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Reiseerfahrung und Reflexivität.

7
Reiseerfahrung und Reflexivität.
Spätmittelalterliche Religiosität als Kontext
kultureller Kontraste
Helmut Hundsbichler (Krems)
Versteht man Erkenntnis als Prozess eines fortschreitenden Updates von erworbenen
Wissensständen, so müsste eine Differenz zum Vorschein kommen, wenn
man frühere Erkenntnis-Stufen von einem „fortgeschrittenen“ Erkenntnis-Stand
aus betrachtet. Eine derartige Konfrontation ist ein konstruktivistisches „Abenteuer
im Kopf“, in dem vermeintlich gefestigtes Wissen einmal „anders“ betrachtet
wird – und das ist ein Grundrezept zur Erlangung neuer, optimierter Erkenntnis1.
Im vorliegenden Beitrag re-flektiere ich deshalb als Beispiel (meine
persönliche Sicht auf) jene Quelle, die vor rund drei Jahrzehnten Grundlage
meiner Dissertation war2. Die „anders“-Artigkeit des nunmehrigen Blickwinkels
beruht vor allem auf der Mitberücksichtigung mittelalterlicher Religiosität sowie
auf den Aspekten der kulturellen Kontraste, Konfrontationen und Differenzen,
die thematische Vorgaben für die Entstehung dieses Beitrages waren3.
„Die“ kulturelle Konfrontation schlechthin war für das christliche Mittelalter
sicherlich die Konfrontation des Christentums mit jeder Art von „Heiden“.
An „Heiden“ greife ich hier allerdings nur eine Gruppe heraus: Die Osmanen,
die im Spektrum mittelalterlicher „Heiden“ meistens unter der Bezeichnung
„Türken“ und relativ spät in Erscheinung treten – bekanntlich jedoch mit umso
1 Fritz G. Wallner, Acht Vorlesungen über den Konstruktiven Realismus (Cognitive science
1) 3. Aufl. Wien 1992.
2 Helmut Hundsbichler, Reise, Gastlichkeit und Nahrung im Spiegel der Reisetagebücher des
Paolo Santonino (1485-1487). Geisteswiss. Diss. Wien 1979 (ungedruckt). Die Edition der
Quelle besorgte Giuseppe Vale (Hrsg.), Itinerario di Paolo Santonino in Carintia, Stiria e
Carniola negli anni 1485-1487 (Studi e testi 103) Vatikan 1943.
3 Es handelt sich um die erweiterte deutsche Fassung eines Referates, das ich unter dem Titel
„Daily travel and God’s advice. Material culture revisited“ auf dem International Medieval
Congress 2004 in Leeds gehalten habe. Das Generalthema des Kongresses lautete „Clashes
of Cultures“, die betreffende Sektion wurde von Gerhard Jaritz organisiert und war betitelt
„Contrasts in Quotidianity I: The Religious Context“.
8
mehr Nachdruck und Nachwirkung4. Ein Holzschnitt aus dem Bericht über die
Pilgerfahrt Arnolds von Harff könnte zwar den Schluss nahe legen, dass es in
Ägypten gegen 1500 im Erscheinungsbild von Christen, Sarazenen (= „Heiden“),
Osmanen (= „Türken“) und Juden keine nennenswerten Unterschiede gegeben
hat (Abb. 1)5. In euro-zentrischer Sicht entwickelten sich die Osmanen
jedoch zu einem neuen und furchterregenden Typ von „Heiden“, nachdem sie
1453 Konstantinopel erobert hatten und zwischen 1473 und 1483 nachhaltige
Versuche unternahmen, nach Mitteleuropa vorzudringen und das Christentum
auszulöschen6.
Die hier betrachtete Quelle zoomt geographisch auf das südöstliche Mitteleuropa
und chronologisch auf eine Periode kurz nach jener osmanischen Offensive:
In den Jahren 1485, 1486 und 1487 reiste eine kirchliche Delegation aus
dem Patriarchat Aquileia in die nördlichen Bereiche dieser Kirchenprovinz, die
seit Karl dem Großen bis an die Drau reichte (und insofern partes ultramontanas
hatte)7. Ein vom Patriarchat eigens autorisierter Bischof hatte in Teilen von
Osttirol, Kärnten, Krain und der ehemaligen Untersteiermark die kirchliche Infrastruktur
wiederherzustellen, nachdem die Osmanen wesentliche Teile davon
entweiht oder vernichtet hatten. Dieses einzigartige kirchliche Unternehmen
dauerte insgesamt 114 Tage, und der mitreisende bischöfliche Sekretär Paolo
Santonino (secretarius, scriba), ein Jurist, verfasste hierüber einen ebenso herausragenden
mittellateinischen Bericht, dessen drei Abschnitte er jeweils gleich
zu Beginn als „Itinerarium“ bezeichnet8. Es bietet die Möglichkeit, drei unterschiedliche
Arten von Kontrasten, Konfrontationen und Differenzen zu studieren:
– Erstens (im Hinblick auf die Beteiligung der Osmanen) den „klassischen“
Aufeinanderprall Christen vs. „Heiden“.
4 Vgl. Rudolf Neck (Red.), Österreich und die Osmanen, Ausstellungskatalog. Wien 1983;
Inanc Feigl (Hrsg.), Auf den Spuren der Osmanen in der österreichischen Geschichte (Wiener
Osteuropa-Studien 14) Frankfurt/M. u. a. 2002.
5 Holzschnitt, 1496/98; aus: Aleya Khattab, Das Ägyptenbild in den deutschsprachigen
Reisebeschreibungen der Zeit von 1285-1500 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I,
517) Frankfurt/M und Bern 1982, 237.
6 Vgl. Maria Schachinger, Die Türkeneinfälle in Kärnten in der zweiten Hälfte des 15.
Jahrhunderts. Dipl. Arb. Klagenfurt 1984; Leopold Toifl – Hildegard Leitgeb, Die Türkeneinfälle
in der Steiermark und in Kärnten vom 15. bis zum 17. Jahrhundert (Militärhistorische
Schriftenreihe 64) Wien 1991; Ignacij Voje, Die Türkeneinfälle in das Pettauer Gebiet
und deren Folgen, in: Begegnung zwischen Orient und Okzident, Ausstellungskatalog. Ptuj
1992, 21-29.
7 Zu diesem Ausdruck vgl. Anm. 19.
8 1485: Itinerarium editum a Paolo Sanctonino R.mi D. Marci Barbi Cardinalis S. Marci
Patriarche Aquileiensis secretario; Fortsetzung betreffend 1486: Prosecutio Itinerarij
conscripti ab eodem Paulo Sanctonino; Fortsetzung betreffend 1487: Tercia pars Itinerarij
sub eodem R. D. Petro presule Caprulense editi (Vale, Itinerario 121, 173 und 223). Die
Großschreibung scheint anzudeuten, dass Santonino das Wort Itinerarium auch als Werktitel
verstanden hat. Weitere Belege: Vale, Itinerario 168 und 235.
9
– Zweitens die Konfrontation mit kultureller Fremdartigkeit, die ein italienischer
Reisender außerhalb seines gewohnten Kulturkreises wahrgenommen
hat.
– Und ich denke, dass drittens der Kontrast zwischen unserer heutigen
Mentalität und der Fremdheit des Mittelalters ebenso als Zusammenprall
von Kulturen definiert und analysiert werden sollte.
Letztlich beruht jede dieser verschiedenen Konfrontations-Arten freilich auf einer
einzigen Konstellation: das ist die Konfrontation von Egozentrik und Selbstzufriedenheit
mit Fremdheit, mit Andersartigkeit, mit Alterität9.
1. Paolo Santonino über Christentum vs. Osmanen
Die Invasionen der Osmanen nach Mitteleuropa waren schlussendlich zwar
nicht auf Dauer erfolgreich, aber das kirchliche Leben haben sie unverzüglich
und schwer beeinträchtigt. Ohne Santoninos „Itinerarium“ hätten wir keine Vorstellung,
welch riesige Anzahl von Kirchen, Kapellen, Altären und Friedhöfen
im südlichen Österreich und im nördlichen Slovenien damals visitiert, geweiht,
rekonsekriert oder neu ausgestattet werden musste. Denn wie das „Itinerarium“
unter anderem vermerkt, hatten die Osmanen in den Jahren zuvor die gesamte
Kirchenprovinz „mit beklagenswertem Unheil heimgesucht“10. Teils sind sie
zeittypisch als „Türken“ genannt (Turci), teils erfolgt ihre Nennung verbunden
mit den pejorativen Attributen labes Turcorum („Verderben in Gestalt der Osmanen“)
und infideles (die Ungläubigen). Explizit den „Heiden“ sind sie nie zugeordnet.
Ein großes Repertoire von Ausdrücken umschreibt ihre vielgestaltigen
und zahlreichen Zerstörungsakte gegenüber Kirchen oder Altären: ecclesiam
oder altare contaminare (schänden), spoliare (plündern), prophanare und execrare
(entweihen), violare (beschädigen), corrumpere (zerstören), incendere (anzünden),
exurere (verbrennen), statuas deicere (Statuen zu Boden werfen). Das
Dominikanerinnen-Kloster Studenice/Studenitz beraubten sie all seiner Messkelche
und Kruzifixe11.Von einem untersteirischen Adeligen heißt es, er wurde
gefangen genommen und gefesselt nach Konstantinopel verschleppt (in vinculis
ductus Bisantium), wo er fast acht Jahre eingekerkert verblieb (in carcerem coniectus),
ehe er dank eines beträchtlichen kaiserlichen Lösegeldes freikam12. An
manchen Orten war das Sakrament der Firmung offenbar seit Jahrzehnten nicht
erteilt worden, sodass Santonino einmal auf seine sarkastische Art von „siebzigjährigen
(Firm-) Kindern“ spricht (pueri septuagenarij)13.
9 Alterität in Anlehnung an Hans Robert Jauss, Alterität und Modernität der mittelalterlichen
Literatur. München 1977.
10 Fuerunt alias superioribus annis in dicto monasterio turci, qui etiam omnem provinciam
Saunie miserabili clade affixerunt (Vale, Itinerario 230).
11 Vale, Itinerario 230.
12 Vale, Itinerario 232.
13 Vale, Itinerario 136 und 227 (Randbemerkung).
10
Zur drastischen Ausdrucksweise Santoninos ein paar Überlegungen. Sie
kann zunächst damit erklärt werden, dass er gezielt auf die Osmanen all jene
Stereotypen kumulierte und projizierte, die für Feindbilder des mittelalterlichen
Christentums schlechthin gebräuchlich waren. Höchstwahrscheinlich hatte er die
bedrohliche Alterität der Osmanen wenige Jahre zuvor in seinem Herkunftsland
Friaul authentisch kennengelernt14. Während der drei Reisen gab es jedoch keine
Begegnungen mit „Türken“. Aber hier trug Santonino sozusagen das Konstrukt
eines kulturellen Kontrasts mit sich, in dem seine eigenen früheren Erfahrungen
die traditionell „Heiden-feindliche“ Phraseologie der Kirche mental noch verstärkten.
Dieses Konstrukt erfuhr nun durch die unterwegs vorgefundenen Verwüstungen
und Nachwirkungen eine Aktualisierung. Vordergründig äußert sie
sich in Santoninos verbitterten Verbalisierungen, aber mit diesen betrieb er
zugleich wohl eine gezielte, konformistische „Inszenierung“ des Feindbildes
gemäß dem Erwartungshorizont seiner heimatlichen Öffentlichkeit15.
Als Konstrukt betrachtet, ist Santoninos rigorose Sicht tendenziell jenen
Klischees vergleichbar, auf denen bildliche Wiedergaben von Osmanen basieren.
Solche Wiedergaben sind in der mitteleuropäischen Kunst um 1500 allerdings
überraschend selten. Sie zeigen „Türken“ entweder als definitive Feinde
des Christentums, was am offenkundigsten in kriegerischen Szenen zum Ausdruck
kommt (Abb. 2)16, oder – wohl bedeutungsschwerer – die Darstellungen
imaginieren die Inferiorität der Osmanen gegenüber dem Christentum. Ein Beispiel
hierfür aus der Malerei wäre ein liegender „Türke“, auf dessen Rücken die
Figur der heiligen Katharina steht (Abb. 3)17, bzw. ein Beispiel aus der Skulptur
die hölzerne Büste eines „Türken“, auf dem die Armrast eines Chorstuhles „lastet“
(Abb. 4)18.
2. Ein italienischer Reisender erlebt kulturelle Fremdheit
Was Santonino abseits der „Türken“-Thematik berichtet, resultiert aus einer
ganz anderen Konstellation und hat nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ
ganz andere Dimensionen: Hier beschreibt er seine zahllosen Erfahrungen in
Kulturbereichen, die er zuvor nicht kannte und deren Sprachen er nicht verstand
(= deutsch und slowenisch). Ja, er erhöht sogar mit rhetorischer Drastik die
14 Dazu trifft er im „Itinerarium“ zwar keine Aussage, doch weiß er, wovon er spricht, weil
die Osmanen auch in Friaul erschienen sind (Vale, Itinerario 22-34).
15 Quasi die umgekehrte Blickrichtung vgl. bei Stefan Schreiner (Hrsg.), Die Osmanen in
Europa. Erinnerungen und Berichte türkischer Geschichtsschreiber. Graz und Wien 1985.
16 Sieg König Ludwigs von Ungarn gegen die Türken mit Hilfe Mariens. Tafel des Kleinen
Mariazeller Wunderaltars, steirisch, 1512. Graz, Steiermärkisches Landesmuseum Joanneum.
17 Hl. Katharina mit Stifter, Tafelbild. Thomas von Villach, 1480-1490, Pfarrkirche Millstatt
(Kärnten).
18 Chorstuhl (Detail), salzburgisch, gegen 1500. Tamsweg (Salzburg), Filialkirche St. Leonhard.
11
Distanz zum „eigenen“ Kulturbereich, indem er seine präsumtiven Leser mental
quasi in unbestimmte Fernen dirigiert (nämlich ad partes Germaniae und ad
partes ultramontanas)19, obwohl die betreffenden Gebiete bereits über den erstbesten
Gebirgsübergang erreichbar waren. Wie auch immer, es kommt also auch
hier das Moment der Erfahrung von Fremdheit massiv zum Tragen20 – aber anders
als bezüglich der Osmanen handelt es sich nun um Fremdheit innerhalb des
Christentums.
Für diesen Bereich kann Santonino als gebildeter und interessierter, als
eloquenter und humorvoller, als obsessiver und nahezu voyeuristischer Beobachter
gelten – jedoch nichtsdestoweniger stets auch als beflissener Interessensvertreter
der Kirche. Der erste (aber voreilige) Eindruck ist, dass er unsystematisch
und naiv alle kulturellen Details niedergeschrieben hat, die ihm interessant
erschienen21 – wie ein moderner sightseeing-Tourist, der alles und jedes fotografiert.
In dieser letztlich utilitaristischen Interpretation (die wir noch relativieren
werden) vermittelt das „Itinerarium“ in der Tat viele einzigartige Details über
Leben und Kultur in den besuchten Regionen, und zwar insbesondere: Beschreibungen
und Charakterisierungen von Personen; Beschreibungen von Landschaften,
Siedlungen, Burgen und anderen Bauwerken; Spuren der Römischen
Antike; geographische Details; Reisebedingungen; authentischer Zeitplan von
Reise und täglichen Tätigkeiten; christliche Devotion und Mentalität; kirchliche
Administration; Ausstattungen und Einkünfte von Kirchen; Gastfreundschaft
des lokalen Klerus und des niederen Adels (einschließlich Essenszeiten und
Bankette, Sitzplan, Tischsitten, Weine, Nächtigung), und noch einiges mehr.
Nicht zuletzt enthält Santoninos Text viel indirekte Information über seine persönliche
Mentalität und seinen Charakter22. Selbst im großräumigen Vergleich
ist nirgends sonst eine vergleichbare Quelle aus dem Mittelalter zum Vorschein
gekommen.
Wenn der Autor zwischen der fremden und der ihm vertrauten Kultur vergleicht,
interessieren ihn teils Unterschiede, teils Ähnlichkeiten23. In beiden Fällen
verfällt Santonino aber nicht in den Stereotyp des Überlegenheitsdünkels
italienischer Humanisten, sondern allem Anschein nach geht es ihm eher darum,
bei seinen heimatlichen Lesern gutnachbarliches Verständnis für die „fremde“
ultramontane Kultur zu wecken. Dazu ein paar Beispiele: Im Gegensatz zum
19 Vale, Itinerario 121 und 223. Der Ausdruck ad partes ultramontanas ist insofern realistischer
und gerechtfertigter, als er die „jenseits der Passübergänge“ liegenden Teile der Kirchenprovinz
Aquileia meint.
20 Helmut Hundsbichler, Alltag, Realität und Mentalität in den Reisetagebüchern des Paolo
Santonino. Relativierungen anhand der Beispiele aus dem Kirchendistrikt Saunien (1486,
1487), in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 88 (1997) 71-91 (hier 85 f.).
21 So Voigt, Italienische Berichte 197; Leopold Schmidt, Paolo Santonino, Die Reisetagebücher
1485-1487. Rezension in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 51, N. S. 2
(1948) 216 f.
22 Vgl. Hundsbichler, Alltag, Realität und Mentalität.
23 Vgl. Hundsbichler, Alltag, Realität und Mentalität 86 f.
12
ideologisierten „Barbaren-Verdikt“ der Renaissance-Literatur24 legt Santonino
seinen Landsleuten die außergewöhnliche und beispielhafte Religiosität eben der
„Barbaren“ ans Herz. Ein frühes Beispiel für Renaissance-Architektur im Alpenbereich
(1487) bezeichnet er als „Umbau in italienischer Art“ (italico ritu
reformare)25. Etikettierungen wie mos Germanorum („kennzeichnende
Gepflogenheit der Deutschen“) unterstreichen ein paar kulturelle Differenzen,
wie offenbar die Abschiedszeremonie eines örtlichen Gastgebers, der den Gästen
noch von fern freudvolle Ovationen zurief26. Neben offenkundigen Eigenheiten,
wie etwa Kopfschmuck iuxta patrium morem oder Gesang more suo27, finden
sich unter diesen Etikettierungen auch gutgemeinte Gesten der Gastlichkeit,
die bei den Gästen auf Vorbehalte stießen, aber von Santonino trotzdem respektvoll
kommentiert wurden. Den typisch deutschen Wohnraum Stube (stufa)
charakterisiert er dadurch, dass sie zur Gänze aus Holz besteht, „so dass du darin
auch nicht einen einzigen Nagel aus Eisen finden würdest“28. Die übergeordnete
Begrifflichkeit für die Landessprachen der Gastgeber (also sowohl für Deutsch
als auch für das sclavum idioma)29 lautet für beide gleichermaßen utrumque idioma
oder suum idioma.
Für Paolo Santonino selbst gilt, dass er sein „Itinerarium“ in Latein
schrieb und nicht in seiner Landessprache Volgare (die damals nach venezianischem
Vorbild für das literarische Genre des Reiseberichtes eher zu erwarten
gewesen wäre)30. Freilich war Latein seine Berufssprache, in der er nicht nur als
Notar und bischöflicher Sekretär jeden Sachverhalt auszudrücken imstande sein
musste, sondern gerade im „Itinerarium“ auch beeindruckende Geläufigkeit,
Formulierungskunst und Spontaneität an den Tag legt31. Der Gebrauch der
lateinischen Sprache ist aber dennoch erwähnenswert, weil er nämlich für die
Suche nach authentischen (= vom Autor intendierten) Bedeutungen entscheidend
ist. Und die diesbezügliche Konstellation empfiehlt das Einkalkulieren von Unschärfen
und Informationsverlusten: Denn Santonino erlebt fremde Authentizität
zunächst einmal durch die Brille seiner eigenen Wahrnehmung und „übersetzt“
diese dann in eine textliche Beschreibung. Durch beide Schritte „verfremdet“ er
die Authentizität schon an sich. Aber überdies gebraucht er als Medium hierfür
die „fremd“-Sprache Latein, die zwar uns wie ihm geläufig sein mag – aber ob
unsere „Rückübersetzung“ und überhaupt unsere Sprache seine ursprünglichen
Wahrnehmungen und Vorstellungen trifft, muss dahingestellt bleiben. In Summe
24 Voigt, Italienische Berichte 13 f.; Peter Amelung, Das Bild des Deutschen in der Literatur
der italienischen Renaissance (1440-1559) (Münchner romanistische Arbeiten 20) München
1964, 35-66; vgl. besonders positiv Vale, Itinerario 170.
25 Vgl. Hundsbichler, Alltag, Realität und Mentalität 87 ff.
26 Vale, Itinerario 240.
27 Vale, Itinerario 237 und 145.
28 Vale, Itinerario 164; vgl. Hundsbichler, Alltag, Realität und Mentalität 86.
29 Vale, Itinerario 170, 191 und 266; eine untersteirische Adelige sprach tam germanum quam
slabonicum ydioma (ebd. 238).
30 Voigt, Italienische Berichte 197.
31 Vgl. Hundsbichler, Alltag, Realität und Mentalität 81 f.
13
sind schlussendlich doch vier Verfremdungs-Schritte im Spiel. Sosehr eine
möglichst korrekte Re-Konstruktion mittelalterlicher Authentizität trachten
wird, das lateinische Zwischenmedium möglichst im Sinne des Autors zu dekodieren,
so eng sind dabei also dennoch die Grenzen. Schon einzelne Worte veranschaulichen
die diesbezüglichen Schwierigkeiten: Eine area, die im kalten
Oktober 1485 als Schauplatz eines Essens diente, kann nicht als Hof oder Platz
angesprochen werden, sondern war offenbar eine Scheune. Oder: Die oben aufgezählten
Bezeichnungen für die Freveltaten der Osmanen hören sich auf Lateinisch
weitaus drastischer und lebhafter an als auf Deutsch. Oder: Ein Beispiel
für fungi domestici ist keineswegs etwa ein Beleg für hauseigene Zucht von Pilzen,
sondern ein humorig unterlegter Beleg für visuell reizvolle Gestaltung von
Speisen: Es handelt sich um ein Schmalzgebäck in Pilzform, und in dieser Hinsicht
sind jene Pilze „hausgemacht“32. Überdies assoziiert der Autor mit diesen
„artifiziellen“ Schwämme eine Wertung: Im Vergleich zu wild wachsenden
glossiert er sie als delikater (boleti silvestribus meliores)33. Und für das Phänomen
von „neuen“ Speisen bleiben rückblickend gleich vier Deutungsmöglichkeiten
offen34.
Die absolut bekanntesten highlights des „Itinerariums“ sind zweifellos –
und sehr zu Recht – die umfang- und detailreichen Beschreibungen von Banketten.
Keine andere Quelle enthält so viel Information über vollständige Speisenfolgen,
über ihre Zubereitung und über einzelne Komponenten, über diätetisches
Wissen in der Herstellung und Abfolge von Speisen, über Bezeichnungen
und die soziale Konnotation von Speisen, über Tischsitten und einiges andere.
60 Bankette beschreibt Santonino zumindest teilweise, 14 zur Gänze35. Auf
Qualität und Quantität beziehen sich Bemerkungen wie prandium opulentissimum
(„überaus reichliches Frühmahl“), lautissimum prandium („allerköstlichstes
Frühmahl“) oder pompa ferculorum („Aufmarsch“ von Gerichten)36. Das
umfangreichste beschriebene Essen bestand aus zwölf Gängen (Abb. 5)37, ist
aber keineswegs das raffinierteste.
32 Zur area vgl. Helmut Hundsbichler, Der Beitrag deskriptiver Quellenbelege des 15.
Jahrhunderts zur Kenntnis der spätgotischen Stube in Österreich, in: Europäische Sachkultur
des Mittelalters (Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs
4 = Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-
hist. Klasse 374) Wien 1980, 29-55 (hier 49 f.); zu den fungi domestici s. Hundsbichler,
Alltag, Realität und Mentalität 85. Zur Problematik der Bedeutungs-Findung siehe Weiteres
im Folgenden.
33 Vale, Itinerario 253 (Randbemerkung). Welchen Informationsverlust alle vorliegenden
Übersetzungen des „Itinerariums“ in Kauf nehmen, erkennt man an der Tatsache, dass sie
keine derartigen Glossen wiedergeben.
34 Siehe unten.
35 Näheres s. bei Hundsbichler, Reise, Gastlichkeit und Nahrung.
36 Z. B. Vale, Itinerario 147, 168 und 253.
37 Die Liste aus: Hundsbichler, Reise, Gastlichkeit und Nahrung, Beilage IX, Nr. 32.
14
Diese Erlesenheit und Reichhaltigkeit hat klarerweise nichts mit Alltagsleben
oder Volkskultur zu tun38, denn:
– Santonino kam praktisch nur mit der ländlichen Oberschicht in Kontakt.
Über Lebensweise und materielle Kultur der „kleinen Leute“ berichtet er
fast gar nichts.
– Er erlebte und beschrieb durchwegs die festliche Stimmung von Gastgebern,
die einem sehnlichst erwarteten Bischof außergewöhnliche Gastfreundschaft
entgegenbrachten.
– Und die Reisenden erlebten diese außergewöhnliche Gastfreundschaft
Tag für Tag an einem anderen Ort, was bei Santonino zu den falschen
Schlussfolgerungen führte, jene gentes würden ex patrie more tagtäglich
zwei Stunden lang essen, hätten gleichsam „allmächtige Mägen“ und
würden einen entsprechend kostspieligen Lebensunterhalt bestreiten (largissimus
victus)39. Der „moderne“ Betrachter ist ja ähnlich schnell bereit,
das Mittelalter als „Fress- und Saufzeitalter“ einzustufen, während die
ethnologische Forschung längst erkannt hat, dass exzessives Essen an
festlichen Terminen – auch ein Kontrast – bescheidenen Verhältnissen im
Alltag entspricht40.
Wenn Santonino manche Speisen als „neu“ bezeichnet (novum ferculum, edulium
novum, cibarium novum)41, so ist dieses kleine Attribut „neu“ naturgemäß
ein gewichtiges Indiz für eine Konfrontation mit etwas Fremdem. Im konkreten
Fall kommen vier Möglichkeiten in Betracht, worin in den Augen des Berichterstatters
diese Fremdheit folgendermaßen bestanden haben könnte: Entweder ist
ihm als Fremden die betreffende Speise subjektiv als neu erschienen; oder sie
war ihm bekannt, ist ihm aber „in der Fremde“ zuvor noch nicht untergekommen;
oder sie ist vielleicht eben erst als fremdes Kulturgut in die durchreiste
Region übernommen worden; ja es könnte sich theoretisch sogar überhaupt um
eine absolute Neuschöpfung im Sinne einer bisher noch nicht dagewesenen Rezeptvariante
handeln.
Einige Speisen spezifiziert Santonino mittels landläufiger Namen42, die
erneut auf „typisch deutsche“ oder zumindest lokale Charakteristika hinweisen.
Auch hier kommt übrigens das übersetzerische Problem der korrekten Bedeutungsfindung
zum Tragen: Denn Santonino überliefert Namen von Speisen nie
authentisch, sondern ausschließlich in latinisierter Form, z. B.: ova deperdita
(„verlorene“ Eier – wohl weil sie durch Zerschlagen der Schale und Zersprudeln
des Inhalts quasi ihre natürliche Form „verloren“ haben); piperatum (Fleisch in
Pfeffersauce); carnes in tenebris (sozusagen Fleischstücke „in dunkler Umge-
38 Hundsbichler, Alltag, Realität und Mentalität 83 ff.
39 Vale, Itinerario 128, 170 und 266. Ein omnipotens stomachus wird (ironisierend) übrigens
auch dem Bischof zugestanden (ebd. 222).
40 Nils-Arvid Bringéus, Man, Food and Milieu, in: Folk Life 8 (1970) 45-56 (hier 50).
41 Diskutiert bei Hundsbichler, Reise, Gastlichkeit und Nahrung 276-283.
42 Alle Belege zum Folgenden bei Hundsbichler, Reise, Gastlichkeit und Nahrung (s. Register).
15
bung“ – sprich wohl: in dunkler Sauce). Die Speisenbezeichnung mater mundi
(„Mutter der Welt“) könnte verbal und formal vielleicht als Anspielung auf eine
Hostie mit Strahlendekor gedeutet werden43. Santonino glossiert sie als esitium
quod mater mundi appellatur – bleibt dessenungeachtet allerdings trotz dieser
Umschreibung die Nennung der authentischen Bezeichnung schuldig. Die einzige
sprachliche Ausnahme ist craut (Kraut), nach der Art von Rezepten des
Apicius übrigens durchwegs in Kombination mit Fleisch, Speck oder auch mit
Würsten – eine Kombination, die im mittelalterlichen Deutschland eine außerordentlich
wichtige Rolle gespielt hat, selbst auf der festlichen Tafel des Adels.
Andere Komponenten der „in der Fremde“ angetroffenen Nahrung müssen den
Reisenden offensichtlich wie in Italien erschienen sein: z. B. defrutum (eingedickter
Sirup von Früchten), frictula (durch „Frittieren“ in der Pfanne hergestelltes
Gebäck), tripae (Kuttelfleck), eine hausgemachte Wurst, die in Friaul
lucanica hieß, und ein unglaublich flaumiges, dem Autor auch aus Florenz bekanntes
Weißbrot namens panis buffectus.
Auf jeden Fall ist erwähnenswert, dass Santonino in der Bewertung von
Speisen hochgradig kompetent war, denn in seiner Diktion erkennt man das Vokabular
und die Phraseologie der bedeutendsten Kochbücher seiner Zeit, verfasst
von Maestro Martino da Como und Bartolomeo de’ Sacchi („Platina“)44. Insofern
traf er unter den Speisen „in der Fremde“ also viel „Eigenes“ an. Umgekehrt
kann man aufgrund der Belege im „Itinerarium“ mit guten Gründen sagen:
Zum Einflussbereich von Maestro Martinos Kochbuch zählte sehr unmittelbar
auch der Kulturraum in der nördlichen Nachbarschaft von Friaul.
Nirgends zeigten sich die Reisenden überrascht vom Ablauf der täglichen
Routinen, wie: Aufbruch frühmorgens, Erledigung kirchlicher Obliegenheiten,
darauffolgendes Festessen sowie dazwischen allfällige Ortswechsel (Abb. 6)45.
Offenbar war also in Friaul und den nördlichen Nachbarländern dasselbe System
der Stundenzählung und der Esstermine in Gebrauch. Dazu gehörte insbesondere
die für uns heute „befremdliche“ erste Hauptmahlzeit des Tages (prandium)
43 Es handelt sich um gekochten Reis, mit Mandelmilch übergossen (risum elixum pastaque
amigdalorum opertum), in dessen Mitte geschälte Mandelkerne gesteckt waren (in medio
amigdala decoriata infixa, s. Vale, Itinerario 214).
44 Näheres bei Hundsbichler, Reise, Gastlichkeit und Nahrung 21 f. Die beiden miteinander
zusammenhängenden Kochbücher sind nunmehr durch die Società Filologica Friulana
ediert: Martino da Como, Libro de arte coquinaria. Udine 1994, und Bartolomeo Platina, Il
piacere onesto e la buona salute. Udine 1994.
45 Graphik von Helmut Hundsbichler aus: ders., Zur rechten Zeit. Stundenzählung und Tageseinteilung
bei Paolo Santonino (1485/87), in: Gernot P. Obersteiner – Peter Wiesflecker
(Red.), Festschrift Gerhard Pferschy zum 70. Geburtstag (Forschungen zur geschichtlichen
Landeskunde der Steiermark 42 = Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark,
Sonderband 25 = Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchives 26) Graz 2000,
86.
16
im Laufe des Vormittags. Die Stundenzählung erfolgte nach dem sogenannten
dies naturalis46.
3. Der Kontrast zwischen uns und der Fremdheit des Mittelalters
Heutzutage wird Santoninos „Itinerarium“ üblicherweise mit viel Enthusiasmus
als „faszinierende“ Quelle gefeiert47. Auf den ersten Blick „fasziniert“ sie als
„dicht“ beschriebene, „lebensnahe“ Evidenz spätmittelalterlicher Sachkultur
(natürlich mit dem Hintergedanken, sie als ergiebigen Datensteinbruch für verschiedenste
Eigeninteressen auszuschlachten)48. Aber zumindest eine
anthropologisch ausgerichtete Kulturbetrachtung sollte die Ambivalenz von Faszination
nicht außer Acht lassen. Denn bekanntlich können Emotionen die Sicht
auf wesentliche Züge der Realität verschleiern. Gerade Faszination kündet ja
von einer starken Konfrontation mit Unerwartetem, Anderem, Fremdem. Dass
wir uns vom Mittelalter faszinieren lassen, kann daher auch interpretiert werden
als signifikanter Indikator für entsprechende Distanz zwischen uns und mittelalterlicher
Alterität.
Irrtümer sind besonders dann vorprogrammiert, wenn wir moderne und
postmoderne Faszination auch bei einem Menschen des Mittelalters voraussetzen.
Dieser anthropologische Anachronismus kommt speziell auf dem Gebiet
der Reiseerfahrung leicht zustande – und dadurch wird eine ganz entscheidende
Divergenz verschleiert:49 Heutzutage ist bequemes und „interessantes“ Reisen
gefragt, und viel von dessen Faszination beruht auf kulturellem Voyeurismus,
obwohl gerade dieser das Verständnis von Authentizität und Alterität verhindert.
Reisende des Mittelalters hatten vielleicht dieselben Emotionen – aber sie hätten
niemals Voyeurismus zur Schau gestellt oder gar zum Reise-Prinzip erhoben. Im
Gegenteil, in ihrer religiösen Weltsicht war curiositas ein dem Seelenheil abträgliches
Delikt, und deswegen betonen ihre Reiseberichte eher den Widerwillen
gegen das Reisen und gegen dessen Unannehmlichkeiten. In Paolo Santoninos
„Itinerarium“ spricht das an vielen Stellen aus Ausdrücken wie z. B. via dif-
46 In diesem System begann die erste Stunde eines Tages (hora prima) am Vorabend, eine
halbe Stunde nach Sonnenuntergang, und die Länge der Stunden variierte das Jahr über entsprechend
der Tageslänge zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang; vgl. Hundsbichler,
Zur rechten Zeit 80 ff.
47 Vgl. sinngemäß etwa die Einstufung durch Schmidt, Paolo Santonino 216 f., sowie durch
Voigt, Italienische Berichte 196 ff. Zu den methodisch-theoretischen Konsequenzen vgl.
Hundsbichler, Alltag, Realität und Mentalität 73 ff.
48 Diesbezüglich ist das in der Gemeinde Wieserberg-Dellach vom 4. bis 14. August 2004
achtmal aufgeführte Schauspiel „Paolo Santonino“ von Engelbert Obernosterer (Regie: Michael
Weger) ein bisher unerreichter Höhepunkt an Vereinnahmung der Popularität Santoninos
(vgl. http://wieserberg.dellach.at/start) – mit dem bedauerlichen Effekt, dass in den
Köpfen des Massenpublikums eine klischeetriefende und realitätsferne Verfremdung
(„Spiegel für das Hier und Heute“) als „Geschichtsbild“ einzementiert wird.
49 Vgl. Helmut Hundsbichler, Vil hant erkunt verr froembde lant. Annäherungsversuche an
den mentalen Kontext spätmittelalterlichen Reisens, in: Das Mittelalter 3 (1998) 19-32.
17
ficilis (schwieriger Weg) oder vie malitia (Beschwerlichkeit des Weges) oder
itineris peracti tedium (Ekel vor der absolvierten Reise)50. Neben schwierigen
Wegebedingungen erscheinen Schnee und Kälte als die „schlimmsten“ Widerwärtigkeiten,
dazu kommen etliche „konkretere“ Reisekalamitäten51. An einer
Stelle wird der Leser explizit vor dem Fehlschluss gewarnt, die bischöfliche
Mission mit einer Vergnügungsreise gleichzusetzen52.
Solche Thematisierungen sind „typisch“ für das Mittelalter: Denn „Reisen“
ist hier eine allumfassende christliche Metapher für den entbehrungsreichen
Weg zur Erlösung und zum Ewigen Seelenheil53. Im Sinne dieser Metapher vertraut
der homo viator (= wer immer „unterwegs“ der Didaxe Gottes folgt) auf
die Vorstellung, dass er/sie am Ende der „Reise“ die unübertrefflichste aller
„Sehenswürdigkeiten“ kennenlernen würde: das Paradies, die civitas Dei, das
Stadium der Erlösung54. Inwiefern fließt nun diese Metapher in Santoninos
Reise-Darstellung ein?
Da Santonino und seine Gefährten Tag für Tag unterwegs waren, erscheint
es naheliegend, dass er die 114 Tage der drei Reisen in der literarischen
Form eines Itinerariums „dokumentierte“. Überdies wollte er selbst es anscheinend
auch als „Itinerarium“ betitelt wissen55. Im Hintergrund stand dabei wohl
das Kalkül, für sich und die Mitreisenden den homo viator-Status zu reklamieren:
Santonino spielt offenbar mit der Suggestion, dass dieser Status den Reisenden
„in der Fremde“ objektiv zuerkannt worden ist, und zwar in Gestalt der
„unterwegs“ erlebten überschwänglichen Gastfreundschaft (Das wäre ein Umkehrschluss
in Anspielung an die „Werke der Barmherzigkeit“: Die von den
Gastgebern an den Tag gelegte hospitalitas56 hätte die Gäste eindeutig als ellende
bzw. peregrini erwiesen). Zwar kommen in einem Itinerarium als literarische
Gattungsmerkmale auch traditionelle Topoi und Stereotypen zum Tragen57,
insbesondere eben das Fortschreiten hin auf Gotteserkenntnis und Ewiges Leben58,
doch hat der Terminus itinerarium auch viel mit Realitätsbezug und All-
50 Zahlreiche sonstige Belegstellen dieses Typs bei Hundsbichler, Realien zum Thema „Reisen“
83.
51 Hundsbichler, Reise, Gastlichkeit und Nahrung 89-95.
52 Vale, Itinerario 268 und 189 (Dicet forte aliquis, … presul et Sanctoninis Secretarius, vadunt
ad gaudia…libentissime).
53 Helmut Hundsbichler, Via sive vita. Straße und Weg in der christlichen Metaphorik, in:
Gerhard Jaritz (Hrsg.), Die Straße. Zur Funktion und Perzeption öffentlichen Raums im
späten Mittelalter (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen
Neuzeit, Diskussionen und Materialien 6) Wien 2001, 9-30.
54 Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges (Medium Aevum,
Philologische Studien 21) München 1970; vgl. auch Arnold Angenendt, Art. „Peregrinatio“,
in: Lexikon des Mittelalters 6. München und Zürich 1993, Sp. 1882 f.
55 Vgl. Anm. 8.
56 Hundsbichler, Reise, Gastlichkeit und Nahrung 298 ff.
57 Alfred Heit, Art. „Itinerar“, in: Lexikon des Mittelalters 5. München-Zürich 1991, Sp. 772-
775.
58 Zum diesbezüglichen Symbolgehalt des itinerarium-Begriffes vgl. Helmut Meinhardt,
Bonaventura: Itinerarium mentis in Deum, in: Xenja von Ertzdorff – Dieter Neukirch
18
tagswelt zu tun. Denn ein Itinerar impliziert das unmittelbare Erleben des authentischen
Augenzeugen, es braucht wie ein mittelalterliches Bild gewissermaßen
Versatzstücke aus dem realen Leben, um nämlich das reale Leben didaktisch
als Metapher für den Weg zum Seelenheil bewusst zu machen.
In dieser Hinsicht kann Paolo Santoninos „Itinerarium“ allerdings noch
schlüssiger und aufschlussreicher der literarischen Gattung historia zugeordnet
werden. Diese Zuordnung ist einerseits bei Santonino höchstpersönlich nachzulesen59,
andererseits durch die Analyse des Werkes nachweisbar. Und zwar wie
folgt: Zu Santoninos Zeit vermittelt eine historia auf jeden Fall – aber nicht nur
– seriöse Information, unzweifelhafte Tatsachen, authentische Realität, nichts
als die Wahrheit60. Das gilt haargenau für all das, was im „Itinerarium“ sozusagen
„dokumentiert“ ist und so zugleich auch der literarischen Gattung eines Itinerariums
entspricht. Aber die eigentliche Aussage der erzählten historia besteht
in der Umkehrung hiervon: Dieser realistisch wiedergegebene, „lebensnahe“
oder sogar banale Rahmen exemplifiziert genau jene Voraussetzungen, unter
denen die Welt nach dem Heilsplan Gottes funktionieren würde. Deshalb passen
selbst schwer glaubliche, fiktional wirkende, ans Unvorstellbare grenzende
Thematiken besonders gut ins Denkschema einer historia und dienen dort als
moralisierende Exempla im Sinne der christlichen Weltsicht61. Denn die didaktische
Botschaft „hinter“ der bloßen Narration von Faktizität und Realität repräsentiert
die eigentliche Aussage und das konkrete Anliegen einer historia. Sie
vermittelt etwas Gottgefälliges, oder im religiösen Vokabular des Mittelalters:
etwas „Schönes“62 – wobei „schön“ alles ist, was mit Gottes Zustimmung zustande
kommt und dem homo viator bei der Gotteserkenntnis hilft. Offensichtlich
hat also auch Santonino mit seiner historia das Kriterium des „mehrfachen
Schriftsinnes“ angestrebt63 – und erfüllt. Damit wäre aus zeitgenössischer Sicht
auch sein „Itinerarium“ selbst als „schön“ qualifiziert.
Diese „neue“ Sicht ist in folgenden Thesen subsumierbar: Für Santonino
wäre es wohl nicht in Frage gekommen, die von ihm im deutsch- und slowenischsprachigen
Raum wahrgenommene Kultur geringschätzig oder unter dem
Vorzeichen merkwürdiger Andersartigkeit oder gar furchterregender Fremdheit
zu thematisieren. Im Gegenteil: Seine Intention war es, quasi eine „heile Welt“
zu beschreiben, um diese im christlichen Bereich als autonomes und nachahmenswertes
Vorbild zu suggerieren. Selbst wo er sich über kulturelle Differen-
(Hrsg.), Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Chloe. Beihefte
zum Daphnis 13) Amsterdam-Atlanta/GA 1992, 81-91.
59 Vale, Itinerario 183 und 202.
60 Vgl. Joachim Knape, ‚Historie’ in Mittelalter und früher Neuzeit (Saecula Spiritalia 10)
Baden-Baden 1984, bes. 90 ff.
61 Vgl. Hundsbichler, Alltag, Realität und Mentalität 77 f.
62 Vgl. Andreas Speer, Art. „Schöne, das“, in: Lexikon des Mittelalters 7. München 1995, Sp.
1531-1534.
63 Johanna Lanczkowski, Art. „Schriftsinn“, in: Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Sachwörterbuch
der Germanistik (Kröners Taschenausgabe 477) Stuttgart 1992, 740.
19
zen oder Unzulänglichkeiten abfällig äußern könnte, scherzt er lieber über sie64
– und wie auch im Kabarett geht oft die „andere“ Seite einer humorigen Aussage
im unbedarften Lachen des Publikums unter. Gerade die Annehmlichkeit
von Santoninos Fremdheitserfahrung sollte die „Schönheit“ im Plan Gottes erweisen
– und dadurch Überzeugungsarbeit für dessen Akzeptanz durch die Leser
leisten. Den von Klaus Voigt unterstellten Opportunismus der Gastgeber (die
erstklassige Bewirtung sollte den Bischof für die Visitationen mild stimmen)65
würde ich jedenfalls nicht als Hauptargument sehen. Der überreiche Rahmen
von realen „schönen“ Erfahrungen sollte vielmehr wohl bestätigen, dass auch
die realen Reisen an sich einen „schönen“ (= gottgefälligen) Zweck erfüllten,
nämlich die planmäßige Wiederherstellung der kirchlichen Ordnung nach den
Beeinträchtigungen durch die Osmanen. Wenn an der Peripherie des Patriarchats
sogar Greise erstmals einen Bischof zu Gesicht bekommen hätten, so deswegen,
weil der Bischof – im Gegensatz zu seinen Vorgängern – sich eben nicht durch
die Unzugänglichkeit der Gegend (viarum angustia et difficultate) habe abschrecken
lassen66. In derartiger Sicht erweisen sich sowohl der Erfolg der bischöflichen
Reisen als auch Santoninos diesbezügliche historia als glorreiche Manifestationen
des göttlichen Planes. Paolo Santonino schrieb sein „Itinerarium“
vermutlich mit dem abgehobenen, euphorischen Bewusstsein, eine erfolgreiche
Mission absolviert zu haben. Nicht einfach „Reisetagebücher“ haben wir also
vor uns, sondern eine historia in der literarischen Form eines Itinerariums –
konkret die „Geschichte der Wiedererlangung und Wiedererrichtung bestimmter
Kirchenprovinzen für das Patriarchat Aquileia“67.
Konsequenterweise ist daher die Bezeichnung „Reisetagebücher“ nicht
länger aufrecht zu erhalten. Dieser Begriff beinhaltet zu viel moderne Rückprojektion
und sollte gemäß Santoninos Eigendefinition durch den authentischen
Begriff „Itinerarium“ ersetzt werden.
Die religiöse Intention des „Itinerariums“ ist klar verifizierbar und sozusagen
von Santonino selbst programmatisch verbrieft: Vor dem eigentlichen
Text steht als Überschrift das Incipit D. IESUS CHRISTUS, und den Schluss bildet
die ebenso eigenständig placierte Widmung A. M. D. G. (Ad Maiorem Dei
Gloriam)68. Und im Text des „Itinerariums“ weisen nicht nur die hier besprochenen
Einzelheiten auf religiöse Intention und christliche „Welt“-Sicht hin, sondern
auch zahlreiche kleinere Einschübe, Episoden und Interessensschwerpunkte
64 Vgl. etwa die Stellen bei Hundsbichler, Alltag, Reise und Mentalität 82, Anm. 55. Über die
Mängel eines ärmlichen Essens geht Santonino mit einem selbstironischen Zitat aus der
klassischen Antike hinweg: Ieiununs raro stomachus vulgaria temnit (Randbemerkung bei
Vale, Itinerario 177, laut Horaz, Satiren II 2,38).
65 Voigt, Italienische Berichte 198.
66 Vale, Itinerario 150.
67 Helmut Hundsbichler, Paolo Santoninos „Reisetagebücher“ in neuer Sicht, in: Volker
Schimpff – Wieland Führ (Hrsg.), Historia in Museo. Festschrift für Frank-Dietrich Jacob.
Langenweissbach 2004, 215-223.
68 Vale, Itinerario 121 und 268. Voigt (Italienische Berichte 197) unterstellt hingegen „das
Fehlen einer Zueignung“.
20
verraten durchgehend und eindeutig die christlich-religiös ausgerichtete Weltanschauung
Paolo Santoninos69.
Um die Verlässlichkeit seiner historia auch formal zu unterstreichen, bediente
sich Santonino übrigens einer schriftstellerischen Möglichkeit, die ganz
exklusiv nur ihm allein offenstand: Als mitreisender kirchlicher Sekretär stellte
er „in der Fremde“ jeweils an Ort und Stelle Urkunden in lateinischer Sprache
aus, um kirchenrechtliche Belange offiziell festzuhalten. Als Autor griff er aus
diesem Schrifttum später „zu Hause“ entsprechende „Textmodule“ heraus und
„kopierte“ sie (nicht wörtlich zwar, aber sinngemäß) ins „Itinerarium“ hinein70.
Auf diese Weise konnte er sich unterwegs eine Menge von Notizen ersparen,
und außerdem entsprach dies wohl auch seinem Selbstverständnis als korrekt
„protokollierender“ Jurist und seriöser Autor einer (eben als unanfechtbar gedachten)
historia. Diese einfache, aber hilfreiche „Textverarbeitung“ gewährleistete
ferner eine fehlerfreie Wiedergabe des reichverzweigten Itinerars und
der chronologischen Reise-Abfolge und ist letztlich wohl auch eine pragmatische
Erklärung, warum Santonino das „Itinerarium“ nicht in Volgare, sondern in
Latein geschrieben hat. Angesichts der Erhabenheit („Schönheit“) seines literarischen
Vorhabens war Latein freilich schon von sich aus als sprachliches Medium
prädestiniert.
* * *
Ich gestehe, dass mir die religiöse Intention des „Itinerariums“ lange Zeit nicht
bewusst war, zumal es durch die deutsche Übersetzung von 1947 unzureichend
und irreführend unter dem Begriff „Reisetagebücher“ eingeführt worden ist71.
Mein Beispiel zeigt, wie weit die „gelehrte“ Konstruktion von Realität sich von
der realen Authentizität entfernen kann, wie weit also Evidenz und Interpretation
unter Umständen auseinander klaffen (weil eben jede Interpretation auch
wieder nur eine individuelle Konstruktion ist). Dank der Historischen Anthropologie,
die gerade dieser Schere besonderes Augenmerk widmet, sind diesbezüglich
die theoretischen Vorkehrungen und Vorgaben inzwischen entscheidend
verbessert, was in der Forschung auch einen neuen Umgang mit mittelalterlicher
69 Neben dem charakteristischen Begriff von „Schönheit“ (s. Hundsbichler, Alltag, Realität
und Mentalität 88 f.) sind das z. B. kleine Wundergeschichten, diverse „merk“-Würdigkeiten,
Beschreibungen „vorbildlicher“ Personen und Handlungen, pfarrliche und religiöse
Verhältnisse in Villach usw. Am Schluss von jedem der drei Teile des „Itinerariums“ steht
eine religiöse Floskel des Dankes für die wohlbehaltene Rückkehr; für 1485: Exivimus Venzonum
post redditum votum solemnis misse Virgini gloriose, que pia intercessione sua nos
incolumes ad propria reduxerat (Vale, Itinerario 169); für 1486: Ego Utinum sum profectus
ad versperam incolumis, per Die omnipotentis gratiam (Vale, Itinerario 222); für 1487 vgl.
die Phrase itineris peracti tedium (bei Anm. 50); vgl. ferner die Beispiele bei Hundsbichler,
Alltag, Realität und Mentalität 78.
70 Hundsbichler, „Reisetagebücher“ 221 ff.
71 Rudolf Egger (Übers.), Die Reisetagebücher des Paolo Santonino 1485-1487. Klagenfurt
1947, Ndr. 1999.
21
„Reiseliteratur“ ausgelöst hat. In meinem individuellen Fall ist die „Wende“
auch dem glücklichen Zufall zuzuschreiben, dass rund um die italienische Übersetzung
des „Itinerariums“ in Friaul eine liebenswürdige „Santonino-Renaissance“
stattgefunden hat, die „neue“ Santonino-Forschungen mit sich brachte72.
Die Einsicht, dass Religiosität ein tragendes Element mittelalterlicher Kultur ist
(und damit den authentischen Kontext von Alltag, Mentalität und Sachkultur
bildet), war aber sicherlich am maßgeblichsten für meine neuartige Sichtweise
verantwortlich. Wie auch immer: Ein Auffassungswandel wie dieser veranschaulicht
unmissverständlich, wie dramatisch historische Authentizität und Alterität
durch unsere Interpretationen und Präokkupationen deformiert und ignoriert
werden können – und was für ein wirksames Korrektiv in allen Konfrontations-
Situationen die Reflexivität ist (bzw. wäre). Das zu zeigen war das Hauptanliegen
dieses Beitrages. Die besprochenen Kontraste haben sich in erster Linie
als Konstrukte erwiesen – was sie in keiner Weise verniedlichen soll. Deutlich
geworden ist insbesondere, dass die Analyse kultureller Kontraste nicht auf
simple und geschichtlich „ferne“ Bipolaritäten reduziert werden sollte. Denn
realiter handelt es sich um einen komplexen Prozess, in den wir Interpret/innen
maßgeblich eingebunden sind, den wir also maßgeblich beeinflussen. Wenn es
einen Zusammenprall gibt, dann in erster Instanz zwischen unserer Interpretation
und der Authentizität – aber daran denken wir normalerweise am wenigsten.
Insofern verweist das dargelegte Beispiel auf wenig beachtete, aber essenzielle
Anforderungen an die jeweils eigene Adresse von uns Autor/innen, die speziell
bei der Arbeit mit „mittelalterlichen“ Texten zu beachten wären.
72 Vgl. die Vorträge auf der Internationalen Konferenz in Gradisca d’Isonzo 1999, „Paolo
Santonino ed il Patriarcato oltremontano del XV Secolo“, abgedruckt in: L’Unicorno,
Nuova Serie 3/2 (1999), sowie die Beiträge und Kommentare in der von Roberto Gagliardi
besorgten italienischen Ausgabe: Paolo Santonino, Itinerario in Carinzia, Stiria e Carniola
(1485-1487) (Biblioteca de „L’Unicorno“ 1) Pisa und Rom 1999.
22
Abb. 1: Die Tracht der Christen, Heiden, „Türken“ und Juden.
23
Abb: 2: König Ludwig von Ungarn im Kampf gegen die Türken.
24
Abb. 3: Die heilige Katharina als Überwinderin der türkischen Gefahr.
25
Abb. 4: Türke als Armlehne im Chorgestühl.
26
1. ein fetter KAPAUN (capo pinguis) und ein junges HUHN (pullus iunior)
2. mehrere FISCHE (piscis), darunter eine dreipfündige AALRUTTE (rutinus
appendens libras tres)
ohne Saft (absque iure), gesotten (elixus), ohne jedes Gewürz (condimentum) außer
Salz (sal)
3. viele BRATHÜHNER (pullus assus) mit einer Lammlende (dorsum sive
lumbulus agni
4. sog. „VERLORENE EIER“ (ovum deperditum)
in Wasser und nochmals in der Pfanne mit Butter gekocht (butiro decoquere) und
mit zerkleinerten, safrangefärbten Äpfeln bestreut (poma desuper comminuta et
croco colorata) und unter mäßiger Beigabe von Essig (acetum) in einer Schüssel
angerichtet
5. FORELLEN (truta)
in der Brühe daraus (cum suo iure)
6. GEPFEFFERTES mit REHFLEISCH (piperatum cum carnibus caprearum)
7. BACKWERK (crustulus)
mit Zucker (saccarum) bestreut
8. KRAUT (craut) mit SPECK (laridum)
9. MEHLBREI (suf concretum)
10. viele KOPPEN (marsio)
gekocht (coquere)
11. KASTRAUNFLEISCH (caro saginati castrati) mit der SUPPE daraus (cum
suo iure
12. KÄSE (caseus) mit BIRNEN (pirum), ÄPFELN (malum) und gelben
PFIRSICHEN
(persicus crocei coloris)
Bemerkung zum Mahl: prandium optimum
Abb. 5: Das umfangreichste beschriebene Essen im Bericht des Paolo Santonino.
27
Abb. 6: Der Ablauf der täglichen Routinen.
M E D I U M A E V U M
Q U O T I D I A N U M
49
KREMS 2004
HERAUSGEGEBEN
VON GERHARD JARITZ
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DER KULTURABTEILUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
Titelgraphik: Stephan J. Tramèr
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Erforschung der
materiellen Kultur des Mittelalters, Körnermarkt 13, 3500 Krems, Österreich.
Für den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdrückliche
Zustimmung jeglicher Nachdruck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. –
Druck: Grafisches Zentrum an der Technischen Universität Wien, Wiedner
Hauptstraße 8-10, 1040 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort …………………………………………………………………………………………………. 5
Helmut Hundsbichler, Reiseerfahrung und Reflexivität.
Spätmittelalterliche Religiosität als Kontext
kultureller Kontraste ………………………………………………………………………. 7
Gertrud Blaschitz, Gastfreundschaft im „Erec“ des Hartmann von Aue ………. 28
Besprechungen …………………………………………………………………………………….. 41
5
Vorwort
Das vorliegende schmale Heft 49 von Medium Aevum Quotidianum und auch
ein Teil des in Kürze folgenden nächsten Heftes widmen sich einem wichtigen
mittelalterlichen soziokulturellen Phänomen, welches uns in unterschiedlichster
Quellenüberlieferung, sei es in Texten, Bildern oder archäologischem Befund,
regelmäßig entgegentritt: die persons-, objekt- und situationsbezogenen Kontraste
in der Darstellung, Beschreibung, Argumentation und Bewertung1. Solche
Kontraste sowie die zu interpretierende Konstruktion derselben, ihre Funktion
und Anwendung spielen eine wichtige Rolle für alle Forschungen und Analysen
im Rahmen der Geschichte von Alltag und materieller Kultur des Mittelalters.
Dies war der Grund für die Organisation von einigen alltagsbezogenen Sektionen
beim International Medieval Congress in Leeds, 2004, welche sich mit dem
Themenkreis „Contrasts in Quotidianity“ und den unterschiedlichen Ausprägungen
derartiger Kontraste auseinandersetzten. Dieses Heft beinhaltet zwei Beiträge
aus jenen Sektionen, welche hier in erweiterter Fassung und deutscher
Übersetzung vorgelegt werden.
Helmut Hundsbichler präsentierte seinen Beitrag in Leeds in der Teilsektion
„Contrasts in Quotidianity: The Religious Context.“ Er kann in eindrucksvoller
Weise vermitteln, dass eine Quelle, die bis dato vor allem als ein für die
Realienkunde wichtiger Beleg zum spätmittelalterlichen Reisen im Alpenraum
gesehen wurde, neu und anders gelesen werden sollte, wodurch ihre Inhalte eine
geänderte, in diesem Falle religiöse Funktion und Relevanz erhalten. Er zeigt
auf, dass Veränderungen des Blickwinkels und der Schwerpunktsetzung im
Rahmen der Analyse, das heißt ein „neues Lesen“ bzw. „anderes Lesen“ von
Quellen ganz allgemein zu Ergebnissen führen mögen, die zuvor nicht in die
Überlegungen einbezogen wurden. Hierbei können dann geänderte bzw. modifizierte
Kontextualisierungen auch neue Zusammenhänge und Bedeutungen erkennbar
machen, die in die ursprünglichen Fragestellungen und Interpretationen
nicht einbezogen worden waren. „Das Eigene und das Fremde“ wird modifiziert
und eröffnet in dieser geänderten Form neue und spannende Herausforderungen
für den/die Historiker/in.
Gertrud Blaschitz präsentierte die ursprünglich englische Fassung ihres
Beitrages in der Sektion „Contrast in Quotidianity: Hospitality“. Sie stellt die
Frage nach der Anwendung und Funktion des Musters der Gastfreundschaft in
der mittelhochdeutschen Literatur und konzentriert sich auf das Beispiel Hart-
1 Vgl. dazu etwa auch den Sammelband: Kontraste im Alltag des Mittelalters, hrsg. von
Gerhard Jaritz (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen
Neuzeit. Diskussionen und Materialien 5) Wien 2000.
6
manns von Aue und seines Erec. Sie kann gut verdeutlichen, wie mit Kontrasten
in Bezug auf die Aufnahme von Gästen operiert wurde und damit gleichzeitig
Positiv- und Negativmuster konstruiert wurden, deren Wirkung auf das Publikum
im besonderen auf derartiger Kontrastierung beruhen sollten. Die wiederkehrenden
Kontrastpaare des willkommenen und des unwillkommenen Gastes,
von Aufnahme und Abweisung erzeugten sicherlich einen Teil der Spannung,
den der Text auf seine Rezipienten ausüben sollte.
Diese zwei Beiträge vermitteln neuerlich die Relevanz, die dem Phänomen
des Kontrastes im mittelalterlichen Alltag auf verschiedenen Ebenen zuzumessen
ist. Das betrifft die Quellenmitteilung, ihre Funktion, Wirkung und Perzeption
genauso wie die analysierenden HistorikerInnen und deren „Lesefähigkeit“,
„Lesewillen“ und Bereitschaft vieles öfters, neu und anders zu lesen.
Gerhard Jaritz

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