Recycelt, repariert oder wiederverwendet.
Fehl- und Halbfertigprodukte im archäologischen Fundgut
der Hansestadt Lübeck
Doris Mührenberg
Die Ausgrabungen in der Hansestadt Lübeck, die – nach dem Zweiten Weltkrieg
begonnen – in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufFlächen
von mehreren Tausend Quadratmetern stattfanden, erbrachten neben neuen
Erkenntnissen zur Siedlungs- und Alltagsgeschichte des mittelalterlichen Lübecks
auch eine große Menge von Funden. Das Magazin des Bereichs Archäologie
umfasst zur Zeit ca. 2,5 Millionen Einzelgegenstände, von der Knochenperle
über einzelne Scherben bis zum gänzlich erhaltenen Gefäß. Hinzu
kommen die Großobjekte wie Wasserleitungen und Brunnen, aber auch
Schwellenkränze, Ständer, Wandbohlen und Treppenanlagen hölzerner Häuser
aus dem 12. Jahrhundert‘. Im folgenden soll auf einzelne Funde eingegangen
werden, die zwar primär handwerklieber Tätigkeit zugeordnet werden können,
die aber Besonderheiten aufweisen, weil sie entweder Fehlprodukte sind, weil
sie sichtbar repariert oder aber in anderer Funktion als ihrer ursprünglichen verwendet
wurden. Natürlich wird auch das Thema der Abfall- und Halbfertigprodukte
gestreift, aber zuvorderst ist dieses ein in mancherlei Hinsicht kurios anmutender
Streifzug durch das Lübecker FundmateriaL
1. Fehlprodukte
Diese erste Rubrik behandelt diejenigen Fehlprodukte, die aufgrund eines eindeutigen
Fehlers nicht mehr genutzt werden konnten – im Gegensatz zu den
fehlerhaften Produkten, die als ‚zweite Wahl‘ durchaus in Gebrauch genommen
wurden (vgl. Kap. 2). Allerdings lässt sich für Lübeck vermuten, dass bei einigen
Handwerkern wie etwa den Bernsteindrehern der qualitative Anspruch an
ihre Produktion so hoch war, dass sie selbst leichte Fehler nicht gelten ließen,
1 Zu den Ausgrabungsergebnissen und den Funden vgl. die Veröffentlichungen in: Lübecker
Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte Band I bis 25, weitere Bände sind in
Vorbereitung. Hinzu kommen die Publikationen zu Sonderausstellungen des Bereichs
Archäologie der Hansestadt Lübeck wie: Manfred GLÄSER – Günter FRIEGE (Hg.), In
Lübeck fließt Wasser in Röhren … seit 700 Jahren. Lübeck 1994; Manfred GLÄSER (Hg.),
,.Daz kint spilete und was fro“ – Spielen vom Mittelalter bis heute. Lübeck 1 995; Manfred
GLÄSER (Hg.), geFUNDEn in Lübeck. Archäologie im Weltkulturerbe. Lübeck 1997.
20
und daraufbin das leicht fehlerhafte Ergebnis ihrer Arbeit vernichteten (vgl.
Kap. 1.2).
1 . 1 Nierendolchgriffe
Im Zuge des Wiederaufbaus der Lübecker Innenstadt nach dem Zweiten Weltkrieg
konnten aus einer Kloake in der Schmiedestraße mehrere Griffe, die für
Nierendolche vorgesehen waren, geborgen werden. Der Nierendolch ist von
etwa 1300 bis ins 16. Jahrhundert nachzuweisen, und war vor allem im 15. Jahrhundert
ein repräsentativer Trachtbestandteil des Mannes. Seinen Namen verdankt
dieser Dolchtyp den beiden an der Basis des Griffes symmetrisch angeordneten,
halbkugelig knollenartigen Verdickungen2• Die aufgefundenen acht
Griffe waren aus Buchsbaum, aus Rosenholz und aus Birke. Sie alle waren noch
nicht gänzlich fertiggestellt, sondern waren als fehlerhafte Ware in der Kloake
entsorgt worden. Als nächster Arbeitsschritt stand bei allen Griffen die Durchbohrung
zur Aufnahme der Angel des Dolches an. Der erste Dolchgriff ist während
des Bobrens gerissen, die eine Hälfte mitsamt der Niere fehlt jetzt. Die
Durchbohrungen des zweiten und dritten Griffes sitzen nicht mittig, in einem
Fall hat der Handwerker sogar ein zweite Durchbohrung versucht, dabei ist der
Griff gesprungen. Der vierte Griff weist die Durchbohrung so unsymmetrisch
zwischen den beiden Nieren auf, dass das Einsetzen einer Griffangel nicht mehr
möglich war. Einer der Dolchgriffe ist gar nicht durchbohrt, allerdings ist er in
sich so krumm, dass der Handwerker wohl von vomherein ausgeschlossen hat,
dass hier eine gerade Durchbohrung des Werkstückes möglich wäre. Alle diese
Griffe waren also funktional nicht nutzbar, der Handwerker musste sie als Fehlprodukte
entsorgen.
1.2 Bernsteinperlen
Bei den Ausgrabungen auf mehreren nebeneinanderliegenden Grundstücken in
der Hundestraße wurden die Produktionsreste und -abfalle dreier Paternostermacher
entdeckt3. Zwei der Meister entsorgten ihren Abfall in den Kloaken aufih-
2 Zum Nierendolch und seiner Entwicklung vgl. auch Heribert SEITZ, Blankwaffen, München
21 981, 2 1 0ff.
3 Doris MÜHRENBERG, A rchäologische und baugeschichtliche Untersuchungen im Handwerkerviertel
zu Lübeck. Befunde Hundestraße 9-17. In: Lübecker Schriften zur Archäologie
und Kulturgeschichte 16 (1 989) 248, 257. Doris MÜHRENBERG: Roh-, Halbfertig- und
Fertigprodukte der Bernsteindreher und Patemosterrnacher. In: Jörgen Bracker (Hg.), Die
Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos 2. Harnburg 1989, 309-3 10.
Doris MÜHRENBERG – Manfred GLÄSER: Archäologische Ergebnisse zum mittelalterlichen
Handwerk am Beispiel Lübeck. In: Jörgen BRACKER (Hg.), Die Hanse. Lebenswirklichkeit
und Mythos, Band I . Harnburg 1 989, 458. Doris MüHRENBERG, Kammacher und
Bernsteindreher – mittelalterliche Handwerker in der Lübecker Hundestraße. In: Die
Heimat, 97. Jg. (1 990) 358-359. Doris MÜHRENBERG: A rchäologische Belege fiir das
Handwerk in Lübeck. In: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.), Von
2 1
ren Höfen, die Werkstatt des dritten Meisters brannte ab, und in der davon zeugenden
Schicht fanden sich mehrere Handvoll Bernsteingrus, darunter auch
Halbfabrikate. Der Paternostermacher, Paternosterer oder aber Bernsteindreher,
wie er sich nach der Reformation nannte, schnitt zunächst perlengroße Stücke
aus dem Rohbernstein. Diese Perlenrohlinge wurden im zweiten Arbeitsgang
von beiden Seiten vorgebohrt, danach auf einer Drehbank zur runden Perle abgedreht,
wobei der Perlenkanal als Führungsachse fiir den Kernbohrer diente
und dadurch gleichmäßig durchbohrt wurde. In den Kloaken fanden sich Perlen,
die entsorgt worden waren, weil sie Abplatzungen aufwiesen, und somit nicht
den hohen Qualitätsanforderungen der Meister entsprachen. Ein Perlenrohling
allerdings war darunter, der keinesfalls mehr seiner Bestimmung hätte zugefuhrt
werden können – die Durchbohrungen trafen sich in der Mitte nicht.
1.3 Holzlöffel
Ein in den Nachkriegsjahren in der Lübecker Innenstadt gefundener Holzlöffel
ist ebenfalls ein Fehlprodukt und wurde, da man ihn nicht hätte nutzen können,
während der Herstellung entsorgt. Der Löffelstiel ist schon kunstvoll herausgearbeitet,
er ist als Figur gestaltet. Während der Ausarbeitung der Laffe aber
brach seitlich ein Span ab, so dass man das Stück als unbrauchbar entsorgte.
1.4 Keramik
1.4.1 Fehlprodukte mittelalterlicher Keramik
Im Umkreis des Kobergs, eines Platzes im Norden der Stadt, im Mittelalter zwischen
Burg und civitas gelegen, fanden sich bei Ausgrabungen in den letzten
Jahren häufig die Abfalle und Fehlprodukte mittelalterlicher Keramik. Schon in
den Jahren 1977178 wurde mit einem Ofen eine Produktionsstätte entdeckt. Der
bei Aufgabe des Ofens zur Verfüllung genutzte Töpfereiabfall wies überwiegend
Kugeltöpfe auf, die beim Brennen zersprungen oder verformt und dadurch
nicht brauchbar waren. Hinzu kommt aber, dass diese Gefaße nicht, wie in
Lübeck zu der Zeit üblich, reduzierend gebrannt und somit grau waren, sondern
sie sind durch Sauerstoffzufuhr während des Brandes oxydierend gebrannt und
daher von roter Farbe4. Insofern ist hier vielleicht eine ganze Ofenladung durch
Schmieden, Würflem und Schreinern – Städtisches Handwerk im Mittelalter (=ALManach
4). Stuttgart 1 999, 43-52.
4 Vgl. zu Töpferofen und Keramik: Diethard MEYER, Archäologische Untersuchungen an
einer Töpferei des 13. Jahrhunderts und den Siedlungsbereichen am Koberg zu Lübeck. In:
Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 3, 1980, 59-8 1 . Diethard MEYER,
Ein Töpferofen des 13. Jahrhunderts am Koberg zu Lübeck. In: Lübecker Schriften zur
Archäologie und Kulturgeschichte 17, 1988, 133. Klaus BUCHIN – Wolfgang ERDMANN,
Keramiktechnologie und Brennofen. Untersuchungen und Rekonstruktionen zur Töpferei
des 13. Jahrhunderts am Koberg zu Lübeck. In: Lübecker Schriften zur Archäologie und
Kulturgeschichte 12 ( 1986) 41 -66
22
falsche Feuerung unbrauchbar geworden. Dass in diesem Stadtgebiet weitere
Töpfereien ihren Standort hatten, geht aus einer Produktionsstätte einige Meter
entfernt in der Kleinen Burgstraße hervor. Hier fanden sich Scherben der sogenannten
Lübecker Kannen. Auch diese Gefaße sind nicht in üblicher Machart, in
Harter Grauware, gebrannt, sondern sie haben zuviel Feuer bekommen, so dass
sie Faststeinzeug ähneln und teilweise sogar mit (Eigen?)glasur versehen sind.
Weitere Kannen sind sogar oxydierend gebrannt und somit wie die oben schon
erwähnten Kugeltöpfe von roter Farbes. Die Frage, ob man die versehentlich rotgebrannte
Ware auch dann entsorgte, wenn sie noch funktionstüchtig war, ist
noch nicht eindeutig beantwortet6•
In letzter Zeit kamen bei Grabungskampagnen in der Kleinen Burgstraße
zwischen Töpfereiabfall mehrere bemerkenswerte Einzelstücke zutage, nämlich
antropomorph verzierte Keramikscherben. Sechs von den zehn Stücken gehören
zu Figuren, die man gemeinhin den „Krügen mit tanzenden Mädchen“ zuordnet.
Diese Einzelstücke gibt es in verschiedenen Formen und Stadien der Fertigung7•
Mehrere der langgestreckten, mit einer Kapuze oder einem Schleier umgebenen
Gesichter liegen in Harter Grauware vor. Da diese ,,highly decorated ware“ aber
ansonsten immer als Rote Irdenware vorliegt, hat es hier wohl einen Fehlbrand
gegeben. Dieses bestätigt auch eine Wandscherbe, die den Körper der Figur
zeigt. Der Scherben ist aus Roter Irdenware, der Körper ist mit Engobenton belegt,
anschließend ist das Stück glasiert. So wurden die Köpfe schon nach dem
ersten Produktionsgang, dem ersten Brand, als Fehlstücke entsorgt, die Wandscherbe
mit der Körperdarstellung hingegen wurde noch glasiert und dann ein
zweites Mal gebrannt. Möglicherweise ging es beim zweiten Produktionsgang
kaputt. Dass der Handwerker die nicht rot gewordenen Köpfe aussortierte, liegt
vielleicht daran, dass man – ebenso wie die Patemosterer – bei dieser aufwendig
zu produzierenden Luxusware nur erstklassige Qualität verkaufen wollte.
1 .4.2 Fehlbrände neuzeitlicher Keramik
Auch in der Neuzeit lagen die feuergefahrliehen Betriebe in Lübeck wie im
Mittelalter noch intra muros. In der Dankwartsgrube wurde eine Töpferei fiir
neuzeitliche Gelbe Irdenware ergraben, der Ofen befand sich in der Diele des
s Diethard MEYER, Glasurkeramik des Mittelalters von einer Töpfereiproduktion aus der
Kleinen Burgstraße zu Lübeck – Ein Vorbericht. In: Lübecker Schriften zur Archäologie
und Kulturgeschichte 23, 1993, 277-282.
6 Bis jetzt hat man nur eindeutige Hinweise darauf, dass die weggeworfene Keramik zu Fehlbränden
gehörte. Die Vermutung, dass die Gefaße erst beim Wegwerfen zerscherbten und
insofern nur wegen der ‚falschen Farbe‘ entsorgt wurden, konnte noch nicht bewiesen
werden.
7 Ulrike BRAUN, Kleine Figuren – große Wirkung. In: Archäologie in Deutschland Heft 4
(1999) 47. Ulrike BRAUN, Figurenpracht im TöpfereiabfalL In: Der Wagen. Ein
Lübeckisches Jahrbuch, 2000, 153-160.
23
Hauses8• Hier war es ebenfalls zu einer Überfeuerung gekommen, doch hier
hätten die Gefaße nicht einmal mehr als Produkte zweiter Wahl verwendet werden
können. Sie waren ineinander verbacken, verschmolzen und zusammengesunken,
von den ursprünglichen Formen ist nur anhand der Stiele und Beine
noch auf die Gefaßform, die innen glasierten Grapen zu schließen. Der Inhalt
des Ofens wurde anscheinend nach Ausräumen einfach unter dem Fußboden der
Werkstatt und auf dem Grundstück vergraben.
1.5 Ein halbfertiger Einbaum
Bei Grabungen im südlichen Bereich der Lübecker Halbinsel wurden die hölzernen
Konstruktionen eines auf eine Brücke zulaufenden Weges gefunden. Für
diesen Bereich war in den schriftlichen Quellen der Übergang über das Wasser
ins Landgebiet, also die frühe Furt, belegt. Auch berichtet der Chronist Helmold
von Bosau, dass anlässlich des Überfalls der Slawen im Jahre 1 160 ein Priester
namens Athelo die Zugbrücke gerade noch hochziehen konnte – obwohl das
feindliche Heer schon mitten auf der Brücke war9• Die 1995/96 durchgeführten
Grabungen erbrachten auf 50 bis 60 Metern einen zweiphasigen Straßenbelag,
der im Bereich der ehemaligen Wakenitzniederung in eine Brückenkonstruktion
überging, von der einige Joche erfasst wurden. Innerhalb der Konstruktion war
ein Holz verbaut, dass den Eindruck eines Einbaums erweckte. Das Holz wurde
geborgen und einem Schiffsarchäologen gezeigt.
Detlev Ellmers meint10, es könne sich tatsächlich um einen Einbaum handeln.
Das Holz ist noch 6 Meter lang und bis zu 50 cm breit, die Enden sind leider
vergangen oder abgebrochen. Bei der Zurichtung dieses Eichenstammes ist
die natürliche Veijüngung des Baumes berücksichtigt. Zunächst erfolgte eine
glatte waagerechte Abarbeitung der oben liegenden Seite, anschließend wurde
das Stück um 180° gedreht und kam auf der Unterseite zu liegen. Nun wurde
auch die obere Seite zu einer glatten Fläche bearbeitet, dann begann die Abarbeitung
der Außenkanten zu glatten, senkrechten Seitenwänden. Die Aushöhlung
des Inneren ist begonnen, aber nicht vollendet worden. Sie erfolgte mit
schmalen Dechseln, womit möglichst lange Späne gelöst wurden. Dieses stellt
laut Detlev Ellmers keine gefahrlose Methode dar, denn bei einem drehwüchsigen
Eichenstamm können überall dort, wo entsprechende Fasern nach außen
laufen, beim Abspalten die Seitenwände beschädigt werden. Während das Innere
ausgehöhlt wurde, geschah etwas, das dazu führte, dass dieses Holz nicht
8 Alfred FALl<, Ausgrabung eines Töpferofens der Frühen Neuzeit in Lübeck. In: Archäologische
Nachrichten aus Schleswig-Holstein Heft 3/4 (1993/1994) 52-55.
9 Helrnoldi chronica Slavorurn, hg. von Bernhard SCHMEIDLER, MGH SS in us. schol.
Hannover 31937, I, 87.
10 Die Informationen sind einem Schreiben entnommen, das Prof. Dr. Detlev ELLMERS vorn
Deutschen Schiffaf hrtsmusetun in Bremerhaven mit einem anhängenden Manuskript (Titel:
„Ein halbfertiger Einbaum aus der Frühzeit der Stadt Lübeck“) arn 13. November 1995 an
den Bereich Archäologie der Hansestadt Lübeck sandte.
24
mehr als Einbaum genutzt werden konnte. Der Fehler ist aufgrund der starken
Verwitterung nicht mehr zu erkennen.
2. Objekte „zweiter Wahl“
Unter den Funden gibt es eine große Anzahl, die zwar fehlerhaft, aber trotzdem
funktionstüchtig sind, so dass sie als zweite Wahl trotzdem genutzt wurden und
im mittelalterlichen Haushalt vorhanden waren. Da gibt es Gefäße aus Harter
Grauware, die in der Form leicht verzogen sind, Grapen, die auf verschieden
hohen Füßen stehen, und somit schief sind, Grapen, die statt einer runden Mündung
eine eiförmige haben, große Gefäße aus Steinzeug, die im Bauchbereich
Eindeilungen aufweisen, die schon bei der Herstellung entstanden sind, Steinzeugkrüge,
auf denen die Abdrücke mitsamt Überrest der nebenstehenden Krüge
zu sehen sind, weil sie im Ofen zu nahe beieinander gestanden haben, und somit
miteinander verbacken sind.
Nicht nur unter den Keramikfunden, auch unter den Glasobjekten gibt es
Stücke, wie z. B. ein Maigelein oder einen Becher mit Kreuzrippenmuster, die
völlig schief sind. Ein im oberen Bereich etwas verzogenes Keulenglas wurde
auf einen Fuß gesetzt, der absolut nicht mehr den hohen Handwerkeranforderungen
entsprach. Trotzdem wurden auch diese Gläser genutzt und erst nach
Zerbrechen in einer Kloake entsorgt.
Selbst beim bevorzugten Lübecker Baumaterial, den Backsteinen, wurde
mit Steinen zweiter Wahl gearbeitet. Dazu sind all‘ jene Steine zu zählen, die
beim Brand verzogen sind, oder aufgrund von Überfeuerung verformt sind. Häufig
geschah es aber auch, dass beim Trocknen der Backsteine Tiere und Kinder
über die Rohlinge hinübergelaufen waren, und so Abdrücke von Pfoten und
Kinderfüßen auf die noch zu brennenden Backsteine kamen. Doch da man für
ein normal großes Lübecker Dielenhaus ca. 80.000 Backsteine benötigte, nutzte
man auch diese Steine, sie wurden häufig im Inneren der Wände vermauert.
3. Halbfertigprodukte
3.1 Schnallenrahmen
In der Breiten Straße 26 wurde eine Bronzegießerei aufgedeckt. Zwischen Gusstiegelfragmenten,
Fragmenten der Formlehmumhüllung, Schlacken etc. fanden
sich auch Halbfabrikate in Form von noch zusammenhängenden Schnallenrahmen.
Diese wurden in einer Form gegossen und später erst getrennt. Auch in der
Hundestraße fanden sich neben den Werkzeugen eines Schmiedes zwei zusammenhängende
Schnallenrahmen.
25
3.2 Kämme
Auf den Grundstücken Hundestraße 1 3 bis 15 wurde die Werkstatt eines Knochenschnitzers
aus dem 1 3 . Jahrhundert aufgedeckt. Im Bereich der Kübbung
eines dreischiffigen hölzernen Hallenhauses fand sich eine umpflockte Grube,
und darin lagen zahlreiche Abfälle, Halbfertigprodukte und einie Fehlstücke
der Kamrnherstellung, und zwar der Steil- oder Langzinkenkämme 1 •
Für die Herstellung eines Langzinkenkammes wird ein Gelenkende der
Metapodien abgeschlagen und der Knochen der Länge nach durchtrennt. Das
weniger gewölbte Stück wird weiterbearbeitet, der andere Teil entsorgt. Das
verbliebene Rohstück wird im nächsten Arbeitsgang erst einmal geglättet, und
diese Art von Halbfertigfabrikaten sind aus dieser Werkstatt geborgen worden.
Danach wurden freihändig die Zinken eingesägt, dazu diente als Unterlegstück
wiederum ein Knochen. Dass hierbei auch Fehlstücke entstanden, weil
z.B. Zinken abbrachen oder vollkommen schief eingesägt wurden, ist durch
zahlreiche Funde belegt.
Im Lübecker Johanniskloster wurden Halbfertigprodukte der Herstellung
von Dreilagenkämmen gefunden. Hierbei handelt es sich um zahlreiche vorbereitete
Knochenplättchen, die im nächsten Arbeitsschritt durch zwei Knochenleisten
zum Dreilagenkamm zusammengefügt worden wären12.
4. Abfallprodukte
4.1 Knochenleisten
Im Lübecker Fundgut finden sich eine große Anzahl von ausgebohrten Knochenleisten.
Diese Leisten sind ein Abfallprodukt der Perlen- bzw. Knopfberstellung.
Zunächst muss aus einem Rinderknochen die Leiste hergestellt werden.
Die dazu nötigen Arbeitsgänge ähneln denjenigen bei der Produktion eines
Steilkarnmes. Danach können die Perlen bzw. Knöpfe aus der Leiste ausgebohrt
werden. Die Abbildung des Paternostermachers im Hausbuch der Mendelschen
Zwölfbrüderstiftung zeigt den Mönch an seiner Drehbank bei der Betätigung
seines Bohrers durch den Fiedelbogen. Der Bohrer ist in Kern- und Hohlbohrer
aufgeteilt. Mit der linken Hand hält der Patemostecer eine Knochenleiste fest,
die an einem Querholz der Werkbank befestigt (?) ist. Man sieht, dass schon
1 1 Doris MÜHRENBERG, Roh-, Halbfertig- und Fertigprodukte der Kammherstellung. In:
Jörgen BRACKER (Hg.), Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos 2, Harnburg 1989. 3 1 1 .
MOHRENBERG – GLÄSER 1 989, 457-458 (zit. in Anm. 3). MOHRENBERG 1990, 357-358 (zit.
in Anm. 3). Doris MOHRENBERG, Roh-, Halbfertig- und Fertigprodukte der
Kammherstellung. In: Jochen LUCKHARDT – Franz NIEHOFF (Hgg.), Heinrich der Löwe und
seine Zeit, Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1 1 25-1235 1 . München 1995, 442.
MOHRENBERG 1999, 43-52 (zit. Anm.3).
12 Manfred GLÄSER, Archäologische und baugeschichtliche Untersuchungen im St. Johanniskloster
zu Lübeck. Auswertung der Befunde und Funde. In: Lübecker Schriften zur
Archäologie und Kulturgeschichte 16 ( 1989) 9-1 20. 54
26
mehrere fertige Perlen in der Auffangschale liegen, dementsprechend viele Löcher
sind in der Leiste schon vorhanden. Der Mönch muss während der Fertigung
die Leiste wenden, denn im ersten Arbeitsgang werden die Perlen nur bis
zur Hälfte vom Hohlbohrer ausgebohrt, der Kernbohrer allerdings durchdringt
das ganze Werkstück, so dient der Perlenkanal nachher als Führungsachse, wenn
der Hohlbohrer die zweite Halbkugel der Perle ausbohrt13• Für das 1 7. Jahrhundert
ist auf den Abbildungen von Christoph Weigell belegt, dass die
Perlendreher auch freihändig arbeiten.
4.2 Glas
In der Großen Altenfähre 1 wurde im Keller eines Dielenhauses eine kompakte
Schicht aus zerscherbtem Flachglas aufgefunden. Auf einer Fläche von einem
Quadratmeter, 20 cm stark, Jagen ca. 50 kg Glas aus dem 16. Jahrhundert. Die
ca. 1 3 000 Scherben würden ungefähr eine Fensterfläche von 1 2 m2 ergeben.
Die Deutung dieser Schicht ist strittig, es handelt sich eventuell um eine Sperrschicht
gegen Ratten, oder aber um einen Schutz gegen aufsteigende Feuchtigkeit.
Unter den Funden befinden sich Butzenscheiben ebenso wie rot überfangenes
und bemaltes Glas. 1 2 000 Scherben waren unverziert, die anderen wiesen
florale Motive, Ranken, Perlborten und Bordüren auf. Selbst gotische Buchstaben
aus dem beginnenden 15. Jahrhundert sind vorhanden. Bemerkenswert für
unser Thema ist, dass sich unter den Scherben 20 Stücke eindeutig primärer
Fehlerproduktion fanden, nämlich verschmolzene und verbogene Teile, die
eventuell beim Auswalzen der flüssigen Glasmasse zu Platten entstehen können.
Beim Zuschnitt des Glases fallen sie als Abfall an. Das deutet auf eine Glaserwerkstatt,
und es erhebt sich die Frage, wie die Vergesellschaftung dieser verschiedenen
Glasscherben zustande gekommen ist14•
5. Umgearbeitete und umgeänderte Objekte
5.1 Lederschuh
Im Lübecker Fundgut finden sich auch etliche Lederschuhe und Schuhteile, vor
allem immer wieder Lederreste, die sowohl in den feuchten Schichten als auch
13 Judith OEXLE, Würfel- und Paternosterhersteller im Mittelalter. In: Landesdenkmalamt
Baden-Württemberg (Hg.), Der Keltenfürst zu Hochdorf. Methoden und Ergebnisse der
Landesarchäologie. Stuttgart 1985, 455-462.
14 Zur Literatur vgl. Peter STEPPUHN – Ursula RADIS, Sakrale Glaspracht – profane Nutzung.
In: Archäologie in Deutschland Heft 3 (2000) 47-48. Wenn die Scherben nur von einem
einzigen Fenster stammen würden, und nun, nach Zerstörung des Fensters, einer anderen
Nutzung zugefiihrt worden wären, dürfte der Abfall, der beim Zuschneiden des Glases
anfällt, nicht mehr dabei sein. Es könnte sich hier vielmehr um die Abfallprodukte einer
Glaserwerkstatt handeln, die defekte Fenster austauschte und neue Teile zuschnitt, so dass
sowohl die zerscherbten alten Fenster, als auch die Fehlprodukte der gelieferten Glasplatten
sich im Abfall fanden.
27
in den Kloaken konserviert wurden. In den letzten Jahren ergab sich auf dem
Grundstück Hundestraße 95 im sogenannten Gerberviertel eine große Anzahl
von Lederfunden. Die Stücke wurden auf Schuhtypen, Verarbeitung, Entwicklung
etc. untersuche5. Bei der näheren Betrachtung eines Kinderstiefels stellte
sich heraus, dass er eindeutig nicht primär für ein Kind angefertigt worden war,
sondern dass das Stiefelehen war aus einem Erwachsenstiefel gefertigt worden,
wahrscheinlich die Arbeit eines Flickschusters.
5.2 Seidenkappe
In einer Kloake auf einem Grundstück in der Holstenstraße hat sich eine seidene
Frauenkappe erhalten 16. Sie ist aus mehreren Stoffteilen zusammengesetzt und
hatte ursprünglich wohl eine gelbliche Farbe. Anband des Stoffes und der Zusammensetzung
konnte die Kostümkundlerin erkennen, dass diese Kappe aus
den Überresten eines Kleides gefertigt wurde.
5.3 Gugeln
Die Gugel war im Mittelalter für Mann und Frau aller Stände ein beliebtes, weil
sehr praktisches Kleidungsstück. Die Kapuze mit angeschnittenem Kragen, der
die Schultern bedeckte, konnte abgestreift werden, ohne dass man ein weiteres
Kleidungsstück ausziehen musste. Zudem schützte sie vor Staub, Wind, Regen
und Kälte. Doch da auch die praktischen Dinge der Mode unterworfen waren,
wurde der zipfelartige Abschluss dieser Kapuze immer länger, bis er, dem
Modediktat unterworfen, fast auf die Fersen reichte. Da beschlossen um 1 500
Kirche und Obrigkeit, diese kleidungsmäßige Hoffahrt zu unterbinden. Sie
sprachen Verbote aus, die Mode wandelte sich wieder – und in den Lübecker
Kloaken lassen sich für diese Zeit besonders viele schmale, tunnelartige
Stofffetzen nachweisen: Die abgeschnittenen Gugelschwänze!
5.4 Weitere Textilreste
Die meisten der in den Kloaken aufgefundenen Textilreste sind als Klopapier
genutzt worden. So weist die Kloake in der Lübecker Fronerei, Wohnhaus des
Scharfrichters und gleichzeitig Gefa“ngnis, über 6000 einzelne kleine Textilfet-
IS Zur Ausgrabung Hundestraße 95 siehe demnächst: Mieczyslaw GRABOWSK.J, Eine Ausgrabung
im Lübecker GerbervierteL Befunde und Funde auf dem Grundstück Hundestraße 95
und Marquita VOLI beides in Vorbereitung für die Lübecker Schriften zu Archäologie und Kulturgeschichte 26.
16 Gisela JAACKS, Kostümgeschichtliche Untersuchungen an den Gewebefunden aus den Grabungen
Hundestraße, Schrangen und Königstraße zu Lübeck. ln: Lübecker Schriften zur
Archäologie und Kulturgeschichte 23 {1 993) 283-293. Gisela JAACKS, Seidenes
Bekleidungswerk aus den Lübecker Altstadtgrabungen. In: Lübecker Schriften zur
Archäologie und Kulturgeschichte 23 (1 993) 295-301.
28
zen auf7• Diese Kleinteiligkeit erschwert das Erkennen der Kleidungsstücke,
von denen diese Fetzen stammen. Doch den erfahrenen Kostümkundlern gelingt
dieses zuweilen, und sie stellten fest, dass häufig auch Kleidungsstücke geändert
wurden, und zwar oftmals im Bereich der Ärmel. Dass kann damit zusammenhängen,
dass Kleidungsstücke vererbt wurden. Und wenn eine Kauffrau z. B. ihrer
Magd bestimmte Kleider vererbte, so durfte diese sie aufgrund de bestehenden
Kleiderordnung nicht unverändert tragen. So waren ihr weite Arme! verwehrt,
sie musste sie enfter machen lassen – und die herausgetrennten Zwickel
wanderten in die Kloake 8•
6. Sekundärvenvendete Objekte
Von Bauhölzern ist es hinlänglich bekannt, dass sie oftmals in
Zweitverwendung verbaut wurden. So sind auch die mittelalterlichen Kloaken
häufig aus sekundär verwendeten Holzteilen errichtet. In Lübeck wurden
bemerkenswert viele Schiffsteile sekundär verwendet, vielleicht konnte man
sich dieses Holz vom Abwrackplatz günstig besorgen. So sind sowohl auf
Grundstücken in der Alfstraße als auch in der Mengstraße Kloaken aus
Koggenplanken errichtet – erkennbar an Kalfaterung und Koggenägeln.
Aber nicht nur Hölzer und nicht nur bei Gebäuden oder Einrichtungen der
Infrastruktur sind Objekte in Zweitverwendung und in anderem Funktionszusammenhang
genutzt worden. Es gibt solche Beispiele auch für andere Materialgruppen.
6.1 Rundlinge
Die sogenannten ,,Rundlinge“ wurden aus Keramikscherben gefertigt, und zwar
einfach durch das Runden der Kanten. Danach wurden sie als Spielsteine genutzt.
Eine erkleckliche Anzahl wurde in der Lübecker Dankwartsgrube gefunden.
Ob auch die im St. Johanniskloster gefundenen Scherben mit Einritzungen
als sekundär verwendete Spielsteine oder aber als Unterlage für Schreibübungen
anzusehen sind, ist fraglich. Die Zeichen sind zwar eindeutig erst nach dem
Brand in die Oberfläche der Gefäße geritzt worden, aber zumindest ein Teil der
Markierungen ist wohl auf dem noch erhaltenen Gefäß angebracht worden und
diente zur Unterscheidung der Besitzer bzw. Benutzer19• Bemerkenswert ist,
17 Klaus T!oow, Die spätmittelalterlichen und fiiihneuzeitlichen Wollgewebe und andere
Textilfunde aus Lübeck. Zusammenfassende Bewertung und Vergleich. In: Lübecker
Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 22 ( 1 992) 250.
18 JAACKS 1993, 284 ff. (zit. in Anm. 16).
19 GLÄSER 1989, 45-47 (zit. in Anm. 12). Manfred GLÄSER, Scherben mit Einritzungen vom
Gelände des Johanniskloster in Lübeck. Eigentumsmarken oder Schreibübungen? In :
Archäologisches Korrespondenzblatt, Jg. 1 8 ( 1 988) 209-21 1 .
29
dass diese Art von Funden häufiger in Zisterzienserionen-Klöstern
vorkommen20•
6.2 Spielbrett
Um mit den oben erwähnten ,,Rundlingen“ das Spiel auch ausführen zu können,
benötigte man ein Spielbrett. Wir kennen neben den speziell gefertigten Spielbrettern
diejenigen, die in Fußböden, Fensterbrettern und Tischen eingeritzt
wurden. In Lübeck diente dazu auch der Boden eines kleinen Fasses, in den kurzerhand
das Spielfeld für die ,,Hasenjagd“ eingeritzt wurde.
7. Reparierte Objekte
Im Mittelalter, sogar noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein, galt noch nicht die
Schnelllebigkeit der heutigen Zeit, damals wurde noch viel repariert, die Reparatur
war günstiger als der Neu kauf.
7.1 Christophorus-Scheibe
Aus der Kloake des Frons auf dem Schrangen stammt eine bemalte Flachglasscheibe,
die den Heiligen Christephorus mit dem Kind auf der Schulter zeigt.
Das Gesicht des Kindes ist allerdings nicht mehr vorhanden, an dieser Stelle
durchschneidet eine Kröselkante das Motiv21. Anscheinend ist die Scheibe
entweder gerissen bzw. gesprungen oder sogar im oberen Teil gänzlich zerstört
worden. Man hat nun versucht, hier eine Reparatur vorzunehmen, indem man
mit einer Kröselzange den wohl gezackten oberen Rand in eine abgerundete
Form brachte. Vielleicht wollte man einen Korbbogen herstellen, um die
Scheibe wieder mittels Bleiruten einsetzen zu können. Bei dieser Reparatur ist
die Scheibe gänzlich zersprungen und damit unbrauchbar geworden.
7.2 Teller
In jedem Haushalt geht zuweilen ein Teller kaputt, oft ist der Verlust zu verschmerzen,
oftmals ärgert es einen, weil der Teller besonders schön war. So war
es wohl auch im Haushalt einer Familie in Lübeck in der frühen Neuzeit, als ein
Fayence-Teller mit einem schönen Motiv, einem Vogel, in der Mitte entzweibrach.
Der glatte Bruch war trotzdem nicht zu kitten. So entschloss man sich, die
beiden Teile gleichmäßig zu durchbohren und diese Durchbohrungen mit Draht
20 Siehe auch im Zisterziensernonnenkloster Marienwerder: Mattbias SCHULZ, Geke!UlZeichnete
mittelalterliche Keramik aus dem wüsten Zisterziensernonnenkloster Marlenwerder bei
Seehausen, Kreis Prenzlau. In: Wismarer Studien zur Archäologie und Geschichte 2 (1 992)
13-28.
21 Wolfgang ERDMANN, Die Christophorus-Scheibe aus der Kloake der Fronerei auf dem
Schrangen und spätmittelalterliche Hausverglasungen in Lübeck. In: Lübecker Schriften
zur Archäologie und Kulturgeschichte 12 (1 986) 223-224.
30
zu verbinden. So konnte der Teller wenigstens noch als Wandschmuck dienen.
Teller solcher Art gibt es mehrere im Lübecker Fundgut Diese Art der Reparatur
war aber noch weit bis in unser Jahrhundert verbreitet.
7.3 Die Büste Margaretes
Auch Künstler sind wie die Handwerker nicht unbedingt gegen Unbill gefeit. So
schuf der über Lübeck binaus bekannte Künstler Johannes Junge im Jahre 1423
auf Bestellung des Königs Ericb XIII eine Grabskulptur seiner Vorgängerin,
Königin Margarete, die für das Grab der 1412 verstorbenen Monarehin im Dom
von Rosldlde gedacht war. Der Bildhauer wählte einen besonders schönen Alabasterblock
und begann. Er hatte sowohl das Kleid als auch Kopf und Schultern
plastisch aus dem Untergrund gelöst, als ein Fehler im Stein offenbar wurde,
und zwar in Form einer vertikalen Spaltung an der rechten Schulter2. Um diesen
Fehler auszumerzen, wurde der KopfMargaretes aus der Skulptur herausgesägt,
und ein neuer hineingesetzt Dieses kann man einerseits an der unterschiedlichen
Maserung im Stein erkennen, andererseits an der Ansatzstelle zwischen neuem
Kopf und altem Alabasterblock, denn dieser Ansatz soll zwar durch die Kleiderborte
kaschiert werden, doch da sie jetzt horizontal verläuft im Gegensatz zum
vorherigen, logischeren runden Abschluss, wird der Blick noch eher darauf gelenkt.
Da der Künstler keinen so tiefen Alabasterblock fand wie den ursprünglichen,
ist der zweite Kopf Margaretes nicht so lieblich vorgebeugt wie bei der
ersten Version, auch der Charme ist verschwunden. Er ist längst nicht so aussagekräftig
und liebreizend wie der erste. Weil letzterer so schön war, stand er
Jahrhunderte lang in einer Nische der Jakobi-Kirche, bis er ins Museum gelangte.
Die Skulptur Margaretes mit der erneuerten Büste aber kam nach
Roskilde.
8. Testamente
Wenn wir die Themenkreise der umgearbeiteten Objekte, der umgeänderten
Kleidung z. B., betrachten, dann müssen wir auch das ansprechen, was wir im
archäologischen Fundgut nicht erkennen können, weil es nicht mehr vorhanden
ist. Dieses trifft auf Objekte aus Edelmetall und Metall zu, die entweder eingeschmolzen
oder ganz bewusst eingeschmolzen und dann umgearbeitet wurden.
Hinweise hierfür sind in den Lübecker Bürgertestamenten zu finden23• So wurden
die Bronzegrapen vererbt, oder, wenn schadhaft geworden, oder anderweitig
22 Max HASSE, Neue Beiträge zur Geschichte der lübeckischen Kunst. In: Zeitschrift des Vereins
für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 34 ( 1954) I I0 -1 1 1 . Max HASSE, Das
Grabmal der Königin Margarethe von Dänemark und der Lübecker Bildhauer Johannes
Junge. In: Zeitschrift fiir Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 38 (1 958) 138- 1 4 1 .
23 Ahasver von BRANDT, Regesten der Lübecker Bürgertestamente des Mittelalters I : 1278-
1350 (= Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck hg. vom Archiv der
Hansestadt, Bd. 18) Lübeck 1964.
3 1
nicht mehr interessant, eingeschmolzen. Auch andere Gegenstände aus Edelmetall
wurden verändert oder eingeschmolzen, so wurden etwa aus Schmuckgegenständen
Abendmahlskelche etc. Am 10. August 1347 verfügt Peter Witte
d.Ä., dass aus seinem silbernen Gürtel ein Kelch gefertigt werden soll, über den
die Provisoren zugunsten seines Seelenheils verfügen sollen. Domina Gertrud,
die Witwe des dominus Everhard van Alen, testiert am 6. September 1349, dass
die beste Spange und Kleider der Erblasserio verkauft werden sollen und dass
aus eingeschmolzenem Edelmetall ihres Besitzes soviel genommen werden soll,
dass daraus ein Kelch gefertigt werden kann, der samt einem Meßgewand zu
frommen Zwecken gestiftet werden soll.
Abb. I : Ein Nierendolch und die acht fehlerhaften Nierendolchgriffe aus
Lübeck.
32
Abb. 2: Deutlich sichtbar ist der herausgebrochene Span an der Laffe, so dass es
nicht mehr sinnvoll war, den Löffel weiter zu bearbeiten.
Abb. 3: Die fehlerhaften Lübecker Kannen – rot gebrannt, mit Teilglasur versehen
– aus der mittelalterlichen Töpferei in der Kleinen Burgstraße in Lübeck.
. 33
Abb. 4: Fragment eines „tanzenden Mädchens“. Diese Scherbe und weitere, in
Harter Grauware vorhandene, deuten auf eine Produktion dieser
mittelalterlichen antropomorph verzierten Keramik vor Ort.
Abb. 5: Keramikfehlbrände aus der neuzeitlichen Töpferei in der DankwaTtsgrube
in Lübeck.
34
Abb. 6: Der ,,Lübecker Einbaum“ in situ.
Abb. 7: Halbfertigprodukte aus einer mittelalterlichen Bronzegießerei in
Lübeck.
35
Abb. 8: Abfallprodukte und ein fehlerhaftes Halbfertigprodukt aus der Kammherstellung,
gefunden auf den Grundstücken zwischen Alfstraße und Fischstraße
im sogenannten Lübecker Kaufleuteviertel.
Abb. 9: Die Lederteile des zu einem Kinderstiefel verkleinerten Erwachsenenschuhs.
36
Abb. 10: Zu schön, um nach Zerbrechen entsorgt zu werden: Dieser FayenceTeller
wurde sorgsam repariert.
37
MEDIUM AEVUM
QUOTIDIANUM
45
KREMS2002
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Oiederösterreich kultur
Redaktion: Thomas Kühtreiber
Titelgraphik: Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, 3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. –
Druck: Grafisches Zentrum an der Technischen Universität Wien, Wiedner
Hauptstraße 8-10, 1040 Wien.
Inhalt
Fehl-, Halbfertigprodukte sowie umgearbeitete Stücke
und ihre Rolle bei der Erforschung des mittelalterlichen Handwerks
Ralph Röber, Vorwort . . . . . . . . …………………………………………………………………… 5
Herbert Knittler, Qualitätsvorschriften in Handwerksordnungen
des Mittelalters und der frühen Neuzeit
(dargestellt an Österreichischen Beispielen) ……………… ……………….. . . . . . . . 7
Doris Mührenberg, Recycelt, repariert oder wiederverwendet
Fehl- und Halbfertigprodukte im archäologischen Fundgut
der Hansestadt Lübeck . . . . . ….. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Ulrich Müller, Ein Fund vom Rugard, Ldkr. Rügen ……….. ………………………… 38
Monika Doll und Andreas König, Produktionsabfälle
einer knochen- und hornverarbeitenden Werkstatt
des späten I I . Jahrhunderts aus Höxter an der Weser …………………. ….. 61
Stefan Krabath, Untersuchungen zur mittelalterlichen und neuzeitlichen
Ringbrünnenproduktion in Mitteleuropa
unter besonderer Berücksichtigung Westfalens . . …….. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 96
Bertram Jenisch, Die ,,Bohrer und Balierer“ in Freiburg
und Waldkirch im Breisgau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Birgit Bühl er, Der Nachweis der Treibziseliertechnik
an goldenem Gürtelschmuck der Früh-, Mittel- und Spätawarenzeit … 147
Anschriften der Autoren ………………….. ………………………………………………….. 166
Vorwort
Das vierte Treffen des ,,Archäologischen Arbeitskreises zur Erforschung des
mittelalterlichen Handwerks“ fand vom 23. bis 25. März 2000 in Krems statt. Es
folgte einer Einladung des ,,Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der
frühen Neuzeit“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die Organisation
hatte Thomas Kühtreiber übernommen, von ihm stammten auch die
Vorschläge zu den beiden Tagungsthemen. Die Vorträge des Themas ,,Zur
Erforschung des mittelalterlichen Handwerks in Österreich“ sind bereits in Band
43 von Medium Aevum Quotidianum erschienen, die Vorträge des zweiten
Bereichs ,,Fehl-, Halbfertigprodukte sowie umgearbeitete Stücke“ werden hier
vorgelegt. Die insgesamt acht Beiträge umspannen einen großen geographischen
Rahmen, der vom Norden Deutschlands bis in den Osten Österreichs reicht. Die
interdisziplinäre Ausrichtung spiegelt sich in den beteiligten Wissenschaftsrichtungen
wider, bei der neben Archäologen auch Historiker, Kunsthistoriker
und Naturwissenschaftler vertreten sind.
Produktionsabfalle bieten ebenso wie umgearbeitete Stücke ein weites
Feld von Erkenntnismöglichkeiten zum Handwerk. An ihnen lassen sich Auswahl
und Verwendung von Rohstoffen studieren, sie erlauben darüber hinaus
aber auch weit besser als fertige Produkte, die auf Grund von Überarbeitungen
der Oberfläche in dieser Hinsicht oft nur sehr eingeschränkt auswertbar sind,
detaillierte Einblicke in Techniken und Prozesse der Herstellung. So lassen sich
Traditionen und Innovationen im Handwerk ebenso erkennen wie der Grad der
Spezialisierung und die Produktpalette einzelner Handwerker.
Aber noch in einem weiteren Bereich sind diese Objekte von hoher Aussagekraft,
da durch ihre Aussonderung durch den Produzenten unmittelbar individuelle
oder berufsspezifische Qualitätsnormen sichtbar werden. Damit werden
im Abgleich mit den in den Verkauf gelangten Produkten Aussagen zum Qualitätsmanagement
einzelner Handwerker und Berufsstände möglich. Auch zur
Quantität der Produktion sowie zur Normierung bestimmter Erzeugnisse lassen
sieb Aussagen erzielen. Dies sind Themen, zu denen Schriftquellen nur eingeschränkt
Auskunft geben, da Qualitätsbestimmungen zum Beispiel in Zunftoder
Gewerbeordnungen in der Regel allgemein oder formelhaft verfasst wurden.
Diese gelten zudem nur für einzelne Handwerkssektoren, wie das Nahrungs-,
Textil- oder Metallgewerbe. Hier bilden die archäologischen Quellen
nicht nur Ergänzung und Korrektiv, sondern sie erlauben einen Zugriff auf
Erkenntnisse, die dem Historiker verwehrt bleiben.
5
Mein Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die Ihre Beiträge zur Verfügung
gestellt haben, sowie Medium Aevum Quotidianum für die Aufuahme derselben
in sein Publikationsorgan. Es ist erfreulich, dass neben den Vorträgen
von zwei Treffen des Arbeitskreises1 nun die Ergebnisse einer weiteren Tagung
publiziert werden konnten. Es bleibt zu hoffen, dass damit die erst in Ansätzen
greifbaren archäologischen Erkenntnisse zum mittelalterlichen Handwerk
vertieft und ausgebaut werden können.
Konstanz,
im Juni 2002
Ralph Röber
Leiter des ,,Archäologischen Arbeitskreises
zur Erforschung des mittelalterlichen Handwerks“
1 Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hg.), Von Schmieden, Würflern und
Schreinern – Städtisches Handwerk im Mittelalter (ALManach 4) Stuttgart 1999; Ralph
Röber (Hg.), Mittelalterliche Öfen und Feuerungsanlagen. Beiträge des 3. Kolloquiums des
Arbeitskreises zur archäologischen Erforschung des mittelalterlichen Handwerks (Materialhefte
zur Archäologie in Baden-Württemberg 62) Stuttgart 2002.
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