‚Teste Deo, me nihil audisse modo saeculare de cantico.‘
„Volk“ und „Elite“ als kulturelle Systeme in
„De vita s. Radegundis libri duo“
Imke Lange
Sind die „Leute“ der frühen Neuzeit immerhin noch als „widerspenstig“
bezeichnet worden, wenn es um die Beschreibung ihrer Kultur geht,1 so
scheint sich für das frühe Mittelalter eher ein gähnendes Schweigen
auszubreiten. Die Gründe dafür und die damit verknüpften methodischen
Probleme sind bereits in der Einleitung dargestellt worden. So kann es auch
in diesem Beitrag nicht darum gehen, anhand der beiden Radegundviten eine
vermeintlich per se bestehende „Volkskultur“ in der Quelle durch listige
Interpretationen ihrer Widerspenstigkeit zu berauben und zu beschreiben. Das
eigentliche Anliegen des Verfassers und der Verfasserio der Vita Radegundis,
Venantius Fortunatus und Baudonivia, war es nicht, der Nachwelt etwas über
das Leben und Denken dieser Menschen zu überliefern, sondern die
Heiligkeit Radegundes herauszustellen. Sinnvoller scheint daher die Frage,
wie Fortunatus und Baudonivia das ,.Volk“ in ihrer Zeit wahrgenommen
haben und ob und inwieweit sich die beiden selbst, als Vertreter der
sogenannten „Elite“, von einer „Nichtelite“, dem „Volk“, abgrenzen und wie
sie dieses darstellen.
Im ersten Kapitel befasse ich mich daher mit den theoretischen
Konstrukten „Volk“ und „Elite“ als kulturellen Systemen, um sie im Rahmen
dieser Arbeit nutzbar zu machen. Anschließend stecke ich die
Rahmenbedingungen ab, die das literarische Genre der Hagiographie in der
merowingischen Zeit stellt. Da die Darstellung von Gesellschaft aber auch in
Abhängigkeit von den Interessen des Autors und der Autorio zu sehen ist,
gehe ich auf die Stellung Fortunatus‘ und Baudonivias und ihre Beziehung zu
‚ Vgl. den Titel „Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur der frühen Neuzeit“ von
Norbert SCHINDLER, Frankfurt/Main 1992.
20
Radegunde ein. Schließlich untersuche ich exemplarisch die
unterschiedlichen Ebenen, auf denen sich bei Fortunatus und Baudonivia eine
Beschreibung der Gesellschaft zeigen läßt, um mich so der Frage nach einer
„Volkskultur“ und einer „Elitekultur“ zu nähern – trotz des vermeintlichen
Schweigens.
1. Methodische Überlegungen
„Volk“ ist ein mehrdeutiger Begriff, bei dem ich vier Bedeutungsinhalte
unterscheide:
1. Schichtübergreifend meint „Volk“ eine große Gemeinschaft von
Menschen, die durch Kultur, Sprache und Geschichte miteinander
verbunden ist.
2. „Volk“ kann politisch die Angehörigen einer Nationalität bezeichnen und
3. als Mengenbegriff eine Ansammlung von vielen Menschen beschreiben.2
Für das Thema entscheidend sind aber die Passagen der Vita, in denen
4. „Volk“ als die Zusammenfassung der „unteren“ Schichten verstanden
wird.3
Um diese letztgenannte Gruppe einzugrenzen, muß zuerst der Begriff
der „Elite“ – im Sinne der „oberen“, sieb hiervon abhebenden Schichten –
definiert werden. Als „Elite“ verstehe ich mit Gerhard Jaritz die Minderheit
der „Ausgewählten“, die durch besondere Qualitäten oder Fähigkeiten
(wirtschaftlicher, politisch-rechtlicher, sozialer und/oder intellektueller Art)
herausragende Positionen in einer Gesellschaft einnehmen.‘ Aufgrund dieser
privilegierten Stellung haben sie die Möglichkeit, eine große Menge zu
dominieren. Die genaue Abgrenzung variiert mit den in der jeweiligen
Gesellschaft angelegten Kriterien. Im frühen Mittelalter wird man vor allem
nobilitai und Klerus dazurechnen müssen. Das „Volk“ bzw. die „unteren
‚ Nach Frantisek GRAUS, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger.
Studien zur Hagiographie der Merowingerzeit, Prag 1965, S. 212 ist es schwierig, diese
Gruppe als „Volk“ zu bezeichnen, da eine Einheit nur von kurzer Dauer ist. Er fordert
daher, daß beim „Volk“ „zwischen den einzelnen Individuen eine organische, länger
währende Beziehung existieren“ muß.
‚ Soweit nicht anders hervorgehoben, verwende ich diesen Bedeutungsinhalt, wenn ich
über „das Volk“ schreibe.
‚ Gerhard JARITZ, Zwischen Augenblick und Ewigkeit. Einführung in die
Alltagsgeschichte des Mittelalters, Wien, Köln 1 989, S. 129.
‚ Ich behalte die lateinische Vokabel bei. Zur Diskussion des Begriffs „Adel“ im
Frühmittelalter, vgl. Frantisek GRAUS, Sozialgeschichtliche Aspekte der Hagiographie
der Merowinger- und Karolingerzeit. Die Viten der Heiligen des südalemannischen
2 1
Schichten“ sind demgegenüber jene Gruppen, die sich durch
„Nichtzugehörigkeiten“ kennzeichnen lassen: Sie sind keine Angehörigen der
nobilitas, Mitglieder einer monastischen Lebensform oder des Klerus
allgemein.
Das Vorgehen, „Volk“ als Negativdefinition von „Elite“ zu begreifen,
scheint direkt in das „Zweischichtenmodell“6 einer sich gegenüberstehenden,
gegensätzlichen Hoch- und Volkskultur zu führen, bei dem sich die kirchliche
Kultur als Vertreterin der Hochkultur im frühen Mittelalter in erster Linie
durch die „Ablehnung“ der Volkskultur auszeichnet.7 Danach existierten bis
etwa 1400 nur zwei kulturelle Modelle (das der Geistlichkeit und das der
Krieger), denen allein das kulturschaffende und -bestimmende Potential
zugeschrieben wird.8 Dieser Ansatz verstellt jedoch nicht nur den Blick auf
eine Binnendifferenzierung,9 sondern berücksichtigt auch nicht genügend,
daß die klerikalen Zeugnisse aus dieser Zeit nur eine, in der Überlieferung
dominierende Perspektive wiedergeben.
Deshalb verfolge ich hier einen Ansatz, der trotz der Negativdefinition
von „Volk“ das „Zweischichtenmodell“ ablehnt. Obwohl die schriftlichen
Quellen des fiühen Mittelalters ausschließlich von einer (klerikalen) Elite
produziert wurden, nehme ich an, daß auch das „Volk“ eigene kulturelle
„Systeme“ besaß und ausprägte. Es kommt folglich darauf an, anband der
schriftlichen Quellen festzustellen, wie die kulturellen Systeme des Volkes
aus der Perspektive der „Elite“ wahrgenommen, bewertet und verarbeitet
wurden. Dabei gehe ich nicht von einer engen Definition des Begriffs
Raumes und die sog. Adelsheiligen, in: Mönchtum, Episkopat und Adel zur
Gründungszeit des Klosters Reichenau, hg.v. Amo Borst (Vorträge und Forschungen 20),
Sigmaringen 1974, S. 1 31-176, hier S. 160ff.; Thomas ZOTZ, Adel, Oberschicht, Freie.
Zur Terminologie der frühmittelalterlichen Sozialgeschichte, in: Zeitschrift für die
Geschichte des Oberrheins 125, 1 977, S. 3-20; Klaus SCHREINER, Adel oder
Oberschicht? Bemerkungen zur sozialen Schichtung der fränkischen Gesellschaft im
6.Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 68, 1981, S.
225-23 1 ; zum zeitgenössischen Verständnis: Hans-Wemer GOETZ, „Nobilis“. Der Adel
im Selbstverständnis der Karolingerzeit, in: ebd. 70, 1983, S. 153-191.
6 Jacques LE GOFF, Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des
5.-15. Jahrhunderts, Weingarten 1978, S. 124; vgl. die Diskussion dazu bei Hans-Jörg
GILOMEN, Volkskultur und Exempla-Forschung, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder
einer populären Epoche, hg.v. Joachim Heinzle, Frankfurt!Main, Leipzig 1994, S. 165-
208, hier S. 167f.
‚ So LE GOFF (wie Anm.6) S. 125.
1 Vgl. GILOMEN (wie Anm.6) S. 178ff., der Georges Dubys Auffassung vom ’sinkenden
Kulturgut‘ kritisch referiert.
• Vgl. in diesem Heft
.
GOETZ, S. 13 und Anm.25.
22
„Kultur“, sondern von der Frage aus, ob sich innerhalb einer (vennuteten)
Gruppe eine bestimmte Zusammengehörigkeit zeigt, nämlich unter der
gedanklichen Voraussetzung, daß sich Gruppen anband eines eigenen,
speziell ausgeprägten Systems im Umgang mit allgemein gültigen Zeichen,
Symbolen und Inhalten beschreiben lassen.10
Damit lassen sich die oben angenonunenen „kulturellen Systeme“ von
Gruppen unter zwei Blickwinkeln betrachten, die in wechselseitiger
Beziehung stehen:
I . Indem die Mitglieder einer Gruppe ein solches spezifisches System
gemeinsam verwenden, läßt sich ihre innere Zusammengehörigkeit
beschreiben. Dabei ist eine Binnendifferenzierung innerhalb einer Gruppe
unbedingt zu berücksichtigen. Diese läßt sich durch ,,Niveauunterschiede“
kennzeichnen.
2. Die innere Zusammengehörigkeit zieht eine bestimmte
Wahrnehmung von Gruppen, die andere Systeme verwenden, nach sich. Auf
dieser Grundlage findet eine bestimmte Abgrenzung nach außen statt.
Venantius Fortunatus und Baudonivia sind nach der obigen
Eingrenzung durch ihre Bildung und geistliche Lebensform der Elite
zuzurechnen: Sie gehören dem kulturellen System des „Klerus“ an.11
Aufgrund der Bedeutung der Religion für die gesamte
frühmittelalterliche Gesellschaft12 ist Fortunatus‘ und Baudonivias
Zugehörigkeit zur „klerikalen Elite“ kein Hindernis bei der Frage nach einer
„Volk.skultur“, sondern eine Möglichkeit, „spezifische Aneignungs- und
Gebrauchsweisen gemeinsamer Gegenstände“n herauszuarbeiten, und zwar
aus der Sicht der „Elite“. Der „gemeinsame Gegenstand“ bezieht sich im
Rahmen der Hagiographie vor allem auf das Phänomen der
„Heiligenverehrung“, das auch mit dem frei übernommenen Begriff einer
„shared cultural meaning“14 umschrieben werden kann: Die
Heiligenverehrung ist demnach für die „Elite“ und das „Volk“ von großer
10 Bezüge zur Systemtheorie sind an dieser Stelle weder beiiicksichtigt noch beabsichtigt. 11
Auf die oben erwähnte Binnendifferenzierung innerhalb der Gruppen, die sich bei
Baudonivia und Fortunatus konkret zeigt, gehe ich im folgenden noch ein.
“ Vgl. GOETZ, in diesem Heft S. I If .
“ So Jean-Claude SCHMITT, Der Mediävist und die Volkskultur, in: Volksreligion im
hohen und späten Mittelalter, hg.v. Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer, Paderbom
1 990, S. 29-40, hier S. 3 1 .
“ So Deborah TANNEN, The Oral. Literale Continuum i n Discourse, in: Spoken and
Wrinen Language: Exploring Orality and Literacy, hg.v. Deborah Tannen, Norwood (NJ)
1 984, S. I – 1 6, hier S. I f.
23
Bedeutung, wird aber aufgrund der Zugehörigkeit zu verschiedenen
kulturellen Systemen unterschiedlich, wenn auch nicht zwangsläufig
„geschieden“ wahrgenonunen und rezipiert. Damit ergeben sich zwei Wege,
sich anhand der Vitae Radegundis einer „Volkskultur“ des frühen Mittelalters
anzunähern:
Als Zusanunenftihrung der beiden oben genannten Blickwinkel, unter
denen eine Gruppe beschrieben werden kann, ist erstens zu untersuchen, ob
durch die Zugehörigkeit Fortunatus‘ und Baudonivias zu einem kulturellen
System eine gemeinsame Form der Abgrenzung gegenüber dem kulturellen
System des „Volkes“ erkennbar wird. Aufgrund der Zugehörigkeit zur
geistlichen Elite stellt das Christentum für beide „die Kultur“ per se dar – als
Utopie einer „shared cultural meaning“ sämtlicher Menschen. Ist hier also ein
schichtenübergreifendes Verständnis von „Volk“ auszumachen, dessen Abund
Einstufung nicht nach sozialen Kriterien vorgenommen wird, sondern
nach der Qualität der christlichen Lebensführung ?
Da aber auch eine nach christlichen Utopien ausgerichtete Gesellschaft
die weltlichen Gesellschaftsordnungen nicht ersetzt, sondern eher überlagert,
stellt sich zweitens die Frage nach Fortunatus‘ und Baudonivias Position
innerhalb des christlichen „Volkes“. Baudonivia selbst unterteilt in ihrem
Prolog die klerikale Elite in die docti und die Menschen angustae
intelligentiae.15 Damit stellt sich die Frage, welche Intentionen den beiden
Viten jeweils zugrundeliegen und welche Zielgruppen Fortunatus und
Baudonivia im Blick hatten. Wenn sich unterschiedliche Zielgruppen
feststellen lassen, ist zu untersuchen, inwiefern sich dies auf die Gestaltung
der beiden Bücher auswirkt.
2. Hagiographie und „Volkskultur“
Michel Banniard faßt die Entwicklung der Literatur von der Spätantike bis ins
frühe Mittelalter folgendennaßen zusammen: „[ … ] auf den religiösen Sieg
des Christenturns [ist] sein literarischer Triumph gefolgt: Es gibt von jetzt an
nur noch christliche Literatur. [ . .. ] Der literarische Typus des Heiligenlebens
mit seinem Gefolge der Wundererzählungen erhält [ … ] eine wesentliche
u De Vita sanctae Radegundis libri duo, ed Bruno KRUSCH, MGH SS rer Mer II,
Hannover 1888 (ND 1984), S. 358-395. Im folgenden zitiert als ‚Vita I‘ und ‚Vita ll‘,
hier Vita Il, S. 377, Z . l 2. Eine Übersetzung bei Jo Ann McNAMARA I John E.
HALBORG, Sainted Woman of the Dark Ages, Durharn and London 1992, S. 70-105.
24
Rolle bei der EntstehWlg der europäischen Kultur.“16 Die Diskussion um den
Stellenwert hagiographischer Quellen in bezug auf die Frage nach einer
„Volkskultur“17 läßt sich demnach in der KlerikalisiefWlg der Schriftkultur
Wld ihrer Wechselwirkung auf eine „allgemeine“ Kultur verankern. Wenn
man mit Banniard das Missionswerk der Kirche in den Aufgaben der
„Vertiefung, AusweitWlg und Erhaltung“ des Glaubens beschreibt, kann man
ein Kom.mWlikationssystem voraussetzen, „das allen Kategorien von
Sprechern ständig offensteht Es liegt auf der Hand, daß dieses System nur in
einer Richtung funktioniert: Es handelt sich um einen Sender der kirchlichen
Botschaft, nicht um einen Empfänger für die Reaktion der Laien.“18
Auch Frantisek Graus betont, die merowingischen Legenden seien das
,,Ergebnis der Tätigkeit von Klerikern [HervorhebWlg d. Verf.], die aus
offizieller oder gepflegter Tradition überwiegend aus den Typen und Topoi
der Hagiographie Wld ihrer eigenen Phantasie schöpften“.19 Das von Banniard
vorausgesetzte Konununikationssystem erfordert jedoch seitens der
Hagiographen Zugeständnisse, die noch weiter zu fassen sind als die von
Graus erwähnte Aufnahme „sozialer Motive“20 und die sich vermutlich
allhand der Struktur der Viten herausarbeiten lassen.
Hier schließen Überlegungen zur Sprache und zu der aufgrund der
sprachlichen Fonn möglichen Rezeption der hagiographischen Texte an.
Nach Dag Norberg kann für das 5./6. Jahrhundert angenommen werden, daß
Latein noch von allen Schichten verstanden und auch gesprochen wurde,
wobei sich die jeweiligen sozialen Milieus durch verschiedene
AusfonnWlgen bzw. Niveaus unterschieden.21 Hinsichtlich der Rezeption
gehe ich davon aus, daß die hier untersuchten Texte vorgelesen wurden n
16 Michel BANNIARD, Europa. Von der Spätantike bis zum frühen Mittelalter, München,
Leipzig 1993, S. 134.
“ Vgl. GOETZ, in diesem Heft S. 1 7f.
“ BANNlARD (wie Anm. l6) S. 189.
“ GRAUS (wie Anm.2) S. 278. 20
Ebd. S. 290: „Motive, in denen der Legendist zu den sozialen Fragen und Problemen der
Zeit auf seine Art Stellung nahm.“
21 Zitiert nach LE GOFF (wie Anm.6) S. 1 2 l f. Ähnlich auch BANNlARD (wie Anm.l6)
S. 186, 1 90ff.und 199ff. Der Abstand zwischen geschriebener und gesprochener Sprache
wurde nach 600 zwar größer, aber „die gesprochene Sprache“ gehörte im sechsten
Jahrhundert „noch vollständig zum Latein“, S. 197.
22
Vgl. Katrien HEENE, Merovingian and Carolingian Hagiography. Continuity or Change
in Public and Aims?, in: Analeeta Bollandiana 107, 1989, S. 4 15-428, hier S. 418.
Explizite Belege sind in beiden Viten nicht auszumachen, implizit läßt sich diese
Annahme aber durchaus stützen; vgl. z.B.Vita II (wie Anm. l5) S. 377, Z.20f.: Baudonivia
bietet ihr Werk sui gregis auribus dar.
25
Zweck dieser Lesungen war ein „practical pastoral aim“:23 Im untersuchten
Zeitraum des 6./7. Jahrhunderts hatte das Christentum noch keineswegs
überall Fuß gefaßt.24 Bei der Durchsetzung und Festigung des christlichen
Glaubens dienten aber gerade die Viten „for public delivery in order to edify
the common people“.25
3. De vita sanctae Radegundis libri duo
3.1 Radegunde26
Im Rahmen der hier verfolgten Fragestellung spielt weniger das Leben
Radegundes, soweit es sich aus den Quellen rekonstruieren läßt, eine Rolle
als vielmehr die Wahrnehmung der Verfasser ihrer Vita und die Beziehung,
die Fortunatus und Baudonivia zu ihrer „Heidin“ hatten: Radegunde war für
beide keine „historische Heilige“, sondern eine Person ihrer Zeit, von deren
Heiligkeit sie überzeugt waren. Mit Fortunatus war Radegunde eng
befreundet, Baudonivia lebte in dem von Radegunde gegründeten
Nonnenkloster Poitiers unter der Regel des hl. Cäsarius, die die Heilige dort
eingeführt hatte. Zu berücksichtigen ist außerdem die herausragende Stellung
Poitiers, das durch die Verbindung Radegundes zum merowingischen
Königshaus wohl unter besonderem Schutz stand.27
23 HEENE (wie Anm.22) S. 426. Vgl. auch oben die von Banniard beschriebenen
Aufgaben der Missionsarbeit.
“ Vgl. Heinz LÖWE, in: Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte.
9.Auflage, hg.v. Herbert Grundmann. Bd. l : Ftiihzeit und Mittelalter, Stuttgart 1 970, S.
143.
“ HEENE (wie Anm.22) S. 423.
“ Eine kurze Biographie auf Basis der Quellen und einen Überblick zum Forschungsstand
zur „historischen Radegunde“ bietet Sabine G.Ä.BE, Radegundis: Sancta, Regina, Ancilla.
Zum Heiligkeitsideal der Radegundisviten von Fortuna! und Baudonivia, in: Francia 1611,
1989, S. 1-30, hier S. l ff., bes. Anm.7.
“ Georg SCHEIBELREITER, Königstöchter im Kloster, Radegund ( +587) und der
Nonnenaufstand von .Poitiers (589), in: Mitteilungen des Instituts flir Österreichische
Geschichtsforschung 87, 1979, S. 1-37, hier S. 7ff. bes. S. 1 1 .
26
3.2 Die beiden Verfasser der Vita
Venantius Fortunatus
Walter Berschin bezeichnet Venantius als den bedeutendsten Schriftsteller
des sechsten Jahrhunderts, der im Gegensatz zu Gregor von Tours selbst
„einer Kritik nach klassischen Maßstäben standhält“.28 Yennutlieh um 530 in
Oberitalien in der Gegend von Treviso geboren, erhielt er eine umfassende
klassische Ausbildung in Ravenna und floh 565 vor dem drohenden
Langobardeneinfall nach Metz an den Merowingerhof, wo er die Funktion
eines Hofdichters ausübte.29 Als Bischofvon Poitiers starb er um 600. Neben
einer Anzahl von Gedichten liegt seine schriftstellerische Leistung in der
Abfassung von Viten.30 Die Vita Radegundis zählt zu seinen Spätwerken
(nach 587) und ist die einzige Frauenvita, die Fortunatus abgefaßt hat.
Berschin wertet sie als die „Waise in der Krone seiner Prosa“.31 Im Gegensatz
zu den früheren Schriften ist die Vita Radegundis keine Auftragsarbeit,
sondern wohl die ‚persönliche Huldigung‘ einer langjährigen Freundschaft.
Auffallig ist, daß sich die enge Beziehung Fortunatus‘ zu Radegunde und der
Äbtissin Agnes inhaltlich fast gar nicht niederschlägt.32 Auch wenn keine
Auftragsarbeit vorliegt, propagiert Fortunatus in seiner Funktion als Bischof
jedoch auf einer weiteren Ebene „ganz konkrete Interessen der Amtskirche“.33
Baudonivia
Baudonivia war Nonne in Radegundes Kloster und hatte diese vermutlich
noch persönlich gekannt.34 Sie faßte bald nach 600 ein zweites Buch als
“ Walter BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter. Bd. l : Von
der Passio Perpetuae zu den Dialogi Gregors des Großen, Stuttgart 1986; Bd.2:
Merowingische Biographie. Italien, Spanien und die Inseln im frühen Mittelalter, Stuttgart
1988 (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 8 und 9),
hier Bd. l, S. 278.
,. BANNIARD (wie Anm. l 6) S. 98.
30 BERSCHIN (wie Anm.28) Bd. l , S. 278.
“ Ebd. S. 284.
“ GÄBE (wie Anm.26) S. 5.
33 Zu diesem Aspekt vgl. ebd. S. 17: Fortunatus wollte „klarstellen, daß Radegundes
asketischer und weitabgewandter Lebenswandel nicht ‚kirchenfremd‘ gewesen ist,
sondem daß sie die Kirche und ihre Amtsträger als höhere Instanz anerkannte.“
“ Ygl. ebd. S. 1 1 . Anm.61.
27
Ergänzung und Fortsetzung zu der Vita des Venantius ab.3s Ihre Nachträge
beziehen sich auf drei Bereiche: die Wunder nach Radegundes Tod, den
Erwerb von Reliquien sowie ‚Hausgeschichten‘ – Inhalte, die Fortunatos nicht
erwähnt hat, die aber für die Nonnen des Klosters vennutlich von äußerster
Wichtigkeit waren. Literaturgeschichtlich bemerkenswert ist nicht nur, daß
hier eine Frau eine Vita verfaßt, sondern daß sie auch selbstbewußt ihren
Namen nennt. Berschin stellt eine Abhängigkeit bzw. Nähe zum Latein des
Fortunatos heraus/6 wobei Baudonivia durchaus eigene Formulierungen
benutzt und ebenso wie Fortunatos Neologismen verwendet, wenn es
notwendig ist.
4. Spuren einer „Volkskultur“ in der „Vita Radegundis“ ?
Gemäß den im ersten Abschnitt dargelegten methodischen Überlegungen
behandle ich folgende Aspekte der beiden Viten: Anband der beiden Prologe
soll untersucht werden, ob Motive der Abfassung und Aussagen über die
intendierte Zielgmppe deutlich werden. Eine genauere Betrachtung
ausgewählter Kapitel beider Bücher befaßt sich mit der Frage, ob eine
Abgrenzung gegenüber einem kulturellen System des „Volkes“ erkennbar ist.
Abschließend soll in einem exemplarischen Vergleich zwischen Fortunatos
und Baudonivia überlegt werden, ob sich in bezug auf die Zielgmppen
‚unterschiedliche Weisen‘ bei der Vermittlung des Inhaltes herausarbeiten
lassen.
4.1 Die Prologe – Motivationen und Zielgruppen
Venantius Fortunatus
Dem ungewöhnlich kurzen Prolog fehlt jede Widmung. Nach einem relativ
umfassenden Lob des weiblichen Geschlechts, in dem Gott seine dives [ . . . ]
largita/7 zeigt, beschreibt Venantius erst im letzten Satz des Prologs den
Zweck der Abfassung: die memoria Radegundes, die in der Welt gefeiert
werden soll.38 Dazu müsse ihr Leben in publico getragen werden.39 F01tunatus
“ Ebd. S. I I wird betont, daß Baudonivia selbst ihre Vita als Zusatzvita zu Fortunatus‘
Arbeit kennzeichnet. So auch BERSCHIN (wie Anm.28) Bd.2, S. 17f., der dazu auf
Parallelen bei Entstehung und Aufbau der Vita S.Caesarii hinweist.
“ BERSCHIN (wie Anm.28) Bd.2, S. 17.
“ Vita I (wie Anm . 1 5) S. 364, Z.22.
“ Ebd. S. 365, Z.l. .
28
entschuldigt sich geradezu dafür, daß er privato sermone schreibt.40 Versteht
man sermo hier „als mündliche Praxis der Hörer, die über gar keine oder nur
eine geringe Schulbildung verfugten“,“ und nimmt, wie oben dargestellt, eine
zum Abfassungszeitraum noch weit verbreitete lateinische Sprachkompetenz
an, so könnte diese Wendung ein Indiz dafiir sein, daß die Vita zur Rezeption
über eine klerikale Zielgruppe hinaus bestinunt war. Die Überlegung wird
durch die Feststellung Wilhelm Levisons gestützt, der Fortunatus‘ Viten im
Gegensatz zu seiner sonstigen Prosa eine einfache, verständliche Sprache
attestiert:2 Der Terminus privatus wäre demnach vielleicht auch eine
Kennzeichnung des Sprachniveaus 43 Daß damit aber noch keineswegs das
„Volk“ als Adressat angenommen werden datf, zeigen das literarisch hohe
Niveau des Textes und die inhaltliche Anknüpfung an das Heiligenideal der
Asketinnenbiographien des 4. und 5. Jahrhunderts. Susanne Wittern ni1m11t
als Zielgruppe daher eher die „vielfach der senatorischen Bildungsschicht
entstammenden Bischöfe des Frankenreiches“ an.“ Dennoch muß das „Volk“
als Rezipient keineswegs ausgeschlossen werden, da eine Verwendung des
Textes bei Heiligenfesten durchaus denkbar ist. ‚5
Baudonivia
Baudonivias V01wort ist wesentlich länger. Sie widmet ihr Buch den
Mitschwestern in Poitiers: dominabus sanctis [ . . . ] Dedimae abbatissae vel
omni congregationi g/oriosi dominae Radegundis 46 Ihre Schrift ist eine
Auftragsarbeit:‘ deren Anfordemngen sie sich, wie die vielen Demutsfonnein
zeigen, nicht gewachsen fiihlt – oder fiihlen darf. Interessant ist die
Zweiteilung, die sie hinsichtlich der Verfasser solcher Aufträge vornimmt:
“ Ebd. S. 36 5, Z . l .
•• Ebd. S. 364, Z.30f.
“ BANNIARD (wie Anm. l 6) S. 182.
“ WATTENBACI-VLEVISON, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit
und Karolinger. Heft I , Die Vorzeit, bearb.v.Wilhelm Levison, Weimar 1952, S. 97.
“ So auch GÄBE (wie Anm.26) S. 6, die in diesem Zusammenhang den Terminus sermo
simplex verwendet.
“ Susanne WITTERN, Frauen, Heiligkeit und Macht. Lateinische Frauenviten aus dem
4.bis 7. Jahrhundert (Ergebnisse der Frauenforschung 33), Stuttgart, Weimar 1994, hier S.
1 00.
“ Ebd.
“ Vita I I (wie Anm. l5} S. 377, Z.5ff.
“ Ebd. S. 377, Z.8: inirmgilis mihi opus. Ein Auftraggeber bzw. eine Auftraggeberin wird
namentlich nicht genannt.
29
auf der einen Seite die doctt8 und auf der anderen Seite diejenigen, die
angustae intellegentiae•9 sind, denen ein solcher Auftrag nur Angst einflößt
und zu denen sie sich toposhaft selbst zählt. Die Notwendigkeit eines zweiten
Buches ergab sich, da Fortunatus, dessen Vita sie als bekannt voraussetzt und
zitiert, wegen seiner Furcht, allzu ausschweifend zu werden, wichtige Dinge
aus Radegundes Leben verschwiegen habe. Als Zielgruppe ist daher in erster
Linie die Klostergemeinschaft (gregis auribus0) anzunehmen: Zum einen
zeigt das Vorlegen einer Auftragsarbeit, daß Fortunatus‘ Vita für die
Verwendungszwecke des Klosters offenbar nicht ausreichte. Zum anderen
befaßt sich der Inhalt der Vita zum Großteil mit klosterinternen
Begebenheiten. So ist auch für Susanne Wittern „eine Verwendungsabsicht
für individuelle Erbauungslektüre und für Lesungen in der Gemeinschaft
wahrscheinlich“.1
Baudonivias Entschuldigung fur ihren rusticus sermo52 scheint im
Gegensatz zu Fortunatus nicht darin begründet zu sein, daß die Schrift für
einen breiteren Rezipientenkreis bestimmt ist, sondern daß sie sich gegenüber
Fortunatus für minus docta, plus devoti3 hält.
Neben diesen Motiven wurden Fortunatus und Baudonivia vermutlich
noch durch einen weiteren Grund zur Abfassung der Bücher bewegt: Kurz
nach dem Tod Radegundes brach im Kloster eine Revolte aus. Der Konflikt
war mittlerweile zwar beigelegt worden, doch das auffallige Aussparen der
Revolte in beiden Büchern läßt vennuten, daß sowohl Fortunatus‘ als auch
Baudonivias Viten sicherlich auch den Zweck einer Besinnung auf „alte
Werte“ erfüllen sollten.54
4.2 Fortunatus‘ und Baudonivias Wahrnehmung des kulturellen Systems
des „Volkes“
In vielen Viten tritt das „Volk“ lediglich als Objekt christlicher Nächstenliebe
und Fürsorge in Gestalt von zu speisenden und zu waschenden Menschen
“ Ebd. S. 377, Z.J6.
“ Vita I! (wie Anm. 15) S. 377, Z.12.
so Ebd. S. 377, Z.20f.
“ WITTERN (wie Anm.44) S. 1 0 1 , ähnlich GÄBE (wie Anm.26) S. l l f.
“ Vita I! (wie Anm. J5) S. 378, Z.7f.
“ Ebd. S. 378, Z.2.
,. McNAMARRAIHBORG (wie Anm . 1 5) S. 64ff. Zu Verlauf und Bewertung der
Revolte vgl. SCHEIBELREITER (wie Anm.27).
30
auf. In der Vita Radegundis nimmt es jedoch in drei Kapiteln eine
eigenständige Funktion ein, die hier genauer betrachtet werden soll.
Gesang und Tanz der Dorfbewohner (Vita I, cap.36)
Gegen Abend singen und tanzen die Dorfbewohnerss in der Nähe des Klosters
Poitiers. Radegunde fuhrt ein mahnendes Gespräch mit zwei Nonnen, die der
Musik zugehört haben. Der Dialog zwischen Radegunde und einer der beiden
Nonnen wird ausformuliert.
Fortunatus schildert hier eine Situation, in der eine säkulare und eine
klerikale Form der Kultur aufeinandertreffen. Der Kontakt zwischen
Angehörigen beider Kulturfennen ist sicherlich nichts Außergewöhnliches,
da sich Klöster häufig in der Nähe von Siedlungen befanden – wie hier
mindestens in Hörweite. So zeigt diese Episode, daß zumindest eine
gegenseitige Wahrnehmung der „anderen“ Kultur stattfindet. Wohl um sich
gegenüber Radegunde bezüglich ihres Interesses an dieser „anderen“ Kultur
zu rechtfertigen, meint die Nonne, sie habe unam de meis canticis
wiedererkannt.s6 Damit setzt sie voraus, daß es klare Abgrenzungen zwischen
den „eigenen“ Liedern der Nonnen und denen der Dorfbewohner gab, doch
existierten offenbar Mischformen: Die Dorfbewohner hatten die Lieder der
Nonnen gehört und setzten sie in einer eigenen Weise um (a salantibus
praedicari).s1 Das Ergebnis kam nun wiederum den Nonnen zu Gehör. Es
fand also in gewisser Weise ein „Kulturaustausch“ statt, bei dem die Formen
verändert wurden. Fortw1atus beschreibt hier eine den Dorfbewohnern eigene
Fenn der musikalischen Kultur: Es wurde gesungen, musiziert w1d getanzt.ss
Im Dialog, so wie F01tunatus ihn darstellt, lassen sich aber auch
geistliche Bewertungen gegenüber dem Tanz und Gesang der Dorfbewohner
aufzeigen. Indem die Nonne feststellt, sie habe eines ihrer Lieder
wiedererkannt, erhofft sie sich von Radegunde eine Milderung des Tadels.
Wenn sie sich schon offenbar unzulässig den Gesang der Dorfbewohner
anhört, versucht sie wenigstens eine Aufwertung dadurch zu erreichen, daß
Gemeinsamkeiten zwischen den Liedem bestehen. Doch Radegunde steht
sowohl dieser Vennischung wie auch sämtlichen weltlichen canticae strikt
“ Vita I (wie Anm.IS) S. 375, Z.27 bezeichnet den Ott mit vicus; McNAMARRA/
HALBORG (wie Anm. l 5) S. 84 übertragen „layfolk“.
56 Vita I (wie Anm.15) S. 375, Z.30.
“ Ebd. Z.30f.
“ Ebd. Z.28f.: Quadom vice [ … ] inter coraulas er citharas [ … ] a saecularibus multo
fremitu cantaretur [ .. .].
3 1
ablehnend gegenüber: Teste Deo, me nihil audisse modo saeculare de
cantico. J9
Fortunatus räumt dem „Volk“ als einer sich räumlich außerhalb des
Klosters befindlichen Gruppe eine eigene (Musik-) Kultur ein. Es nimmt
zwar seinerseits musikalische Inhalte der Klosterkultur auf und setzt sie um.
Diese werden im Gegenzug aber immer noch oder gerade deswegen von
Radegunde abgewertet und verurteilt.
Defano, quod a Francis colebatur (Vita II, cap.2)60
Radegunde ist während ihrer Zeit als Königin mit ihrem Gefolge unterwegs
zu einem Bankett. Sie hört von einer heidnischen Kultstätte und läßt diese
gegen den Widerstand der dort anwesenden Franken verbrennen. Nachdem
die Stätte zerstört ist, schließen beide Parteien Frieden.
Diese Passage zeigt die gewaltsamen Vorgänge bei der Durchsetzung
des Christentums. Die „Franken“ verteidigen ihre Kultstätte und damit auch
ihre Religion cum gladiis et fustibus.61 Radegunde repräsentiert durch ihr
Auftreten und Eingreifen den christlichen Standpunkt, der andere Religionen
als diabolica machinamenta62 einstuft und demzufolge mit allen Mitteln
bekämpfen muß. Baudonivia spricht zunächst von den „Franken“, wobei der
Eindruck entsteht, sämtliche Franken seien, zumindest nach ihrer
persönlichen Einschätzung, eigentlich Heiden. Die Versöhnungsszene
beschreibt sie dagegen mit den Worten inter se populi pacem firmarent.63
Offensichtlich bezeichnet sie mit populi jetzt sowohl die Franken als auch die
famuli Radegundes, die dasfanum niederbrannten: Mit der „Bekehrung“ sind
die Franken Teil des christlichen „Volkes“ geworden. Hier zeigt sich deutlich
Baudonivias christliches Wunschdenken, denn nach dem bewaffneten
Widerstand der Franken ist ein tatsächliches Verinnerlichen der christlichen
Lehre äußerst unwahrscheinlich, die „Christen“ waren lediglich militärisch
überlegen gewesen. Eine Auslegung dieser Textstelle dahingehend, daß die
„Volksreligion“ von der Kirche ausgelöscht wurde, würde hingegen zu kurz
greifen, dennpopulus meint in diesem Zusanunenhang nicht „Volk“ im Sinne
der „unteren Schichten“, sondern hier soll der Gegensatz zwischen Christen-
“ Ebd. Z.33f.
60 Vita II (wie Anm. l 5) S. 378, Z . l 2 .
., Ebd. S. 380, 2 . 1 8.
“ Ebd. S. 380, Z. l 7.
“ Ebd. S. 380, Z.20f . .
32
und Heidentum herausgestellt werden.64 Über die soziale Zusanunensetzung
der Franken ist nichts zu erfahren.
De eius cereis, quos puer tenebat ad sepulchrum eius, qua/es virtutes
Dominus fecit (Vita Il, cap.25) 6s
Da der örtliche Bischof Merovech nicht anwesend ist, kann Radegundes Grab
nicht verschlossen werden. Die anwesenden Menschen stehen in offenbar
festgelegter Aufstellung vor dem Grab. Im Volk (in populo66) kommt es zum
Streit, ob die Kerzen mit in das Grab gegeben werden sollen oder nicht. Die
Frage klärt sich durch ein göttliches Zeichen, als eine der Kerzen über die
Köpfe der Menschen hinweg ins Grab sinkt und zu Radegundes Füßen liegen
bleibt.
Zunächst einmal scheint die Grablegung ein öffentliches Ereignis mit
einem relativ festen Ablauf gewesen zu sein: Baudonivia nennt bestimmte
Gmppen innerhalb des „Volkes“ mit spezifischen Aufgaben. Die liberae
stehen im Kreis vor dem Grab und übergeben ihre Kerzen an die famuli. Es
stellt sich nun die Frage, ob diese Begriffe auch einer ständerechtliehen und
sozialen Unterscheidung in der Realität entsprechen.
Bemhard Jussen nimmt an, daß es „ungewöhnlich (wäre], wenn soziale
Hierachie nicht mehr oder weniger ‚von selbst‘ auf die praktische Ordnung
durchschlagen würde. Aber diese praktische Ordnung muß keineswegs mit
Aspekten jener verschiedenen gedanklichen Ordnungen übereinstinunen
( . • . )“.67 Baudonivia geht es in erster Linie darum, noch einmal ganz deutlich
Radegundes Heiligkeit und Wundertätigkeit zu beweisen. Es ist auch
unmöglich auszumachen, ob der Streit über die Plazierung der Kerzen
tatsächlich „alle“68 beschäftigte. Die explizite Erwähnung, daß Bischof9 und
omnis populus10 nach dem Wunder Gott lobten, bezeugt zwar in gewisser
64 Vgl. GOETZ, in diesem Heft S. 16: Es geht hier eben nicht um den Gegensatz
„kirchlich-volkstümlich“.
“ Vita II (wie Anm. l S) S. 379, Z.22f.
“ Ebd. S. 393, Z.25.
“ Bemhard JUSSEN, Über ‚Bischofsherrschaften‘ in Gallien, in: Historische Zeitschrift
260, 1995, S. 673-7 18, hier S. 696f.
“ Vita Tl (wie Anm. l 5) S. 393, Z.25: in populo.
•• Hier handelt es sich um Gregor von Tours, der das Begräbnis Radegundes durchführt,
Vita II (wie Anm.1 5) S. 393, Z.2 l f.
„‚ Vita II (wie Anm. l S) S. 394, Z.2f.
33
Weise eine gemeinsame Heiligenverehrung, ist aber wohl in erster Linie eine
Reaktion Baudonivias auf das gespannte Verhältnis zu Merovech.71
Die Darstellung des „Volkes“ ist in den untersuchten Kapiteln in den
Kontext der jeweiligen literarischen Funktion einzuordnen. Bei Fortunatus
(cap.36) wird das „Volk“ als dem Kloster nicht zugehörige Lebenswelt bzw.
sich außerhalb befindliche Gruppe beschrieben, bei Baudonivia (cap.2) meint
„Volk“ die christliche Gemeinschaft, zu der nach der Bekehrung auch die
Gruppe von Heiden bzw. Franken zu zählen ist, die sich zunächst gegen die
Christen stellten. Schließlich dient ihr das „Volk“ als Zeuge des
Grablegungswunders zum Beweis der Heiligkeit Radegundes (cap.25). Dabei
kommt im letzten Beispiel am ehesten dessen Funktion als „Staffage“ zum
Ausdruck bzw. das, was Graus mit der „kurzen, zufälligen Einheit“
bezeichnet. 72
Ein soziales Verständnis von „Volk“ ist in keiner der drei Episoden mit
Sicherheit auszumachen. Gemeinsam ist Fortunatus und Baudonivia jedoch,
daß sie aus ihrer „elitären“ Wahrnehmung heraus das kulturelle System des
„Volkes“ als gegensätzlich zu dem eigenen darstellen. Diese Abgrenzung
äußert sich in Distanzierung oder Zerstörung, wenn ihr „klerikales System“
gesichert werden muß. Ist das „Volk“ aber, wie beim Grablegungswunder,
fur ihr System nützlich, unterbleibt eine solche Distanzierung, „Volk“ und
„Elite“ erscheinen dann als eine im Glauben geeinte Gemeinschaft.
4.3 Zugeständnisse gegenüber dem kulturellen System „Volk“ ?
Ein Vergleich der Wunderberichte beider Bücher
Nachdem sich im vorhergehenden Abschnitt gezeigt hat, daß die Darstellung
des Volkes von seiner literarischen Funktion abhängig ist, stellt sich nun die
Frage, ob sich vor dem Hintergrund der Überlegungen zu den Prologen
tatsächlich jenes von Michel Banniard beschriebene Kommunikationssystem,
„das allen Kategorien von Sprechern ständig offensteht“, feststellen läßt
Hierzu sollen im folgenden exemplarisch die Wunderberichte beider Bücher
und ihre Konzeption untersucht werden.
“ Vgl.dazu SCHEIBELREITER (wie Anm.27) S. l l ff., demzufolge Merovech der erste
Bischof war, .,der auf seine Diözesanrechte gepocht zu haben scheint und Radegundes
unbekümmertes und großzügiges Hinausgreifen über die Diözesangrenzen bei den
verschiedenen Anlässen mißbilligte“. Vgl. auch GÄBE (wie Anm.26) S. 1 7f. und S. 2 1 f.
“ GRAUS (wie Anm.2) S. 2 1 2.
34
4.3. 1 Die “ Sturmstillungswunder “ (Vita I, cap. 3 1 und Vita II, cap. 1 7)
Sowohl Fortunatus‘ als auch Baudonivias Buch beinhalten ein Wunder
Radegundes, das das biblische Motiv der Srunmtillung aufgreift.
F011unatus erzählt von Florius, der während des Fischens auf dem
Meer in einen Stunn gerät. Er ruft die heilige Radegunde an und bittet sie,
den Sturm in Gottes Namen zu besänftigen. Der Stunn flaut ab. Die
entsprechende Episode bei Baudonivia steht im Zusammenhang mit der
Reliquienbeschaffung Radegundes. Hier gerät die Dankesflotte, die sich auf
ihrem Rückweg von Kaiser Justin II. befindet, in Seenot. Wie bei Fortunatus
wird auch hier der Sturm durch Anrufung Radegundes gestillt.
Die beiden Episoden unterscheiden sich hauptsächlich darin, daß
Baudonivia den Vorgang zusätzlich in eine komplexe biblische Metaphorik
und Zahlensymbolik einbettel n Da diese Bilder nicht erklärt werden, ist
anzunehmen, daß das vorgesehene Publikum in der Lage war, sie zu
verstehen und einzuordnen. Das ist in dieser Komplexität aber nur bei einer
klerikalen Zuhörerschaft wahrscheinlich. F011Unatus‘ Episode dagegen ist
mitten zwischen anderen Wundem eingereiht, kurz und knapp geschildert
und verzichtet auf eine „komplizierte“ Bildhaftigkeit. Handlungsträger ist
hier ein einfacher Mann, der fischen will. So läßt sich vorsichtig vemlUten,
daß Fortunatus seine Erzählung zumindest auch für nicht klerikal gebildete
Adressaten konzipiert hat. Im folgenden Abschnitt soll überprüft werden, ob
diese VemlUtung auch auf einer breiteren Ebene haltbar ist.
4.3.2 Die Wunderkonzeption bei Forttmatus und Baudonivia
F011unatus‘ Buch enthält ein großes Spektmm von Wundern bzw.
Wundertätigkeit: das Heilen von Wunden, Fieber, Bettlägerigkeit,
Sehbehinderung, Kältegefühl, Wassersucht, Erstickungsanfällen und
Teufelsbesessenheit sowie die Errettung aus Seenot und vom Tod. Die
Heilmethoden wirken aus heutiger Sicht zum Teil reichlich „obskur“. Ein
Beispiel dafür ist die Heilung Leubetas von ihrer Teufelsbesessenheit (Vita I,
cap.28). Nach dem Sprechen der Gebete kriecht ein Wunn mit raschelndem
Geräusch aus der Schulter Leubetas hervor und wird von Radegunde
zertreten. Auffällig ist hier die Betonung der Öffentlichkeit.74 Es gibt viele
“ Dazu gehört auch, daß das Schiff vierzig Tage den Gefahren ausgesetzt ist, eine Taube
erscheint, die dreimal über dem Schiff kreist und sich der Sturm nach dreimaligem
Eintauchen einer Feder aus dem Schweif der Taube beruhigt.
“ Vita I (wie Anm. l 5 ) S. 373, Z.29: sana es1 reddita publice.
35
Wunder mit direkter Beteiligung Radegundes, aber auch eine Anzahl von
Heilungen durch Anrufung, durch Gegenstände, die mittelbar mit Radegunde
in Beziehung stehen, sowie durch „Traurnheilungen“. Eine besondere
Position nehmen die Kapitel 1 1 und 38 ein, in denen es wn
„Gefangenenbefreiungen“ geht, die nach Frantisek Graus zwar festen
literarischen Schemata folgen, aber innerhalb dieser Typen einen konkreten
Zeitbezug widerspiegeln.75 Sie sollten für den Heiligen werben und seien für
breitere Schichten konzipiert gewesen.
Bei Baudonivia spielen die Wunderheilungen eine geringere Rolle und
finden alle ohne die körperliche Anwesenheit bzw. nach dem Tod
Radegundes statt. Geheilt wird durch Namensnennung und die Verwendung
von Reliquien. Ein Teil der Wundertätigkeit bezieht sich auf die Beschaffung
und Überführung der Reliquien. 76 Dabei muß allerdings berücksichtigt
werden, daß Baudonivias Buch als Ergänzung zu verstehen ist. Dennoch
gewinnt man den Eindruck, daß Fortunatus‘ Wunderberichte eine populäre
Tendenz zeigen: Das breitere Spektrum der Fälle, die Heilmethoden und
besonders die Gefangenenbefreiungen können als ein „Zugeständnis“
gegenüber einer weniger gebildeten, nicht-klerikalen Zuhörerschaft
interpretiert werden und bestätigen damit das aus den Prologen gewonnene
Bild. Bei Baudonivia sind solche Elemente nicht in gleicher Häufigkeit
festzustellen.
Offenbar versucht Fortunatos sein Anliegen einem weiteren
Adressatenkreis auch dadurch zu vermitteln, indem er sein kulturelles
System, nämlich das des gebildeten Klerus, in gewisser Weise verläßt. Er
wählt bewußt ein anderes Sprachniveau und benutzt im Vergleich zu
Baudonivia Strukturen und Bilder, von denen er annimmt, daß sie dem
kulturellen System einer breiten Zuhörerschaft zugänglich seien. Ob
Fortunatos dieses Ziel tatsächlich erreicht hat und ob damit automatisch das
„Volk“ als Adressat angenommen werden kann, ist kaum überptiitbar, da
„dieses System nur in einer Richtung funktioniert“ – Fortunatos ist Sender der
kirchlichen Botschaft.77 Festzuhalten – und durch beide Hagiographen belegt –
“ Frantisek GRAUS, Die Gewalt bei den Anfangen des Feudalismus und die
‚Gefangenenbefreiung‘ der merowingischen Hagiographie, in: Jahrbuch ftir
Wirtschaftsgeschichte f, Berlin 1961, S. 6 1 – 1 56, hier S. 1 5 1 .
“ Vita II, cap. l 3, 14, 1 6 und 1 7 . GÄBE (wie Anm.26) S. 1 2 zeigt, daß der Aufbau der
Vita die Bedeutung der Klosterreliquien unterstreicht. So sind die Wunder der Heiligen
um den Bericht der Reliquien gruppiert. Auch hier ließe sich genauer über die literarische
Funktion der Wunderberichte nachdenken.
“ BANNIARD (wie Änm . 1 6) S. 189.
36
bleibt allerdings, daß die Heiligenverehrung über Jahrhunderte von allen
Schichten praktiziert wurde.
Schlußbetrachtung
Wie sind nun die unterschiedlichen Ebenen, auf denen Fortunatus und
Baudonivia die Gesellschaft bzw. das „Volk“ betrachten, zu bewerten ?
Auf der inhaltlichen Ebene zeigte sich, daß das „Volk“ als eine Gruppe
angesehen wurde, die sich räumlich und geistig im Gegensatz zum
kulturellen System des Klerus befand. Fortunatus und Baudonivia nahmen
dieses kulturelle System jedoch durchaus als ein eigenständiges wahr, so daß
sie in den Fällen, in denen es um Interessenskonflikte tmd -gegensätze ging,
versuchten, ihr System zu schützen. In der literarischen Darstellung zeigt sich
dieser Schutz in Distanzierung und dem in unseren Augen kritiklosen Bericht
gewaltsamer Unterdriickung. Auf der anderen Seite aber brauchte man das
„Volk“, um Radegundes Heiligkeit eine „Allgemeingültigkeit“ zu verleihen,
die wiederum vom „Volk“ akzeptiert werden konnte.
Auf der konzeptionellen Ebene ließ sich die Vermittlung von
bestimmten Inhalten ihres kulturellen Systems bei Fortunatus eher als bei
Baudonivia herausarbeiten. Für Fortunatus schien eine im gewissen Maße
konkretere Bildhaftigkeit und simplere Struktur und vor allem eine einfachere
Sprache der Weg zu sein, seine Inhalte anderen kulturellen Systemen und
somit auch eventuell dem „Volk“ wirksam zugänglich zu machen. Eine
entscheidende Rolle spielten in diesem Kontext dabei die jeweilige Position
Fortunatus‘ und Baudonivias innerhalb des Klerus und die darin begründeten
Interessen: Fortunatus ist aufgrund seiner Bildung und seines Amtes als
Bischof zun1 Hochklerus zu zählen. Damit propagiert seine Vita konkrete
Interessen der Amtskirche. Im Gegensatz dazu war Baudonivia als Nonne vor
allem ihrem Kloster und der monastischen Tradition verbunden.
Dennoch sind Fortunatus und Baudonivia insofern als gemeinsame
Vertreter des klerikalen kulturellen Systems zu sehen, als sie andere
kulturelle Systeme unter dem Blickwinkel einer ‚ richtigen‘ Religiosität
wahrnehmen und bewerten. Diese Abgrenzung zeigt sich nach außen in der
Ablehnung abweichender F01men ‚falscher‘ Religiosität, wobei hier
ständerechtliche und soziale Maßstäbe keine entscheidende Rolle spielen.
Eine unmittelbare Identifizierung des „Volkes“ im Sinne der „unteren
Schichten“ mit ‚falscher‘ Religiosität halte ich daher fiir unzulässig.
37
Eine Bewertung der ermittelten Ergebnisse muß sich allerdings auch
der unzureichenden Struktur der Forschungsansätze bewußt bleiben. Ein
Problem der Ansätze ist sicherlich, daß sie im einzelnen nicht tief genug
greifen. Zum einen fehlt eine notwendige philologische Untersuchung, zum
anderen müßten den ausgewählten drei Kapiteln jene gegenübergestellt
werden, in denen der „Menschenmengentopos“ bestimmte Funktionen erfullt.
Darüber hinaus wäre auch die „statistische“ Auszählung der Wunder noch
weiter zu überprüfen. Trotz dieser Unzulänglichkeiten war es mir dennoch
wichtig, verschiedene Ansätze auszuprobieren, um mir bei dem „einseitigen“
Blickwinkel der Quelle eine gewisse Vielschichtigkeit der Perspektiven zu
bewahren.
Um zu gesicherten Ergebnissen zu kommen, müssen weitere Viten
hinzugezogen werden. Die Vita Radegundis ließe sich mit der Vita Caesarii
vergleichen. Auch hier hatten Bischöfe das erste Buch verfaßt, Angehörige
des niederen Klerus, die dem Heiligen persönlich dienten, das zweite Buch.78
Ebenso kann anband anderer Viten des untersuchten Zeitraumes überprüft
werden, ob die Autoren und Autorinnen des kulturellen System des Klerus
auch hier den Begriff „Volk“ so verwenden, daß sich durch diesen sowohl
ihre „innere Zusammengehörigkeit“ als auch eine weitgehend
schichtenunspezifische Abgrenzung gegenüber anderen kulturellen Systemen
beschreiben läßt.
Besonders interessant scheint mir hinsichtlich der Fragestellung nach
einer „Volkskultur“ eine Konkretisierung der „Kommunikations-systeme“ auf
der Grundlage von Michel Banniard: In der Vita Radegundis ließen sich
Reflexe einer Kommunikation und eines „Kulturaustausches“ zwischen den
kulturellen Systemen „Elite“ und „Volk“ festmachen. So könnte nun ein
diachroner Sclmitt längs der Hagiographie vielleicht Antworten auf die Frage
geben, wie sich die Vermittlung von Inhalten für andere kulturelle Systeme
seitens der ‚Sender‘ einer kirchlichen Botschaft verändert und schließlich
soweit von ihnen entfernt, daß andere Formen der Kommunikation ihren
Platz einnehmen.
n BERSCHIN (wie Anm.28) Bd. l , S. 249f.
38
VOLKSKULTUR UND ELITEKULTUR
IM FRÜHEN MITTELALTER:
DAS BEISPIEL DER HEILIGENVITEN
MEDIUM AEVUM QUOTIDIANUM
HERAUSGEGEBEN VON GERHARD JARITZ
36
GASTHERAUSGEBER DIESES HEFTES:
HANS-WERNER GOETZ UND FRIEDERIKE SAUERWEIN
VOLKSKULTUR UND ELITEKULTUR
..
IM FRUHEN MITTELALTER:
DAS BEISPIEL DER HEILIGENVITEN
Krems 1997
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG
DER KARL H. D ITZE-STIFTUNG (HAMBURG)
UND DER KULTURABTEI LUNG
DES AMTES DER NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDESREGIERUNG
T itelgraphik: Stephan J. Tramer
Herausgeber: Medium Aevum Quotidianum. Gesellschaft zur Er·forschung der materiellen
Kultur des Mittelalters. Körnermarkt 13, A-3500 Krems, Österreich. – Für
den Inhalt verantwortlich zeichnen die Autoren, ohne deren ausdt-ückliche Zustimmung
jeglicher Nachduck, auch in Auszügen, nicht gestattet ist. – Druck: KOPITU
Ges. m. b. H., Wiedner Hauptstraße 8-10, A-1050 Wien.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Hans-Werner Goetz: Volkskultur Wld Elitekultur im frühen Mittelalter:
Eine ForschWlgsaufgabe Wld ihre Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . 9
Imke Lange: ‚Teste Deo, me nihil audisse modo saeculare de cantico.‘
„Volk“ und „Elite“ als kulturelle Systeme in
„De vita s. RadegWldis libri duo “ ………….. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . ………… . . . . 20
Nicole Suhl: Die „Vita Bertilae Abbatissae Calensis“ –
eine Quelle fur mögliche Unterschiede in der Religiosität
von „Volk“ Wld „Elite“ im frühen Mittelalter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 39
Ulla Pille: Die Pilgerreise des Heiligen Willibald –
Ansätze für eine Unterscheidung von Volks- und Elitekultur? … . . . . . ….. 59
Britta Graening: Vulgus et qui minus intel!egunt:
Die Vita Sualonis Ennanrichs von Ellwangen
als Zeugnis rnonastischen Elitedenkens? . . . .. . . . . … . . . ….. . .. . . …. . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Karsten Uhl: „Der Pöbel, der nicht in gebildeten Wendungen
zu sprechen versteht.“ Unterschiede zwischen der Kultur
des Volkes und der Kultur der Eliten in den Viten
der Heiligen Wiborada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . … . . . . .. . . . . . . … . .. . . 1 03
Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . .. .. . . . . . 1 19
Vorwort
Die Frage nach einer Volkskultur im fiühen Mittelalter liegt in der Konsequenz
der Volkskulturforschung der letzten beiden Jahrzehnte, sie ist aber noch selten
gestellt und alles andere als erschöpfend oder gar abschließend behandelt
worden, ja tatsächlich ist die Sinnhaftigkeit einer solchen Frage erst zu
überpriifen, sind zumindest auf das Frühmittelalter zugeschnittene, methodische
Wege zu finden. Diesem Ziel diente ein im Sommersemester 1 995 an der
Universität Hrunburg durchgefühttes Hauptseminar, das im Sommersemester
1 996 in einem Oberseminar weitergeführt wurde. Mögen Publikationen studentischer
Arbeiten auch auf sicherlich nicht immer unberechtigte Skepsis stoßen, so
haben die hier abgedruckten, im Rahmen des Oberseminars noch eiiUllal von
allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern kritisch diskutierten Beiträge wohl nicht
nur das fur eine Veröffentlichung erforderliche Niveau erreicht, sie betreten
darüber hinaus Neuland, indem sie methodische Wege erschließen helfen und an
ausgewählten Beispielen, die sich sämtlich auf die sich in Heiligenviten widerspiegelnden
religiösen Vorstellungen konzentrieren, abtesten. Damit bieten sie
einen fiuchtbaren exemplarischen Zugang zu wichtigen Aspekten der fiillunittelalterlichen
Volkskultur und Elitekultur. Dank gemeinsamer Fragestellungen und
Diskussionen weisen die jeweils einzelnen Viten gewidmeten Beiträge zudem
eine hinreichende methodische und thematische Geschlossenheit auf.
Herausgeber, Autoritmen und Autoren haben der Gesellschaft „Medium
Aevum Quotidianum“ und dem Herausgeber ilu-er gleichnamigen Zeitschrift,
Gerhard Jaritz, sehr dafi.ir zu danken, daß sie dieses Heft fi.ir einen solchen Versuch
zur Verfugung gestellt haben. Das Thema selbst geht auf eine Anregung
des ehemaligen Direktors des Instituts fi.ir Realienkunde, Harry Kühne!, zurück,
der das Konzept fi.ir die erste, geplante Sommerakademie des Mediävistenverbandes
unter dem Titel „Die ambivalente Kultur des Mittelalters“ entworfen
und den Herausgeber mit der Leitung einer Sektion zum Thema „Volkskultur
und Elitekultur im Mittelalter“ betraut hatte. Daß das Vorhaben sich zunächst
nicht wie geplant realisieren ließ, resultiette aus organisat01ischen und
finanziellen Problemen, die durch den unerwarteten Tod Hany Kühnels, der das
7
Projekt mit Energie und Engagement betrieben hatte, vollends verschärft worden
wären. Seinem Gedenken soll dieses Heft daher gewidmet sein.
Hans-Wemer Goetz (Hamburg)
8