
Oreimonat�-
getreide Säen säen
Erbsen u. Linsen
säen und p f l egen
Hanf säen
Saattelder t. Heil­ kräuter vorber e i t e n Erven säen
Wein und Obst
gärten p f l egen Aufzucht v. Schweinen Weinstöcke i n
P f l anzgruben
(Gerste)
Weingärten
p f l egen <Boden) Rohr brennen Vergleich landwirtschaftlicher Kalender MONAT Jänner Hesiod Varro „Lenaeon“ 21.12.- kälteste 4.2. Columella I . – 13. I . ‚ keine Erdarbeiten 13.-31 . 1 . , Saatfelder säubern Herb tsoaten behacken Erven säen Pfähle machen Vieh kenn­ zeichnen best. Bäume pfropfen Ptlüqen (nur besti te Fä l l e ) Reben und Obst­ bä e schneiden 1 . -13 . 2 . Weingärten pf hlen und au binden dto. Baum­ Pf lanzungen Obstbaum­ schulen an­ legen und versetzen Wiesen düngen dto. öl- und andere Bäume Rosenbeete �n- 1egen. a1te Pal l�dlU9 Weingärten säubern P! lUgen Erbsen säen Erven säen Wicken und griech. Heu zur s�mengewinnung säen Zit. Col : Vieh kennzeichnen Pökel!leisch herstel len öle und Wein m i t Gewürzen an�etzen m�gere Wiesen säubern Jagd (Hirsch) Weingärten Fischfang outhacken Zeit des Jahres, dauert 60 T ge Kornland entwässern. trockenen Grund eggen Wandalbert Jagd (Vöge l ) Hausarbe i t Hotz hacken Menologium Wiesen wässern Weide und Rohr schneiden p f legen Rohr p f l anzungen dto. Weidenbäume p f l �nzen Dreimonatsgetreide anb�uen 13.-23.2. ‚ D i f ferenzierung kalte/warme Gegend Pfropfen bei Wein und Obst setzen Wiesen düngen Saatfelder MONÄT He�nod Varro s . o . Colume l la Gärten einrichten Rebenschnitt Getreidefelder hacken Wiesen säubern und gegen Schate und Ziegen sichern Pal ladiu� Weinstöcke beschneiden aufpfropfen und betest igen von Ranken kalte Stellen‘ Wiesen reinigen Acker pflügen; Hirse säen K i chererbsen säen ölpf lanzungen mit ölscha sättigen Wandalbert Bienen/Jagd Pf lügen/Säen Pfropten Garten düngen und säubern Zäune Bäume versetzen Menologium Weingärten aufb1nden und beschneiden Dreimonats­ getreide säen März Kuckuck ruft zum 1. Mal Pt tanzgruben herstellen 1 5 . -25 . 3 , R i s penhirse Ka�trieren Schafen und anderem V i e h 1 . -12 . 4 . ‚ Feigen und Rehen veredeln Pf lanzschulen jäten Tarentinerschafe waschen !ür Schur 13. -30.4.‘ öl bäume veredeln dto. Obstbä e Entlaubung Weingärten inetand setzen Schafe und Ziegen brandmarken Kornfelder jäten Heuernte einleiten Sommerwurzeln von Bä en entfernen Rehäcker umgraben . � und fruchtbarer Äcker Aufzucht. Schur und Markierung von V i e h ÄPril Ende des Monats: Ende der Weingarten­ bearbeitung Hei lkräuter säen Oliven pfropfen P f l anzschulen umgraben Pflügen feuchter aufbinden Mai Beginn der Ernte Junge Wein- Hirse und Bl en säen. Heu ernten Reben p f legen Neue Äcker p f lügen und erschließen eggen v. Baum- und Weinp f l anzungen Schafschur Käsezubereitung P f lügen Kriegsdienst Wein ver­ arbeiten Stuten decken Wicke für Futter mähen Saatfelder jäten Schafe scheren Wo l l e waschen P f lugrinder abrichten Saatfelder säubern 21.3-4.5.‘ Kornland jäten 01iven p f tanzen und beschneiden Weiden schneiden Wiesen e i nzäunen mit Ochsen Land aufbrechen Reben Wiesen tränken Schafe säubern Pf1 anzunqen umgraben und hacken Weinp! lan­ zungen au8- dünnen Futterp f l a n ­ zen ernten (1.3. – 30.9.) O l bäume entmoosen und beschneiden 15.-27 . 5 . ‚ Weingärten ent­ lauben Vor Blüte a l t e Weinberge graben Schafe scheren Lupinen unterpflügen (Klee, Wicke. Mischfutter) Weiden düngen Obstbäume bewässern alles bis 2 1 . 6 . säen v . Änlage von Rosenbeeten Getreidefelder jäten. Kauf von Vieh Reinigung v . Bienenkörben Weide der Zäune Jagd Tiere � MONAT Juni Hes10 Varro siehe oben Col e l l a 1.- 10.6. ‚ 13.-29.6. , Wtcken hen Gerste hen Spätbohnen anbauen F r t i h b o hn e n d r e s c h e n Bienenstöcke überprüfen Uberseeische Pro­ VInzen: Sesamanbau Pa l l adlus Tennenb4u Wandalbert Gartenarbe i t Latt1ch. Kohl K i rschenernte Heuernte Menolo91um Rastzett: Heuernte ketne Arbeits- angaben Xcker pt lugen ( 1 . Kornernte Ernte: gr. Heu Wicke, Linse. Bohne. Lupinen Xcker p f l ügen V1ehherden: Schur. K4strat1on. Kase Bienen: sa eln und Weinp f l anzung eggen Jul1 Dreschen Futter und Streu ein­ fahren Vorräte 1 n K r ü g e n a n ­ legen 21.6-18.7. ‚ Ernte Ende des Pflugens alte Wein garten hacken, JUnge zwe1mal Saat: Wtcken, Linsen. Erbsen 1.-10.7,, Brachland pflügen gerodeten von Wurzeln reinigen sonst w1e vorher 15.-30 . 7 . ‚ 2. Mal pflügen Weizenernte jäten (Dornen­ sträucher u . Unkraut} Bäume p f l egen St1ere und Widder zu den Herden Unkraut ausrotten Weizenernte F l achsernte Hirschjagd Spelternte (8eglnn) B1rnen. Pfirsiche reif Gerste und Getreide ernten August ketne Arbeits­ angoben Ernte: Spelt, F l a chs Hafer. Gerste Wicke Obsternte Pfahle %Urlchten Getre1de- ernte We1zenernte Stoppeln verbrennen 18.7.-23.9. ‚ Magere cker pflugen. Lese vorbereiten Wein 10 kuhlen Gegenden eggen dürre und magere WeinstOcke wiederherste l l e n Beschatten von Weinstöcken jäten des Wei ngartens Abbrennen v. We1den Stroh schne1den Honig eggen Blatt!utter sa e i n bewasserte W1esen mahen sonst w1e zuvor 13.-31 . 8 . : Feigenba e okul 1eren We1nlese ( je nach Gegend} Lupinen im We1ngarten sacn und einackern erste Trauben oder 2 . Mal 1 Tenne vorbereiten Grünfutter t. Tiere Fruchtba e graben Ernte; ( J e Gegend) 2.Mal pflügen für Getreide­ anbau Laub a l s Vieh- futter Sesamanbau CKi l >kien)
feuchte Gegend:
Aussaat Ende Juni 1 . -12.8.‘
2 .
Mal W a l d
nach
Gebrauch v . Schwarme n .
P r o b e s t ü c k e Früchten entnehmen Weingärten eggen
Wachs u . Honig 8 1 enenkorbe
v o n

p f lanzen Futtergetreide säen
Futten�icke und grieeh. Heu aäen dto. Lupinen Hirse ernten Speisebohnen
1 . -14.10,
Weinlese i n kalten Gegenden Frühgetreide säen Heu säen
„He i 1- �cker“ und g r .
MON T
August (Forts.
Hesiod
Varro
Col e l l 4
Reben entweder abdecken oder
durch Laubent­ fernung besonnen Trocknen v. Trauben und Feigen
Jäten
1.-11 .9. ,
Weinlese
Palladius
Wandalbert
Menologium
Sept. Weinlese
wie oben
Dreiteilung
der �cker, Befruchtung
Beenden der Ernte Weinberg bewachen Weinlese
Fässer pichen
Okt.
Herbstregen Holz hacken Pf lüge vor­ bereiten
23. 9.-25 . 10. ,
Weinlese Aussaat Bohnen säen Obstbä e
p f l anzen
Spelt. Weizen
E e. Erbse.
Pferdegerste
Lupinen. Schwert­ und neu her­ bohnen säen
Weinlese
Wein schneiden schattigen Orten anbauen
s t e l l e n Schweinemast
im Wald beginnt
Ende des
P t l ügens Vorbereitung des Würzweins 13.-28.9 . ‚ Weinlese
Obet Bäume
eo e ln „räumen“
(vorher: reitung) Steckrüben und Futterrüben
Spelt allg .
Anlage neuer. P f l ege alter Wiesen
Voge lfang vorbereiten Weinlesefest
Hirse ernten
Leinsamen säen Fruchtbarkeit
d e r Reben fest­
s t e l l e n
Setzlinge schneiden Rosenwe i n ohne
R o s e n m a c h e n
Obstwe inzubereitung
säen �ussaat
1 5 . -31 . 10 ,
Setzlinge
p f l anzen. Jungbäume
Reben binden. Ableger machen Jäten und graben v. Pflanz­ schulen
2 .
Vorbe­
Salzwasser. verbesserung Pferdehirse säen Lupinensaat Erbsensaat Sessa aat . ptltigung d . Futte icke
dto.
säen
(Düngung) magerer
I n kühler. schatt­
iger Lage: Weizen beginnen
und Spelt säen Heilmit tel gg.
ÄPfel ernten
Saat­
Weinlese Fässer in­ standsetzen
auf fettem Acker Hirschjagd

MONAT
Nov.
Hes1od
Pt lugen
V rro
25 . 10 . -21 . 12 :
Ll l t e n und Krokus
p! t anzen
Rosen vermehren Gr ben anlegen und saubern Wetn- und Obstgarten be�chn�tden Ulmen p!lonzen
21. 12-4.2.
Kornland
entwassern.
o u t trockenem Grund eggen
Pol tod1ua
Wondalbert
Menologl
Aussd4l von We1zen und Ger t B ume mt t Grub n ver­ sehen
Oez.
Pt l ugen
(Auenohme . nur be1 un­ ub l i chem Wetter)
Soen v.
und Le1n. Korn E1naal en v. Speck u . Seeigeln Voge l t o l l e n auf�te l l en
Holz f l len
Rüben einlegen Weiden gr4ben
Regen
We 1 np t Ionzungen dtingen
Bohnen soen Holz falten
somme In
Jdgd
Tabel l e ;
Ote Eintr4gungen fur Pallodtus
ur H l l fe bei der Uber etzung d4nke
Colume l l a
Reben s hne den nd raume n LupJnen saen
01 iven ernten Graben anlegen u n d soubern
1 . -11 . 1 1 .
Arbe 1 ten
holen bu DUngen
O l b ume r4umen und düngen
d t o . Reben
12.11.-30.11.:
wetter- n eh­
holen
Pfdhle zur cht-
sehnetden
Bienenstocke
herstellen 1egen KOrbe machen
Rebe nb1 nde­ stongen vor­
bere 1 ten
Sttele herstel len Elsengeräte
pt legen
1 . -1 1 . 12 :
Arbetten noch­ holen
bes. an wa en Orten
1 3 . -3 1 . 1 2 . :
PosUnieren tUr
neue Wetngärten
0 1 iven ernten und verorbe t t e n Reben stUtzen TrogJOche dofur bouen
Obstbaume
pf Ianzen
Gemüse s en
bis 13. 1 . : Erdarbeiten
noch­
Soot v .
Gerste.
ltnsen.
Wteoen
Dinkel
Bohnen
Letnsomen
P f l Ogen
n�ch l .
IRest)
s en
13 1 1 .
ke1nc
Anmerkungen zur
Deut3ch verOffentlicht.
Ote hter gebotene benncht geht n1cht vom Text selbst. sondern von den Kopiteluberschnften ous. Ote Ab­ schnitte ubor Fruchtbaume und Garten – d t e Jedes Mon t ein� Rethe von Arten umfassen, stnd in d i � Tobe l l e
nicht aufgeno en. ebenso K4P l te l . deren Uberschr t f t nur aus der Bezetchnung e 1 n r Sache b teht. z . B . „Oe apibu “ (M4 t J
und
das Henologtum
1ch der AltphJiolo91n Gtltl Arnold. Zu Po l lddJuS;
vorbereiten
Schweinem st
01 m chen
Eicheln e l n
ö l : saubern.
r n tges o l
verorbe l ten ;
Holz f l leo
B 1 nenkorb
Ptohlu und Körbe mochen
We Jdere ihenfo lge
fost-
be l
Bohnen
�ouborn
(W ld}
SouhdtZ
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d .
RuhezeH
pt lUgen und Gerste sOen dto. Bohnen Dungen HGU 4 be I t W4sservöge I J4gen
rtsche i n Reusen fangen Schwe1ne
S h I achten
Ol lven
ruattcwn
s1nd h1ur
erstmols ut

Krems 1992
MEDIUM AEVUM
QUOTIDIAN UM
27
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramer
Satz und Korrektur: Birgit Kar! und Gundi Tarcsay
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesells aft zur Erforschung der materi­ ellen Kultur des Mittelalters. Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich. – Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche Zustimmung jegli­ cher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: KOPITU Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7 STEPHAN J. TRAMER, Zum neuen ‚Gesicht‘ von „Medium
Aevum Quoti anum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
WOLFGANG SCHILD, Der griesgrimmige Löwe als Vor-Bild
desRichters …………………………………………….. 11
VERENA WINIWARTER, Landwirtschaftliche Kalender im
ühen Mittelalter. Überlegungen zum Fortleben antiken
Bildungsgutes und zu seinen Funktionszusammenhängen . . . . . . . . . 33
JÜRG ZULLIGER,BernhardvonClairvauxalsRedner …………. 56 KATHARINA SIMON-MUSCHEID, Kon iktkonstellationen im
Handwerkdes14.bis16.Jahrhunderts . …………………….. 87 KOMMUNIKATION ZWISCHEN ÜRIENT UND ÜKZIDENT.
ALLTAG UND SACHKULTUR
Kurzfassungen der Kongreßreferate
RALPH-JOHANNES LILIE, Die Handelsbeziehungen zwi­
schen Byzanz, den it ienischen Seestädten und der Levante vom10.JahrhundertbiszumAusgangderKreuzzüge ……….. 110
TELEMACHOS LOUNGHIS, Die byzantinischen Gesandten
als Vermittler materieller Kultur vom 4. bis ins 1 1 . Jahr-
hundert ……………………………………………….. 113
SOPHIA MENACHE, The Transmission of News in the Per- iodoftheGrusades ……………………………………… 116
NoRMAN A . DANIEL (t), Impediments to the Transmission
of the Cultural In uence of Islam to Western Europe in the
MiddleAges ……………………………………………. 119
ULRICH REBSTOCK, Angewandtes Rechnen in der islami- schenWeltunddessenEin üsseaufdasAbendland …………. 122
5

DAVID A. KING, Astronomical Instruments between East
andWest ………………………………………………. 125
ANDREW M . WAT S O N , The Imperfect Transmission of
Arab Agricultural Innovations into Christian Europe . . . . . . . . . . . . 131
WOLFGANG VON STROMER, Die Vorgeschichte der ürn-
berger Nadelwaldsaat von 1368 – iberisch-islamische Uber- lieferungantikerForstk tur ……………………………… 133
ULRICH HAARMANN, Wa en und Gesellschaft im spätmit- telalterlichen Ägypten ……………………………………
TAXIARCHIS G. KoLIAS, Wechselseitige Ein üsse zwischen OrientundOkzidentimBereichdesKriegswesens ……………
YEDIDA K . STILLMAN, The Medieval Islamic Vestimentary
System: EvolutionandConsolidation ……………………… 141
FRIEDRUN R. HAU, Die Chirurgie und ihre Instrumente in OrientundOkzidentvom10.bis16.Jahrhundert …………… 143
PETER DILG, Materia medica und therapeutische Praxis
um 1500. Zum Ein uß der arabischen Heilkunde auf den
europäischen Arzneischatz ……………………………….. 147
PETER HEINE, Rezeption der arabischen Kochkunst und GetränkeinEuropa …………………………………….. 150
HERBERT HUNGER, Griechische Buchproduktion in Italien
im 15. Jahrhundert. Voraussetzungenund Anfänge ………….. 152
KLAUS-PETER �ATSCHKE, Westliche Bergleute auf dem
Balkan und im Agäisraum im 14. und 15. Jahrhundert . . . . . . . . . . 155
Rezensionen :
Stavroula Leontsini, Die Prostitution im ühen Byzanz
(Nikolaj Seriko ) ……………………………………….. 158 Dorothee Rippmann, Bauern und Städter (Albert Müller) 162
6
137
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Vorwort
Das vorliegende Heft von Medium Aevum Quotidianumfolgt einerseits eta­ blierten Traditionen, andererseits wird versucht, in manchen Bereichen neue Maßstäbe zu setzen und Veränderungen zu initüeren. Der wohl au­ genfälligste Wandel ist das neue ‚Gesicht‘ der Zeitschrift, welches wir schon seit längerer Zeit zu verwirklichen gewünscht hatten. Einer glücklichen Verbindung zu dem für die Basler Denkmalpflege tätigen Graphiker Ste­ phan J. er haben wir es zu verdanken, daß eine unserer Ansicht nach sehr gelungene Visualisierung der Anliegen der Gesellschaft und damit auch der Zeitschrift Medium Aevum Quotidianum entstanden ist. Wir danken Herrn amer auch, daß er sich bereit erklärt hat, uns einige Ge­ danken zur Entstehung der Titelgraphik zu überlassen (S. 9 f.).
Ein größerer Teil des vorliegenden Heftes ist den Kurzfassungen der Referate gewidmet, welche anläßtich des von Medium Aevum Quotidianum gemeinsam mit dem Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veran­ stalteten Kongresses „Kommunikation zwischen Orient und Okzident. All­ tag uns Sachkultur“ (Krems, 6. bis 9. Oktober 1992) gehalten werden. Wir danken den Referenten für Ihre Bereitschaft, uns Abstracts zur Verfügung zu stellen.
Die vier, den Kurzfassungen der Referate vorausgehenden Beiträge sollen im besonderen zeigen, in welche unterschiedlichen Richtungen all­ tagsgeschichtliche Forschung zu sehen und zu gehen hat, wenn sie versu­ chen will, breite, interdisziplinäre Ansätze zu verwirklichen. Wenn auch keiner der Aufsätze dem folgt, was wir vielleicht eine typische alltagsge­ schichtliche Problematik nennen würden, so zeigen sie dennoch beispielhaft und in signi kanter Weise, wie vielschichtig Fragestellungen sein können, welche zumindest indirekt für die Erforschung von Alltag und Sachkultur des Mittelalters relevant sein können. Sie vermitteln, auf welch di eren­ zierte Weise an diese agen herangegangen werden kann, und damit auch die Verschiedenartigkeit der Methoden, deren Anwendung in jedem Fall zu wichtigen neuen Erkenntnissen zu führen imstande ist.
Die Mitglieder unserer Gesellschaft werden vielleicht mit einiger Über­ raschung den Erhalt des Heftes 26 von Medium Aevum Quotidianum zur
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Kenntnis genommen haben, eines Bandes, den wir bis dato auch noch nicht in unseren Vorausschauen angekündigt hatten. Der schnelle Ent­ schluß, dieses Heft in unserer Reihe aufzunehmen, ergab sich einerseits daraus, daß von Manfred Thaller, dem Herausgeber der Halbgrauen Reihe zur Historischen Fachinformatik, ein diesbezügliches Angebot vorlag. An­ dererseits zeigt gerade die jüngere Entwicklung mancher Tendenzen in der Mediävistik, daß dem Bild als Quelle und seiner adäquaten Analyse in vie­ ler Richtung immer stärkere Bedeutung zugemessen wird. Gleichzeitig ist die Weiterentwicklung von Methoden der digitalen Bildverarbeitung und ihre verstärkte Anwendung in den historischen Wissenschaften – nicht nur in der Kunstgeschichte – ein international an vielen Orten zu erkennendes Phänomen, an dem gerade auch eine Alltagsgeschichte des Mittelalters, welche der Interpretation von bildlieber Überlieferung starkes Augenmerk zuwendet, nicht vorübergehen kann. Wir hielten es deshalb für legitim, den Band aufzunehmen, auch wenn er sich nur peripher mit konkreter Anwendung der neuen Methoden auf alltagsgeschichtliche Analyse ausein­
andersetzt.
Auf Grund dieses Einschubes hat sich der bereits angekündigte Er­ scheinungstermin des Sonderbandes 2 von Medium Aevum Quotidianum etwas verschoben. „The Politics of Cruelty in the Ancient and Medieval World“ wird daher voraussichtlich erst im Laufe des Novembers erscheinen und zum Versand gelangen.
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Gerhard Jaritz
Zum neuen ‚Gesicht‘ von „Medium Aevum Quotidianum“
STEPHAN J. TRAMER, BASEL
Ich bin vom Herausgeber gebeten worden, einige Gedanken zu meinem Entwurf des neuen Titelblattes der Zeitschrift „Medium Aevum Quotidia­ num“ zu äußern. Ich ging davon aus, bloß eine ungefähre Ahnung darüber zu haben, w die Realienkunde des Mittelalters genau bedeuten könnte. Wie soll ich ihr also ein passendes ‚Gesicht‘ zuweisen?
Da ich zeitweilig in der Bauforschung der Basler Denkmalp ege tätig bin, stellte ich mir vor, daß die Realienkunde dort beginnt, wo unsere Hausforschung etwa au ört. Es sind Verknüpfungen von Fakten und de­ ren Interpretationsversuch e . Wo aber hört die strenge Wissenschaft auf und wo beginnen die subjektiven, zeitbedingten Fahrlässigkeiten der phan­ tasiereichen Modi kationsprozesse? Wir untersuchen alte Häuser und ihre Einzelteile, wie Gebälksysteme, die Wachstumsschübe und ihre jeweiligen Mauercharaktere. Wir analysieren und sortieren. Was wir immer besser zu kennen glauben, sind aber oft zu vereinbarten Begri ichkeiten kompo­ stierte Ablagerungen, Rückstände längst vergangener sozioökonomischer und kultureller Verhältnisse, deren Geschmack – wortwörtlich – verduftet ist.
Und sind es nicht gerade die Düfte, welche in uns die wirkungs­ reichsten Erinnerungsschocks auszulösen vermögen? Plötzlich werden lang zurückliegende Realitäten wieder unverschämt gegenwärtig. Der Duft ei­ nes Misthaufens, unverändert durch alle Epochen hindurch sich treu blei­ bend, verbindet mich mit allen Düften aller Misthaufen der Geschichte. Und was dem Misthaufen bekannterweise vorausgeht, ist das Essen. So stelle ich mir die Realienkunde vor, daß ich mich in die alltäglichen Be­ ndlichkeiten der Menschen, die vor uns gelebt haben, einarbeite. Die Notwendigkeit zu essen verbindet mich mit allen Geschlechtern. Nur, war das üher nicht oft mehr Mühe als Genuß? Mit der gewohnten Addition von netten Versatzstücken aus dem Folklorealbum des Mittelalters kann ich das nicht ausdrücken. Ich möchte aber diesen Duft des Mittelalters optisch und gefühlsmäßig zugleich zur Darstellung bringen.
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Da nde ich in vielen Unterlagen die Abbildung eines uralten Holz­ tellers, oder zumindest das Bild von dem, was von ihm übriggeb eben ist. Den Rest hat die Zeit schon selber aufgegessen. Der Teller drückt für mich aus, was wir trotz aller nutiöser Bauuntersuchung nie entdecken können: den Odem des alltäglichen Lebens, das sich zwischen den von uns auf Milli­ meterpapier verzeichneten Gemäuern abgespielt hat. Der Teller wird zum Zeichen dafür, wie die Rea enkunde, wie ich sie hier verstehe, versucht, über die Grenzen der Verfügbarkeiten der rein materiellen Archäologie hinauszugehen und in die in der Zeit verborgenen Alltäg chkeiten der Ge­ schichte einzudringen. Was kann ich nun mit diesem Teller anfangen? Ich wende das Photo um neunzig Grad und merke plötzlich, daß die Bruch­ kante dieses Holzobjektes dem Pro l eines Menschen au allend ähn ch ist.
Da stöbere ich wieder in einem Berg von Unterlagen, um Augen zu n­ den, die für diesen ‚Kopf‘ passen würden. Die romanischen Figuren haben doch manchmal esen wie auf Unendlich eingestellten Drillbohrerb ck. Da finde ich die Umzeichnungen von auf mittelalter chen Pilzkacheln re­ liefartig abgebildeten Köpfen. Das sind genau die Augen, die den rechten B ck aus der Tiefe der Geschichte aufzuweisen schienen. Das nke Auge klebe ich in den Teller, das andere dorthin, wo der verlorene Tellerteil zu ergänzen wäre. Diese Rekonstruktion bewerkstellige ich mit dem Kreis, der Metaphorik der wissenschaft chen Arbeit sozusagen. Jetzt blickt der Teller seitwärts und direkt auf mich. Dieser Widerspruch könnte auch passend sein. Das einfache Schwarz-Weiß-Schema deutet auf die Abstrak­ tionsarbeit hin, die laufend getan werden muß, um nicht in anekdotische Geschichtsforschung zu verfallen. Nun füge ich längs der senkrechten Mit­ telachse des Blattes eine Schrift hinzu, die einfach und klar sein soll. Das Wort „Quotidianum“ greift zudem formal mit seinen beiden „0“ dem Kreis voraus. So ist das ‚Alltägliche‘ des Mittelalters auch typographisch veran­ kert.
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