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Memoria Mittelalter – aktiv, passiv oder manipuliert?
Susanne Rischpler
Rezensionsartikel zu
Lucie Doležalová (Hg): The Making of Memory in the Middle Ages (Later
Medieval Europe 4). Leiden/Boston: Brill 2010. 499 S. mit 22 s/w Abb. 16,5 x
25 cm, gebunden. ISBN 978-90-04-17925-7. EUR (D) 152,00.
Der durchgehend englischsprachige Tagungsband The Making of Memory in the
Middle Ages basiert auf dem internationalen und interdisziplinären Workshop
Medieval Memories: Case Studies, Definitions, Contexts, den das „Center for
Theoretical Study“ (CTS), eine gemeinschaftliche Institution der Karls-
Universität Prag und der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, im
September 2007 in der Prager „Vila Lanna“ veranstaltet hat. Sowohl die Organisation
dieses Workshops als auch die Herausgabe des Tagungsbandes wurden
von Lucie Doležalová, Assistenzprofessorin an der Karls-Universität Prag in den
Bereichen Altphilologie und Geisteswissenschaften, geleistet, die zudem einen
Tagungsbandbeitrag (5) verfasste und gemeinsam mit Tamás Visi (siehe auch
Beitrag 21) die Einleitung des Bandes gestaltete.
Der umfangreiche Band versammelt 24 Fallstudien zur christlichen und
jüdischen Memorialkultur des europäischen Mittelalters und richtet sich an all
diejenigen, die an mittelalterlicher Kultur, Literatur und Geschichte interessiert
sind.
Bemerkenswert ist die internationale Riege von Autorinnen und Autoren,
die sich aus den unterschiedlichsten geisteswissenschaftlichen Disziplinen
rekrutieren. Es konnten meist relativ junge Forscherinnen und Forscher aus
zwölf Ländern gewonnen werden, wobei der Osten (Polen, Rumänien, Russland,
Tschechien, Ungarn) erfreulich stark vertreten ist. Darüber hinaus stammen die
Autorinnen und Autoren aus Deutschland, England, Frankreich, Israel, Italien,
Norwegen sowie aus Kanada und den USA. Die Beitragenden sind in den Gebieten
Geschichte, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Judaistik, Mediävistik,
Philosophie, Kulturwissenschaft, Bibliothekarswesen und Philologie (altnordische
Philologie, alt- und mittellateinische Philologie, Hungaristik, Anglistik, Italianistik,
Slawistik) tätig – dementsprechend vielfältig sind die Blickwinkel und
Ansätze, unter denen die mittelalterliche memoria betrachtet und untersucht
wird. Was den zeitlichen Rahmen betrifft, so behandelt die Mehrzahl der Bei41
träge das Spätmittelalter. Geographisch gesehen, werden vor allem der lateinische
Westen und Mitteleuropa abgedeckt.
Das Vorwort wurde von Patrick J. Geary, dem bekannten Historiker der
University of California, Los Angeles, mit dem Forschungsschwerpunkt mittelalterliche
Kultur und Gesellschaft (500–1200), beigesteuert. Geary betont, dass
der Tagungsband der memoria Nord- und Südeuropas die gebührende Aufmerksamkeit
schenkt und damit der mehr oder weniger bewussten Privilegierung
französischer und englischer Themen in den Mittelalter-Studien entgegenwirkt.
Damit werde ein Beitrag zum Bild eines komplexen, dynamischen und
„ganzheitlichen“ lateinischen Mittelalters geleistet.
Sehr konzis ist die – wie bereits erwähnt – aus der Feder von Lucie Doležalová
und Tamás Visi stammende Einleitung (mit dem Titel „Revisiting
Memory in the Middle Ages“, S. 1–7), die eine resümierende Übersicht über die
Struktur des Bandes und die Inhalte der einzelnen Beiträge liefert und ohne
Umschweife in die Materie und die Charakteristika des Tagungsbandes einführt.
Nachfolgend stütze ich mich in vielen Punkten auf diese Einleitung.
The Making of Memory in the Middle Ages nähert sich der mittelalterlichen
memoria nicht in erster Linie von der Seite der Gedächtniskunst bzw.
Mnemotechnik an, wie dies viele vorangegangene Studien getan haben. Zwar
wird die ars memorativa, d. h. erlern- und trainierbare Strategien, die das Gedächtnis
in seiner Eigenschaft als „Speichermedium“ schulen und verbessern
sollten, durchaus behandelt, doch das Gros der Beiträge beschäftigt sich mit der
memoria als Erinnerung bzw. Rekonstruktion der Vergangenheit und als Realisierung
ethischer Normen.
Die drei Aspekte „Wiedererinnern von Merkinhalten“, „Rekonstruktion
der Vergangenheit“ und „Realisierung einer ethischen Norm“ haben laut Doležalová
und Visi ein Charakteristikum gemeinsam: Die memoria strebt danach,
eine virtuelle Realität für ein Individuum oder eine Gemeinschaft präsent zu
machen, wobei die einfließenden Erinnerungen konstruiert, erfunden oder in
unterschiedlicher Weise verzerrt sind.
Der vorliegende Tagungsband will einen Beitrag zum Perspektivenwechsel
leisten, der von der abwertenden Sicht auf das Mittelalter als einer Epoche,
in der Erziehung und Bildung – und damit die gesamte Kultur – durch
mnemotechnische Praktiken und Strategien mechanisiert wurden (hier kommt
der im Begriff der Mnemotechnik enthaltene Anteil der „Technik“ zum Tragen)
und somit individuelle Begabung, reine Verstandesarbeit und Innovationen
weniger galten als ererbte und passiv akzeptierte Werte, zu einer Sichtweise des
Mittelalters als einer Zeit führen soll, in der memoria als aktiv(er)er und kreativ(
er)er Prozess verstanden wurde. Grundlegende Ansätze für diesen
Perspektivenwechsel liefern die im Tagungsband immer wieder zitierten
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Meilensteine der jüngeren memoria-Forschung aus der Feder von Aleida und
Jan Assmann, Mary Carruthers, Janet Coleman und Patrick J. Geary.1
Aktiv und kreativ meint aber auch, dass memoria manipuliert wurde.
Dieser Aspekt wird in rezenten Untersuchungen über mittelalterliche memoria
wiederholt herausgestellt und auch im vorliegenden Tagungsband durchgehend
angesprochen. Im historischen Kontext wurde von der memoria-Forschung der
letzten Jahrzehnte betont, dass Erinnerung an die Vergangenheit nicht objektiv
ist bzw. nicht sein kann, sondern stets eine Konstruktion und oft die Schöpfung
eines bestimmten Autors zu einem bestimmten Zweck.
In diesem Zusammenhang hätte man nach meinem Dafürhalten auf ein
Gegensatzpaar zurückgreifen können, das allerdings durch seine Verankerung in
der Mnemotechnik obsolet geworden zu sein scheint: die Gegenüberstellung von
natürlichem und künstlichem Gedächtnis (memoria naturalis versus memoria
artificialis bzw. artificiosa), wie sie schon in der Rhetorica ad Herennium im
ersten vorchristlichen Jahrhundert formuliert wurde. Von den drei unterschiedlichen,
aber miteinander verquickten memoria-Aspekten, die im Tagungsband
behandelt werden, kann nur das „Wiedererinnern von Merkinhalten“ zum Bereich
der memoria artificialis gerechnet werden, die beiden anderen Aspekte,
„Rekonstruktion der Vergangenheit“ und „Realisierung einer ethischen Norm“,
gehören eher zur memoria naturalis. Daher kann man nicht ohne weiteres davon
ausgehen, dass auch die künstlich-mnemotechnische memoria Erinnerungen
manipuliert; denn gerade durch „Technik“ und „Mechanik“ garantiert sie eine
gewisse Objektivität.
Dies ist bei den beiden anderen Aspekten nicht der Fall. Dient die
memoria als Hilfsmittel, um Vergangenes zu rekonstruieren, dann bedeutet dies,
dass die noch auffindbaren Spuren der Vergangenheit oft zugunsten der
Gegenwart oder der Zukunft aktualisiert und darüber hinaus kontrolliert und
instrumentalisiert werden. Diesem Vorgang begegnet man sowohl im Totengedenken
als auch in der Propaganda von Machtapparaten. Wird die memoria eingesetzt,
um ethische Normen zu realisieren, dann wird sie zu einer Kraft, die den
Menschen auf dem rechten Pfad hält oder ihn wieder auf diesen zurückführt.
Dies kann ganz konkret durch das Erinnern an korrekte soziale Verhaltenswiesen
geschehen, in weiterem Sinne durch die memoria vorbildhafter Personen
oder durch Beispiel gebende Werke aus Literatur und Kunst.
Doležalová und Visi stützen sich in ihrer Argumentation auf Maurice
Merleau-Ponty, der das Gedächtnis im Kontext der Passivität des menschlichen
1 Die nachfolgend genannten Werke sind nur als Auswahl zu verstehen: Aleida Assmann,
Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen kulturellen Gedächtnisses. München 1999; Jan
Assmann: diverse Publikationen zum kulturellen Gedächtnis, u. a. in Zusammenarbeit mit seiner
Frau Aleida; Mary Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval
Culture. Cambridge 1990; Janet Coleman, Ancient and Medieval Memories. Studies in the
Reconstruction of the Past. Cambridge 1992; Patrick J. Geary, Phantoms of Remembrance.
Memory and Oblivion at the End of the First Millenium. Princeton 1996.
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Geistes betrachtet hat:2 Die memoria gehört demnach zu den passiven Geistesstrukturen,
d. h. sie wird nicht direkt vom Bewusstsein kontrolliert und kann daher
den Geist wirkungsvoll beeinflussen. Dies gilt erstaunlicherweise sowohl für
die individuelle als auch für die kollektive (soziale) memoria, die von der
jüngeren Forschung nicht mehr als streng getrennte Phänomene betrachtet
werden (Im einleitenden Beitrag von Slavica Ranković [1] finden sich weitere
Ausführungen zu individuellem und kollektivem Gedächtnis).
Ein weiterer anregender Aspekt des Bandes ist die Tatsache, dass auch der
Gegenpart des Erinnerns, das Vergessen, als wichtiger Bestandteil der mittelalterlichen
Memorialkultur Beachtung findet (siehe auch das Vorwort von Patrick
J. Geary; zur oblivio als Bedrohung und/oder Strategie siehe die Beiträge 19–
21)..
Summa summarum ist The Making of Memory in the Middle Ages ein sehr
empfehlenswerter Tagungsband – vorrangig für Historiker, aber auch für Kultur-,
Sozial- und Sprachwissenschaftler.3
Enttäuschend ist in diesem Band allein der Abschnitt über literarische
Strategien, insbesondere der gehaltlose Beitrag von Jon Whitman über die Fair
Maiden aus der Morte Darthur (12). Francesco Stella liefert zwar eine hervorragende
literarische Studie über die lateinische Landschaftslyrik Petrarcas
(11), doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er das Déjà-vu-
Phänomen vor allem deshalb so sehr bemüht, um seinen Beitrag in den memoria-
Kontext einfügen zu können. Lediglich der Artikel von Victoria Smirnova
über die Aktualisierung der Vergangenheit im Dialogus Miraculorum des Caesarius
Heisterbachensis (13) vermag in diesem Abschnitt zu überzeugen.
Dagegen bieten die anderen Kapitel des zweiten Teils in der Regel
fundierte und inspirierende Studien, so der Abschnitt über soziale Kontexte (mit
den Beiträgen von Lucia Raspe [16] und Carmen Florea [15]; die Vokabularstudie
von Előd Nemerkényi [14] fällt dagegen etwas ab), das Kapitel über individuelle
versus kollektive memoria (mit den Studien von Cédric Giraud [17],
Dávid Falvay [18] und Irene Bueno [19]) und der Passus über das Vergessen
(mit den Beiträgen von Vincent Challet [20] und Tamás Visi [21]).
Doch die Stärken des Tagungsbandes liegen gerade in seinem ersten Teil,
der sich mit dem Abspeichern und Wiedererinnern von Wissen befasst, obwohl
man sich der mittelalterlichen memoria gerade nicht von der mnemotechnischen
Seite annähern wollte. Allem voran sind hier die Beiträge von Lucie Doležalová
(5) und Laura Iseppi De Filippis (7) zu nennen, aber auch die Artikel von Farkás
2 Maurice Merleau-Ponty, L’institution dans l’histoire personnelle et publique – Le problème
de la passivité: Le sommeil, l’inconscient, la mémoire: Notes de cours au Collège de France
(1954–1955), hg. Dominique Darmaillacq, Claude Lefort und Stéphanie Ménasé (Paris–
Berlin 2003) 157-258, bes. 200-204 und 249-258.
3 Aufgrund des Umfanges des Tagungsbandes können in der folgenden Zusammenfassung
nicht alle Beiträge berücksichtigt werden. In den nachstehenden „Resümees“ wird dagegen
jeder einzelne Artikel kurz vorgestellt und gewürdigt.
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Gábor Kiss (3), Rafał Wójcik (4), Péter Tóth (9) und Bergsveinn Birgission
(10).
Dem sorgfältig redigierten Band ist ein Register (S. 487–499) beigegeben,
das das Verzeichnis der zitierten Handschriften (S. 492–494) einschließt. Insgesamt
hätte man sich das Register etwas ausführlicher gewünscht. Die 22
Schwarzweiß-Abbildungen und -Figuren sind in der Regel von guter Qualität
und wurden jeweils in die zugehörigen Texte eingefügt.
Resümees
Der erste Teil des Tagungsbandes (Beiträge 2–10) widmet sich dem Speichern
und Abrufen von Wissen, behandelt also mnemotechnische Aspekte. Die Beiträge
2–5 beschäftigen sich mit der Praxis der Gedächtniskunst, die Beiträge 6–
10 mit Gedächtnishilfen, womit in diesem Fall spezielle Texte oder Strategien
gemeint sind, die als mnemotechnisch interpretiert werden können.
Der zweite Teil des Tagungsbandes (Beiträge 11–24) beschäftigt sich mit
der memoria als Erinnerung der Vergangenheit, ob nun real oder imaginiert, und
eröffnet einen weiter gesteckten Kontext, in dem sich memoria beispielsweise
auf Identität, Ethik oder Politik bezieht. Die Beiträge 11–13 konzentrieren sich
auf die Analyse konkreter Aspekte der memoria in literarischen Quellen und
präsentieren literarische Strategien, die die Vergangenheit in die Gegenwart
(und Zukunft) projizieren. Die Studien 14–16 behandeln soziale Kontexte: Individuelle
Erinnerungen verquicken sich mit denjenigen einer Gemeinschaft,
wodurch sich die Verbindung zu den folgenden Beiträgen (17–19) ergibt, die
sich der Gegenüberstellung von individuellen und kollektiven Gedächtnissen
bzw. dem Transfer von persönlichen zu kollektiven Erinnerungen widmen. Die
Beiträge 20–24 beschäftigen sich mit den Problemen, die sich bei der (Re-)
Konstruktion der Vergangenheit selbst ergeben; dabei sind speziell die Studien
20 und 21 dem contrarium des Erinnerns, dem Vergessen, gewidmet.
(1) Da er über den mittelalterlichen Rahmen hinausgreift, wurde der
Beitrag der in Bergen tätigen Mediävistin Slavica Ranković „Communal
Memory of the Distributed Author: Applicability of the Connectionist Model of
Memory to the Study of Traditional Narratives“ den anderen Studien
vorangestellt. Grundlegend sind die auf rezenter neurobiologischer, kognitionspsychologischer,
philosophischer und sozialwissenschaftlicher Forschungsliteratur
basierenden Ausführungen über das individuelle und das kollektive Gedächtnis
(hier individual memory und communal memory), die verdeutlichen, dass das
persönliche Gedächtnis immer auch sozial ist bzw. dass zwischen individueller
und kollektiver memoria keine klare Grenzziehung möglich ist. Das in der
Kybernetik, Linguistik und in der KI-Forschung eingesetzte konnektionistische
Modell, das Systeme als Wechselwirkungen vieler miteinander vernetzter
einfacher Einheiten versteht, kann also auch in der memoria-Forschung
angewendet werden: Die miteinander vernetzten individuellen memoriae bilden
die kollektive memoria. „Distributed author(ship)“ bezeichnet eigentlich den
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Verlust der eindeutigen Autorschaft im digitalen Zeitalter, wenn etwa im
Internet mehrere Autoren, die sozusagen zu einem multiplen Autor werden, an
einem Text schreiben und diesen weiterentwickeln. Ranković wendet diesen
Begriff auf traditionelle, mündlich tradierte Erzählungen an, z. B. auf Sagen aus
Island oder epische Lyrik aus Serbien, um die Kohärenz dieser Texte und
gleichzeitig deren vernetzte Autorschaft zu charakterisieren.
(2) Die Historikerin Kimberly Rivers (Oshkosh) stellt in ihrer bebilderten
Fallstudie „Writing the Memory of the Virtues and Vices in Johannes Sintram’s
(d. 1450) Preaching Aids“ den Fasciculus morum vor, ein Predigerhandbuch mit
Tugenden- und Lasterbaum aus dem 14. Jahrhundert, das von dem als Lektor tätigen
Würzburger Franziskaner Johannes Sintram kopiert wurde, sowie den
Tractatus de viciis et virtutibus, den Sintram eventuell selbst verfasst hat. Die
Werke waren zum Memorieren von Predigten über Tugenden und Laster und für
Unterrichtszwecke gedacht. Bildliche Darstellungen und Verse belegen ihren
mnemotechnischen Charakter. Interessant sind Querverweise zwischen Text und
den Tugend- und Lasterbäumen, die einen Einblick in die Arbeitsweise des Autors
geben (S. 43).
(3) Mit der Präsentation eines ebenfalls für den praktischen Predigtgebrauch
gedachten und dem monastischen Umfeld entstammenden Schemas mit
drei mal vier Bildern aus dem Bereich der Heilsgeschichte, der irdischen Lebensumstände
und der Vier Letzten Dinge, das sowohl mit als auch ohne erklärendem
Text überliefert wurde, berührt der Budapester Altphilologe und
Hungarist Farkas Gábor Kiss in seinem Beitrag „Memory, Meditation and
Preaching: A Fifteenth-Century Memory Machine in Central Europe (The Text
Nota hanc figuram composuerunt doctors…/ Pro aliquali intelligentia…)“ noch
stärker den Bereich der visuellen Mnemotechnik als Kimberly Rivers. Kiss
bezeichnet dieses mnemotechnische Schema als „Maschine“, da es den Benutzer
nicht nur in die Lage versetzen sollte, die gesamte (!) Theologie zu erinnern,
sondern weil man mit seiner Hilfe u. a. auch Predigten improvisieren und Versuchungen
überwinden konnte. Interessant ist der Aspekt, dass dieses multifunktionale
Zwölferschema als Vorlage für ein Wandbild im nicht mehr existenten
Wiener Augustiner-Chorherrenstift St. Dorothea gedient haben könnte (S.
49). Der Beitrag ist gut bebildert und mit einem Anhang zur Überlieferungsgeschichte
des Textes Nota hanc figuram versehen, der 1473 unter dem Titel
Ars vitae contemplativae in Nürnberg gedruckt wurde.
(4) Auch der akademische Bibliothekar Rafał Wójcik (Poznań/Posen)
beschäftigt sich in seiner Studie „The Staging of Memory: Ars memorativa and
the Spectacle of Imagination in Late Medieval Preaching in Poland“ mit predigtbezogener
Mnemotechnik. Er untersucht, wie die Imagination von Jan Szklareks
Opusculum de arte memorativa ausgesehen haben könnte, und zieht hierzu
Predigtschauspiele, die von polnischen Observantenpredigern aufgeführt wurden,
als Vergleiche heran. Unter kontinuierlicher Verwendung von Theaterterminologie
arbeitet Wójcik heraus, wie sowohl die geistige Imaginationsbühne
des Predigers als auch das Predigtschauspiel das Memorieren erleichterten: Die
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Ähnlichkeit der imaginierten Charaktere mit den unterschiedlichen Typen von
Beispielpersonen in den Predigten halfen dem Publikum beim Einprägen und
Wiedererinnern der exempla.
(5) Folgediskussionen in der ars-memorativa-Forschung im Speziellen
und in der Handschriftenforschung im Allgemeinen dürfte der Beitrag „On Mistake
and Meaning: Scinderationes Fonorum in Medieval Artes Memoriae,
Mnemonic Verses, and Manuscripts“ von Lucie Doležalová auslösen, nicht nur,
da die Autorin die von Virgilius Maro Grammaticus behandelte Strategie der
scinderatio fonorum mit den Regeln der Gedächtniskunst und praktischen
Mnemotechniken des Spätmittelalters verknüpft, sondern vor allem, weil sie die
gewagte, aber anregende These aufstellt, dass ein Teil der Korrumpierungen, die
in der mittelalterlichen Textüberlieferung häufig zu konstatieren sind, ebenfalls
auf diese Strategie zurückzuführen sein könnten (S. 107). Scinderatio fonorum
(in etwa: das Aufbrechen der Wörter) meint Veränderungen in der Anordnung
der Wörter sowie ihre Aufspaltung, um Silben und Buchstaben umzustellen,
auszuwechseln oder ganz auszulassen – all dies nach Doležalovás Meinung, um
die Wahrnehmungsfähigkeit der Rezipienten zu schärfen, die diese „obskuren“
Schöpfungen entschlüsseln mussten. Die Autorin deckt Verbindungen zur
memoria verborum (neben der häufiger benutzten memoria rerum die zweite
Spielart des künstlichen Gedächtnisses) und zu mnemotechnischen Hilfsmitteln
wie kalendarischen und biblischen Merkgedichten auf.4 Da mittelalterlichen
Schreibern und Rezipienten diese Kodierungen und Dekodierungen vertraut
waren, könnten vermeintliche Fehler in der Texttradierung zuweilen ein
bewusster Akt gewesen sein, womit die Frage aufgeworfen wird, wo die Grenze
zwischen tatsächlicher Textkorruption und Bedeutung für die Textinterpretation
zu ziehen ist.
(6) Die Mediävistin Greti Dinkova-Bruun (Toronto) beschäftigt sich in
ihrem Artikel „The Verse Bible as Aide-mémoire“ mit Versbibeln des 12. und
frühen 13. Jahrhunderts, die geschaffen wurden, da sich Reime besser einprägen
lassen als Prosa und man damit dem ehrgeizigen Vorhaben gerecht werden
konnte, den umfangreichen Bibelstoff mnemotechnisch aufzubereiten. Anhand
des Hypognosticon des Laurentius von Durham, der Brevissima comprehensio
historiarum des Alexander von Ashby, der Aurora des Peter Riga und der Historiae
veteris testamenti des Leonius von Paris legt die Autorin dar, dass der
Memorierprozess mittels dieser Gedächtnishilfen kein mechanischer war. Die
Funktionsweise der Versbibeln wird am Beispiel der im Buch Genesis geschilderten
Zerstörung Sodoms demonstriert.5
(7) In ihrem Beitrag „Exhibete membra vestra: Verbal and Visual
Enthymeme as Late Medieval Mnemotechnics“ untersucht die Anglistin und
4 Zu den biblischen Merkhilfen gehört auch das Summarium Bibliae, mit dem sich Doležalová
in ihren Forschungen ebenfalls beschäftigt hat.
5 Eine ähnliche exemplarische Studie von Dinkova-Bruun, hier zur Geschichte von Joseph
und seinen Brüdern, mit dem Titel „Rewriting Scripture: Latin Biblical Versification in the
Later Middle Ages“ in: Viator 39/1 (2008),.263–284.
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Mediävistin Laura Iseppi De Filippis (Verona) die Verwendung von Enthymemen
– das sind rhetorische bzw. dialektische Schlüsse mit nicht ausgesprochenen
Prämissen – in der spätmittelalterlichen englischen Laienkultur. Dafür wählt
sie das Beispiel einer Wandmalerei mit dem Thema „Mahnung für Schwörende“
(Broughton, frühes 15. Jahrhundert, Abb. 7), die sie als mnemotechnische Visualisierung
von Predigtpassagen (u. a. aus John Mirks Festial) über die Sünde,
auf die Gliedmaßen Christi zu schwören, annimmt. Bei der visuell-mnemotechnischen
Umsetzung wurden nach Meinung der Autorin Enthymeme als Strukturierungsmittel
eingesetzt. Wie Doležalová (vgl. Beitrag 5) bei der Entschlüsselung
der scinderationes geistig agile Leser voraussetzt, so geht auch Iseppi De
Filippis davon aus, dass die Rezipienten einer Wandmalerei wie der „Mahnung
für Schwörende“ deren mehrschichtigen Komplexität verstehen konnten, da sie
mit mnemotechnischen Strukturen wie z.B. imagines agentes vertraut und daher
in der Lage waren, derartige Schemata zu enträtseln (S. 147).
(8) Eine weitere textbezogene Fallstudie („The Late Medieval Summa
Iovis as a Case Study for the Use of Poems as Mnemonic Aids“) steuert der
Mittellateiner und Historiker Rüdiger Lorenz (Freiburg) bei. Das anonyme
didaktische Gedicht Summa Iovis de arte dictandi (wahrscheinlich 2. Hälfte 13.
Jahrhundert), das vor allem in spätmittelalterlichen Handschriften überliefert ist,
basiert auf der Summa dictaminis des Guido Faba (Bologna, 13. Jahrhundert)
und lehrt Grammatik und die Kunst des Briefeschreibens. Die interessante
These, dass Schlüsselwörter an bestimmten Positionen des Verses positioniert
und dadurch hervorgehoben worden sein könnten, kann Lorenz nicht bestätigen.
Wesentlich aufschlussreicher ist neben der eher banalen Feststellung, dass
Metrik und die kondensierende Versform den Memoriervorgang erleichterten,
die von Lorenz anhand eines Vergleiches mit Fabas Summa gewonnene Erkenntnis,
dass der Inhalt der Summa Iovis in seinen Haupt- und Unterpunkten in
eine logische Rahmenstruktur gebracht wurde, die es dem Benutzer erlaubte, die
zu lernenden Fakten im Gedächtnis zu behalten.
(9) Der Altphilologe und Handschriftenkurator Péter Tóth (Budapest)
lenkt in seinem komplexen Beitrag „Pseudo-Apocryphal Dialogue as a Tool for
the Memorization of Scholastic Wisdom: The Farwell of Christ to Mary and the
Liber de vita Christi by Jacobus“ das Augenmerk auf das wenig erforschte
Genre der Passionserzählungen, denen man, häufig in Dialogform, kurios-geheime
Details über die letzten Tage und Stunden Christi hinzufügte. Als Quelle
dieser Additionen wurden gerne verlorene Werke angeführt, darunter der Liber
de vita Christi quem scripsit Jacobus frater Domini, der die Abschiedsworte
zwischen Christus und seiner Mutter wiedergibt. Der Autor identifiziert dieses
Werk mit den pseudo-bonaventurianischen Meditationes vitae Christi, die in der
italienischen Überlieferung einem gewissen Jacobo zugeordnet werden, woraus
die Zuschreibung an den „Herrenbruder“ Jakobus, der in der Tradition der
katholischen Kirche mit dem Apostel Jakobus dem Jüngeren gleichgesetzt wird,
resultieren könnte. Durch diese Zuschreibung wurde die Autorität dieser Quelle
noch erhöht. Tóth charakterisiert sie als pseudo-apokryphen Dialog mnemotech48
nisch-didaktischen Charakters, mit dessen Hilfe Kleriker die essentiellen Fragestellungen
zur Passion Christi im Sinne der scholastischen Lehre, formuliert von
den heiligen Personen selbst, zum einen sich selbst verinnerlichen und darüber
hinaus den Laien vermitteln konnten. Im Anhang Fragmente zum Liber de vita
Christi. – Zur Passions-memoria siehe auch Beitrag 15.
(10) Der Altnordist Bergsveinn Birgisson (Bergen) stellt in seinem
Beitrag „The Old Norse Kenning as a Mnemonic Figure“ ein Stilmittel der auf
oraler Tradition basierenden skaldischen Dichtung vor: die Kenning, mit der die
poetische Umschreibung einfacher Begriffe gemeint ist (z. B. „Meerespferd“ für
„Schiff“). Der Autor schreibt diesem Stilmittel sowohl auf der Basis der antiken
memoria-Tradition als auch im Rahmen der kognitiven Psychologie mnemotechnischen
Charakter zu, da die Kenning-Metaphern einerseits aufgrund ihrer
„contrast-tension“ das Kriterium des Bizarren bzw. Beeindruckenden noch besser
erfüllen als die imagines agentes. Andererseits verquicken Kennings alle
psychologisch erforderlichen Eigenheiten (aufmerksamkeitserzeugend, verständlich,
ausgeprägt und interaktiv), um als leicht memorierbare Bilder gelten
zu können. Dabei hebt Birgisson hervor – und dies ist der interessanteste Aspekt
seiner Studie –, dass in einer oral geprägten Gesellschaft wie der altnordischskandinavischen,
die bildbezogener dachte als unsere moderne westliche Gesellschaft,
deren Denkweise sprachlich ausgerichtet ist, visuelle Metaphorik ganz
selbstverständlich eine zentrale Rolle bei der Memorierung von Texten spielte
(S. 212). – Zur altnordischen Thematik siehe auch Beitrag 23.
(11) Der Mittellateiner Francesco Stella (Siena) verknüpft in seinem
Beitrag „The Landscape as a Memory Construction in the Latin Petrarch“ das
Déjà-vu-Phänomen, das von der Psychologie als eine Art von Wiederholungseffekt
erklärt wird, welcher einen Eindruck in das Gedächtnis transferiert und eine
unmittelbare Verbindung zwischen Wahrnehmung und Gedächtnis etabliert,
mit Petrarcas Landschaftsdarstellungen in dessen Itinerarium und in den Epistolae
metricae, letztere ein Exempel für die wenig untersuchte lateinische Lyrik
des Poeta laureatus. Laut Stella ist der Rezipient mittelalterlicher lateinischer
Literatur, die auf eine lange Tradition zurückgreift, einem permanenten Déjà-vu-
Effekt ausgesetzt, da einmal geprägte, ausdrucksstarke Formeln bei der Beschreibung
analoger Inhalte immer wieder angewendet wurden. Dieses Phänomen
begegnet auch im Itinerarium und in den Epistolae, da Petrarca jeden
physischen Raum als einen mentalen interpretiert, in dem Topographie, Biographisches
und historische memoria zusammenfließen.
(12) Der Literaturwissenschaftler Jon Whitman (Jerusalem) demonstriert
in seiner Studie „Posthumous Messages: Memory, Romance and the Morte
Darthur“, das Wechselspiel zwischen Vergangenheit und deren Widerhall in
(Gegenwart und) Zukunft anhand der Geschichte der Fair Maiden of Ascolat aus
Thomas Marlorys Roman Morte Darthur (spätes 15. Jahrhundert). Die Fair
Maiden setzt, bevor sie wegen ihrer unerwiderten Liebe zu einem Artusritter
stirbt, eine Nachricht über diese Liebe auf und arrangiert, dass diese Nachricht
zusammen mit ihrem Leichnam zum Artushof gebracht wird. Malory lässt die
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Jungfrau ihre gespenstischen, zukunftsorientierten Äußerungen mit eindringlicher
Stimme sprechen, wodurch ein Spannungsbogen zwischen Vergangenheit
und Zukunft geschaffen wird.
(13) Victoria Smirnova (Moskau) arbeitet in „And nothing will be wasted:
Actualization of the Past in Caesarius of Heisterbach’s Dialogus Miraculorum“
heraus, dass der Zisterziensermönch Caesarius Heisterbachensis (13. Jahrhundert)
im Dialogus Miraculorum die Vergangenheit bewusst aktualisiert hat. Im
Rahmen eines Dialogs zwischen einem Mönch und einem Novizen formt er die
Wunder, die sich im Zisterzienserorden ereignet hatten, zu exempla um, wobei
diese Exemplarisierung nicht nur eine rhetorische, sondern auch eine mnemotechnische
Prozedur ist. Im Vergleich mit anderen exempla-Sammlungen konstatiert
die Autorin, dass die memoria im Dialogus Miraculorum eines der wichtigsten
genrebildenden Elemente darstellt.
(14) Der Mittellateiner Előd Nemerkényi (Budapest) untersucht in seinem
Beitrag „The Latin Vocabulary of Memory in Medieval Hungary“ lexikalische
memoria-Belege aus dem Bereich der lateinischen Grammatik und der Kunst
des Briefeschreibens, im Urkundenwesen (mit speziellem Bezug zum Prosastil
und der biblischen Tradition), im Bereich der Erziehung, in den Legenden um
König Stephan von Ungarn und in den Gesta Hungarorum.
(15) Die Historikerin Carmen Florea (Cluj/Klausenburg) legt in „The
Construction of Memory and the Display of Social Bonds in the Life of the
Corpus Christi Fraternity from Sibiu (Hermannstadt, Nagyszeben)“ dar, welche
Rolle die memoria in der Corpus-Christi-Bruderschaft im spätmittelalterlichen
transsilvanischen Hermannstadt spielte. Gemeint ist hier zum einen die
Erinnerung an die Passion Christi (vgl. Beitrag 9) mittels regelmäßiger Donnerstagsmessen
und -prozessionen, aber auch das Andenken (in Form von Gottesdiensten
und Bestattungsfeierlichkeiten) an verstorbene Mitglieder der Bruderschaft,
an deren Angehörige, aber auch an Arme und Fremde, die in Hermannstadt
starben. Da die Autorin zudem die sozialen Bindungen aufzeigt, die anhand
des intensiven Eucharistiekults innerhalb der städtischen Gesellschaft von
Hermannstadt entstanden (Integration von Frauen in die Fraternitas, Taten der
Nächstenliebe, Zusammenhalt gegen Feinde), liefert sie einen informativen Einblick
in das religiöse und soziale Gefüge einer spätmittelalterlichen Stadt.
(16) Die Judaistin Lucia Raspe (Frankfurt am Main) geht in ihrer gut
bebilderten Studie „Props of Memory, Triggers of Narration: Time and Space in
Medieval Jewish Hagiography“ der Frage nach, wie sich memoria in jüdischen
Diasporagemeinden herausbildete und wie sie überliefert wurde. Da es im
Mittelalter eigentlich keine jüdische Geschichtsschreibung gab, dienten laut
Raspe Hagiographie und Verknüpfungen mit der lokalen Topographie als Ersatzvehikel
jüdischer memoria: Man verquickte Erzählungen über Gelehrte und
Weise (als Beispiele dienen zwei Rabbis, die im 11. Jahrhundert in den Schum-
Städten Mainz und Worms wirkten) mit liturgischen Hymnen, um ihre schriftliche
Fixierung zu legitimieren, und verband andere Legenden mit dem
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physischen Raum (Synagogen, Gräbern), wodurch diese Erzählungen überdauerten.
(17) Der Historiker Cédric Giraud (Nancy) beschreibt in seinem Artikel
„Anselm of Laon in the Twelfth-Century Schools: Between fama and memoria“,
wie in den Schulen des 12. Jahrhunderts die memoria des als präzise und
moderat geltenden Anselm von Laon († 1117) eingesetzt wurde, um intellektuelle
Debatten – ohne ständig auf die „verstaubten“ Vorlagen der Kirchenväter zurückgreifen
zu müssen – im Sinne der scholastischen Tradition zu steuern. Aus
eben diesem Grund wurde Anselms memoria auch als Argument in den Prozessen
gegen Gilbert von Poitiers und Peter Abaelard, der als Typus des neuen
Meisters mit einer auf Vernunft und persönlichem Genie basierenden Lehre galt,
in die Waagschale geworfen.
(18) Der Italianist und Historiker Dávid Falvay (Budapest) analysiert in
seinem Beitrag „Memory and Hagiography: The Formation of the Memory of
Three Thirteenth-Century Female Saints“ am Beispiel von Elisabeth von Ungarn,
Margarete von Ungarn und Guglielma von Mailand die unterschiedlichen
Ebenen und Formen ihrer religiösen memoria vom 13. bis zum 16. Jahrhundert.
Dabei differenziert er direkte (oder persönliche), kollektive, offizielle (oder
kultische) und modifizierte (oder gemischte) memoria und zeichnet nach, wie
persönliche zu kollektiver memoria wird, um dann schriftlich fixiert zu werden
bzw. wie sich die ursprünglichen (niedergeschriebenen) Zeugnisse über das
Leben der Heiligen schrittweise verändern. Da Guglielma von ihren Anhängern
zwar als göttliche Persönlichkeit verehrt, von der Kirche jedoch als Ketzerin
verdammt wurde, kann der Autor sowohl Einblicke in die Mechanismen von
Inquisitionsprozessen als auch von Kanonisierungsverfahren (im Fall von
Elisabeth und Margarete von Ungarn) liefern, womit er interessante Informationen
zur Quellenarbeit mit mittelalterlichen Gerichtsakten an die Hand gibt.
Im Falle der Guglielma von Mailand lässt sich zudem eine Form der damnatio
memoriae konstatieren: Nachdem bereits ihre Anhänger und die Örtlichkeiten
ihres Andenkens vernichtet worden waren, versuchte die Inquisition, auch aus
ihrer Vita jegliche positive Erinnerung zu tilgen.
(19) Auch die Historikerin Irene Bueno (Florenz) beschäftigt sich in ihrer
ausführlichen Studie „Dixit quod non recordatur: Memory as Proof in
Inquisitorial Trials (Early Fourteenth-Century France)“ mit Inquisitionsakten.
Vornehmlich anhand der katharischen Zeugenaussagen, die Jacques Fournier,
der Bischof von Pamiers, gesammelt hat, arbeitet die Autorin heraus, dass die
Befragten ihre Aussagen an die Erwartungshaltung des Inquisitors anpassten
(selektive memoria) bzw. dass das rigide, von Druck und Folter getragene
Schema der inquisitorischen Fragekataloge mit ihrem festgefassten
Beweisbegriff die Erinnerungen der Aussagenden modifizierte. Die häufig in
den Akten zu findende Wendung Dixit quod non recordatur drückt Bueno
zufolge nicht nur aus, dass der Angeklagte sich tatsächlich nicht erinnern
konnte; das Vergessen (oblivio) könnte auch vorgeschoben worden sein, wenn
sich der Angeklagte durch das Befragungssystem verwirrt sah. Zudem erscheint
51
die Formel häufig, sobald sich eine Diskrepanz zwischen der Aussage des
Ketzers und der Geschichte, die dem Inquisitor bereits bekannt war, auftat. –
Die Beiträge von Bueno und Dávid Falvay (18) ergänzen sich bestens.
(20) Das Phänomen der damnatio memoriae, d.h. der langwierige, oft
mehrere Jahrzehnte dauernde Prozess der Verdammung und Zerstörung des
Andenkens an eine Person oder ein Ereignis, das Dávid Falvay am Beispiel der
Guglielma von Mailand demonstriert, wird von dem Historiker Vincent Challet
(Montpellier) in seinem Artikel „Peasants’ Revolts Memories: Damnatio
memoriae or Hidden Memories?“ anhand mittelalterlicher Bauernaufstände
untersucht. Die attackierten Herrscher töteten nicht nur die Aufständischen
und/oder zerstörten deren Gemeinden, sondern versuchten auch auf sprachlicher
Ebene (z. B. durch pejorative Benennung der Rebellen oder das Verbot, über
einen Aufstand zu sprechen), die memoria einer Revolte vergessen zu machen.
Das Ergebnis dieser Repressionen wurde mit Hilfe von Befragungen
kontrolliert, bei denen Challet verzerrende Mechanismen konstatiert, wie sie
auch für andere inquisitorische Verhöre festgestellt wurden (vgl. die Beiträge 18
und 19). Da zumindest ein Teil der Aufständischen durch die Gemeindestrukturen
eine gewisse Vertrautheit mit der Schriftkultur hatte, blieb trotz der
herrscherlichen damnatio memoriae ein mehr oder weniger verborgenes
Andenken an die Revolte erhalten. Im Anhang Verhörprotokollauszüge (Alès
und Nîmes, 1416) sowie ein Volksliedtext aus einem Bauernaufstand in der
Normandie (15. Jahrhundert).
(21) Der Historiker und Judaist Tamás Visi (Olomouc/Olmütz) vollzieht
in seinem komplexen Beitrag „Remembering and Forgetting Idolatry: Moses
Maimonides, Moses Narboni, and Eliezer Eilburg on the Biblical Past“ nach,
wie der Gelehrte Moses Maimonides (1138–1204), der die Sabier, eine die
Gestirne verehrende Religionsgemeinschaft, die zu seinen Lebzeiten untergegangen
war, wiederentdeckte und deren Literatur als Teil der verlorenen Chroniken
aus biblischer Zeit identifizierte. Die Gebote der Tora sind für Maimonides
historische Beweise für die Existenz des göttlichen Plans, im Konflikt zwischen
dieser heidnischen Religion und dem Monotheismus die Erinnerung an die
Idolatrie auszulöschen. Das in der göttlichen Intention enthaltene Verhältnis
zwischen Erinnern und Vergessen, für die Visi jeweils zwei Konzepte unterscheidet,
löschte die Erinnerungen an die heidnischen Praktiken nicht vollständig
aus, sondern ist eher als eine Art Umprogrammierung der memoria der
Israeliten zu verstehen. Die Rezeption des Moses Maimonides enthüllt die
Gefahren, die in der Erinnerung der Vergangenheit liegen: Moses Narboni (Südfrankreich,
14. Jahrhundert) und Eliezer Eilburg (Mähren, 16. Jahrhundert) waren
überzeugt, dass Maimonides in Wirklichkeit eine esoterisch-magische Doktrin
vertrat, und interpretierten ihrerseits das Judentum als Astralkult und die
biblischen Wunder als Magie.
(22) In seiner Studie „The Past as a Precedent: Crusade, Reconquest and
Twelfth-Century Memories of a Christian Iberia“ zeigt der Historiker William J.
Purkis (Birmingham) anhand von Schriftquellen aus der Mitte des 12.
52
Jahrhunderts auf, wie iberische Christen das westgotische, also vorislamische
Erbe Spaniens und die Geschichte des christlich-islamischen Verhältnisses
erinnerten. Wenn im 11. Jahrhundert die nordspanischen Christen, die mit ihren
muslimischen Nachbarn häufig kooperierten, gegen Süden expandierten, dann
ist das eher als „conquista“ denn als Reconquista zu verstehen. Veritable
Reconquista-Ideen, deren Wurzeln im Königreich Asturien-León liegen, das
sich als Nachfolger des westgotischen Reiches sah, entstehen erst Ende des 11.
Jahrhunderts unter dem Einfluss des Papsttums und seiner Kreuzzugsaufrufe.
Eine motivierende Rolle spielte hierbei die Historia Turpini (um 1140), in der
Karl der Große als Vorbild positioniert wird, da er schon im 8. Jahrhundert für
die Wiedereroberung Spaniens gekämpft hatte. Auch die Ankunft der Almoraviden,
einer muslimischen Berberdynastie aus Nordafrika, in Spanien (1086)
löste Reconquista-Bestrebungen aus, da diese Invasion die gleiche Bedrohung
für die iberischen Christen – so auch für den Autor der Denkschrift De
expugnatione Lyxbonensi (um 1148) – darstellte, wie die ursprüngliche Invasion
von 711.
(23) Die Altnordistin Else Mundal (Bergen) arbeitet in ihrem Artikel
„Memory of the Past and Old Norse Identity“ heraus, wie in der altnordischen
Gesellschaft durch die memoria der Vergangenheit eine Identitätsstiftung auf
zwei Ebenen geleistet wurde: Erstens die Identität des Individuums und der
Familie durch die memoria der Vorfahren und deren Geschichten; hierbei ist
bemerkenswert, dass es für den Einzelnen wesentlich wichtiger war, wie man
von den kommenden Generationen erinnert wurde, als die Beurteilung durch die
Zeitgenossen; denn in der altnordischen Gesellschaft stellte die Erinnerung der
Gemeinschaft an einen Verstorbenen eine Art Jenseits auf Erden dar (S. 464).
Zweitens die Identität der nationalen Gemeinschaft durch die Erinnerung an
wichtige historische Ereignisse, gemeinsame Mythen und die Geschichten über
Könige und Helden. Die memoria der Herrschenden wurde durch die Gedichte
der Skalden geformt, wobei die orale Prägung der altnordischen Gesellschaft
eine entscheidende Rolle (vgl. Beitrag 10) spielte. Auch die Zeugnisse der
altnordischen Schriftkultur wurden laut Mundal bewusst zur Stärkung der
kollektiven Identität eingesetzt. Im Zuge der Christianisierung waren es dann die
biblischen Erzählungen, die zur Stiftung einer christlichen Identität im Norden
beitrugen.
(24) Über einen gewissen Zeitraum war es mit Hilfe von gestifteten
Bildern, Skulpturen oder auch Gebäuden möglich, die memoria der Verstorbenen
lebendig zu erhalten, was wiederum notwendig war, damit für ihre Seelen so
viele Gebete wie möglich gesprochen werden konnten. Dies ist der Ausgangspunkt
der bebilderten Studie „In memoriam defunctorum: Visual Arts as Devices
of Memory“, in der die Kunsthistorikerin Milena Bartlová (Brno/Brünn) die
Funktion der spätmittelalterlichen visuellen Künste bei der Etablierung der
persönlichen religiösen memoria nach dem Tode untersucht. Sehr interessant ist
die These, dass der dabei entstehende Bedarf an innovativen und „auffälligen“
Bildern einer der Hauptgründe für die formalen künstlerischen Entwicklungen
53
und die stilistischen Erneuerungen der Zeit gewesen sein könnte (S. 480).
Häufig unterlag die memoria der Stifter jedoch einschneidenden Veränderungen,
was zahlreiche Fälle „vergessener memoria“ beweisen, bei denen die moderne
Forschung Identifizierungsarbeit leisten musste.
M E D I U M A E V U M
Q U O T I D I A N U M
62
KREMS 2011
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramèr
ISSN 1029-0737
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, 3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. –
Druck: Grafisches Zentrum an der Technischen Universität Wien, Wiedner
Hauptstraße 8-10, 1040 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ……………………………………………………..…………….…… 4
Angelika Kölbl, Frauen im Allgemeinen und Ehefrauen im Besonderen.
Zur frauendidaktischen Relevanz der Lehrdichtung des
„Seifried Helbling“ ……………………………………………….……… 6
Kateřina Horničková, Contextualising and Visualising Saints
in the Fourteenth and Fifteenth Centuries …….……………………….. 21
Susanne Rischpler, Memoria Mittelalter – aktiv, passiv oder manipuliert?
Rezensionsartikel zu Lucie Doležalová (Hg.),The Making of Memory
in the Middle Ages (Leiden und Boston: Brill, 2010) …………………. 40
Buchbesprechungen ………………………………………………………..….. 54
Anschriften der AutorInnen ….…………..……………………………………. 62
4
Vorwort
Das vorliegende Heft von Medium Aevum Quotidianum beinhaltet zwei
Schwerpunktartikel, welche sich einerseits auf die Analyse literarischer und andererseits
auf die Untersuchung visueller Quellen beziehen. Die Germanistin
Angelika Kölbl widmet sich der Lehrdichtung des sogenannten „Seifried Helbling“
und seinen genderspezifischen Inhalten, die bis dato in der Forschung interessanterweise
erst wenig Beachtung gefunden haben. Sie kann dabei feststellen,
dass sich die Didaxe dabei hauptsächlich auf verheiratete Frauen bezieht.
Der zweite Beitrag ist ein erstes Ergebnis im Rahmen einer internationalen
und interdisziplinären Forschungskooperation im EUROCORECODE-Programm
(„European Comparisons in Regional Cohesion, Dynamics and Expressions)
des EUROCORES-Schemas („European Collaborative Research“) der
European Science Foundation. Drei EUROCORECODE-Projekte beschäftigen
sich hierbei mit der Rolle von Regionen und regionalen Entwicklungen in der
Vergangenheit und Gegenwart Europas:
o Das „Unfamiliarity“-Projekt („Unfamiliarity as signs of European times:
scrutinising historical representations of otherness and contemporary daily
practices in border regions“) konzentriert sich auf die Analyse von Alltagspraktiken
der Bewohner von Grenzregionen innerhalb der Europäischen
Union.
o Das „Cuius Regio“-Projekt („Cuius Regio. An analysis of the cohesive
and disruptive forces destining the attachment of groups of persons to and
the cohesion within regions as a historical phenomenon“) zielt auf die
komparative Analyse einer Gruppe von europäischen Regionen über sieben
Jahrhunderte in Bezug auf deren kohäsive und disruptive Dynamiken.
o Das Projekt „Symbols that bind and break communities: Saints’ cults as
stimuli and expressions of local, regional, national and universalist identities“
setzt sich mit der mittelalterlichen Heiligenverehrung und ihren modernen
Aneignungen auseinander, um damit den Wandel kultureller und
sozialer Werte in unterschiedlichen Regionen Europas (im Besonderen
Zentraleuropas und Nordeuropas) festzustellen. Forschungsinstitutionen
in Dänemark, Estland, Norwegen, Österreich und Ungarn kooperieren in
diesem Projektverbund. Das Kremser Institut für Realienkunde der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften beschäftigt sich dabei vor al5
lem mit der visuellen Repräsentation von Heiligen und deren regionalen
Spezifika und Entwicklungen.
In jenem Kremser Forschungszentrum entstand der Beitrag der Projektmitarbeiterin
Kateřina Horničková. Er setzt sich mit den regionalen Kontextualisierungen
und Unterschieden von spätmittelalterlichen Heiligendarstellungen
in Österreich und Böhmen auseinander.
Gerhard Jaritz