84
Raum für Heilige und Heilsgeschehen.
Fragen zu Bild-Settings des Passionsaltars
der heutigen Pfarrkirche in Pöggstall (Niederösterreich)
Isabella Nicka
Dass Pöggstall im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit eine herausragende
Position innehatte, vermittelt selbst heutigen BesucherInnen der im südwestlichen
Waldviertel gelegenen Marktgemeinde noch eindrucksvoll der im Zentrum
gelegene Schlossbau mit vorgelagerter Barbakane. Der Baukomplex, wenn auch
auf eine Anlage des 13. Jahrhunderts zurückgehend, ist vor allem Manifestation
der Bedeutung eines der einflussreichsten Adelsgeschlechter im Land unter der
Enns, der Herren von Roggendorf.1 Kaspar von Roggendorf erwarb 1478
Schloss und Herrschaft Pöggstall; bis 1601 blieben diese in Familienbesitz.
Eine der baulichen Veränderungen, welche die neue Herrschaft nach der
Übernahme herbeiführte, war die Errichtung einer Schlosskirche östlich der
Anlage. Jenseits des Schlossgrabens gelegen, war sie durch eine schmale Steinbrücke
bzw. einen holzgedeckten Gang in der Höhe des ersten Stockes mit dem
Schloss verbunden.2 Das Patrozinium der Kirche – sie war dem Hl. Ägidius geweiht
– dürfte eine Kontinuität zu jenem einer Schlosskapelle darstellen, wie sie
für die Anlage vor den Roggendorfern angenommen wird.3 In einem Verzeich-
1 Zur Bedeutung der Roggendorfer bzw. deren teils als inadäquat zu bezeichnende Präsenz in
Überblicksdarstellungen österreichischer Geschichtsforschung, siehe Andreas Zajic, Kaspar
von Roggendorf (gest. 1506). Karrierist und Kunstliebhaber In: Waldviertler Biographien
Bd. 2, hg. von Harald Hitz u. a. (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 45) Horn-
Waidhofen a. d. Thaya 2004, 9-32, hier 11, Anm. 4.
2 Herbert Neidhart, Aus der Geschichte Pöggstalls. Von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Pöggstall 2007, 46.
3 Neidhart, Geschichte Pöggstalls 37. Die Existenz einer Schlosskapelle zum Hl. Ägidius
wird auch durch die Stiftung eines Bürgers greifbar; Alois Plesser u. a. (Bearb.), Die
Denkmale des politischen Bezirks Pöggstall. (Österreichische Kunsttopographie IV) Wien
1910, 164. Auf die bestehende Relevanz dieses Heiligen für Pöggstall vor der Herrschaftsübernahme
durch die Roggendorfer weist auch die Abhaltung des Jahrmarktes an
dessen Gedenktag, an sannd Gilgen tag, hin, wie einer Urkunde Kaiser Friedrichs III. vom
85
nis des Jahres 15484 werden für die Schlosskirche nicht weniger als sechs Altäre
– zwei davon auf der Westempore der Kirche situiert – genannt, die neben den
ebenfalls dort gelisteten Wappen und Fahnen der Roggendorfer, zwei Kelchen,
elf Messgewändern und verschiedenen weiteren liturgischen Geräten von der
reichen Ausstattung der Kirche zeugen.5
Einer dieser Altäre, der sich auch heute noch in der seit 1810 zur
Pfarrkirche und unter das Patrozinium der alten Pfarrkirche, St. Anna, gestellten
Schlosskirche befindet, möchte ich in den Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen
rücken.
Abb. 1: Flügelaltar in Pöggstall, Ansicht bei geschlossenen Flügeln, um 1490/1500
17. Juli 1459 zu entnehmen ist: http://regesten.regesta-imperii.de/index.php?uri=1451-07-
17_1_0_13_13_0_212_211 (letzter Zugriff 3. Dezember 2010).
4 Herbert Neidhart, Aus der Geschichte Pöggstalls: Die Herren von Rogendorf (2. Teil). In:
Das Waldviertel 42 (1993) 126-141, hier 139 f.
5 Neidhart, Geschichte Pöggstalls 81.
86
Vergessenes Kulturgut?
In Pöggstall hat sich das aus der Zeit um 1490/1500 stammende Flügelretabel
erhalten, dessen gemalte Wappen der Roggendorfer auf der Predella es als im
Auftrag der Herrschaft entstandenes und wohl auch als sich an seinem angestammten
Platz befindendes Objekt, ausweisen. Heute als Hochaltar in Verwendung,
dürfte es mit Ausmaßen von über drei Metern Höhe und zwei Metern
Breite auch im mittelalterlichen Kirchenensemble einen eminenten Platz eingenommen
haben. Der Flügelaltar, bestehend aus Schrein und Standflügeln sowie
einem Paar beweglicher Flügel, zeigt bei geschlossenem Zustand acht männliche
Heilige in zwei Registern (Abb. 1); bei geöffneten Flügeln präsentiert er
der/dem BetrachterIn vier gemalte Szenen der Passion Christi sowie eine dreifigurige
Kreuzigung mit Engeln im Schrein (Abb. 2).
Abb. 2: Flügelaltar in Pöggstall, Ansicht bei geöffnetem Schrein, um 1490/1500
87
Leider erfuhr dieses spätgotische Bildwerk kaum kunsthistorische Aufmerksamkeit.
Hans Tietze ordnete 1910 den Pöggstaller Altar einer Entwicklung
zu, deren Ausgangspunkt der „elegante höfische Stil des XV. Jhs. [ist], der von
Böhmen einerseits, von Wien andererseits ausgehend, auch die provinziellen
Erzeugnisse der zweiten Hälfte des Jhs. beeinflußt.“6 1930 erwähnte Otto Benesch
im Zuge seiner Studie zum Meister des Krainburger Altars den Altar in
Pöggstall. Er sah ihn im Unterschied zu Tietze in Zusammenhang mit einem in
den 90er-Jahren des 15. Jahrhunderts stattfindenden „lebhaften Meister- und Gesellenaustausch“
zwischen Wien und den Vertretern der Salzburger Schule,
weshalb in der Folge „auf niederösterreichischem Boden Werke einer Salzburger
Werkstatt [entstanden], die mit der heimischen Tradition ganz starke Landshuter
Einflüsse verquickt.“7
Wie bei Tietze und Benesch handelt es sich bei Publikationen, die Notiz
von dem Pöggstaller Kunstwerk nehmen,8 meist um kurze Beschreibungen und
stilistische Einordnungen desselben. Neben dem immer wieder angesprochenen
„provinziellen Charakter“ des Flügelretabels, der in der Vergangenheit vielfach
eine eingehendere kunsthistorische Auseinandersetzung verhinderte, war auch
der prekäre konservatorische Zustand9 für die, nach den 1930er-Jahren praktisch
inexistente Beschäftigung mit dem Altar verantwortlich.
Die Predella wurde bereits im späten 17. Jahrhundert, vermutlich im Zusammenhang
mit dem Tabernakelbedarf, unter Beibehaltung der originalen Predellenflügel
teilweise erneuert. 1843 wurde die Kreuzigungsgruppe demontiert
und als Schreinaufsatz verwendet und die beweglichen Flügel an die äußeren
Seiten der Standflügel montiert. Das Innere des Schreins wurde mit neugotischen
Einbauten versehen.10 Diese Einbauten wurden 1966 wieder entfernt und
durch eine gotische Mondsichelmadonna, die heute freistehend in der Pfarrkirche
Aufstellung gefunden hat, ersetzt.11 Erst eine umfangreiche Restaurierung
von 1999 bis 2001 konnte den originalen Zustand insofern wiederherstellen, als
die – wie anhand der Aussparungen des Pressbrokats der Schreininnenseite
nachgewiesen werden konnte – definitiv zum Schrein gehörige Kreuzigungsgruppe
wieder an ihren angestammten Platz rückversetzt wurde. Die Gemälde,
das Schreininnere, sowie das Schleierbrett und die Skulpturen konnten auf die
6 Hans Tietze, Kunstgeschichtliche Übersicht.Iin: Plesser, Denkmale II-XXVIII, hier XXII f.
7 Otto Benesch, Der Meister des Krainburger Altars. In ders., Collected Writings, Bd. III:
German and Austrian Art of the 15th and 16th Centuries. New York 1972, 154-237, hier 220
[erstmals erschienen in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 7 = 21 (1930) 120–200].
8 Ein Überblick über die spärliche Sekundärliteratur findet sich in Neidhart, Geschichte
Pöggstalls 48, Anm. 132.
9 Vgl. Manfred Koller, Pöggstall als Kunstzentrum des 15. und 16. Jahrhunderts. In:
Denkmalpflege in Niederösterreich 27 (2002) 17-22, hier 18 f., sowie BDA Wien,
Abteilung für Restaurierung und Konservierung von Denkmalen, Schlussbericht zu Zl.:
5008/3/2000, Objekt W 9162.
10 Eine Abbildung bei Plesser, Denkmale, Fig. 177, dokumentiert diesen Zustand.
11 Koller, Pöggstall als Kunstzentrum, linke Abbildung auf Seite 19.
88
Originalphase freigelegt werden;12 die Schreinarchitektur und die Predella auf
den Zustand der Barockzeit. Somit präsentiert sich das Ensemble nun in einem
Zustand, der eine intensivere Auseinandersetzung von Seiten der KunsthistorikerInnen
zulässt und – in Anbetracht, dass Auftraggeber und mutmaßlich ursprünglicher
Aufstellungsort bekannt sind – Raum für Überlegungen zu Funktion
und Medialität dieses Flügelaltares gibt. Mögliche Fragestellungen und
Themenkreise sollen im Rahmen dieses Beitrages vorgestellt werden.
Die Räume der Heiligen
Register mit stehenden Heiligen, einzeln oder zu Gruppen zusammengefasst,
ziehen in kunsthistorischen Untersuchungen kaum Aufmerksamkeit auf sich.
Handelt es sich, wie in Pöggstall, um deren Darstellung an den Außenflügeln,
reduzieren sich die Angaben darüber hinaus überwiegend auf die Frage, ob sie
derselben Hand wie jene der Innenseiten zuzurechnen sind und welche Heilige
sie darstellen. Hier lohnt jedoch meines Erachtens ein verweilender Blick. Auffällig
ist zunächst die aufgrund verschiedener Faktoren als ‚Gruppe innerhalb
der Gruppe‘ auffassbare Zusammenstellung der vier gerüsteten Heiligen: Georg,
Mauritius, Florian und Achatius. Nicht nur sind die anderen vier Heiligen – Vitus,
Sebastian, der Kirchenpatron Ägidius und Leonhard – nachdem sie auf den
Standflügeln untergebracht sind, knapp 25 cm nach hinten versetzt und weisen
damit je nach Lichteinfall bzw. Beleuchtung Schattenzonen auf. Auch das einheitliche
Auftreten in Rüstung, die roten Schuhe, die Kreuzfahnen bzw. die
Lanze Georgs und der jeweils diagonal angebrachte Farbakkord von rot und
grün von Mänteln, Ehrentüchern und Bodenfliesen zeugen von einer intentionalen
Konstruktion von wahrnehmbarer Einheit. Dass gerade der seit 1480 von
Kaiser Friedrich III. in den Herrenstand erhobene Kaspar von Roggendorf13 als
ambitionierter Aufsteiger, der bereits in jungen Jahren seinen Landesfürsten in
Kriegsdiensten14 und in der Folge vor allem durch Finanzierung der seit den
1470er-Jahren zahlreichen militärischen Konflikte unterstützte, ein derartiges
‚centrepiece‘ bestehend aus legendären Heerführern und einem römischen
12 Ausgenommen sind die beibehaltenen Vergoldungen an den Skulpturen und die auf die
Barockphase freigelegten Predelleninnenflügel (abgebildet bei Neidhart, Geschichte
Pöggstalls 49), lt. BDA, Abteilung für Restaurierung von Denkmalen, Restaurierkonzept
vom 24. 10. 2000 und Franz Höring und Manfred Koller, Flügelaltar und Mondsichelmadonnen
aus der Spätgotik im Waldviertel. In: Bedeutende Kunstwerke. gefährdet–
konserviert–präsentiert 17 (2002; 245. Wechselausstellung der Österreichischen Galerie
Belvedere) 8-15.
13 Zajic, Kaspar von Roggendorf 21.
14 Bereits 1467 und 1469 scheint er als Kommandant einer Söldnertruppe auf; als landesfürstlicher
Pfleger und Amtmann leitete er 1477 die Verteidigung der Städte Krems und Stein
gegen die Einfälle ungarischer Truppen, 1483 und 1484 organisierte er die Befestigung von
Ybbs. Ebenda13 f.
89
Amtsvorsteher des Statthalters in Auftrag gegeben hat, benötigt kaum weiterer
Belege.
Ins Auge fällt weiters, dass es sich bei den dargestellten acht Heiligen
ausschließlich um männliche Figuren handelt; wie überhaupt im gesamten Personal
des Flügelretabels abgesehen von Maria, die in der Kreuzigung und in der
Predella wiedergegeben ist, und den Heiligen Maria Magdalena und Salome (?)
auf den Predelleninnenflügeln, eine Absenz weiblicher Protagonistinnen zu
konstatieren ist. Kristina Potučkova thematisierte jüngst einen spätgotischen
Flügelaltar aus Mlynica in der heutigen Slowakei, der fast ausschließlich weibliche
Heilige und Heiligenviten versammelt. Zusammenhänge dieser Konzeption
und Ikonographie sieht sie zu dem im frühen 16. Jahrhundert im damaligen
oberungarischen Verwaltungsbezirk generell bestehenden Kult rund um jungfräuliche
Märtyrerinnen und der besonderen Bedeutung der Heiligen Margarete
für die Stadt Spiš. Die Stifterin, Hedwig von Teschen,15 die ebenda lebte und
wirkte, hatte offenbar durch die Wahl dieses spezifischen Bildprogramms lokal
etablierter Heiliger die eminente Stellung ihrer Familie in der Region zu demonstrieren
und stärken versucht.16
Untersuchungen wie diese wären auch für das Pöggstaller Exemplar angebracht.
Bezieht man ein weiteres heute noch erhaltenes Altarfragment aus der
ehemaligen Schlosskirche, das sich nicht mehr in situ befindet, in die Betrachtungen
ein, verdichtet sich der Fragenkomplex: Von dem heute in der Pfarrkirche
in Langenlois aufgestellten Barbaraaltar ist nämlich ein Schrein mit der Darstellung
von fünf und die Predella mit weiteren vier weiblichen Heiligen auf uns
gekommen.17 Fragen zu einer genderspezifischen Nutzung oder Repräsentation
bzw. zu bewusst gewählten weiblich bzw. männlich dominierten Figurenprogrammen
sowie eine mögliche gegenseitige Bezugnahme derselben im Aufstellungskontext,
wie sie beispielsweise anhand der auffallend einheitlich nach
rechts gewendeten Heiligen in der Predella des Barbaraaltares denkbar wären
(Abb. 3), könnten hierbei in den Mittelpunkt intensiverer Studien gerückt werden.
15 Sie ist mit ziemlicher Sicherheit mit der auf der Tafel mit der Hinrichtung der Heiligen
Margarete dargestellten Stifterin ident.
16 Kristina Potučkova, Female Messages from the High Altar, in: Medium Aevum Quotidianum
60 (2010) 5-16, hier 15.
17 Die verlorenen Flügel sind heute durch moderne, geschaffen von Helmut Kies, ersetzt. Vgl.
Höring und Koller, Flügelaltar 8 und Zajic, Kaspar von Roggendorf 27, Anm. 47 und Abb.
II.
90
Abb. 3: Pfarrkirche Langenlois (NÖ), Barbaraaltar, Predella, Ende 15. Jahrhundert
Wie im Titel dieses Beitrags angedeutet, möchte ich im Rahmen meiner
Bildanalyse auch die Kategorie Raum bzw. Bild-Setting im Pöggstaller Flügelretabel
in den Fokus nehmen. Um die formale und funktionale Anlage der Außenseiten
des Altars diesbezüglich besser fassen zu können, sei hier ein kurzer
Vergleich zu anderen, jüngeren Darstellungen von Heiligen an Flügelaußenseiten
herausgegriffen. Der im Wiener Raum in der Nachfolge des Albrechtsmeisters
entstandene Klosterneuburger Magdalenenaltar18 ist 1456 datiert und zeigt
bei geschlossenen Flügeln vier Bildfelder mit szenischen Darstellungen – das
Gebet Jesu am Ölberg, das Gastmahl in Bethanien und eine auf zwei Felder aufgeteilte
Verkündigung an Maria – sowie vier weitere Bildfelder mit jeweils zwei
in niedrige Kastenräume eingestellten Heiligen. Wie jedes dieser Paare sind
auch die Heiligen Sebastian und Achatius (Abb. 4) einander zugewandt dargestellt
und scheinen sich gegenseitig die Symbole, die auf ihr jeweiliges Martyrium
hinweisen – in diesem Fall Pfeil und Dornenast – zu präsentieren.
Als Ausstattung des Raumes fungieren die graubraunen Wände und das
sie zu einem Großteil überschneidende, freischwebende Ehrentuch, das die tiefenräumliche
Erstreckung des Raumes noch um einiges zurücknimmt, da so die
Situierung der Rückwand nur anhand der rückwärtigen Grenze des geschachten
Steinfliesenbodens wahrgenommen werden kann.
18 Aufgrund des Bildthemas der Mitteltafel auch „Auferstehungsaltar“ genannt; Otto Benesch,
Katalog der Kunstsammlungen des Stiftes Klosterneuburg. Die Gemälde. Klosterneuburg o.
J., 71 ff; Wilhelm Suida, Beiträge zur österreichischen Kunst der Spätgotik. In: Belvedere
XI (1927) 72; Otto Demus, Zur Nachfolge des Albrechtsmeisters. In: Österreichische Zeitschrift
für Kunst und Denkmalpflege, Jg. 14, H. 4 (1960) 114-122, hier 119 ff.
91
Abb. 4: Sog. Magdalenenaltar, Hll. Sebastian und Achatius, 1456.
Klosterneuburg, Stiftsgalerie
In den gut 40 Jahre später entstandenen Pöggstaller Heiligendarstellungen
sind nun anstelle der ‚setzkastenartigen Doppelzimmer‘ Nischenräume zu beobachten,
die zwischen den in steilen Winkeln eingestellten Seitenwänden und
anhand der sich vor diesen Nischen fortsetzenden Fliesenböden Räume bzw.
‚Bühnen‘ für die Figuren bieten.19 Greifbar wird hier, dass wir es mit einer Konstruiertheit20
eines ‚Heiligenumraums‘ zu tun haben, der die speziell gewählte
Versammlung, die im Gegensatz zu den unterschiedlichen ‚historischen‘ bzw.
legendenhaften Wirk- bzw. Herkunftsorten der jeweiligen Heiligen steht, aufnimmt.
Es geht also nicht um eine konkrete Verortung der Heiligen ‚in der/ihrer
19 Vergleichbar sind diese Bildsettings beispielsweise mit einer Serie von 14 Kupferstichen
Israhel van Meckenems. Fritz Koreny-Tilman Falk, Hollstein’s German engravings, etchings
and woodcuts 24. Roosendaal 1986, 133 ff., v. a. Kat. Nr. 284-287.
20 Der konfigurierte Charakter der Räume wird auch anhand der kleinen Mauernische in der
Seitenwand links vom Heiligen Leonhard bewusst (s. Abb. 5).
92
Welt‘, sondern um die Definition einer ihnen zugeordneten Sphäre. Deutlich
wird ein solches bildstrategisches Vorgehen, wenn dieser Heiligenumraum, wie
Marius Rimmele beispielsweise anhand des Thomas-Altars vom Meister des
Bartholomäusaltars21 aufzeigen konnte,22 durch hinter den Figuren aufgespannte
Brokatbahnen und einem schmalen Steinfliesenboden als Standfläche markiert,
in einen nach hinten entfaltenden Bildraum der Vita anachoretischer Heiliger
eingezogen wird. Er wird auch dort erkennbar, wo in einer Miniatur sowohl der
‚realistisch‘ gemalte Baum mit abgehackten Ästen, auf einer mit unterschiedlichen
Pflanzen bewachsenen Wiese stehend, als auch der an ihn gebundene,
pfeildurchbohrte Heilige Sebastian Schatten auf den gemalten blauen ‚Himmel‘
werfen.23
Den acht Protagonisten in Pöggstall haftet aber nicht nur ob ihres ‚Gemeinschaftsraumes‘
Versammlungscharakter an; auch ihre einheitliche Ausrichtung
auf die Retabelmitte hin lässt sie über die Nischenschranken hinweg
zueinander in Verbindung treten (Abb. 5). Deutlich fungieren sie in ihrer Rolle
als Repräsentanten der ecclesia caelestis; wir sehen also einen Ausschnitt „der
immerwährenden kultischen Verehrung, die Gott im himmlischen Jerusalem von
den Engeln und Heiligen dargebracht wird“24. Aber – und anders machte die
Darstellung auf einem Objekt, vor dem liturgische oder devotionale Praxis geübt
wird, keinen Sinn – die Heiligen sind, salopp formuliert, auch erste Anlaufstelle
für die Gläubigen. Wie hat man sich nun diese für heutige Begriffe nur als ‚Spagat‘
zu bezeichnende Aufgabe vorzustellen?
„Heilige sind zugleich materiell in der Welt und seelisch im Himmel anwesend,
wo sie für die Menschen bitten. Sie sind ‚Schwellenwesen‘, vor allem
Kommunikationsverstärker, sie garantieren für die Vermittelbarkeit des Irdischen
ins Himmlische, auch durch ihr persönliches Vordringen in die himmlischen
Sphären.“25
21 http://www.wga.hu/art/m/master/bartholo/s_thomas.jpg (letzter Zugriff 3.12.2010); Rainer
Budde-Roland Krischel (Hg.), Genie ohne Namen. Der Meister des Bartholomäus-Altars.
Köln 2001, 416 f., Kat. Nr. 82.
22 Marius Rimmele, Das Triptychon als Metapher, Körper und Ort. München 2010, 275.
23 Auf diese Miniatur wurde ich im Zuge eines Vortrags von Katharina Georgi aufmerksam.
Sie entstammt einem in Privatbesitz befindlichen Gebetbuch, dem sich Frau Georgi in ihrer
noch unpublizierten Dissertation „Studien zur Nürnberger Buchmalerei um 1500. Eine
Gruppe deutschsprachiger Gebetbücher“ widmet. S. auch dies., Was Vorlagen verraten.
Einem fränkischen Buchmaler auf der Spur. In: Georg Ulrich Großmann, Buchmalerei der
Dürerzeit – Dürer und die Mathematik – Neues aus der Dürerforschung (Dürer-Forschungen
2). Nürnberg 2009, 65-80.
24 Klaus Lankheit, Das Triptychon als Pathosformel. Heidelberg 1959, 9.
25 Rimmele, Triptychon 73.
93
Abb. 5: Hll. Georg und Leonhard
Die dargestellten Heiligenumräume grenzen das „unvollkommen geheiligte
Diesseits“ – neben konfigurierten (Nischen-)Räumen kommen besonders
häufig Mauern, Brüstungen und Ehrentücher als gestalterische Mittel dieser
Grenze zum Einsatz – gegen das „visionär Geschaute im Inneren“ des Retabels
ab.26 Prima vista ignorieren die Außenseiten des Pöggstaller Altars die „Herstellung
einer präsentischen Kontinuität zwischen Betrachter- und Bildsphäre“ und
offenbaren zunächst die „Verdeutlichung der Schwelle zwischen beiden“; sie
erschließen eine „transzendente, ‚alternative‘ Welt“.27 Bei näherer Betrachtung
ihres performativen Aktes (der Ausrichtung ihres Körpers, ihrer Gesten und ihrer
Handlungen zur Retabelmitte hin) bzw. aufgrund ihrer ‚menschnahen‘ Verortung
im ‚Vehikel der Heilsökonomie‘ bahnen sie den Weg des Blickes zu je-
26 Karl Schade, Ad Excitandum Devotionis Affectum. Kleine Triptychen in der altniederländischen
Malerei. Weimar 2001, 82. Ebenda wird auf eine besonders deutliche Verbindung
von der zwei stehende Heilige hinterfangenden Mauer auf der Außenseite und der Mauer
des dahinterliegenden hortus conclusus der Mitteltafel eines Triptychons hingewiesen.
27 Regine Prange, Sinnoffenheit und Sinnverneinung als metapicturale Prinzipien. Zur
Historizität bildlicher Selbstreferenz am Beispiel der Rückenfigur. In: Verena Krieger und
Rachel Mader (Hg.), Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen
Paradigmas. Köln-Weimar-Wien 2010, 125-167, hier 129.
94
nem schmalen Spalt, der in das Innere des Flügelaltars und somit gleichzeitig
zum Ort des Mysteriums führt:
„Nirgendwo tritt […] die heilsgeschichtliche Rolle der Heiligen als Vertreter
des absenten Christus sprechender zu Tage als im Medium des Flügelretabels,
nirgendwo auch könnte die Beziehung zwischen Christus als
Vorbild und den Heiligen als Abbildern eindringlicher formuliert werden.
Das Flügelretabel konnte somit zu einem umfassenden und ungemein
suggestiven Gleichnis auf die großen Zusammenhänge der Heilsgeschichte
werden.“28
Die Heiligen als Mittlerpersonen nützen das Potenzial des Bildträgers, indem sie
durch ihre ‚Beweglichkeit‘ auf den Flügeln den Weg zum Heil er-öffnen.29 Gezeigt
sind sie in der Abgewandtheit von den BetrachterInnen um so gleichzeitig
für letztere einzutreten und wegweisend zu sein.
Über-brückung
Leider sind Fragen zu Prozedere, Häufigkeit und Zeitpunkt des Öffnens respektive
Schließens von Flügelaltären aufgrund der nur punktuell erhaltenen Quellen,
die Aussagen zu diesen Vorgängen erlauben, kaum beantwortbar.30 Der Einsatz
von Retabeln war weder obligatorisch, noch liturgisch geregelt. Die wenigen
Berichte, die von einer Öffnung von Flügelretabeln sprechen, nennen für
den Zeitpunkt der Wandlung jedoch den Vortag des Feiertags und nicht die Einbindung
in die Zeremonie des jeweiligen Hochfestes.31
Auch wenn dieses Vorgehen nicht zwangsläufig Usus gewesen sein muss,
sollte man bei Lesarten, wie ich sie für die Pöggstaller Außenseite vorgeschlagen
habe, bedenken, dass das Flügelretabel nicht an einem bestimmten Zeitpunkt
im Ritus ‚aufgesprungen‘ ist; sich dieser Spalt nicht performativ in der
Liturgie in die dahinterliegende Wandlung transformiert. Ebenso müssen längere
Perioden des Zeigens einer Ansicht – vermutlich der äußeren – in die
Überlegungen einbezogen werden. Verschiedentlich ist in letzter Zeit auf die
beim Bildmedium Flügelaltar bewusst zum Einsatz kommende Überlagerung
der Bilder, wie sie durch die BetrachterInnen imaginativ vollzogen wird, hingewiesen
worden:
28 Valerie Möhle, Wandlungen. Überlegungen zum Zusammenspiel der Außen- und Innenseiten
von Flügelretabeln am Beispiel zweier niedersächsischer Werke des frühen 15.
Jahrhunderts. In: David Ganz und Thomas Lentes (Hg.), Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie
und Bildgebrauch in der Vormoderne. (KultBild. Visualität und Religion in der
Vormoderne 1) Berlin 2004, 147-169, hier 165.
29 Vgl. Rimmele, Triptychon 194 und 287.
30 Eine Übersicht zur Thematik findet sich ebenda 52 ff.
31 Ebd. 52 f. Darstellungen, wie sie sich bei Lankheit, Triptychon als Pathosformel 13, finden,
wonach das langsame Öffnen von Schrein- und Flügelaltären in die täglichen liturgischen
Handlungen eingebunden gewesen wäre, sind entsprechend kritisch zu sehen.
95
„War die innere Schauseite eines Retabels geöffnet […] schien auch die
äußere durch und umgekehrt; am selben Ort wurde nicht nur das Anwesende,
sondern auch das periodisch Abwesende wahrgenommen.“32
Ein formaler Bezug zur Innentafel kann man am Retabel in Pöggstall im Lanzenstich
des Heiligen Georg erkennen, deren Spitze sich in etwa auf der Höhe
der Seitenwunde der Skulptur im Schrein befindet. Inhaltlich könnte auch der
Dornenast des Heiligen Achatius eine visuelle Klammer zur Dornenkrönung
bzw. zum dornengekrönten Haupt Christi bilden.33 Einen vielleicht noch
deutlicheren mnemotechnischen Anhaltspunkt stellen die Darstellungen der Predellenaußenflügel
dar: In den Spalt zwischen den Trauernden, Maria und Johannes,
kann zwar auch die nach der Öffnung sichtbare Darstellung der ersten
Wandlung der Predella, von der sich nur die Predelleninnenflügel erhalten haben,
‚hinein-imaginiert‘ werden.34 Gleichzeitig bietet sich aber auch eine andere
Variante: die gedankliche Verschränkung mit den beiden stehenden Skulpturen
unter dem Kreuz. RezipientInnen, die die innere Schauseite mit dem Schrein
bereits ein- oder mehrmals gesehen haben, können Maria und Johannes als einen
Trigger für die Vor-stellung der dahinterliegenden Ansicht nützen.
Räume des Heilsgeschehens
Den bereits genannten, durch Otto Benesch herausgestellten, stilistischen Bezügen
des Pöggstaller Ensembles zur Landshuter Malerei sei hier ein Vergleich
des Ecce Homo in Pöggstall und einer Tafel des sog. „Mair von Landshut“ an
die Seite gestellt, (Abb. 6 und 7) um eine – wie ich meine – essentielle Charakteristik
des Pöggstaller Altars bei geöffneten Flügeln herauszustellen.35
32 Heike Schlie, Wandlung und Offenbarung. Zur Medialität von Klappretabeln. In: Das
Mittelalter 9, H. 1 (2004) 23-43. Darauf aufbauend auch Möhle, Wandlungen 150 und
Rimmele, Triptychon 54 ff.
33 Die Marter des Hl. Achatius und der 10.000 Märtyrer und die Kreuzigung in Gegenüberstellung
der Darstellung der Kreuzigung und des Schmerzensmannes findet sich bereits bei
einem Diptychon von 1325/30 (Köln, Walraff-Richartz-Museum Inv. Nr. 822. Franz
Günter Zehnder, Katalog der Altkölner Malerei. Köln 1990, 105 ff., Abb. 76 f.). Ähnliche
Parallelen weist ein Triptychon von Hans Raphon von 1512 auf (www.bildindex.de, Objekt
20218513 – letzter Zugriff 3. Dezember 2010). Im bereits genannten Altar von Mlynica ist
im Zentrum der Darstellung des Martyriums Achatius’ Christus am Kreuz ‚beigefügt‘.
34 Der Zusammenhang der Trauernden, Maria und Johannes, auf den Außenseiten mit zwei
weiblichen Heiligen (Marien?) mit Salbgefäßen auf der Innenseite der Flügel lässt Themen
wie „Grablegung“, „Beweinung“, „Schmerzensmann“ (im oder am Grab), vielleicht sogar
eine „Auferstehung“ erwarten.
35 Benesch, Krainburger Altar 220. Den Zusammenhang mit den Werken Mairs betont
Benesch vor allem bei den Tafeln eines Marienaltars, den er derselben Werkstatt wie die
Pöggstaller Tafeln zurechnet. (Österr. Galerie Belvedere Inv.-Nr. 4964-67; vgl. Elfriede
Baum, Katalog des Museums mittelalterlicher österreichischer Kunst. Wien-München
1971, 170 f., http://digital.belvedere.at/emuseum/ – letzter Zugriff 3. Dezember 2010). Das
Ecce homo vergleicht er mit einer Tafel des ehemaligen Hochaltars der Münchner
96
Die formale Anlage der gewölbten Vorhalle mit Treppe ist in beiden Tafeln
ähnlich, wenngleich die niederösterreichische Darstellung insgesamt reduzierter
erscheint. Dies gilt sowohl für den kleinteiligen Architekturzierrat – man
vergleiche die Ausschmückung des Portals, vor dem Christus und Pilatus stehen,
oder die steinerne Konsolfigur des Mönchs am rechten Rand der bayerischen
Tafel –, als auch für das bei Mair ungewöhnlich ausdifferenzierte Personal, das
mit dem Schreiber im Bildvordergrund oder dem aus einer Schriftrolle vorlesenden
Mann das für gewöhnlich zu erwartende Figurenrepertoire erweitert. Das
zentrale kompositorische Element ist jedoch in beiden Tafeln angewandt: der
Franziskanerkirche [bei Benesch wohl fälschlich aus Blutenburg] aus der Werkstatt Jan
Polacks (Bayer. Nationalmuseum Inv.-Nr. MA 3716, 10/217-220. Vgl. Peter B. Steiner und
Claus Grimm (Hg.), Jan Polack. Von der Zeichnung zum Bild. Augsburg 2004, 165-188).
Dass bei Polack und Mair Parallelen bestehen, verwundert aufgrund der mutmaßlichen
Zusammenarbeit am Hochaltar der Münchner Stadtpfarrkirche St. Peter nicht weiter;
ebenda 12.
Abb. 6: Mair von Landshut, Ecce Homo,
Slg. der Fürsten Waldburg-Wolfegg-Waldsee, um
1500. (Aus: Pantheon 10 (1938), 306.) Abb. 7: Pöggstall Ecce Homo
97
eine steile Treppe hinaufsteigende Mann mit Turban, der geschickt die Blickführung
auf Christus lenkt.36 Letzterer erwidert, im Unterschied zum Mair’schen
Ecce homo, diesen Blick jedoch nicht, sondern führt das Auge weiter zur
nächsten Szene und damit zum Ereignis im Schrein – der Kreuzigung Christi.
Der Vergleich der beiden Tafeln ermöglicht auch die Darlegung verschiedener
Konzepte der Manifestation des Äußeren im Inneren, der bildgestalterischen
Herstellung einer Verbindung von BetrachterIn und Bildraum. Im bayerischen
Beispiel dient die – relativ ungewöhnlich auf einer Konsole erhöht im
Raum untergebrachte – Stifterin als Identifikationsangebot für vor dem Bild
Betende und somit als Interface zwischen Bild- und Betrachterwelt. Die zeitlichen
und örtlichen Differenzen, die zum Bildraum hin bestehen, können ‚aktiv‘
nur durch diese Schnittstelle betreten werden. Der Abgang im linken unteren
Eck, an dessen oberen Ende der Schreiber Platz genommen hat, ist eine Handlungsöffnung,
die jenem zur Verfügung steht; der sich nach hinten erstreckende
Raum ist den RezipientInnen vor allem als ‚Anschauungsraum‘, als Gegenüber,
zugänglich.37
Die Passionsszenen des Pöggstaller Hochaltars hingegen agieren mit einer
Einladung an die vor ihnen stehenden Gläubigen in Form architektonischer
Versatzstücke (Abb. 8). Diese innovative Leistung des unbekannten Künstlers
bzw. der Werkstatt scheint mir wichtig gesondert hervorzuheben: Im Ecce homo
führt am unteren Bildrand eine schmälere Stufe zur eigentlichen ästhetischen
Grenze38 des Bildes, dahin, wo eine niedrige rote Umgrenzung auch im Bild
Einlass in den Hof des Geschehens gewährt. Dass mit dieser ersten Stufe nicht
(oder nicht nur) eine Handlungsöffnung gemeint ist, die für das Bildpersonal
begehbar respektive vorgesehen ist, wird noch offenkundiger anhand der Szene
der Dornenkrönung. Hier kniet links einer der Spötter Christi auf einem Niveau
des Raumes, das gegen den Boden, auf dem die Haupthandlung stattfindet, um
zwei Stufen nach unten hin abgesetzt ist. Im rechten unteren Eck des Bildes findet
sich eine farblich abgesetzte Treppe; ein alternativer Zugang zur Bildhandlung.
Begibt man sich auf diese, führt der Weg des Auges direkt zu Christus,
oder genauer gesagt zu dem von seinen Füßen tropfenden Blut.
36 Zur Verwendung der Rückenfigur „im Rahmen der Historie“ und ihrer Funktion und
Funktionalisierung vgl. Prange, Sinnoffenheit, 137–141.
37 Zur ‚Handlungsöffnung‘ und zum ‚Anschauungsraum‘ vgl. Wolfgang Kemp, Die Räume
der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto. München 1996, 29 ff. und 143 ff.
38 Dieser Begriff wurde durch Ernst Michalski in die Kunstgeschichte eingeführt; ders., Die
Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte. Mit einem
Nachwort zur Neuausgabe von Bernhard Kerber. Berlin 1996. Vgl. auch Prange,
Sinnoffenheit 133 und Anm. 23.
98
Abb. 8: Pöggstall, Tafeln mit den gemalten Passionsszenen
99
Die hier angewandten ‚Blickbrücken‘ thematisieren, so meine Theorie,
eine Form von Zugängen, die auf einer zeitlichen und räumlichen Ebene mit jener
der RezipientInnen liegen, indem sie die Aktualisierung des Opfertodes
Christi und seine Realpräsenz in der Transsubstantiation der Eucharistie thematisieren.
An den gemalten Tafeln der Retabelinnenseite ist die/der Gläubige eingeladen,
die angebotenen Brücken wahrzunehmen und in die Passionsmeditation
einzutreten: 39 Die vom Bildrand überschnittenen (und damit erneut als zwischen
Betrachter- und Bildwelt situierten) Stufen im linken unteren Eck der Szene
Christus vor Pilatus markieren den Eingang zum abbreviierten Kreuzweg.40
Über den Schrein hinweg setzt sich dieser fort in der Schau der Geißelung, die
durch die vorkragende ‚Konsol-Öffnung‘ im ‚Obergeschoß‘ einzusehen ist.41
Diagonal an der Kreuzigung vorbei, wird der Blick sodann durch die diesmal
vom rechten unteren Bildrand überschnittene Treppe ins Bildfeld der Dornenkrönung
und Verspottung Christi geführt, um schließlich den bereits beschriebenen
‚Gang‘ durch das Ecce homo hin zum Schrein anzutreten. Dort kulminiert
das Nachdenken über das Leiden Jesu im am Kreuz Geopferten; an seinen Wunden:
„Die Wunde ist Bedingung, Argument, aber auch Quelle des Heils.“42 Dieses
wird vom Engel43 am Kreuzfuß im Kelch aufgefangen. Hierin ist die Klammer
zur Eucharistie am deutlichsten;44 verstärkt wird sie noch durch die Geste
39 Ob und wie wir uns Zusammenhänge mit einzelnen Mess- oder Passionsgebeten, die vor
der geöffneten Schauseite während der Eucharistie oder der davon unabhängigen
Passionsbetrachtung „als eine Form der geistlichen Kommunion“, vorzustellen haben,
bedürfte noch näherer (interdisziplinärer) Untersuchungen. Vgl. Johanna Thali, Strategien
der Heilsvermittlung in der spätmittelalterlichen Gebetskultur. In: Carla Dauven-van
Knippenberg u. a. (Hg.), Medialität des Heils im späten Mittelalter (Medienwandel–
Medienwechsel–Medienwissen 10) Zürich 2009, 241-278, hier 258.
40 Interessanterweise beginnt dieser nicht, wie in vielen anderen gemalten Beispielen mit der
Darstellung des Gebets Jesu am Ölberg (vgl. Wilfried Franzen, Die Karlsruher Passion und
das »Erzählen in Bildern«. Studien zur süddeutschen Tafelmalerei des 15. Jahrhunderts.
Berlin 2002, 65, Anm. 162) oder der Gefangennahme Christi sondern – vielleicht in
Bezugnahme auf die diagonal gegenüberliegende Bildtafel mit dem Ecce homo – mit
Christus vor Pilatus.
41 Die Darstellung der Marter Christi wird an der Jahrhundertwende tatsächlich oft in einem
Obergeschoß stattfindend dargestellt (so z. B. die Dornenkrönung im Schlüsselfelder Altar
der Katzheimer Werkstatt, vgl. Steiner-Grimm, Polack 39). Ein zum Betrachterraum hin
konsolartig vorkragendes Motiv findet sich auch im bereits genannten Polack’schen Altar
aus der Franziskanerkirche; ebd. 176 f., 182 f.
42 Rimmele, Triptychon 91.
43 Die beiden oberen Engel wurden bei der Restaurierung 1999/2001 entsprechend der am
Pressbrokatvorhang erkennbaren Abdrücke angebracht. Vgl. Höring-Koller, Flügelaltäre, 9.
Mittlerweilen sind sie aber wieder, rezente Kelche in Händen, auf die Hände Christi hin
ausgerichtet. Für diese Information, sowie für das freundliche und interessante Gespräch in
Pöggstall danke ich Pfarrer Franz Schaupp.
44 Der von Koller (Pöggstall als Kunstzentrum 18) angeführte Zusammenhang mit der Heiligblutverehrung,
wie sie im unweiten Pulkau oder Heiligenblut (Mannersdorf, Gem. Raxendorf,
PB Melk) vorherrscht, ist aufgrund der dort auf vorgebliche Hostienfrevel durch Ju100
des Engels, der mit seiner freien Hand auf die Übergabe45 und die Adressaten
des ‚frisch gekelterten‘ Heils zeigt – qui pro multis effunditur (Mk 14,24). Die
Bildschwelle wird einmal mehr durchdrungen; diesmal von innen nach außen,
zu der im realen Kirchenraum stattfindenden Eucharistiefeier.
***
Anhand des Pöggstaller Flügelretabels sollte gezeigt werden, warum es wünschenswert
wäre, dass Bildwerke, deren Kontext (vergleichbar) gut erschlossen
werden kann, die über einen nachvollziehbar dokumentierten und originalnahen
Konservierungszustand verfügen und komplexen liturgischen und auftraggeberbezogenen
Anforderungen unter Einbeziehung vielschichtiger Bildstrategien
und Ausschöpfung der medialen Qualität des Flügelretabels künstlerisch zur
Umsetzung verhelfen, nur deshalb nicht Gegenstand eingehenderer Betrachtungen
werden können, weil ihnen ein sogenannter „regionalen Charakter“ anhaftet,
der sie noch immer außerhalb der Wahrnehmungsschwelle kunsthistorischer
Forschung situiert.
Bildnachweis: Wenn nicht anders angegeben, Institut für Realienkunde, Krems/Donau.
den fußenden Kult zumindest differenziert zu betrachten. Mitchell B. Merback, Fount of
Mercy, City of Blood: Cultic Anti-Judaism and the Pulkau Passion Altarpiece. In: The Art
Bulletin 87 (2005) 589–642, hier 592 ff.
45 Ein beeindruckendes Beispiel für die Herstellung der Beziehung mit dem real auf dem Altar
befindenden Abendmahlskelch findet sich bei Möhle, Wandlungen 160 f.: Im 1402
vollendeten Hochaltarretabel der Göttinger Kirche St. Jacobi fließt das Blut Christi über
den Kreuzfuß und den gemalten Boden hinab bis zur rahmenden Inschrift.
M E D I U M A E V U M
Q U O T I D I A N U M
61
KREMS 2010
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramèr
ISSN 1029-0737
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, 3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. –
Druck: Grafisches Zentrum an der Technischen Universität Wien, Wiedner
Hauptstraße 8-10, 1040 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ……………………………………………………..…………….…… 4
András Vadas, Volcanoes, Meteors and Famines. The Perception of Nature
in the Writings of an Eleventh-Century Monk ………….……….……… 5
Ronald Salzer, Ein brennendes Thema: Der Destillierhelmfund
in der ehemaligen Badestube von Zwettl-Niederösterreich) und
die Rolle der Destillation im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit …… 27
Helmut W. Klug, gewürcz wol vnd versalcz nicht.
Auf der Suche nach skalaren Erklärungsmodellen
zur Verwendung von Gewürzen in mittelalterlichen Kochrezepten ..… 56
Isabella Nicka, Raum für Heilige und Heilsgeschehen.
Fragen zu Bild-Settings des Passionsaltars
der heutigen Pfarrkirche in Pöggstall (Niederösterreich) ……..……….. 84
Buchbesprechung …..……………………………………………………….. 101
Anschriften der Autoren …………………………………….……..…….….. 103
4
Vorwort
Der vorliegende Band von Medium Aevum Qutidianum widmet sich Untersuchungsergebnissen
zu Alltag und materieller Kultur des Mittelalters und der
Frühen Neuzeit, die aus Forschungen zu archäologischem, textlichem und bildlichem
Quellenmaterial hervorgegangen sind, welche in Österreich und Ungarn
durchgeführt wurden.
Ausgehend von einem Fund im nördlichen Niederösterreich widmet sich
Ronald Salzer der Analyse frühneuzeitlicher keramischer Destilliergefäße. Helmut
W. Klug präsentiert eine Untersuchung der Gewürzkultur, wie sie sich in
mittelalterlichen Kochrezeptsammlungen darstellt. An Hand eines zu Ende des
15. Jahrhunderts geschaffenen Flügelaltars analysiert Isabella Nicka die „Räume“
der dargestellten Heiligen und deren beabsichtigte Wirkung auf ihr
Publikum. András Vadas hingegen zieht für seine Untersuchung das berühmte
chronikalische Werk des burgundischen Benediktinermönches Rodulfus Glaber
aus dem 11. Jahrhundert heran um herauszufinden, in welchem Maße sich der
Autor mit der Natur und Naturerscheinungen seiner Zeit auseinandersetzte.
Gerhard Jaritz