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„Vicisti reges …“
Überlegungen zur „weiblichen“ Herrschaftsauffassung der
Mathilde von Canossa
Ingrid Schlegl
Mathilde von Canossa (1046-1115) zählt ohne Zweifel zu den bemerkenswertesten
Herrschergestalten des 11. und beginnenden 12. Jahrhunderts. Obwohl sie
zwei Mal verheiratet war, deckte sie weitgehend allein und ohne männliche
Unterstützung das gesamte Spektrum adeliger Herrschaftsaufgaben ab. In ihren
umfangreichen oberitalienischen Territorien, die sich aus Reichslehen und
Allodien zusammensetzten, nahm sie administrative, richterliche, politische und
militärische Obliegenheiten wahr. Nach ihren intensiven Vermittlungsbemühungen
im Investiturstreit, die 1077 im Zusammentreffen von Papst Gregor VII. und
König Heinrich IV. auf ihrer Burg Canossa kulminierten, ergriff sie Partei für
die Reformkirche und stellte sich damit gegen den deutschen König, der ihr die
Reichslehen entzog, die Reichsacht über sie verhängte und schließlich militärisch
gegen sie vorging. Doch allen Widrigkeiten und Rückschlägen zum Trotz
konnte sie ihr Herrschaftsgebiet nahezu ungeschmälert bis zu ihrem Tod behaupten.
1
Eine derartige Machtfülle, die von einer kinderlosen, verwitweten Frau
ausgeübt wurde, unterlag, vor allem in Hinblick auf die unsicheren Reichslehen,
erhöhten Legitimationsanforderungen und bedurfte daher einer besonders soliden
Herrschaftsgrundlage. Für die Untersuchung der ideologischen Basis ihrer
Herrschaft bietet sich die so genannte Vita comitissae Mathildis an. Das Werk
entstand kurz vor dem Tod der Markgräfin und wurde von dem Kleriker Donizo
verfasst, der zu diesem Zeitpunkt Mönch im Burgkloster Sant´Appollonio von
Canossa war und ab 1136 als Abt desselben Klosters fassbar wird. Ursprünglich
trug das Werk, das aus zwei Büchern besteht, den Titel Principium libri de
1 Die Forschung zu Mathilde von Canossa ist äußerst umfangreich. Hingewiesen werden kann
daher nur auf die wichtigsten Monographien, die in den letzten Jahren zu ihrer Person erschienen
sind: Eugenio Riversi, Tensioni e contraddizioni nella vita di una nobildonna
medievale. Bologna 2014; Elke Goez, Mathilde von Canossa. Darmstadt 2012; David Hay,
The Military Leadership of Matilda of Canossa, 1046–1115. Manchester 2008; Paolo Golinelli,
Mathilde und der Gang nach Canossa. Im Herzen des Mittelalters. Düsseldorf 1998;
Paolo Golinellis Monographie enthält auf den Seiten 326-336 eine umfassende Zusammenstellung
der älteren Forschung; Nördlich der Alpen hat sich vor allem Elke Goez in zahlreichen
Aufsätzen und Einzelstudien um die Erforschung der Markgräfin verdient gemacht.
21
principibus canusinis. Das zweite Buch, das die eigentliche Lebensbeschreibung
der Mathilde von Canossa enthält, hatte keinen eigenen Titel. Eingebürgert hat
sich die Bezeichnung Vita Mathildis für das Gesamtwerk erst durch Sebastian
Tengnagel, der 1612 die erste Edition des Werks vermutlich auf Basis der
Originalhandschrift, des Codex Vaticanus 4922, besorgte.2 Elke Goez geht
davon aus, dass „Donizo im Auftrag der Markgräfin oder wenigstens in engster
Abstimmung mit ihr schrieb, und die literarische Darstellung der Familiengeschichte
der Canusiner ebenso wie deren optische Vergegenwärtigung in den
Miniaturen bis ins Detail mit Mathilde abgesprochen war.“3 Aus dem
Widmungsschreiben, das Donizo seinem Werk voranstellte, geht klar die
Absicht des Verfassers hervor. Er habe die canusinische Memoria schriftlich
verewigen wollen, damit die glänzenden Taten der Canusiner und der Ruhm der
Markgräfin nicht in Vergessenheit gerieten.4 Die Intention des Autors, eine
Memoria zu verfassen, muss bei der Interpretation der Vita Mathildis berücksichtigt
werden. Sein Bestreben, das Leben und die Taten seiner Herrin zu
verewigen, führte zur Stilisierung und Überhöhung der Markgräfin zur uneigennützigen
Unterstützerin des Papstes und der Reformkirche und überaus großzügigen
Förderin von Kirchen und Klöstern. Tatsächlich sah sich der Mönch mit
der Aufgabe konfrontiert, eine Frau zu porträtieren, die alle Aufgaben des
herrschenden kriegerischen Adels wahrnahm und damit aus christlicher Sicht
die Grenzen der Geschlechterrollen sprengte, und gleichzeitig den Anforderungen
und Idealen einer Vita zu genügen. Dieser Spagat musste zwangsläufig zu
Auslassungen, Verformungen und Verzerrungen führen. Prominentes Beispiel
sind die beiden Ehen der Markgräfin, die der Autor in seiner Geschichtsdichtung
mit keinem Wort erwähnt, da sie das stilisierte Bild der Markgräfin erheblich
stören würden. Freilich diente in Zeiten fortschreitender Verschriftlichung ein
Geschichtswerk dieser Dimension nicht ausschließlich der Memoria und der
Bewahrung der auf Canossa gepflegten Erinnerungen, sondern fungierte auch
als ein politisches Instrument und sichtbares Zeichen canusinischer
Fürstenmacht. In ihm fand auch die Herrschaftsauffassung Mathildes ihre letztgültige
Ausgestaltung. In der Folge sollen einzelne Elemente herausgegriffen
werden, die dazu geeignet sind, die ideologischen Konstrukte um Mathildes
Herrschaft sichtbar zu machen.
Donizo widmet sein Werk der Magnificentissimae atque Dei gratia
invictissimae inter orthodoxarum choro associandae dominae Matildi.5 Man ist
verleitet, in diesen Zeilen bloßes Herrscherlob zu sehen. Tatsächlich enthält das
Widmungsschreiben eine Reihe von Topoi und Wendungen, die der Panegyrik
2 Elke Goez, Mathilde von Canossa – Herrschaft zwischen Tradition und Neubeginn. In: Vom
Umbruch zur Erneuerung? Das 11. und beginnende 12. Jahrhundert, hg. von Jörg Jarnut und
Matthias Wemhof. München 2006, 331, Anm. 59.
3 Goez, Mathilde 127.
4 Donizo von Canossa, Vita Mathildis comitissae. Faksimile Ausgabe des Codex Vaticanus
Latinus 4922. Kommentarband. Zürich 1984, Incipit Epistola 46.
5 Donizo, Incipit Epistola 46.
22
zuzuordnen sind, dennoch wäre es verfehlt, diese Zeilen als inhaltsleere Floskeln
zu betrachten. Sie weisen bereits auf die Herrschaftsauffassung hin, die sich am
canusinischen Hof entwickelt hatte. Während in der Historiographie der Zeit
magnificentissima als ein für Frauen durchaus gebräuchliches Attribut angesehen
werden kann, ist das Epitheton invictissima ungewöhnlich, ja geradezu
einzigartig und übersteigt das übliche Maß an Panegyrik bei weitem. Es bedarf
daher einer eingehenden Untersuchung, umso mehr als in der deutschen Übersetzung
der Vita Mathildis das Epitheton wenig geglückt mit dem Adjektiv
„unübertroffen“ wiedergegeben wird6 und dadurch nicht die ganze Bandbreite
an Bedeutungsmöglichkeiten deutlich wird, die an dieser Stelle ausgelotet werden
sollen. Dazu ist es jedoch erforderlich, sich mit der langen Tradition des
Begriffes auseinanderzusetzen, um Kontinuitäten und Bedeutungszusammenhänge
sichtbar zu machen.
Das Attribut invictus war bereits in der Römischen Republik als Ehrentitel
für den siegreichen Feldherrn gebräuchlich. Später griffen auch die Römischen
Kaiser das Prädikat auf. So ließ sich etwa Augustus als Caesar invictus feiern
und in der Geschichtsschreibung des Sueton beanspruchte Tiberius nach der
Niederwerfung des pannonischen Aufstandes den Titel invictus. Mit Kaiser
Commodus wird das Attribut schließlich Teil der formelhaften Trias pius – felix
– invictus, drei Begriffe, die einander in ihrem ideengeschichtlichen Gehalt
ergänzen und die militärische Konnotation der Invictie durch kultische
Vorstellungen vervollständigen.7 Im spätantiken Kaiserkult war das Attribut
längst imperiale Domäne und wurde in seiner Elativform sowohl von christlichen
als auch heidnischen Kaisern beansprucht. Es handelte sich außerdem um
ein rein männliches Ehrenprädikat, das nur ausnahmsweise in Zusammenhang
mit Frauen vorkommt, wenn das Herrscherpaar gemeinsam namentlich angeführt
wird.8
Von Bedeutung sind jedoch nicht nur die militärischen, religiösen und
kultischen Komponenten des Attributs, die moralische Qualität des Begriffs
darf ebenfalls nicht übersehen werden. In der Stoa bezeichnet die Invictie vor
allem die geistigen und sittlichen Qualitäten eines Menschen.9 Im dritten Buch
seiner Tusculanae disputationes schreibt Cicero über die Bewältigung von Leid
und Schmerz: Praeterea necesse est, qui fortis sit, eundem esse magni animi;
qui magni animi sit, invictum; qui invictus sit, eum res humanas despicere atque
6 Donizo, Widmungsschreiben 47.
7 Ausführlich bei: Max Imhof, Invictus. Beiträge aus der Thesaurusarbeit X. In: Museum
Helveticum 14 (1957) 197-215; Leo Berlinger, Beiträge zur inoffiziellen Titulatur der römischen
Kaiser: Eine Untersuchung ihres ideengeschichtlichen Gehaltes und ihrer Entwicklung.
Breslau 1935, 20-22; Franz Sauter, Der Römische Kaiserkult bei Martial und Statius.
Stuttgart 1934, 153-159.
8 Kurt-Ulrich Jäschke, Königskanzlei und imperiales Königtum im 10. Jahrhundert. In:
Historisches Jahrbuch 84 (1964) 313 f.
9 Sauter, Kaiserkult 155.
23
infra se positas arbitrari.10 Gegen Ende des fünften Buches seiner Schrift De
finibus bonorum et malorum preist Cicero den Weisen, der sich die sittlichen
Tugenden der Stoa zu eigen gemacht habe, und kritisiert die Laster
Ausschweifung, Habsucht und Grausamkeit, die er Tarquinius, Sulla und
Crassus zuschreibt. Er schließt mit den Worten: […], recte solus liber nec
dominationi cuiusquam parens nec oboediens cupiditati, recte invictus, cuius
etiamsi corpus constringatur, animo tamen vincula, inici nulla possint.11 Cicero
ist mit seiner eklektischen Haltung, in der sich auch platonische und skeptische
Elemente finden, kein reiner Stoiker. Seine Leistung liegt darin, dass er die
stoischen Ideen dem römischen Publikum zugänglich machte und als Mittler
zwischen der antiken Philosophie und dem Christentum fungierte.12 Die Verwendung
des invictus-Begriffes hat bei Cicero eine deutliche Entwicklung
durchgemacht. In den frühen Reden wird das Attribut in Zusammenhang mit
dem siegreichen Feldherren verwendet, später bezeichnet es den politischen
Führer, von dem Errettung von der Gefahr erhofft wird, um schließlich zu einem
Tugendbegriff zu werden, der auf jeden Menschen Anwendung findet.13
Nach dem Fall des Weströmischen Reiches lebte das Epitheton in Ostrom
weiter. Fallweise taucht es in den germanischen Nachfolgereichen auf, wie etwa
im nordafrikanischen Vandalenreich,14 aber auch in Italien finden sich Belege
für sein Fortleben. Aufgegriffen wurde es schließlich von der karolingischen
Geschichtsschreibung, um den Vorfahren Karls des Großen imperiales Kolorit
zu verleihen. Über die Historiographie fand es Eingang in die kaiserliche Kanzlei.
Es waren vor allem die Herrscher über Italien, die es als ehrendes Prädikat in
den Intitulationes ihrer Urkunden anführten, um auf die kaiserliche Oberhoheit
ihrer Väter hinzuweisen. So bezeichnete sich Lothar I. während seiner Regentschaft
in Italien als Hlotharius augustus invictissimi domni imperatoris Hludowici
filius.15
10 Cicero, Tusculanae disputationes III, 15: „Außerdem ist es notwendigerweise so, dass, wer
tapfer, auch hochherzig ist und dass, wer hochherzig, unbesiegbar ist; wer unbesiegbar ist,
der muss die menschlichen Angelegenheiten verachten und sie als unter sich liegend
betrachten.“ In: M. Tullius Cicero, Tusculanae disputationes, hg. und übers. von Ernst
Alfred Kirfel. Stuttgart 1997, 230 f.
11 Cicero, De finibus bonorum et malorum III, 75: „[…] zu Recht wird er alleine frei genannt,
der weder jemandes Herrschaft unterworfen ist noch einer Begierde gehorcht, zu Recht
unüberwindlich, dessen Seele man, auch wenn sein Leib gefesselt wird, doch nicht in Bande
schlagen kann.“ In: Marcus Tullius Cicero, De finibus bonorum et malorum, hg. und
übers. von Harald Merklin. Stuttgart 1989, 314 f.
12 Vgl. Friedrich Jodl, Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft. Bd. 1: Bis zum
Schlusse des Zeitalters der Aufklärung. Darmstadt 1965, 101-106.
13 Imhof, Invictus 202 f.
14 Vgl. Roland Steinacher, Der vandalische Königshof als Ort der öffentlichen religiösen Auseinandersetzung.
In: Streit am Hof im frühen Mittelalter, hg. von Matthias Becher und Alheydis
Plassmann. Bonn 2011, 62 f.
15 Jäschke, Königskanzlei 315.
24
Auch in Italien selbst wurde das Epitheton als Attribut gesehen, das mit
der imperialen Würde und der Herrschaft über das regnum Italiae einherging.16
Nach dem Zusammenbruch der karolingischen Herrschaft in Italien griffen
König Hugo, der ebenfalls nach der Kaiserkrone strebte, und dessen Sohn und
Mitregent Lothar das Ehrenprädikat auf und führten es in ihren Diplomen. Nur
drei Jahre nach der erstmaligen Verwendung durch König Hugo taucht es auch
in der deutschen Königskanzlei auf. Laut Jäschke handelte es sich dabei um
keinen Zufall. Er hält es für wahrscheinlich, dass man in der deutschen Kanzlei
bewusst auf die Usurpation des kaiserlichen Attributs reagiert habe. Heinrich I.
habe in den ersten Jahren seiner Herrschaft das invictissimus-Prädikat ausdrücklich
unterdrückt, nach der Konsolidierung des Reiches nach innen habe man
aber begonnen, bewusst an karolingische Traditionen anzuschließen. Das
Epitheton sei somit Ausdruck einer planmäßigen Hegemonialpolitik, die nach
der Herrschaft über Italien und der Kaiserkrone griff.17
Mit dem Regierungsantritt von Otto I. bricht die Verwendung des
Epithetons in Italien ab, aus der deutschen königlichen Kanzlei ist es aber nicht
mehr wegzudenken. Fortan findet es sich mit großer Regelmäßigkeit in den Urkunden
der deutschen Könige und Kaiser. Dennoch erstarrt der Begriff nicht zur
bloßen Formelhaftigkeit. Der bewusste und situationsbezogene Gebrauch des
invictissimus-Prädikats in der Signumszeile lässt sich anhand der Urkunden
Heinrichs IV. veranschaulichen.18 In der Zeit seiner Minderjährigkeit findet sich
das Prädikat nur ausnahmsweise. Dabei handelt es sich überwiegend um
Übernahmen aus älteren Vorlagen sowie um Urkunden, die außerhalb der
königlichen Kanzlei angefertigt wurden.19 Es ist sicherlich kein Zufall, dass der
ständige Gebrauch erst nach der Volljährigkeit des Königs nachweisbar ist. Vor
der Erlangung der vollen Waffenfähigkeit kann der junge König die Invictie
nicht für sich beanspruchen. Bereits die erste Urkunde, die nach der Schwertleite
Heinrichs IV. am 19. März 1065 ausgestellt wurde, enthält das invictissimus-
Prädikat.20 Ab Oktober 1069 wird seine Verwendung zur Regel.21 In der
Forschung wird hier über einen möglichen Zusammenhang mit Heinrichs Sieg
über den Markgrafen Dedi spekuliert.22 Der Hinweis auf die Invictie in der
Signumszeile wird jedoch nicht zur inhaltsleeren Floskel. In sechs Urkunden,
deren Ausfertigung zwischen dem 20. Mai 1073 und dem 18. Jänner 1074
16 Ebd. 316.
17 Ebd. 325-327.
18 Brigitte Merta, Die Titel Heinrichs II. und der Salier. In: Intitulatio III. Lateinische Herrschertitel
und Herrschertitulaturen vom 7. bis zum 13. Jahrhundert, hg. von Herwig Wolfram
und Anton Scharer (= MIÖG Ergänzungsband XXIX) Wien 1988, 193; Jäschke, Königskanzlei
319.
19 Vgl. beispielsweise Monumenta Germaniae Historica, Diplomata Heinrici IV. Nr. 8, 9, 10,
11, 12, 33, 34, 36a, 76, 79, 82, 83, 84 mit Vorbemerkung.
20 Ebd. Nr. 140.
21 Ebd. Nr. 226, ausgestellt am 27. Oktober in Merseburg.
22 Ebd. Vorbemerkung LXVII f. sowie LXXXVIII.
25
erfolgte, wurde das invictissimus durch humillimus ergänzt.23 Ein Zusammenhang
mit den Ereignissen auf der Fastensynode von 1073, bei der mehrere
Ratgeber des Königs aufgrund päpstlicher Simonievorwürfe mit dem Kirchenbann
belegt beziehungsweise bedroht wurden, kann nicht ausgeschlossen werden.
24 Unter dem Eindruck der Sachsenkriege sah sich der König gegenüber
dem Papst zum Einlenken gezwungen, was sich möglicherweise auch darin
äußerte, dass er seinen Anspruch auf die Invictie mit Hilfe des Zusatzes
humillimus zu relativieren suchte.25 Es gibt allerdings noch weitere Belege für
den flexiblen Gebrauch des invictissimus-Prädikats. Auch in der ersten Urkunde,
die Heinrich nach seinem Zusammentreffen mit Papst Gregor VII. in Canossa
ausfertigen ließ, fehlt das Attribut,26 obwohl es danach wieder regelmäßig aufscheint.
Man kann wohl davon ausgehen, dass der König noch unter dem
Eindruck der Ereignisse von Canossa vorübergehend bewusst darauf verzichtete,
den Anspruch auf die Invictie zu erheben.
Nach der Kaiserkrönung verschwindet das Epitheton zunächst. Der
Königstitel wird zwar noch eine Weile weitergeführt, die Signumszeile lautet
aber bald mit Variationen: Signum domni Heinrici tercii Romanorum imperatoris
augusti.27 Hinweise auf die Invictie des Herrschers sind selten und meist mit
der kanzleifremden Entstehung der betreffenden Urkunde zu erklären. Sie taucht
indessen in jener Urkunde auf, in der Heinrich Mathildes Verkauf des Gutes
Donceel durch ihren Dienstmann Rangerius von Briey an das Kloster Saint-
Jacques in Lüttich bestätigt.28 Der heute nicht mehr lokalisierbare Hof Donceel
gehörte zu Mathildes lothringischem Erbe und war vermutlich zu abgelegen, um
ihn dauerhaft halten zu können.29 Allerdings stellt sich die Frage, ob der Kaiser
seinen Anspruch auf die Invictie gegenüber Mathilde besonders hervorstreichen
wollte, zumal keine weitere Urkunde aus dem Jahr 1088 das Prädikat enthält.
Dem wäre das Fehlen des Attributs in einer anderen Urkunde, die sich ebenfalls
auf Mathilde bezieht, entgegenzuhalten. Darin schenkt Heinrich IV. dem
Bischof von Verdun die ebenfalls aus dem lothringischen Erbe stammenden
Güter Mousay und Stenay, welche er der Markgräfin entzogen hatte, dem
Bischof von Verdun. Bei der betreffenden Urkunde handelt es sich jedoch um
eine Verunechtung. Die „räumliche Anordnung des Eschatokolls“ entspricht
23 Ebd. Nr. 258, 259, 260, 264, 265, 267.
24 Merta, Die Titel Heinrichs II. 193; sowie Jäschke, Königskanzlei 319.
25 Vgl. die in MGH Diplomata Heinrici IV. Vorbemerkung LXVII f. sowie LXXXVIII vertretene
Ansicht: Hier wird die Abweichung von der sonst üblichen Formel als „Ausdruck
einer tiefgegründeten Überzeugung oder als Rechtfertigung, nicht aber als Spiegel einer
augenblicklichen Stimmung“ gedeutet.
26 Ebd. Nr. 286, ausgestellt am 17. Februar 1077 im Zuge der Abhaltung des Königsgerichts
in Piacenza.
27 Vgl. ebd. Vorbemerkung LXXXVIII.
28 Ebd. Nr. 398, ausgestellt am 23. April 1088 in Aachen.
29 Vgl. Elke Goez, Beatrix von Canossa und Tuszien. Eine Untersuchung zur Geschichte des
11. Jahrhunderts (= Vorträge und Forschungen, Sonderband 14) Sigmaringen 1995, 37 f.;
sowie Goez, Mathilde 119.
26
nicht dem Original und auch der Inhalt der Urkunde dürfte in weiten Teilen eine
stilistische Überarbeitung erfahren haben.30
Beachtenswert ist das vermehrte Auftauchen des invictissimus-Prädikats
in den Jahren von 1090 bis 1096.31 Der Gedanke liegt nahe, dass Heinrich seinen
Anspruch auf hegemoniale Stellung während seines Italienzuges, der sich vor
allem gegen Mathilde von Canossa richtete,32 besonders hervorstreichen wollte.
In der in Rivalta ausgestellten Urkunde von 1090 erscheint das Epitheton gleich
zwei Mal, nämlich in der Signumszeile und in der Intitulatio.33 Heinrichs
militärische Erfolge waren zunächst tatsächlich beeindruckend. Die kommunale
Bewegung geschickt für sich nutzend, veranlasste er die Bürgerschaften der
oberitalienischen Städte zum Überlaufen auf die kaiserliche Seite. Das Osterfest
des Jahres 1091 beging er in Mantua, das mit seinem Umland zu den mathildischen
Herrschaftszentren gehörte. Bis zum Herbst desselben Jahres konnte der
Kaiser fast das gesamte Gebiet nördlich des Po unter seine Kontrolle bringen.
Mathilde leistete hartnäckig Widerstand, das markgräfliche Heer wurde jedoch
bei Tricontai vernichtend geschlagen. Im Sommer 1092 wagte der Kaiser
schließlich den Vorstoß nach Süden, überquerte den Po und rückte zu Mathildes
Apenninenfestungen vor. Hier aber geriet der Kaiser nach anfänglichen Erfolgen
in Bedrängnis. Heinrichs militärische Schwäche zeigte sich spätestens nach seinem
erfolglosen Versuch, im Oktober 1092 Canossa und die umliegenden Burgen
der Markgräfin einzunehmen. In der Folge gelang es Mathilde, Heinrich
nach Norden zurückzudrängen, wo er schließlich in der Umgebung von Verona
eingekesselt verharren musste, bis ihm nach zähen Verhandlungen die Alpenpässe
geöffnet wurden und 1097 seine Rückkehr nach Deutschland möglich war.
Darüber hinaus rebellierte 1093 Konrad, Heinrichs ältester Sohn und designierter
Nachfolger, und wechselte die Seiten.34 Umso erstaunlicher ist der
Wortlaut der Signumszeile in der Urkunde zugunsten des Bischofs von Modena,
die zwar undatiert ist, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit den Jahren 1093/94
zugeordnet werden kann: Signum domni Heinrici invictissimi Romanorum
imperatoris atque piissimi semperque triumphatoris in virtute dei omnipotentis.
35 Die Formulierung muss angesichts der misslichen Lage eher als
Ausdruck von Wunschdenken qualifiziert werden, als dass „sie ein realistisches
Bild der damals recht düsteren Lage des Kaisers entwirft“.36
30 MGH Diplomata Heinrici IV. Nr. 373 mit Vorbemerkung.
31 Ebd. Nr. 413, 414, 417, 421, 423, (†425), 427, (†428), 430, 434, 435, 436, 437, 438, 440,
442, 445, 446, 447, 450, 451, 452.
32 Vgl. Hay, Military Leadership 127.
33 MGH Diplomata Heinrici IV. Nr. 414: Die Intitulatio lautet Heinrici dei gratia invictissimi
imperatoris argumentum pietatis.
34 Vgl. Hay, Military Leadership 133-148; Tilman Struwe, Mathilde von Tuszien-Canossa
und Heinrich IV. Der Wandel ihrer Beziehungen vor dem Hintergrund des Investiturstreites.
In: Historisches Jahrbuch 115 (1995) 67-81.
35 MGH Diplomata Heinrici IV. Nr. 438.
36 Merta, Die Titel Heinrichs II. 193.
27
Wie ist nun der Gebrauch des Epithetons in der Vita Mathildis durch den
Kleriker Donizo zu bewerten? Mehrere Deutungsmöglichkeiten bieten sich an.
Zunächst kann vermutet werden, dass hier eine bewusste Anknüpfung an antike
Traditionen vorliegt. Der Autor war ohne Zweifel sehr gebildet. Er war nicht nur
mit dem Kanon christlicher Texte vertraut, sondern kannte auch zahlreiche
Werke der klassischen antiken Literatur.37 Die Titulatur antiker Herrscher dürfte
ihm ebenfalls geläufig gewesen sein. Das Aufgreifen eines Ehrenprädikats, das
die Herrscher über Italien schon Jahrhunderte vor Mathilde verwendet hatten,
verlieh Mathildes eigenen Ansprüchen größere Autorität. Eine ähnliche Funktion
hatte auch Mathildes Betonung ihrer Abstammung und Berufung auf ihre
Vorfahren, denen das gesamte erste Buch der Vita Mathildis gewidmet ist. Es
stellt sich jedoch die Frage, ob eine bloße Anknüpfung an antike Traditionen für
die Aneignung eines rein männlichen Prädikats, das zuvor ausschließlich
Königen und Kaisern zugewiesen worden war, ausreichend war.
Angesichts der historischen Ereignisse darf eine militärische Interpretation
des Begriffs nicht ausgeschlossen werden. Nach heftigen Auseinandersetzungen
war es Mathilde gelungen, Heinrich IV. militärisch in die Schranken
zu weisen und ihn dauerhaft aus Italien zu vertreiben. Mit diesem Sieg wurde
die hegemoniale Stellung des deutschen Königs in Italien, die ihren äußeren
Ausdruck unter anderem in der Verwendung des invictissimus-Prädikats fand, in
Frage gestellt. Donizo kann also mit Recht den hegemonialen Ambitionen der
deutschen Könige das invictissima der Mathilde entgegenhalten. Damit verlässt
er die Ebene des Herrscherlobs und das Attribut wird zur bewussten politischen
Stellungnahme und nachträglichen Herausforderung. Inhaltlich spannt der Autor
mit Mathildes Invictie einen Bogen zum Ende seines Werkes. In seinem Nachruf
auf Mathilde, der unmittelbar nach ihrem Ableben entstand, fasst er die Leistungen
und Qualitäten der Markgräfin zusammen. Er hält fest, dass sie Könige
und alle, die sich ihr entgegenstellten, besiegt habe: Vicisti reges, tibi cunctos
atque rebelles.38 Diese Formulierung ist zunächst als Anspielung auf die kriegerischen
Auseinandersetzungen zwischen Mathilde und Heinrich IV., aus
denen Mathilde siegreich hervorging, zu bewerten. Doch der Autor spricht hier
unmissverständlich im Plural. Aus canusinischer Sicht hatte sie also mehr als
einen König besiegt. Dabei kann es sich eigentlich nur um Heinrich V. handeln,
obwohl Mathilde diesen nie militärisch bezwungen hatte. Aber möglicherweise
war es ihr gelungen, einen Verhandlungssieg zu erringen, nachdem der König
1110/1111 über die Alpen nach Italien gezogen war, um sich zum Kaiser krönen
zu lassen. Heinrich soll dabei eine Spur der Verwüstung in der Lombardei hinterlassen
haben, und Mathilde musste sich in ihre Burgen im Apennin zurückziehen.
Die Reichsacht, die Heinrich IV. 1081 über sie verhängt hatte, war nie
37 Paolo Golinelli, Donizone e il suo poema per Matilde. In: Donizone, Vita di Matilde di
Canossa. Edizione, traduizone e note di Paolo Golinelli. Mailand 2008, IX f.
38 Donizo II, v. 1426.
28
aufgehoben worden, trotzdem herrschte sie noch immer über die riesigen
Reichslehen, ohne je förmlich mit ihnen belehnt worden zu sein.39
Donizo erzählt nun, dass man von königlicher Seite Kontakt mit der
Markgräfin aufgenommen hätte.40 Mathilde habe daraufhin Canossa verlassen
und in Bianello sei es schließlich zu Verhandlungen mit Abgesandten des Königs
gekommen: Tunc valide docta linquens Comitissa Canossam, / Forte vel
excelsum pervenit Bibianellum, / Regis cum missis magnis, ibi plurima dixit; / Et
de pace loquens, de regis honore suoque, / Utraque pars tandem pacem laudavit
eandem.41 Dass in Bianello eine Art Stillhalteabkommen geschlossen wurde, das
sowohl Mathilde als auch Heinrich nützte, geht aus diesen Zeilen eindeutig
hervor. Der König konnte in der Folge ungehindert und ohne Verzögerung nach
Rom ziehen, während Mathilde keine weitere militärische Konfrontation auf
sich nehmen musste.42 Allerdings erwähnt Donizo auch, man habe über die Ehre
des Königs und die Ehre der Markgräfin gesprochen. Die Interpretation dieser
Stelle ist insgesamt schwierig, da es keine Quellenbelege gibt, die den Inhalt der
Gespräche Mathildes mit den Abgesandten des Königs präzisieren. Ein Teil der
Forschung geht jedoch davon aus, dass über die Wiedereinsetzung Mathildes in
ihre Reichslehen verhandelt wurde.43 Zumindest aber wird ihr Status in Oberitalien
im Verhältnis zum Reich zur Debatte gestanden sein, darauf würde jedenfalls
die Formulierung de regis honore suoque hinweisen.
Als Heinrich V. im Frühjahr des Jahres 1111 nach den Turbulenzen im
Zuge seiner Kaiserkrönung aus Rom zurückkehrte, traf er persönlich mit Mathilde
in Bianello zusammen. Donizo berichtet, die Verhandlungen hätten drei
Tage gedauert und es wäre zum Abschluss eines Vertrages gekommen, dessen
Inhalt er uns jedoch nicht überliefert. Allerdings soll der Kaiser Mathilde zur
Vizekönigin von Ligurien ernannt und sie als Mutter bezeichnet haben: Huic
promsit similem se rex nunquam reperire; / Cui Liguris regni regimen dedit in
vice regis; Nomine quam matris verbis claris vocitavit. / Tresque dies secum
faciens firmum quoque foedus.44 Diese Zeilen gehören vermutlich zu den meist
diskutierten Quellenstellen der Vita Mathildis. Elke Goez verneint die Möglichkeit,
dass der Kaiser Mathilde zur Reichsverweserin für das regnum Italiae
ernannt hätte. Fest steht auch, dass zu dieser Zeit ein Vizekönigtum in Italien
nicht existierte. Die geographische Verortung des Begriffes ‚Ligurien‘ ist ebenso
39 Goez, Mathilde 176 f.
40 Donizo II, vv. 1154-1158: Arcibus in claris stabat tunc ipsa Ducatrix. / Ultramontani proceres,
multi quoque clari, / Ad quam venere miraturi mulierem; / Pace laborabat pro cuius
rexque flagrabat: / Usque Tari ripam venit rex pace petita.
41 Donizo II, vv. 1159-1163.
42 Goez, Mathilde 177; Golinelli, Mathilde 290.
43 Carlo Guido Mor, Il vicariato italiano di Matilde. In: Studi Matildici II. Atti e memorie di
2’ Convegno di studi matildici, Modena-Reggio Emilia, 1.–3. Mai 1970. Modena 1971, 78;
Paolo Golinelli, Matilde ed Enrico V. In: I poteri dei Canossa da Reggio Emilia all’
Europa. Atti del convegno internazionale, Reggio Emilia-Carpineti, 29.-31. Oktober 1992,
hg. von Paolo Golinelli. Bologna 1994, 467; Goez, Mathilde 179.
44 Donizo II, vv. 1254-1257.
29
umstritten. Die gleichnamige Kirchenprovinz des Erzbistums Mailands kann
ausgeschlossen werden. Elke Goez hält somit die Verleihung eines Vizekönigtums
an Mathilde für Wunschdenken des Verfassers.45 Möglicherweise wollte
Donizo nur eine Klimax konstruieren, die sich von Siegfried, dem Stammvater
der Canusiner, über Adalbert Atto, den treuen Vasallen der deutschen Könige,
und den mächtigen Bonifaz zur ‚Königin‘ Mathilde erstreckte, um das Leben
seiner Herrin entsprechend zu würdigen.46 Für diese Annahme sprechen auch die
Miniaturen des Codex Vaticanus Latinus 4922. Die Bilder zeigen die Vorfahren
der Markgräfin und steigern sich in ihrer Ausgestaltung bis zur Markgräfin
selbst, die auf einem reich verzierten Thron sitzend mit prächtigem Herrschermantel
und Haubenkrone dargestellt ist. Damit wird dem Betrachter suggeriert,
die Herrschaft der Canusiner hätte sich „kontinuierlich gesteigert“ und mit
Mathilde nahezu „königsgleichen Rang erreicht“47
Am wahrscheinlichsten ist die von Elke Goez vertretene These, Heinrich
V. habe Mathilde wieder in den Kreis der Großen aufgenommen, ihr aber keine
konkrete Funktion oder gar einen Titel verliehen. Als Gegenleistung könnte sie
Heinrich V. zum Erben ihrer Güter eingesetzt haben. Dafür spräche die Passage,
in der Donizo erzählt, der Kaiser habe Mathilde als Mutter bezeichnet und damit
auf die verwandtschaftliche Beziehung der beiden und die daraus resultierende
Rechtmäßigkeit seines Anspruches hingewiesen.48 Der Historiker Eugenio
Riversi hingegen schlägt einen genderorientierten Ansatz zur Interpretation
dieser Passage vor. Er ist der Ansicht, Donizo habe Mathilde mit der Bezeichnung
als Mutter in die Tradition der greisen Frauen des Alten Testaments
gesetzt, die trotz ihrer altersbedingten Unfruchtbarkeit noch ein Kind zur Welt
brachten. Damit habe er die Kinderlosigkeit der Markgräfin und die Tatsache,
dass sie die Geschlechterrolle einer adeligen Frau, die das Gebären von Kindern
miteinschloss, nicht erfüllte, ausgeglichen. Wie eingangs bereits erwähnt, war
sie weder vorbildliche Ehefrau, noch hatte sie Söhne geboren und damit zum
Erhalt der Dynastie beigetragen.49 Er übersieht allerdings, dass Mathildes
Unfruchtbarkeit nicht wie bei den biblischen Urmüttern von Gott durch ein
Wunder aufgehoben wurde. Falls Donizo bei der Verwendung des Ausdrucks
mater an biblische Vorbilder dachte, dann deshalb, weil Mathilde in biblischem
Gottvertrauen ihre Fruchtbarkeit Gottes Willen anheimstellte. Ihre Kinderlosigkeit
ist damit kein Versagen sondern Gottes Wille.
Die Deutungsversuche sind vielfältig, doch sie schließen einander nicht
unbedingt aus. Donizos Zeilen sind gleichzeitig Klimax einer wechselvollen
45 Goez, Mathilde 179 f.
46 Riversi, Tensioni 266.
47 Goez, Herrschaft 333.
48 Goez, Mathilde 179 f.
49 Eugenio Riversi, Das Bündel der Gegensätze: Mathilde von Tuszien zur Überprüfung des
begrifflichen Geflechts von Geschlechterrollen und Genderkonzept. In: Geschlecht in der
Geschichte. Integriert oder separiert? Gender als historische Forschungskategorie hg. von
Aline Bothe und Dominik Schuh. Bielefeld 2014, 202.
30
Familiengeschichte, Ausdruck einer politischen Übereinkunft mit dem Reich,
wie auch immer diese ausgesehen haben mag, und möglicherweise auch
Versöhnung mit dem zeitgenössischen weiblichen Rollenverständnis, indem
Mathilde gegen Ende ihres Lebens doch noch die Funktion einer Mutter
zugewiesen wird. Vor allem aber geben Donizos Zeilen Auskunft über Mathildes
Herrschaftsauffassung. Im Rückblick hatte sie ihre Herrschaft in Oberitalien
gegen die hegemonialen Bestrebungen zweier Könige erfolgreich verteidigt.
Sie hatte Heinrich IV. am Schlachtfeld besiegt und, zumindest aus ihrer Sicht,
gegenüber Heinrich V. einen Verhandlungssieg davongetragen. Somit konnte
Donizo zu Recht mit seinem vicisti reges Bezug auf die im Widmungsschreiben
angeführte Invictie nehmen.
Dennoch darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Invictie aufgrund
ihrer militärischen Konnotation ein Attribut ist, das bislang ausschließlich
Männern zugewiesen worden war. Die Zuschreibung eines männlichen Ehrenprädikats
durch den Mönch Donizo ist daher als höchst ungewöhnlich einzustufen,
wenngleich sie aus heutiger Sicht durch die kriegerischen Leistungen der
Markgräfin durchaus begründet erscheinen mag. Dem mittelalterlichen Autor
hingegen bereiteten Mathildes Verdienste sicherlich Schwierigkeiten, denn als
Herrscherin und Kriegsherrin überschritt sie die ihr zugewiesene Geschlechterrolle,
wie Bonizo von Sutri im siebenten Kapitel seiner Schrift Liber de vita
christiana, das sich vermutlich unmittelbar gegen Mathilde richtete,50 unmissverständlich
und wortreich klarstellt.51 Allerdings waren die Grenzen zwischen
Männlichkeit und Weiblichkeit im Mittelalter deutlich unschärfer als in der Neuzeit.
Geschlecht ist eine relationale Größe, die im Mittelalter vor allem im Zusammenhang
mit den Kategorien Stand, Herkunft, Gruppenzugehörigkeit und
Alter zu betrachten ist.52 Von adeligen Frauen wurde durchaus erwartet, dass sie
männliche Verpflichtungen übernahmen, wenn dies erforderlich war. Dazu
zählten auch militärische Aufgaben als Teil der Herrschaftssicherung. In dieser
Hinsicht sind Mathildes kriegerische Unternehmungen keine singuläre Erscheinung.
Mindestens zwei weitere Frauen der herrschenden Schicht waren im
Italien des 11. Jahrhunderts militärisch aktiv. Die Beteiligung Sichelgaitas von
50 John A. Dempsey, From Holy War to Patient Endurance: Henry IV, Matilda of Tuscany,
and the Evolution of Bonizo of Sutri’s Response to Heretical Princes. In: War and Peace.
Critical Issues in European Societies and Literature 800–1800, hg. von Albrecht Classen
and Nadia Margolis. Boston 2011, 220 f.
51 Bonitho Sutrinus, Liber de vita christiana, hg. von Ernst Perels. Berlin 1930, 249: De
mulieribus vero Romanis legibus sanccitum est, ut non ducatus teneant nec iudicatus regant.
Quamvis enim Romanum imperium a paganis sumpsisse exordium, leges tame nab eis
promulgate legibus Moysi et ipsius Domini videntur quodammodo concordare; sowie 251:
Maritata est, diligat virum, sub eius tremescat imperio, filios nutriat, sue domus curam
gerat, bella horrescat, armatos formidet, pacem diligat, pensa et colum et fusos et stamina,
linum lanamque et sericum gestet in manibus, de expeditionibus vero ordinandis non
magnopere curet.
52 Bea Lundt, Das Geschlecht von Krieg im Mittelalter. In: Krieg im mittelalterlichen Abendland,
hg. von Andreas Obenaus und Christoph Kaindl. Wien 2010, 419.
31
Salerno (1040–1090) an mehreren militärischen Operationen kann als gesichert
gelten.53 In welchem Ausmaß die Markgräfin Adelheid von Turin († 1091), die
ebenfalls als Vermittlerin zwischen Papst Gregor VII. und König Heinrich IV.
fungierte, militärische Aufgaben wahrnahm, ist derzeit nicht endgültig erforscht.
Gesichert ist jedenfalls ihr Feldzug gegen die Stadt Asti, von dem auch der
Chronist Arnulf von Mailand berichtet.54
Donzio verfasste die canusinische Memoria im Spannungsfeld zwischen
christlicher Doktrin und adeliger Wirklichkeit. Nur Mathildes militärische Überlegenheit
zu betonen, hätte den Anforderungen seiner Vita nicht entsprochen.
Daher wäre es zu kurz gegriffen, das invictissima-Epitheton auf seine militärisch-
politische Bedeutung zu reduzieren. Auch der Zusammenhang der Textstelle
macht klar, dass nicht nur Mathildes kriegerische Erfolge und ihr Verhandlungsgeschick
gegenüber den deutschen Königen betont werden sollten,
sondern vor allem auch ihre moralischen Qualitäten. Mathilde sei zu jenen zu
zählen, die aufrechten Glaubens sind, schreibt der Kleriker in demselben Satz, in
dem er auch das invictissima-Prädikat verwendet.55 Daher ist an dieser Stelle
auch die moralische Qualität der Invictie zu berücksichtigen. In der Deutung
Ciceros zählen dazu die Beherrschung von Affekten und die Geringschätzung
menschlicher Angelegenheiten.
Dazu passt, dass Donizo im anschließenden Prolog Mathildes Tugenden
aufzählt. Er rühmt ihre Klugheit, ihr maßvolles Handeln, ihre Gerechtigkeit und
ihre Stärke.56 Dieser Tugendkatalog erinnert an die vier Kardinaltugenden ciceronischer
Prägung, nämlich prudentia, temperantia, iustitia und fortitudo, die
Cicero im ersten Buch seines Spätwerks De officiis formulierte. Diese Schrift
basiert zu einem großen Teil auf dem verlorengegangen, gleichnamigen Werk
des griechischen Stoikers Panaitios von Rhodos, ist aber auch von den Ideen
Platons beeinflusst. Das Christentum wurde nicht unerheblich von der Stoa
beeinflusst, als deren Vermittler Cicero auftrat. Bis zum Beginn des dritten
nachchristlichen Jahrhunderts zählte sie zu den wichtigsten philosophischen
Strömungen im Römischen Reich. Deshalb bemühte man sich bereits im frühen
Christentum, die christlichen Lehren mit den Leitsätzen der Stoa in Einklang zu
bringen. Dieser Versuch war jedoch aufgrund fundamentaler Gegensätze in
53 Eads Valerie, Sichelgaita of Salerno. Amazon or Trophy Wife? In: Journal of Medieval
Military History 3 (2005) 72-87.
54 Arnulf von Mailand, Liber Gestorum Recentium. Hg. von Claudia Zey. MGH Scriptores
rer. Germ. in usum scholarum. Hannover 1994, III 7, 173: Per idem tempus ad instar
Papiensium Astenses quoque datum sibi reprobarunt episcopum, set prudentia comittisse
Adeleide, militaris admodum domine, post longi temporis conflictus, incensa tandem urbe,
contempto altero quem elegerant, priorem suscipiunt.
55 Donizo, Incipit epistola 46: Magnificentissimae atque Dei gratia invictissimae inter orthodoxarum
choro associandae […].
56 Donizo, Prologus, vv. 41-47: Latius ista viget, virtutes quatuor illae / Largifluae degunt
omni quia tempore secum. / Alta regens iustos regit hanc prudentia cunctos; / Discrete
vadit, sua temperat acta ducatrix; / Exercet valde pietatem iusticiamque; / Iudicis observat
caelestis iura timenda; / Fortis in adversis, minus est elata secundis.
32
vielen zentralen Thesen zum Scheitern verurteilt.57 Trotzdem blieb die Stoa
nicht ohne Wirkung auf das Christentum. Es war vor allem die stoische Tugendlehre,
die in christlichen Schriften nachwirkte.58 Im lateinischen Westen gelangte
sie über die Vermittlung Ciceros in christliche Lehren. Hier sind vornehmlich
die Werke De officiis und De inventione zu nennen, da diese im lateinischen
Westen besonders häufig rezipiert wurden. Sie lieferten einen reichen Fundus an
ethischen und moralischen Lehrsätzen, aus dem christliche Dogmatiker
schöpfen konnten. Natürlich waren vom christlichen Standpunkt aus die antiken
Bildungsgüter unvollkommen, so auch Ciceros Tugendlehre. Deshalb musste sie
zuerst geprüft werden, das Unbrauchbare wurde verworfen und das Übernommene
in einen neuen Zusammenhang gestellt.59 Nichtsdestoweniger pries der
christliche Apologet Laktanz die Stoa gerade wegen ihrer Tugendlehre. In seinen
Schriften beruft er sich vor allem auf Cicero und Seneca.60 Auch der Kirchenvater
Ambrosius ist maßgeblich von der Stoa ciceronischer Prägung beeinflusst.
In seinem Werk De officiis schließt er unmittelbar an Ciceros
gleichnamige Schrift an. Die beiden Werke gleichen sich nicht nur im Titel
sondern auch in Struktur, Aufbau und Inhalt. Ambrosius übernimmt zahlreiche
Ideen und Formulierungen direkt von Cicero. Dabei erfährt Ciceros Tugendlehre
eine erste umfassende christliche Bearbeitung und Ausgestaltung.61
Selbst Augustinus ist nicht unbeeinflusst von der Stoa, wenn auch nicht so
unmittelbar wie Ambrosius. Gott befindet sich immer im Zentrum seiner Morallehre,
denn das sittliche Böse steht nicht nur der Glückseligkeit entgegen, sondern
ist auch immer Abkehr von Gott. Die Sünde ist für ihn der freiwillige
Widerspruch gegen den göttlichen Willen und eine Störung der gottgegebenen
Weltordnung. Dennoch enthält seine Schrift De diversis quaestionibus Tugenddefinitionen,
die auf die Schriften Ciceros zurückgehen. Dazu zählen, unter anderem,
die prudentia, das Wissen um die guten und die bösen Dinge, die iustitia
als Neigung der Seele auf das Allgemeinwohl bedacht zu sein und jedem das
Seine zu geben, die fortitudo im Sinne des überlegten Eingehens von Gefahren
und der Erduldung von Leiden sowie die temperantia als Herrschaft der Vernunft
über Leidenschaften und niedrige Affekte. Wie Ambrosius übernimmt
auch Augustinus Ciceros Wertekatalog nicht uneingeschränkt, sondern bettet ihn
in sein metaphysisches Grundkonzept ein, in dessen Mittelpunkt die Liebe zu
Gott in seinen verschiedensten Ausprägungen steht. Er vertritt die Lehre von der
57 Vgl. Gérard Verberke, Saint Thomas et le Stoïcisme. In: Antike und Orient im Mittelalter,
hg. von Paul Wilpert (= Miscellanea Mediaevalia 1) Berlin 1962, 50.
58 Grundlegend zur Rezeption der Stoa durch das Christentum: Michel Spanneut, Permanence
du Stoïcisme. De Zénon à Malraux. Gembloux 1973, 130-209; idem, Le stoïcisme des
pères de l’Eglise. De Clément de Rome à Clément d’Alexandrie. Paris 1957; Johannes
Stelzenberger, Die Beziehungen der frühchristlichen Sittenlehre zur Ethik der Stoa. Eine
moralgeschichtliche Studie. München 1933.
59 Vgl. Spanneut, Permanence 190.
60 Vgl. Stelzenberger, Beziehungen 328-331.
61 Vgl. Maria Becker, Die Kardinaltugenden bei Cicero und Ambrosius: De officiis. Basel
1994.
33
Einheit der Tugenden, die in Wahrheit nur Ausprägung einer einzigen, nämlich
der Liebe zu Gott, seien. Zur natürlichen Befähigung des Menschen, sittlich
Gutes zu tun, müsse aber noch die göttliche Gnade kommen, da sie letztlich die
Triebkraft alles Sittlichen sei.62
In diesem Sinne muss auch Donizos Tugendkatalog verstanden werden.63
Die Klugheit nimmt darin den ersten Rang ein. Sie befähigt erst zur
Verwirklichung aller anderen Tugenden. Unter Klugheit wird nicht Wissen oder
Weisheit an sich, sondern die Kunst, sich richtig zu entscheiden und den Weg
des Guten zu beschreiten, verstanden. Als klug gilt derjenige, der seine Entscheidungen
auf seine Einsicht in die wirkliche Lage der gottgeschaffenen
Dinge abstimmt. Fehlt diese Einsicht, muss der Kluge sich belehren lassen. Zur
Klugheit gehört demzufolge auch die Gelehrigkeit, denn der Kluge muss zuerst
die Wirklichkeit erkennen, um entscheiden zu können, was gut ist und was getan
werden muss.64 Laut Donizo erwies sich Mathilde als gelehrig, indem sie auf
den Rat des Papstes und ihrer geistlichen Ratgeber hörte und deren Ratschlägen
auch Folge leistete. Wie Maria die Worte Christi, habe Mathilde die Worte
Gregors VII. aufmerksam und eifrig aufgenommen, erzählt der Historiograph.65
Über Mathildes Berater, den Bischof Anselm von Lucca, schreibt er, dass dieser
Mathilde unterwiesen habe und ihr mit gutem Beispiel vorangegangen sei.
Außerdem habe der Bischof sie ermahnt, dem Irrglauben zu widerstehen, also
nicht in das Lager des Königs zu wechseln. Die Markgräfin wiederum habe
dessen Ratschläge befolgt und sich vollkommen in den Dienst der Kirche
gestellt.66 In der älteren Forschung wurde Mathilde nachgesagt, sie wäre eine
Frau gewesen, die der Leitung anderer bedurft hätte.67 Ihr Berater Anselm von
Lucca wurde als planender Kopf und Organisator bezeichnet, während Mathilde
nur die Ausführende gewesen wäre.68 Mit einer derartigen Qualifizierung wird
der Politik Mathildes implizit die Eigenständigkeit abgesprochen. Die von
Donizo geschilderte Bereitschaft der Markgräfin, sich den Anweisungen ihrer
geistlichen Berater zu unterwerfen, ist jedoch als Topos zu qualifizieren. Ihre
Gelehrigkeit ist Teil des Konstrukts, das der mittelalterliche Historiograph entwickelte,
um Mathildes Tugendhaftigkeit und moralische Qualitäten hervorzuheben.
62 Vgl. Stelzenberger, Beziehungen 340-347.
63 Vgl. Riversi, Tensioni 268 f.
64 Vgl. Josef Pieper, Religionsphilosophische Schriften, Bd. 7. Hamburg 2000, 66 f. sowie 99
ff.
65 Donizo II, vv. 171-172: Auribus intentis capiebat sedula mentis / Cuncta patris dicta, ceu
Christi verba Maria.
66 Donizo II, vv. 287-290: Quam docuit dictis, regit exemplisque benignis, / Perversae sectae
monuitque resistere semper. / Conscilii magni vir hic angelus his fuit annis; / Conscilium
cuius sequitur Comitissa venustum.
67 Vgl. beispielsweise Werner Goez, Markgräfin Mathilde von Canossa. In: Lebensbilder aus
dem Mittelalter. Die Zeit der Ottonen, Salier und Staufer. Darmstadt 1998, 233.
68 Golinelli, Mathilde 207.
34
Mathilde, die sich aufgrund ihrer prudentia für das Gute entschieden hatte,
verwirklichte auch die Tugend der Gerechtigkeit. Denn nur der Gute kann
auch gerecht sein, und nur der Gerechte ist zu wahrer Gemeinschaft mit anderen
fähig. Er gesteht jedem das Seine zu und ist in der Beurteilung des anderen
unvoreingenommen.69 Donizo stilisiert Mathilde auf einzigartige Weise zur
Hüterin des Rechts und der Gerechtigkeit. Sie übe Gnade und Recht und selbst
halte sie sich an das göttliche Recht, rühmt er die Markgräfin im Prolog.70 Später
bezeichnet er sie als cultrix iusticiae71 und in seinem Nachruf würdigt er ihre
Leistungen als Bewahrerin des Rechts und konstatiert, dass mit Mathildes Tod
die ehrlichen Bräuche verschwänden.72 Elke Goez konnte nachweisen, dass die
Rechtsprechung tatsächlich eine große Rolle in Mathildes Herrschaftspraxis
spielte. Sowohl für Mathilde als auch für deren Mutter Beatrix war sie ein
wichtiges Instrument der Herrschaftssicherung. Beide Frauen führten regelmäßig
den Vorsitz in Gerichtssitzungen und ließen sich bei der Ausübung der
Rechtspflege von einer großen Anzahl gelehrter Juristen beraten. Vor allem in
Zeiten, in denen Mathilde mit Legitimationsproblemen konfrontiert war, verstärkte
sie die Rechtspflege, um Einflusssphären zu wahren oder zurückzugewinnen.
Eine derartige Intensivierung lässt sich insbesondere in der
Toskana feststellen, zunächst nachdem Heinrich IV. über Mathilde die
Reichsacht verhängt hatte, dann aber auch ab Mitte der 1090er Jahre, als die
Markgräfin den Versuch unternahm, das entfremdete Herrschaftsgebiet wieder
in ihren Machtbereich einzugliedern.73
Die iustitia ist wiederum Voraussetzung für die fortitudo. Für den
Kirchenvater Ambrosius besteht die fortitudo aus mehreren Komponenten. Er
unterscheidet zunächst zwischen kriegerischer und geistiger Tapferkeit.
Kriegerische Tapferkeit bestehe in der Abwehr von Unrecht. Was aber Unrecht
sei, unterliege der Beurteilung durch die prudentia. Vor allem die Unterscheidung
zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg obliege der prudentia, die als
Korrektiv fungiere und das Ausschlagen der fortitudo in blinde Tollkühnheit
oder Feigheit verhindere. Allerdings spiele beim Kampf gegen das Unrecht auch
der Glaube eine große Rolle. Der Sieg über das Unrecht könne nicht nur mit
Gewalt sondern auch mit den geistigen Waffen des Glaubens und der Seelenstärke
errungen werden. Vom christlichen Standpunkt müsse daher der geistigen
Tapferkeit mehr Bedeutung zugemessen werden als der kriegerischen Tapferkeit.
Ambrosius orientiert sich bei seiner Definition der geistigen Komponenten
der fortitudo zunächst stark an Cicero. Wie dieser nennt er vor allem die
Beherrschung von Affekten und die Unabhängigkeit des Geistes von irdischen
Dingen und das Ertragen von Widrigkeiten als konstitutive Elemente der
fortitudo. Bei Ambrosius tritt jedoch noch eine theologische Komponente hinzu.
69 Pieper, Religionsphilosophische Schriften 7, 102 f.
70 Donizo, Prologus, vv. 45-46.
71 Donizo II, v. 387
72 Donizo II, vv. 1427-1441.
73 Goez, Beatrix, S. 89-99; sowie Goez, Herrschaft 324-329.
35
Sowohl die eigenen Schwächen als auch die Wechselfälle des Schicksals seien
vom Teufel geschickt. Widersteht man den eigenen Affekten und erduldet man
die Widrigkeiten des Lebens, widersteht man gleichzeitig dem Teufel und nähert
sich dem ursprünglichen, von Gott geschaffenen Zustand an, in dem der Geist
über den Körper und die niedrigen Affekte herrsche.74
Als praktische Konsequenz der geistigen Tapferkeit nennt Ambrosius die
Unempfindlichkeit und Standhaftigkeit gegenüber äußeren Rückschlägen, Verlusten
und Demütigungen und die Bereitschaft, Gefahren für die Gerechtigkeit
auf sich zu nehmen.75 In dieselbe Kerbe schlägt auch Donizo, wenn er schreibt,
dass Mathilde im Unglück stark war, aber im Glück nicht übermütig wurde.76
Das weltliche Unglück habe der Dienerin Petri nichts anhaben können,77 behauptet
der Historiograph bei seiner Schilderung der Einnahme Mantuas durch
Heinrich IV. Die Markgräfin sei in den Jahren des Unglücks hart wie Diamant
geblieben, dem Unglück habe sie nicht nachgegeben.78 Auch angesichts der
weiteren Erfolge Heinrichs sei sie in ihrem Eifer für die gerechte Sache, die
Donizo in Gestalt des Papstes personifiziert sieht, nicht ins Wanken geraten.79
Aus Liebe zur gerechten Sache habe sie das Unglück angenommen und die
schlimmsten Schläge ertragen. Dafür stellt ihr der Dichter himmlischen Lohn in
Form des Paradieses in Aussicht.80 In diesem Sinne ist auch Donizos Aufzählung
der Kardinaltugenden zu verstehen, die mit der Feststellung endet, dass
Mathilde mit Recht alle Kronen der Rechtschaffenheit trägt. Gemeint ist hier die
Krone des ewigen Lohnes, die Donizo der Markgräfin für die Verwirklichung
der Tugenden im christlichen Sinn in Aussicht stellt.81
Über all den Tugenden, die der Markgräfin zugeschrieben werden, steht
die von Augustinus postulierte eine und wahre Tugend, nämlich Mathildes
Liebe zu Gott. In ihrer Liebe zu Gott überträfe Mathilde sogar die Priester,
schreibt Donizo.82 Auch bei zahlreichen anderen Gelegenheiten wird er nicht
müde, Mathildes Liebe zu Gott zu rühmen83, denn nur sie befähigt die Markgräfin,
das Richtige zu tun, nämlich für den Papst und die Reformkirche einzu-
74 Becker, Kardinaltugenden 116-125.
75 Ebd. 127 f.
76 Donizo, Prologus, v. 47.
77 Donizo II, v. 468: Non famulam Petri mutant discrimina secli.
78 Donizo II, vv. 484-486: Ut lapis est adamas firmus, sic firma ducatrix / In tantis dampnis
venientibus his manet annis; / Fit tantum dictus lapis edi sanguine scissus: / Non cedit
dampnis, fusus plicat hanc neque sanguis.
79 Donizo II, vv. 561-562: Quam rex possedit, nec ob hoc Comitissa recedit / A zelo Petri, pro
quo mala tanta recepit.
80 Donizi II, vv. 613-615: Hanc dominam, solam sancti Petri pedagogam: / Cuius amore
flagrans patitur densissima flagra, / Ut quandoque sibi cameram reseret Paradysi.
81 Riversi, Tensione 267-269.
82 Donizo II, v. 1363: Ista sacerdotes de Christi vincit amore.
83 Donizo II, vv. 20-21: Huic sincera manet maior dilectio sane. / Haec peramat celsum per
quem sunt omnia Verbum; v. 168: Corde fidem veram peramabant munere plenam; v. 546:
Cultricem Christi, vestram dominamque Mathildim.
36
stehen und gegen den König und das Unrecht zu kämpfen. Doch die Vernunft
allein befähigt den Christen nicht, über das Unrecht den Sieg davonzutragen. Es
bedarf auch der Gnade Gottes, die man sich durch den Glauben und die Liebe zu
Gott erwirbt. Es überrascht daher nicht, dass Donzio die Kardinaltugenden, die
er dem Gesamtwerk voranstellt, zu Beginn des zweiten Buches, das die eigentliche
Lebensbeschreibung Mathildes enthält, mit den drei göttlichen Tugenden
Glaube, Hoffnung und Liebe, ergänzt.84 Die vier Kardinaltugenden wurzeln in
den göttlichen Tugenden. Erst durch die Verwirklichung der göttlichen
Tugenden wird Mathilde befähigt, die menschlichen und diesseitigen Tugenden
zu verwirklichen, und kann so auf die jenseitige Belohnung im Sinne der ‚Krone
des ewigen Lebens‘ hoffen.
Mathildes Tugendhaftigkeit ist wichtiger Bestandteil der canusinischen
Memoria und fundamentaler Baustein einer Herrschaftsauffassung, die sich über
Jahre und Jahrzehnte am canusinischen Hof entwickelte und durch Donizo ihre
letztgültige Ausgestaltung erfuhr. Sie schließt unmittelbar an die moralische
Konnotation des invictissima-Epithetons an und bildet die ideologische Basis für
die Herrschaft einer Frau, die ihre Autorität direkt von Gott ableitete, und ihre
göttliche Beauftragung in ihren Urkunden mit der Dei-gratia-Formel zum
Ausdruck brachte.85 Dieser göttliche Auftrag kann Mathilde aber nur aufgrund
ihrer Tugendhaftigkeit zuteilwerden. Hinsichtlich der Behauptung der Reichslehen
gegenüber den deutschen Kaisern ist Donizos Tugendkonstrukt von nicht
zu unterschätzender Bedeutung. Mathilde überschritt nicht nur Geschlechtergrenzen,
die in der adeligen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad ohnehin
durchlässig waren, sondern vor allem auch Standesgrenzen, als sie sich gegenüber
Heinrich IV., dem Ranghöheren, zur Wehr setzte. Indem der Historiograph
auf Mathildes vollkommene Tugendhaftigkeit hinweist, die sich in ihrer Verwirklichung
der vier Kardinaltugenden und der drei göttlichen Tugenden manifestiert,
untermauert er ihre moralische Überlegenheit gegenüber dem deutschen
Kaiser. Er verleiht damit der Markgräfin eine höhere, quasi göttliche Legitimation
und zeigt, dass Mathilde zur Herrschaft besser geeignet ist als Heinrich, den
er unter anderem als grausame Schlange,86 Maultier ohne Verstand,87 Lügner88
und vor allem als Feind des wahren Glaubens und der Reformkirche diffamiert.
Die Verwendung des invictissima-Prädikats muss auch als eine brisante
politische Stellungnahme verstanden werden. In Verbindung mit der Wendung
vicisti reges bringt Donizo die aus canusinischer Sicht militärische und politische
Überlegenheit der Mathilde von Canossa zum Ausdruck. Durch die Aneignung
eines imperialen Epithetons stellt er die Herrschaft der deutschen Könige
84 Donizo II, vv. 18-19: Haec radiata fide, stat spe circundata mire; Huic sincera manet
maior dilectio sane. / Haec peramat celsum per quem sunt omnia Verbum.
85 Goez, Herrschaft 323 f.
86 Donizo I, v. 1162.
87 Donizo I, v. 1168.
88 Donizo I, v. 1244.
37
in Italien in Frage, was als nachträglicher Angriff auf die hegemonialen Ansprüche
der deutschen Kaiser gewertet werden kann.
Schließlich stellt sich die Frage, ob die analysierten Aspekte Teil einer typisch
weiblichen Herrschaftsauffassung sind. Hinsichtlich des invictissima-
Epithetons lässt sich die Frage eindeutig verneinen. Die Aneignung der Invictie
ist eine singuläre Erscheinung und als Usurpation eines ursprünglich rein männlichen
Attributs zu qualifizieren. Auch die Zuschreibung der Kardinaltugenden
an sich kann nicht als Bestandteil einer typisch weiblichen Herrschaftsideologie
gewertet werden. Tugendkataloge sind Teil des mittelalterlichen Herrscherlobs
und finden sich beispielsweise auch in der anonymen Vita Heinrici IV
imperatoris. Zu untersuchen wäre jedoch die konkrete Ausgestaltung der Tugenden
in Vergleich zu männlichen Herrschern. Hier deuten sich durchaus Unterschiede
an, eine Detailuntersuchung steht jedoch noch aus.